Der Stoff, aus dem die Tränen sind - Alexandra Kleeman - E-Book

Der Stoff, aus dem die Tränen sind E-Book

Alexandra Kleeman

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Beschreibung

Der Schriftsteller Patrick ist mit einem Ziel von der Ostküste nach Hollywood gekommen: Er möchte die Verfilmung eines seiner Bücher leiten, um zu verhindern, dass Starlet Cassidy Carter die Produktion zum Scheitern bringt. Außerdem ist es Patricks letzter Versuch, einen Erfolg zu landen, mit dem er seine Familie beeindrucken kann. Aber Kalifornien ist nicht so, wie er es sich vorgestellt hat: Dürre, Waldbrände und Korruption sind allgegenwärtig, und das Unternehmen, das hinter einer geheimnisvollen Marke für synthetisches Wasser steht, scheint die Ursache von allem zu sein. Als Patrick sich am Ende widerwillig mit Cassidy zusammenschließt und sie die dunklen Winkel der sonnenverbrannten Stadt erforschen, beginnt ein Seiltanz über dem Abgrund des Verstandes und der Welt.

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Seitenzahl: 481

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

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» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Alexandra Kleeman, geboren 1986 in Boulder, Colorado, ist Schriftstellerin und Philologin. Sie ist Autorin des Romans A wie B und C , der 2016 mit dem Bard Fiction Prize ausgezeichnet wurde. Ihre Kurzgeschichten und Essays sind in Zeitschriften wie »The New Yorker«, »The Paris Review«, »Zoetrope«, »Guernica«, »Harper’s« und »n+1« erschienen. Sie erhielt den Master of Fine Arts in Fiction an der Columbia University, New York, sowie zahlreiche renommierte Stipendien und Förderpreise. Sie lebt in Staten Island, New York.

ÜBER DAS BUCH

Willkommen in der Traumfabrik Hollywood – wo nichts ist, wie es scheint. Als der Autor Patrick Hamlin seinen Roman an eine Filmproduktionsfirma in Los Angeles verkauft und Teil der Filmcrew wird, weiß er noch nicht, auf welchen Höllenritt er sich eingelassen hat: Gleichgültige Filmproduzenten, unbändige Waldbrände auf Hollywoods Hügeln und WAT-R, ein synthetischer Ersatz für Trinkwasser, das fast so schmeckt und aussieht wie Wasser, und Patricks Durst doch nicht löschen kann. Was steckt hinter alldem? Die Realität rinnt Patrick durch die Finger, bis er den Verstand zu verlieren droht.

 

Für Gilvarry, so wie alle anderen.

 

GÜLDENSTERN: Ein Mensch, der seine Reise von einem Ort zu einem anderen an einem dritten Ort ohne Bezeichnung, Eigenart, Bevölkerung und jegliche Bedeutung unterbricht, sieht ein Einhorn seinen Weg kreuzen und wieder verschwinden […] Aber plötzlich sagt ein zweiter Mensch: »Mein Gott, ich träume wohl: mir war, als sähe ich ein Einhorn.« In diesem Augenblick erschließt sich eine neue Dimension, durch die das Erlebnis nun ein Höchstmaß an Beunruhigung erreicht.

Ein dritter Augenzeuge eröffnet nun natürlich keine weitere neue Dimension, sondern vereinfacht nur noch, ein vierter noch mehr, und je mehr Augenzeugen es gibt, um so einfacher und glaubhafter wird das Ganze, bis es schließlich so einfach ist wie jene »Wirklichkeit«, als die wir unsere alltäglichen Erlebnisse bezeichnen …

»Seht! Seht«, ruft die Menge. »Ein Pferd mit einem Pfeil in der Stirn! Jemand muß es für einen Hirsch gehalten haben!«

– Tom Stoppard, Rosenkranz und Güldenstern

Wasser hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis und versucht immer, an frühere Orte zurückzukehren.

– Toni Morrison

1. KAPITEL

Auf dem handflächengroßen Bildschirm wirkt es sonderbar echt, wie etwas, das er schon mal erlebt hat. Sie lungert in der Drogerie herum, kratzt sich die Handrücken, die Sonnenbrille glänzt schwarz im künstlichen Tageslicht der Halogenlampen. Die junge Frau: eine gelangweilte Blondine, deren Kopf auf dem komprimierten Körper gleichzeitig zu groß und zu klein wirkt. Winzig, nicht ganz so großgewachsen, nicht ganz so hübsch, der Rumpf schwimmt in zerknitterten Laufshorts und einem übergroßen schwarzen Sweatshirt mit weißem, serifenbetontem GUCCI-Print. Blutergussartige Schatten unter dem Mund, wo das Licht unvorteilhaft fällt. Die Aufnahme ist verwackelt; ab und zu senkt sich die Kamera hinter ein Regal, und man hört nahe Atemgeräusche, die Person hinter der Kamera bleibt unsichtbar. Immer wieder greift die Frau nach einer Verpackung, stellt sie zurück ins Regal, nimmt sie erneut in die Hand. Zwischen den Damenbinden, Schwangerschaftstests und Erwachsenenwindeln wirkt sie ziellos, deplatziert, wie ein Kind, das eine Handlung ausübt, die es noch nicht vollständig versteht.

Patrick Hamlin beschirmt die Augen und blinzelt in der kalifornischen Sonne auf das klitzekleine Gesicht auf dem Bildschirm, wie geschrumpft hinter den übergroßen Gläsern. Er fühlt sich respektlos behandelt, mit den schlaksigen Produktionsassistenten – halb so alt wie er, aber besser gekleidet – ins Seitenaus gedrängt. Sie hatten ihn am Flughafen abgeholt und ungefragt in die laute Poolbar geführt, die eingebettet ist in ein überteuertes Hipsterhotel. Auf den Stämmen der Topfpalmen an der Bar sind Lachmünder und sexy blinzelnde Cartoonaugen aufgemalt, die zum Fotografieren und Hochladen gemacht sind. An der Rezeption stehen Schüsseln mit roten Gratiskondomen, bereit für glatt rasierte Männer und Frauen, die sich über Schwänze in Luftballonform amüsieren können. Er leidet unter Jetlag, ist dehydriert und hat nach einem gigantischen Gin Tonic am helllichten Tag auch noch Kopfschmerzen. Sein Mund ist ausgedörrt und schmeckt nach alter Wolle, als er sich über das zerkratzte Display beugt, um sich die Videos anzusehen, wobei ihm die Armlehne gegen den weichen Bauch drückt. Der Tisch ist mit Plastikbechern übersät, und die zwei Assistenten schlürfen überdimensionierte Bloody Marys.

»Was ist das?«, fragt Patrick und sieht zu, wie die junge Frau in dem Video eine kleine Verpackung aufpult, stockend, aber nicht zögerlich. »Was passiert da?«

»Du musst von Anfang an gucken, damit es richtig wirkt«, erklärt der eine aufmunternd. Mitte zwanzig, Latino, kurzärmeliges Hemd mit kleinen aufgestickten Hufeisen.

»Wie bei so einem Horrorstreifen«, fügt der blassere mit dem glatten Gesicht hinzu, der das Smartphone hält. Willkürlich bewegt sich sein Arm auf Patrick zu und wieder von ihm weg, sodass er den Vorgängen auf dem winzigen Bildschirm nur schwer folgen kann. »Die Aufnahmen von den Vororten und Hecken und Briefkästen sind wichtig für das Massaker später. Wenn die Gewalt ausbricht, können die Zuschauer sich nicht mit dem Gedanken trösten, dass sich alles an einem Ort abspielt, der nichts mit ihnen zu tun hat. Den Köder haben sie dann schon geschluckt.«

»So wie am Anfang von Scream, als sie Popcorn auf dem Herd macht«, sagt der im Hufeisenhemd.

»Genau, oder in Triumph der lebenden Toten, wo sie sich beim Gebrauchtwagenhändler über den Preis für einen Kombi streiten, kurz bevor sie aufgefressen werden«, ergänzt der Arm.

Aufgefressen? Patrick hat keine Ahnung, worauf er hier überhaupt achten soll. Die Frau auf dem Display ist berühmt, ja, aber wieso eigentlich? Mit den langen gelblichen Haaren und aufgespritzten Lippen gleicht sie einem beliebigen Teenager im Shoppingcenter, in einem luxuriösen Shoppingcenter, die in der nachmittäglichen Trägheit mit baumelnden, übergroßen Einkaufstüten in den Händen auf der Rolltreppe hoch und runter fährt. In dieser kleinen, gestochen scharfen Aufnahme presst sie nun die Lippen zusammen, und er spürt, dass sie jeden Moment in Tränen ausbrechen könnte. Sie erinnert ihn an seine Tochter, oder vielleicht eher an eine Mischung aus seiner Tochter und seiner Frau? Auf einer Leinwand vor seinem geistigen Auge sieht er deren zarte Münder, Seite an Seite, vertraute Lippen, die er abgewischt hat, schmerzhaft präzise gezeichnet im blassen, seidigen Rosa von Nelken oder gegarten Garnelen. Zu Hause an der Ostküste, wo sie schon drei Stunden weiter sind, decken sie bestimmt gerade den Tisch fürs Abendessen, Nudeln und Salat, und seine neunjährige Tochter faltet konzentriert Papierservietten. Wenn er sich ihre Gesichter vorstellt, lächelnd oder nicht, bleibt das Bild in letzter Zeit nicht lange bestehen. Unwillkürlich zittern die weichen Züge und verzerren sich, der unschöne Anblick von jemandem, der gleich losweint.

»Spring mal ein Stück vor«, sagt Hufeisenhemd zum anderen. »Er passt nicht mehr richtig auf.«

»Aber dann verlieren wir so viel von der Story«, entgegnet der Arm. »Zeitrahmen, Langeweile, Genervtheit, Atmosphäre. Die Beschaffenheit. Die Spannung. Ein längerer Stillstand, der schließlich eine Überraschung preisgibt, so wie der Winter in den Frühling übergeht. Was dem Material an Struktur fehlt, macht es mit dem stillen Zauber der plötzlichen Geschehnisse wieder wett, die Monotonie wird gänzlich auf den Kopf gestellt. Der Filmliebhaber in mir würde das nicht ertragen.«

»Absolut. Aber Verluste lassen sich nicht vermeiden in einer Welt, die kaum mehr ein grundlegendes Gefühl der Präsenz erwecken kann. Das Festhalten an sich ist schon ein Verlust, alles hängt an den PPI«, erwidert Hufeisen, und die beiden nicken ernst. Das Video wird ein paar Zentimeter weiter gezogen.

Die junge Frau blickt rasch zur Kasse, dann wieder nach unten. Sie schiebt einen Finger unter den Deckel, öffnet die kleine Packung, späht hinein und schiebt den Inhalt mit der manikürten Fingerspitze umher. Die Kamera zoomt auf die Packung, die anscheinend Tampons enthält. Geschickt zieht die Frau drei Stück heraus und lässt sie in der Tasche verschwinden, während sie in die andere Richtung schaut.

»Klaut sie da Tampons?«, fragt Patrick.

»Schhh«, machen die zwei.

Die Kamera setzt sich in Bewegung, und der Filmende tritt hinter dem Regal hervor. Hey Cassidy, was treibst du denn da? Willst du die nicht bezahlen? Seine Stimme klingt munter und unfreundlich. Hast du deine Tage? Ist die Kohle aus? Tante Rosa zu Besuch? Na los, Süße, einmal lächeln für die Kamera. Cassidy schaut auf, die Züge weich, unschuldig und überrascht, zwei niedlich große Schneidezähne ragen aus dem leicht geöffneten Mund. Dann sammelt sie sich. Was soll der Scheiß?, knurrt sie und zerdrückt die Tamponpackung in der Faust. Lauert ihr einem jetzt schon im Bindengang auf? Versteck dich doch gleich in meiner Dusche und guck zu, wie ich’s mir reinschiebe. Der Kameramann lacht humorlos auf. Mach mal halblang, Cassidy. So was hören deine Fans bestimmt nicht gerne. Zeig doch lieber mal den Gruß aus Kassi Keene: Die kleine Detektivin, na los. Den aus der Sendung. Warum bist du denn so schlecht gelaunt, Süße? Sind die Krämpfe so schlimm? Cassidy stößt ein seltsam ersticktes Geräusch aus und schleudert etwas auf die Kamera, und ein Chaos aus leuchtend bunten Zylindern explodiert vor der Linse wie dickes, ungelenkes Konfetti. Die Kamera richtet sich kurz auf den Boden, sucht dann wieder nach Cassidys Gesicht. Fuchsteufelswild schnappt sie nach dem Handy. Lösch das sofort, du Wichser, oder ich nehm dir das Scheißhandy weg.

Die Aufnahmen stammen also von einer Handykamera. Patrick kratzt sich am Hals, wo sich ein brennendes Jucken auf seiner heißen Haut ausbreitet. Die Auflösung ist unglaublich. Smartphones sind das Einzige auf der Welt, das immer besser wird.

Jetzt, da sich die zwei in Bewegung gesetzt haben, kann die Kamera nicht mehr ganz so mühelos mithalten. Cassidy kommt mit ausgestreckten, krallenartigen Händen auf den Mann zu, greift sich Artikel aus den Regalen und schleudert sie mit voller Wucht auf seine Arme oder seinen Oberkörper, weswegen das Bild ruckelt und wackelt. Er bemüht sich weiter um unbekümmertes Geplapper. Sag mal, Die fünf Monde des Triton war ja ein einziges Geldgrab. Musst du deswegen jetzt deine, äh, Damenprodukte mitgehen lassen? Steht es wirklich so schlimm um Kassi Keene? Anhand der längeren Pausen in seinem Gewäsch wird allerdings klar, dass er sich wehgetan hat. Er läuft immer schneller rückwärts davon und stößt gegen die Metallkanten der Regale, fein säuberlich angeordnete Keks- und Crackerpackungen landen leise knisternd auf dem Boden. Cassidy Carter hat ihn in die hinterste Ladenecke zu den Putzmitteln getrieben und schlägt mit einer Großpackung hypoallergenem Waschmittel auf ihn ein.

Sie hält den Griff mit beiden Händen umklammert und schwingt die Flasche wie einen Vorschlaghammer. Ihr zartes Armband glitzert. Sie fährt ihn an, er solle ihr das Handy geben, aber sie hat noch mehr zu sagen: Scheiß auf die Menstruationsindustrie, wegen der sie eine ganze Packung kaufen müsse, wenn sie doch bloß noch zwei, drei Stück bis zum Ende ihrer Periode brauche, scheiß auf Amerika, eine einzige Müllkippe voller Lexus fahrender Hinterwäldler, die ihren Lebtag nicht die geistige Tiefe der Fünf Monde des Triton begreifen würden, scheiß auf ihre Fans, die die Zeitschrift mit den geleakten Fotos von einer alten Brazilian-Wax-Behandlung gekauft hatten, überhaupt seien ihre Fans creepy Goblins, die sie in tausend Teile zerhacken und auffressen würden, wenn sie die Gelegenheit hätten, und davon würden sie dann noch hunderttausend Fotos machen und sie in jedem einzelnen taggen. Das Smartphone liegt mittlerweile auf dem Boden, die Kamera auf Cassidy gerichtet, die mit finsterer Miene darüber aufragt, die langen, gebräunten Beine strecken sich unwahrscheinlich, unvorstellbar hoch in den Himmel.

Sie öffnet das Waschmittel und gießt es jenseits des Kameraausschnitts über dem Mann aus, und Patrick kommt der Gedanke, wie befremdlich die Wut einer Frau doch ist. In einem Gesicht, das rein auf Schönheit abgerichtet ist, stellen hässliche Emotionen eine Perversion grundlegender Prinzipien dar, ähnlich wie die riesige, kokosnussfressende Rattenart, die auf einer tropischen Insel zufällig entdeckt wurde, als ein Exemplar einem vorbeigehenden Wissenschaftler auf den Kopf fiel. Während Cassidy auf Kopf und Rücken des Kameramanns einprügelt, verzerrt sich die untere Hälfte ihres Gesichts in unkontrolliertem Zorn, die Unterlippe gibt ihre glatten, quadratischen Zähne frei. Die obere Hälfte dagegen wirkt dank der Sonnenbrille völlig friedlich. Von der Nase aufwärts übernimmt ein zerbrechlicher Glamour, in den man sich auf der Stelle verlieben könnte – eine absolut fantastische Nase übrigens, elegant und doch natürlich, mit zarten Sommersprossen übersät, die gewöhnliche Wurzel gleitet in eine grazil gemeißelte Nasenspitze über. Es ist die Art Nase, die einen zunächst an all die anderen Nasen erinnert, in die man sich je verliebt hat, dann jedoch eine Nase nach der anderen in den Schatten stellt, bis man sich nur noch an diese neue, perfekte, natürlich intakte Nase erinnern kann.

Ehrlich gesagt hatte Patrick bei Freundinnen, Müttern und sogar seiner neunjährigen Tochter schon immer einen fehlenden Zusammenhang zwischen der Wut, die sie angeblich spürten, und dem erschreckenden, verwirrenden Effekt dieser Wut wahrgenommen. Wenn er eine wütende Frau beobachtete, überkam ihn stets das Gefühl, wiederum selbst aus deren tiefstem Inneren mit der geschmeidigen, distanzierten Intelligenz einer Katze beobachtet zu werden. Jetzt, da er zusieht, wie Cassidy die Mitarbeiter abschüttelt, die sie zurückhalten wollen, fragt er sich, ob sich in dieser Frau eine winzige, kindliche Version ihrer selbst befindet, die mit ausgestrecktem Zeigefinger lacht. Plötzlich breitet sich ein Grinsen auf Cassidys Gesicht aus. Sie greift sich in die Laufshorts, zieht den benutzten Tampon heraus und schleudert ihn in Richtung des niedergestreckten Mannes.

Namaste!, ruft sie, als sie abgeführt wird.

»Und das«, verkündet der Arm, nachdem er das Video pausiert hat, »ist Cassidy Carter. Ich fass es nicht, dass du sie nicht kennst. Als hätten wir dich auf einer mikronesischen Insel gefunden und müssten dir die Taschenlampe erklären.«

»Ist sie wirklich so berühmt?« Patrick gießt sich die letzten Tropfen WAT-R in den verschwitzten, geröteten Nacken.

»Und ob. Gabs mal als Happy-Meal-Spielzeug. Als ich klein war, hatte ich zwei davon, die haben immer Kampfsport gemacht.« Hufeisen vollführt ein paar abgehackte Karategesten.

»Na gut, dann ist sie eben berühmt, aber offensichtlich auch nicht ganz dicht«, sagt Patrick. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass irgendeine ernst zu nehmende Filmproduktionsfirma eine gewalttätige Schauspielerin engagieren würde, wenn sogar ein Videobeweis vorliegt. Und es dann auch noch um Damenprodukte geht. Wie soll man da sicher sein, dass sie sich benimmt? Das ist doch viel zu riskant.«

»Mit nicht ganz dicht macht man Kohle.« Der Arm dreht sich auf seinem Stuhl hin und her, bis die Kellnerin zu ihm schaut. Er hebt die leere WAT-R-Flasche und streckt drei Finger hoch. Die Kellnerin nickt, reckt die Daumen und verdreht die Augen. »Genau wie mit Gratiswerbung, so wie das Video, das du eben gesehen hast. Genau wie mit der schönsten Nase Amerikas und dem ehemaligen Gesicht von Bellanex.«

»Bellanex?«

»Diese Aknecreme, die zu Krampfanfällen geführt hat. Hat aber ordentlich Kohle gemacht.« Hufeisen summt eine Melodie, womöglich den Bellanex-Jingle.

Patrick richtet den Blick auf das pausierte Video. Die Frau ist erstarrt, zwischen zwei Drogerieangestellten in roten Westen eingeklemmt, die sie an den Ellbogen festhalten. Mit gigantischem, eisenhartem Grinsen schaut sie in die Kamera und formt mit zwei Fingern der rechten Hand eine Art Pfadfindergruß, bloß niedlicher.

»Klar, das verstehe ich. Aber da werde ich leider ein Veto einlegen müssen.« Patrick lehnt sich zurück und leert den verwässerten Gin, um seine Aussage zu unterstreichen. Das geflochtene Plastik der Rückenlehne quietscht.

Unbehagliche Stille breitet sich aus. Schließlich meldet sich der Arm mit erwachsener, ernster Stimme zu Wort.

»Tja, da muss ich dir leider mitteilen, dass du bei diesem Film kein Mitspracherecht in dem Sinne hast. Ich hoffe, du konntest deinen Vertrag und die, du weißt schon, darin genannten Pflichten und Rechte in Ruhe durchlesen.«

Patricks Kopfschmerzen werden stärker. Er blinzelt ein paarmal fest. Selbst durch geschlossene Augen scheint sich das Licht einen Weg zu bahnen, durchflutet sein Augenlid und taucht sein Sichtfeld in fleischiges Rot. Mit enger werdender Kehle überlegt er, ob er das Handy zücken und seinen Vertrag öffnen soll, direkt hier unter den leuchtenden, fragenden Blicken der zwei Trottel. Er schaut zu dem trüb-türkisen Pool, der im Schatten des aufragenden Hotels liegt. Knallgrüne, herzförmige Luftmatratzen treiben ziellos darauf herum.

Der Arm erklärt geduldig: »Der Vertrag legt fest, dass du im Gegenzug für die Rechte an deinem Roman Elsinore Lane, zu dessen Inhalt der Zugang gratis zur Verfügung gestellt wird, eine im Rahmen des Budgets vergütete Produktionsassistentenstelle erhältst, die du einer beliebigen Person zuordnen kannst, auch dir selbst.«

Hufeisenhemd tätschelt Patrick den Rücken. »Du bist einer von uns, Kumpel«, sagt er freundlich. Seine Achselhöhle verströmt den Duft künstlicher Zeder.

Der Arm lächelt angespannt und hebt die Hände. »Mich trifft keine Schuld. Bin bloß der Bote.«

Die Kellnerin kommt mit drei diamantförmigen Flaschen WAT-R, die die Premiumqualität des Produkts betonen. Kalifornisches Sonnenlicht scheint durch das harte Plastik, blass und golden, und wirft ein tanzendes Muster auf den Bistrotisch, das dem gesprenkelten Licht am Grund eines Schwimmbeckens gleicht. Sie stellt die Flaschen ab, öffnet langsam eine nach der anderen und legt die Deckel nebeneinander an die Tischkante. Sie nimmt Patricks Flasche und gießt ihm Wasser ein. Das wiederholt sie noch zweimal mit den anderen Flaschen. WAT-R strömt in die Gläser, kalt, durchsichtig und geruchlos. Sie betrachtet kurz die drei schweigenden Gäste und geht dann davon, an einen anderen Tisch.

Auf der Rückbank des zerbeulten Vans des Arms sucht Patrick nach der Mail seiner Agentin mit dem Vertrag im Anhang. Der Betreff lautet Re: Hallo!, und der Text besteht lediglich aus der Telefonnummer der Agentin, damit er sie bei Fragen erreichen kann. Er öffnet den Vertrag auf der Suche nach einer Klausel, die ihm recht gibt, doch der Inhalt unterscheidet sich kaum von der Zusammenfassung des Arms in der Poolbar, wo er so viel Gin Tonic getrunken hatte, dass der Einheitstechno aus den versteckten Lautsprechern seine Form verloren hatte und zu Brei verlaufen war. An manche Formulierungen erinnert er sich, aber diesmal klingen sie weniger hoffnungsvoll. »Drehbuchberatung ohne Mitspracherecht« steht da, und »branchenübliche Budgetanpassungen«. Er weiß noch genau, wie er den Vertrag zum ersten Mal öffnete und den Titel »Produktionsassistent« las, wie ihm ein stolzer Schauer über den Rücken lief und er den Vertrag hinlegen und im Zimmer auf und ab laufen musste, um nicht völlig aus dem Häuschen zu geraten. Er rief seine Frau an.

»Ist das nicht eher ein Job für Studenten oder so?«, fragte sie. Im Hintergrund quietschten Trampolinfedern.

»Manchmal nennt man das auch PA«, erklärte er.

»Ich weiß ja nicht, Patrick. Erinnerst du dich noch, als du aus dem Autorenvertrag aussteigen wolltest, weil dir das Papier für den Druck nicht gepasst hatte? Ich glaube, du brauchst mehr Mitspracherecht.«

»Aber das sage ich ja«, erwiderte Patrick. »Die wollen mich dabeihaben. Am Set.«

Ein aufgeregtes Kreischen ertönte, begleitet von lautstarkem Getöse.

»Das klang schrecklich. Was war denn das?«

»Nora hat einen Rückwärtssalto auf dem Trampolin gemacht, und alle haben gejubelt.«

»Wenn du meinst, dass ich lieber zu Hause bleiben soll, dann sag das einfach. Hab ich überhaupt kein Problem mit. Ich kann sicher auch per Telefon aushelfen.« Er klang griesgrämig.

Aber Alison hatte nicht weiter protestiert. Nach dem kurzen Telefonat während Noras Turnstunde wurde das Thema nie wieder angesprochen. Patrick unterschrieb den Vertrag, und Nora meisterte den Rückwärtssalto auf dem federnden ultramarinblauen Turnboden. Seit dem Gespräch war fast ein Jahr vergangen, in dem die Produktionsfirma die Adaptionsrechte vergeben, eine Crew zusammengestellt und ein Filmstudio gemietet hatte, doch rückblickend wurde ihm klar: Was auch immer Alison jetzt so traurig und distanziert machte, schien damals schon an ihr genagt zu haben. Obwohl sie mit ihrem bohrenden, flauschigen Ton klang wie die normale Alison, war alles leicht verzögert, zweideutig, beinhaltete Dinge, die sie nicht sagte, die aber manchmal versehentlich zum Vorschein kamen. An jenem Abend entstand eine Pause in der Leitung, gefolgt von einem unerwarteten und gurgelnden Geräusch, wie Wasser, das über Steine fließt. Patrick begriff, dass sie weinte. »Sie ist so glücklich«, schluchzte Alison. »Wieso fühlt es sich an, als ob sie nie wieder so glücklich sein wird?«

Vom Highway aus hat die Stadt nicht viel mit dem gemein, was er von unten aus gesehen hatte. Sie gleicht einem alten, verblassten Foto, flache, graue Dächer breiten sich entlang des Highways aus, dahinter kleinere Häuser und Gebäude mit eigenwillig gedeckten roten Dachziegeln. Am Fuß der braunen Hügel sammeln sich Wohngegenden, winzige, modernistische Bauten übersäen die in Smog gehüllten Hänge und Gipfel in der Ferne. Der Anblick erinnert ihn an ein Diorama, drei unterschiedlich bemalte Pappstücke, die hintereinander aufgestellt eine realistische Landschaft bilden und jeweils verschwommener als das vorherige Stück bemalt sind, um die Distanz zwischen Ausgangsort und Ziel zu betonen. Der glatte Kunststoffgurt drückt sanft auf Patricks Kehle, als er gerade dabei ist, »Cassidy Carter« in die Suchmaschine zu tippen. Zu seiner Überraschung stellt er fest, dass sie schon in über zwanzig Filmen gespielt hat, von denen manche so bekannt sind, dass sogar ihm der Titel etwas sagt. Er erfährt, dass sie eine Schwester namens Juneau und einen Vater hat, der früher Landmaschinen verkaufte, Silos und dergleichen, bevor er sich davonmachte, um eine Musikkarriere in Nashville zu verfolgen. Er erfährt, dass sie pro Folge von Kassi Keene: Die kleine Detektivin 195000 Dollar verdiente, womit sie bis zum Ende der fünften und letzten Staffel die höchstbezahlte Kinderdarstellerin der Welt war. Er findet ein Foto, das einen Artikel begleitet, der zum Ende der letzten Staffel erschien. Es zeigt Cassidy als eine Art sexy Sherlock Holmes, wie sie sich auf einem gigantischen roten Samtfragezeichen räkelt. Wer hat Kassi Keene umgebracht?, lautet die Überschrift. Es war Miss Carter auf dem Studiogelände mit der brandheißen Filmkarriere!

Vorne unterhalten sich die zwei Produktionsjungs mit lockeren Unterbrechungen wie alte Freunde. Sie tun sich gegenseitig kleine Gefallen: der Arm richtet das Gebläse auf Hufeisenhemds verschwitzte Stirn aus, der wiederum ein Kaugummi in der Farbe eines nagelneuen Tennisballs auspackt und es dem Arm in den Mund steckt, der beide Hände am Steuer und den Blick höchst aufmerksam auf die Straße gerichtet hat. Als das Kaugummi seinen Geschmack verloren hat, tastet Hufeisen im Fußraum nach einer alten Quittung und hält sie dem Arm geduldig vor die mahlenden Kiefer, bis dieser die kleine Kugel hervorbringt, und schmeißt das kleine Päckchen dann aus dem Fenster. Ringsum schieben sich die Autos stockend vorwärts, erst die eine Spur, dann die nächste, nie gleichzeitig.

»Wow«, sagt der Arm. »Was ich nicht alles dafür geben würde, um mir diesen Verkehr von oben anzugucken.«

»Alle würden zu dir hochschauen«, meint Hufeisen. »Ganz verwundert.«

»Erinnerst du dich an diese Szene aus Zurück in die Zukunft II, wo Doc in seinem DeLorean auftaucht, und dann hebt er einfach ab wie ein Raumschiff, fährt die Räder ein und rast in die Zukunft? Wie so ein Raumschiff?«

»Die würden dich alle mit dem Handy filmen und die Videos an TMZ verticken und mit dem Geld Kawasakis und Pauschalreisen nach Los Cabos kaufen. Löwen- und Pferdestatuen für ihre Gärten. Et cetera.«

Hufeisen steckt sich eine Zigarette an und streckt den Arm aus dem Fenster in die Sonne. Talkradio dringt aus einem Honda Civic auf der Beifahrerseite. Heute geht es um gewaltsame Begegnungen mit wilden Tieren am Stadtrand. Eine dreifache Mutter berichtet von einer Waschbärattacke, als sie kurz nach Ladenschluss ein paar Sneakers beim örtlichen Foot Locker umtauschen wollte. »Die haben mir den Schuhkarton aus den Händen gerissen und direkt zerpflückt. Das Häkchen auf den Schuhen haben sie angekaut. Ich glaube, das lag an diesem aufgesprühten Ledergeruch, der ist einfach zu überzeugend. Aber wenn selbst ein wildes Tier drauf reinfällt, muss es ja qualitativ hochwertig sein.« Die Fahrerin des Civic ist Mitte zwanzig und trägt ein limettengrünes Strähnchen in den Haaren. Als sie zu ihnen blickt, lächelt Hufeisen und hebt die Hand mit der Zigarette. Sie schaut weg.

»Weißt du, warum es überhaupt zu Staus kommt?«, fragt der Arm auf einmal.

»Zu viele Autos«, erwidert Hufeisen traurig.

Der Arm schüttelt den Kopf und blickt aus dem Fenster auf die kleinen Rauchsäulen an der verdeckten Seite der gelber werdenden Ausläufer der Hügel. »Weil niemand das große Ganze sieht. Es gibt ausreichend Straßen für alle, wenn wir mit gleichmäßiger Geschwindigkeit fahren würden, aber obwohl wir das vielleicht von der Logik her verstehen, können wir mit diesem Wissen nichts anfangen. Wir sind darauf programmiert, uns in unserem eigenen Interesse zu verhalten. Manchmal wehren wir uns dagegen und lassen jemandem die Vorfahrt, aber im Grunde ist das ja auch nur eine Variante unseres individualistischen Verhaltens. Denn wenn man vom Gas geht, damit sich jemand einfädeln kann, macht man alles nur noch schlimmer.« Er tritt aufs Gas, das Auto rückt einen Meter weiter und kommt dann wieder fast zum Stillstand.

»Altruismus ist keine Lösung. Lediglich eine grundlegende Revolution könnte die Maßstäbe verändern, mit denen wir unsere tägliche Existenz wahrnehmen.« Hufeisen kramt im Handschuhfach nach Kaugumminachschub.

»Manchmal stoßen wir zusammen. Auffahrunfälle. Menschen kommen ums Leben.« Der Arm klingt nachdenklich. »Die Opfer sehnen sich nach einer besseren Welt, in der die Autos mit sicherem Abstand ruhig vorbeiziehen und sämtliche Konflikte auf unbestimmte Zeit vertagt sind. Autounfälle stellen eine unmittelbare Bedrohung unserer Wahrnehmungsmaßstäbe dar. Selbstfahrende Autos sollten eigentlich die Lösung sein, aber es gab einfach keine Nachfrage. Otto Normalverbraucher behält lieber selbst die Kontrolle und vertraut auf sein Glück, statt das statistisch gesehen kleinere Risiko einzugehen, das von einem probabilistischen Anderen gesteuert wird.« Er setzt den Blinker und wechselt ruckartig auf die rechte Spur, begleitet von einem Hupkonzert, das vom schützenden Fahrgestell des Vans gedämpft wird. »Die Leute wollen ihrem Auto nicht vertrauen. Sie wollen das Gefühl seidiger, müheloser Handlungsmacht.«

»Einen solchen Appetit kann man nicht verändern, höchstens anfachen oder ignorieren.«

»Um von einer Stufe auf die nächste zu gelangen, muss man einen unschönen Zwischenraum durchqueren. Und in diesem Zwischenraum stoßen menschlich gesteuerte Autos mit computergesteuerten zusammen, computergesteuerte Autos stoßen mit menschlich gesteuerten zusammen – in jedem Fall sterben dabei die Menschen. Wenn sich etwas verändert, dann wollen alle, dass es sich sofort verändert. Dem Übergang wohnen Katastrophen inne.«

»Katastrophen sind unvollendete Veränderung«, bemerkt Hufeisen beiläufig, fummelt eine Zigarette aus dem Päckchen und steckt sie sich hinters Ohr. »Veränderungen sind brutal für alle, die zu spät kommen.« Er dreht sich um und hält Patrick das Päckchen hin, der davon nichts mitbekommt. Mit einem Achselzucken dreht er sich wieder nach vorne. »Am sichersten wären wir, wenn wir komplett stillhalten, bis die Zukunft eintrifft.«

Patrick tippt eine Nachricht an Alison. Fast im Hotel. Kalifornien ist das Paradies. Diese Jungs von der Filmfirma sind echte Westküstenkiffer. Melde mich, wenn ich endlich allein bin. Er schaut auf, lauscht kurz dem Gespräch und schaut dann wieder runter. Er sucht nach »Cassidy Carter Vermögen«, dann »Cassidy Carter Festnahme«. Es fällt ihm auf seltsame Weise schwer, die Ergebnisse zu deuten. Sind 850000 Dollar viel? Sind drei Festnahmen viel? Zwischen dem stockenden Verkehr und den undurchdringlichen Hügeln in der Ferne kommt er sich vor wie auf dem offenen Meer, als triebe er in einem Rettungsboot in der drückenden Sonne.

»An der Uni habe ich mal ein Drehbuch über eine Alieninvasion geschrieben«, sagt der Arm. »Kleine krabbenartige Wesen, die sich im Nervenzentrum von Cheerleadern festsetzen. Am Anfang ist es noch ein Slasherfilm, Leute sterben auf kreative und ironische Art, aber wenn die Übernahme dann vollzogen ist, wird die ganze Sache ruhig und friedlich. Dann ist es ein Film für die Aliens, voller Farben, Lichter, Formen und wohliger Summgeräusche. Aber solange auch nur ein einziger Mensch am Leben ist, ist es ein Horrorfilm.«

»Und hat dein Drehbuch was getaugt?«, fragt Hufeisen.

»Nein.«

»Ich sehe es vor mir. Elle Fanning in der Rolle des letzten Mädchens. Tessa Thompson als geniale, gewissenlose Wissenschaftlerin. Und Tony Hopkins, der von der Alienkönigin besessen wird.«

»Danke, Alter. Das fühlt sich gut an«, sagt der Arm.

»Du musst nur dran glauben, Mann. Deswegen bringen wir doch solche Opfer, weil wir an die Kunstform glauben. An das Produkt. An die Branche. An das Vergängliche in leuchtend konkreter Form. Das ist der Mechanismus der Träume.«

»Aber glauben wir denn an die Branche? Ist das nicht ein blinder Glaube, der nur darauf basiert, dass andere Blinde uns versichern, dass es dort etwas zu sehen gibt, wenn wir es nur sehen könnten? Ist es ein falscher Glaube, das Vertrauen, dass wir mit unseren fünfzehn Dollar die Stunde eines Tages selbst jemanden für fünfzehn Dollar die Stunde beschäftigen werden?«

Patrick schaut abrupt auf, zu abrupt. Beim Lesen im Auto wird ihm immer schlecht, etwas in seinem Kopf neigt sich zur Seite.

»Moment mal, was verdienen wir pro Stunde?«, fragt er besorgt.

»Knappe fünfzehn Dollar«, antwortet Hufeisen.

»Meine Eltern kaufen mir Gemüse, wenn sie zu Besuch sind«, sagt der Arm.

Patrick unterdrückt ein Stöhnen. »Was ist das eigentlich für ein Job? Braucht man dafür eine Ausbildung? Habt ihr Leute unter euch? Trefft ihr Entscheidungen?«

»Zum jetzigen Zeitpunkt unserer Laufbahn wäre die beste Beschreibung wohl, dass wir von anderen gemanagt werden und nur unwesentliche Entscheidungen treffen, die niemanden sonst interessieren«, erwidert Hufeisen. »Aber natürlich weiß man nie, und wir am allerwenigsten, was die Zukunft für uns auf Lager hat.«

Patrick verzieht das Gesicht. Mit der Stirn am kühlen, festen Glas starrt er auf die inzwischen weit entfernten und vernebelten Reste von Hollywood. Der Himmel ist blau, aber mit einem grau-braunen Ton durchzogen, den man schon überall und nirgends gesehen hat – so wie die halbherzige Anwesenheit seiner Frau und Tochter per SMS oder Telefon, so wie das Internet, so wie DDT, das in den USA verboten ist, in Südamerika, Afrika und Asien aber immer weitere Verbreitung findet. So wie die allgegenwärtige Cassidy Carter: ein mechanisches Hintergrundfiepen, das aus den Tiefen des Hauses dringt und sich, ist es einem erst einmal aufgefallen, nicht mehr überhören lässt. Die Produktionsjungs schwadronieren über die fundamentale Korrelation zwischen Verbrennungsmotoren und Filmprojektoren. Ringsum scheinen sich die Autos willkürlich und ziellos vorwärts und rückwärts zu bewegen. Er kann nicht genau sagen, ob der Van fährt oder stillsteht, in jedem Fall dreht es ihm etwas tief im Magen um. Er fühlt sich leicht und schwer, sonnenverbrannt und unterkühlt, benommen, pochend und leer wie ein Ballon. Hoch oben am Himmel steht ein Falke in der Luft, erstarrt, so als wäre die Atmosphäre nur eine Theorie, eine Lüge. Plötzlich wird ihm klar, dass er aussteigen muss.

»Halt an, Notfall«, bittet er schwach.

»Ah, eine Katastrophe«, erwidert der Arm fröhlich.

»Sollen wir rechts ranfahren oder runter von der Autobahn?« Hufeisen klingt besorgt.

»Weiß ich nicht.« Patrick drückt die Augen zu.

Der Blinker springt an, und der Wagen müht sich langsam auf die rechte Spur. Am Straßenrand blüht rosa Hibiskus. Patrick liegt mit verschränkten Armen auf der Rückbank und versucht die Rundungen seines Körpers in die für einzelne, aufrechte Ärsche gedachten Mulden zu pressen. Er starrt an das genoppte, beigefarbene Wagendach und versucht, nicht auf den Speichelfluss in seinem Mund zu achten, die anschwellenden Alarmsignale zu ignorieren. Kann man durch seinen eigenen Speichel ertrinken, daran ersticken, im Schlaf vielleicht? Das Auto rollt gemächlich auf die Ausfahrt, nutzt die erstbeste Gelegenheit rechts ranzufahren und bleibt auf dem leeren Großparkplatz eines mexikanischen Restaurants stehen. Hufeisen steigt aus, holt tief Luft und atmet zufrieden den Geruch von verdorrter, sonnenverbrannter Vegetation ein. Dann öffnet er die Tür für Patrick, der auf den wie elektrisiert leuchtenden grünen Rasen am Haupteingang krabbelt und hinter den Geranien würgt.

»Am besten macht er mal die Kindhaltung.« Hufeisen drückt seine Zigarette aus und steckt sich eine neue an.

»Am besten kaut er auf irgendwas Hartem ohne Kalorien«, überlegt der Arm. »Einem kleinen Zweig oder so.«

Unter den Blicken der zwei rauchenden Jungs rollt sich Patrick in Embryostellung zusammen, hält seine gealterten Knie umklammert und die Augen fest geschlossen. Es riecht nach Mulch und Quesadillas und trockenem, sauberem Gras. Er wiegt sich sacht vor und zurück. Die Sonne geht allmählich unter, und der Braunton entzündet sich in Rot-, Orange-, und Rosatöne, die sich nicht in Worte fassen lassen. Das fleischige Rot hinter seinen Lidern ist jetzt noch röter. Die Schönheit eines Sonnenuntergangs hängt mit der Entfernung zusammen, die das Licht bis zum Betrachter zurücklegt. Je größer die Entfernung, desto öfter begegnet das Licht Teilchen, die die sichtbare Wellenlänge vom vertrauten Blau zu exotischen, begehrenswerteren Farben zerstreuen. Ab und zu weht Blumenduft heran – Waschmittel aus dem Salon auf der anderen Straßenseite. Die Produktionsjungs treten ihre Kippen auf dem Beton aus und blinzeln mit vorgehaltener Hand in den Sonnenuntergang. Sie beobachten die unbeschreiblichen Farben, die am Himmel lodern, und versuchen nicht einmal, sie zu beschreiben.

Etwas abseits des Highways 210, am Fuß eines in Efeu und Eukalyptus gehüllten Hügels, bietet die Hacienda Lodge Betten und Motelfrühstück für Ortsfremde, die sich im Umland von Los Angeles nicht auskennen. Patrick steckt die Schlüsselkarte mehrfach mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in das Lesegerät an der Tür von Zimmer 213. Wieder und wieder leuchtet das Licht rot auf. Dem nahe gelegenen Highway zum Trotz ist es überraschend dunkel, und auf dem Parkplatz herrscht gähnende Leere. Endlich geht die Tür auf, und dahinter stehen zwei Doppelbetten in unmittelbarer Nähe zueinander, ein Sessel mit grünem, reißfestem Überzug, ein Fernseher ohne Fernbedienung. Das Zimmer wirkt gelblich, blasses Graubraun an den Wänden, ockerfarbener Spannteppich, geblümte Tagesdecken in hellem Karamell. Durch ein offenes Fenster im Bad dringen das Geräusch vorbeisirrender Autos und der trocken-grüne Arzneiduft silbriger Bäume.

Patrick lässt sich auf ein Bett fallen und bleibt mit angelegten Armen liegen wie ein Krankenhauspatient. So vieles hatte ihm heute nicht gepasst, doch was am meisten schmerzte, war das Gefühl, niemand Besonderes zu sein, nur ein Kerl Mitte vierzig auf mittlerem Fitnesslevel und mit drei Büchern auf dem Konto, für die sich niemand an dieser Küste des Landes interessierte. Vielleicht gründen wir deswegen Familien, überlegt er, sodass wir mindestens einmal täglich einen Raum betreten und uns erkannt fühlen können. Er beschwört eine Erinnerung – oder doch eher eine Vorstellung? – von zu Hause herauf. Sie sitzen zu dritt auf der Couch, er kitzelt Nora, und sie lacht laut in Zeitlupe, bis Alison in das Gelächter einstimmt, und gemeinsam lachen sie eine gefühlte Ewigkeit. Das Bild kommt ihm echt vor, aber in Wirklichkeit kann Nora es nicht ausstehen, wenn man sie kitzelt. Die verschwitzten Lederschuhe noch an den Füßen fummelt er das Handy aus der Hosentasche und ruft Alison an. Mit zunehmend schlechterer Laune lauscht er dem Freizeichen. Sie haben die Mailbox von Alison erreicht, erklärt die Aufnahme in einer Miniaturversion ihrer Stimme. Will ich überhaupt erreicht werden?

Im Bad dreht er beide Wasserhähne auf, aber nichts geschieht – es kratzt lediglich leise in der Leitung. Im Schränkchen unter dem Waschbecken gähnende Leere: Die Rohre enden abrupt, offene Schlünde über einer kleinen Tafel mit der Information, dass WAT-R-Pods gegen Aufpreis an der Rezeption erhältlich seien, Installation nicht im Preis inbegriffen. Er glaubt sich an einen Artikel über WAT-R-Pods von vor einem Jahr zu erinnern, als Kalifornien von der alten Wasserversorgung zu einem neuen, privatisierten System übergegangen war, aber hat er den überhaupt gelesen? Insektenlärm dröhnt durchs Fenster, und vielleicht ist seine Lage ja überhaupt nicht so deprimierend. Vielleicht hat er einfach nicht genug Wasser getrunken, ist überhitzt und kann nicht klar denken.

In einer Fitnesszeitschrift für Männer hat er mal gelesen, dass Flüssigkeitsmangel zu einer ganzen Reihe psychischer Nebeneffekte führt: verlangsamtes oder fehlerhaftes logisches Denken, falsche Erinnerungen, hypersubjektive Meinungsbildung. Im Artikel wurde davor gewarnt, in dehydriertem Zustand wichtige Entscheidungen zu treffen. Erwachsene Männer sollten eine Stunde vor körperlicher Betätigung ein großes Glas Wasser trinken, und dann ein zweites eine Viertelstunde vor dem Aufwärmen. In den ersten zwanzig Minuten sollten rasch zwei kleine Gläser Wasser getrunken werden, und dann ein halber Liter für jede weitere Stunde anhaltender Belastung, bei heißen oder trockenen Bedingungen mehr.

Auf der Kommode neben dem Fernseher steht eine extragroße Flasche WAT-R Pure, die preisgünstigere kleine Schwester in der WAT-R-Produktfamilie. Anders als die Flaschen im Hipsterhotel – dickes, teures Plastik, in Diamantform gepresst – unterscheidet diese sich nicht von gängigen Wasserflaschen. Nur das WAT-R-Logo in eleganter Helvetica-Schrift ist dasselbe. Auf dem Preisschild steht 4,50 Dollar. Patrick schraubt den Deckel ab und stemmt den unhandlichen Gegenstand in die Höhe. Das billige Plastik gibt unter seinen Fingerspitzen nach, und weiches, klares WAT-R in der gleichen lauwarmen Temperatur wie sein Motelzimmer fließt tief in seine Kehle und hinterlässt dabei einen abgestandenen Geschmack, so wie Eiswürfel, die zu lange im Tiefkühlschrank waren.

Er setzt sich mit der Flasche zwischen den Knien ans Fußende des Bettes und versucht es noch zweimal bei Alison. Jemand hebt ab. Ein lautes, nahes Geräusch, etwas wird über die Sprechmuschel gewischt. Stille, dann Alisons Stimme, zögerlich, fragend. »Hallo?«

»Ich bins«, sagt Patrick. »Hab es vorhin schon mal versucht.« An seiner Stimme erkennt er, wie genervt er eigentlich ist

»Oh, das tut mir leid. Wann denn?«

»Egal.«

»Okay.« Er kann nicht genau sagen, ob sie von seiner Genervtheit genervt ist oder nicht, ob er ihr vielleicht gänzlich egal ist.

»Ich bin jedenfalls gut gelandet. Zwei Jungs von der Produktionsfirma haben mich abgeholt. Richtig viel scheinen die mit dem Film allerdings nicht zu tun zu haben, deswegen hebe ich mir meine Fragen für das Treffen morgen mit dem Produzenten auf.«

»Ah«, sagt sie. »Verstehe.«

»Die spucken zwar große Töne, als hätten sie eine Ahnung, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemals das Budget zu Gesicht bekommen oder jemand sich für ihre Meinung interessiert. Wahrscheinlich wussten die nicht mal, welchen VIP sie am Flughafen abholen und was seine Jobbezeichnung ist. Das sind nette Kerle, aber man merkt direkt, dass sie das große Ganze nicht überblicken. Ehrlich, das geht mir jetzt schon auf die Nerven, und das schon am ersten Tag. Na ja, ich werde wenigstens durch die Gegend chauffiert, darüber kann ich mich jedenfalls nicht beschweren. Hier ist so viel Verkehr, da würde man am liebsten an die Wand fahren. Immerhin ist schönes Wetter, strahlend blauer Himmel, kein Wölkchen zu sehen.«

»Ich weiß ja nicht«, erwidert Alison abgelenkt. »Ich mochte Wolken schon immer gern. Wie sie sich verändern und wachsen und vorbeigleiten am Himmel. Da wird der Himmel zum Unterhaltungsprogramm, so wie im Theater oder im Kino, wo man nach und nach die Stereotypen kennenlernt, die immer wieder auftauchen. Meine Lieblingswolken waren immer die Zirruswolken, schon als kleines Kind.«

Patrick schweigt.

»Patrick, bist du noch da?«

»Ja, ich bin hier.«

»Zirruswolken, weißt du, welche ich meine? Weiche, hauchzarte Baumwollfetzen, die gedehnt am Himmel treiben. In der vierten Klasse habe ich mal welche gebastelt, dafür habe ich zwei Packungen Wattestäbchen gebraucht.«

Er lässt sich wieder aufs Bett fallen und atmet geräuschvoll aus. Im Laufe der letzten Wochen hatte er versucht, ihr Filme über Hollywood zu zeigen, über Schriftsteller, die in die Filmbranche wechseln, und Polizisten, die auf der Suche nach den Mördern schöner Frauen die Hügel durchkämmen, hatte ihr Immobilienangebote für modernistische Villen mit Pools und Formschnitthecken geschickt, die gewagt an den braunen Hängen balancierten. Für Nora hatte er ein Buch über glamouröse Schauspielerinnen vergangener Tage besorgt und gehofft, ihr Interesse an historischen Katastrophen auszuweiten, eine Faszination für die Branche und den Bundesstaat zu kultivieren, wo er sie praktisch schon leben, lachen und in der Sonne baden sah. Die Zukunft in Kalifornien, mit Pool und Trampolin, auf dem Nora sich in den wolkenlosen Himmel katapultieren konnte, war mit jedem Tag greifbarer geworden. Seine Tochter würde mit dem Kardashian-Nachwuchs zur Schule gehen, seine Frau könnte ihre blankliegenden Nerven kurieren und eine von diesen Frauen in Vintage-Kimono und mit hüftlangem Flechtzopf werden. Aber die beiden interessierten sich nicht groß dafür oder erfassten gar, was er vorhatte. Er kam sich vor, als würde er sich abrackern, in der Wüste nach einem verlorenen Schatz graben, ohne jeglichen Dank.

»Kannst du wenigstens so tun, als ob du dich für mein Leben interessierst?«, fragt er. »Ich bin hier in einem echten Abenteuer, und du gibst mir das Gefühl, ich würde allein zu Hause sitzen und mir alles nur einbilden.«

Abermals herrscht Stille in der Leitung, und als sich Alison wieder meldet, klingt ihre Stimme aufmerksamer, vertrauter.

»Tut mir leid, das war keine Absicht.« Sie seufzt. »Du weißt ja, was in letzter Zeit mit mir los war, nichts macht mir richtig Spaß. Ich kann mir bloß so schlecht vorstellen, dass uns etwas Gutes passiert. Ich weiß ja nicht, wie die Filmbranche funktioniert, aber ich weiß, wie sehr du dich darauf gefreut hast. Und ich bin stolz auf dich, wirklich. Nora auch.«

»Danke, das freut mich.« Tatsächlich fühlt sich Patrick etwas besser.

»Es hat nichts mit dir zu tun«, fährt sie fort. »Wirklich nicht. Ich weiß, dass du dir zwischendurch Sorgen gemacht hast. Die Sache mit dem Rasen … Ich weiß, wie schlimm das war.«

Er sieht Alison in Pyjamahose und T-Shirt auf dem Rasen vor sich und schüttelt die Erinnerung rasch ab.

»Ich weiß nicht, ob du verstehen kannst, wie es mir geht.« Ihre Stimme klingt leiser, blasser. »Ich weiß, dass ich dir das schon öfter erzählt habe. Wenn ich hinten aus dem Fenster gucke, sehe ich weder den Park noch die Bäume. Ich sehe bloß, dass alles stirbt. Einerseits weiß ich, dass das nicht stimmt, aber gleichzeitig sehe ich einen toten Ort. Verstehst du? Ich schaue Nora an und weiß, dass sie keine Zukunft hat, und es bricht mir das Herz. Und das Schlimmste ist, dass alle anderen fröhlich durch die Gegend fahren, Gasgrills kaufen und sich doppelte Cheeseburger reinschieben, und niemand scheint zu merken, dass wir alle sterben. Niemand sonst sieht es so wie ich, und das heißt, dass alle Hoffnung verloren ist.«

»Hörst du das?«, fragt Patrick eindringlich. »Hörst du, was du da sagst? Wenn dir das jemand erzählen würde, deine Schwester oder Nora oder ich, was würdest du uns raten? Dass wir uns dringend Hilfe suchen, richtig? Mit jemandem darüber sprechen.«

»Oder vielleicht würde ich euch auch zuhören. Überlegen, ob da nicht vielleicht etwas dran ist.«

Im Hintergrund ertönen Stimmen. Er hört, wie sie die Hand über den Hörer legt und mit jemandem spricht.

»Was war das?«, fragt Patrick. »Mit wem redest du da?«

»Nora«, erwiderte Alison abgelenkt. »Sie wollte wissen, ob sie ihren warmen Mantel einpacken soll.«

Plötzlich wird Patrick nervös. Er steht auf, tritt ans Fenster, schiebt den Vorhang beiseite und betrachtet das einsame Auto am anderen Ende des Parkplatzes, dessen Scheibenwischer bei leuchtenden Scheinwerfern hektisch vor- und zurückjagen, obwohl weit und breit kein Regentröpfchen in Sicht ist.

»Einpacken?«, fragt er. »Wohin fahrt ihr denn?«

Alison lässt sich Zeit mit der Antwort und spricht langsam. Womöglich will sie nicht nur Patrick, sondern auch sich selbst beruhigen. »Nora kommt mit mir in ein Natur-Retreat. Das ist eine Art, ich weiß auch nicht, Selbsthilfegruppe. Genau das, was ich deiner Meinung nach brauche.«

»Und wo genau? Wie heißt der Laden?« Er wird laut, was ihr bestimmt nicht passt. »Wie weit ist das von zu Hause weg? Und wie wollt ihr überhaupt dorthin kommen, du fährst doch gar kein Auto.«

»Ich versuche, kein Auto zu fahren«, erwidert sie. »Das lässt sich so einfach vermeiden. Fahrradfahren, Fahrgemeinschaften, der Bus hält direkt am Einkaufszentrum. Aber du weißt auch, dass ich, bevor ich mich selbstständig gemacht habe, jeden Tag mit dem Auto eine Stunde zu dieser Tierarztpraxis außerhalb von Philadelphia gefahren bin. Und es sind ja auch nur ein paar Tage, während du unterwegs bist. Mach dir bitte keine Sorgen«, fügt sie vorsichtig hinzu.

»Zu spät.«

»Brauchst du wirklich nicht, das ist ein renommierter Ort mit Webseite und allem.«

»Na dann«, sagt er sarkastisch. »Und hat dieser Ort auch einen Namen?«

»Earthbridge. Das Retreat nennt sich Earthbridge.«

»Klingt suspekt. Wohin führt die Brücke denn von der Erde?«

Sie seufzt. »Ich kann dir die Telefonnummer geben.«

Durch das Fenster im Bad, das nicht nur offen ist, sondern in dem die Scheibe gänzlich fehlt, bahnt sich der süße, feuchte Duft von nachtblühendem Jasmin gewaltsam einen Weg ins Zimmer. Nagetiere huschen über den efeubedeckten Hang hinter der Hacienda Lodge und bringen die breiten, dunklen Blätter zum Rascheln. Patrick tippt die Telefonnummer in eine Suchmaschine, erhält allerdings keinen Treffer. Dann versucht er es nur mit der Vorwahl. Upstate New York, richtig weit oben bei Oswego. Ganz in der Nähe hatte Cassidy Carter im Alter von neun Jahren ihren ersten Film gedreht, eine Feel-Good-Komödie, die in einem Ferienlager spielt, dessen Betreuer von einer Drogenschmugglerbande entführt werden, sodass Cassidy zur Anführerin wird und die Kinderschar in der Lebensmittelbeschaffung befehligt. Wie hieß der Streifen noch gleich? Er trinkt einen großen Schluck aus der Plastikflasche auf seinem Nachttisch und schläft mit offenem Mund in der kühlen, trockenen Luft ein. Die ganze Nacht über durchdringen seltsame Geräusche von den Hügeln hinter dem Motel seine strukturlosen Träume, eine Art Schmerzensschreie, die aber genauso gut Gelächter sein könnten.

2. KAPITEL

Auf den Fotos im Internet wirkt das Restaurant bezaubernd: ein schattiger, kühler Ort in einer Stadt, in der Sonnenlicht und nackte Haut regieren. Die Nahaufnahme einer gegrillten Wachtel mit eingelegter Kumquat auf einem bunten Salatbett aus hauchdünnem Fenchel, Kümmel und geräucherten Wacholderbeeren. Der Wachtelkörper ist fragil und präzise wie eine tropische Blüte. Kleine, angewinkelte Flügel und glänzende Schenkel umringen die leere Mitte, aus der die Eingeweide mit der liebevollen Geschicklichkeit eines Modellflugzeugbauers entfernt wurden. Dunkle Grautöne und gedecktes Blau bilden einen verschwommenen, stylischen Hintergrund. Ein anderes Foto zeigt eine graue, länglich s-förmige Granitbar, flankiert von glänzenden Jugendstilbarhockern auf der einen und einer Wand voll handgefertigter Tequilas auf der anderen Seite, die sich bis ins Gewölbe streckt. Auf die Esstische aus dunklem Holz und geöltem Metall am rechten Bildrand fallen düstere Schatten, ein Vermeer-Gemälde eines edlen Gastropubs. In Wirklichkeit fühlt sich das Restaurant dagegen höhlenartig an, dunkel und zurückgesetzt, mit einer Guillotine aus teuren Kupferlampen an der Decke.

Patrick sitzt in der Ecke einer ausladenden, mit himmelblauem Samt bezogenen Sitzecke, vor sich zwei neue Exemplare seines Romans Elsinore Lane. Er kann sich über seine Größe nicht beklagen, eins siebenundsiebzig, also fast schon eins achtzig, aber die Nische ist darauf angelegt, dass sich jeder Gast in ihr klein und schwach vorkommt, egal wie groß oder gut gebaut er oder sie auch sein mag. Die Rückenlehne mit Knopfpolsterung ragt ihm über den Kopf und endet in einem sich nach vorne wölbenden Kissen, das seinen Kopf leicht hinabdrückt, sodass er krumm dasitzen muss. Auf dem Weg hierher hatte seine Mitfahrgelegenheit im Stau gestanden, und er hatte fast die gesamte Fahrt hindurch überlegt, wie er Jay Arvid und Brenda Billington, den Produktionsleitern, die Verspätung verkaufen sollte. Verspätung, eigentlich ein Zeichen von Verantwortungslosigkeit, ließe sich unter den richtigen Umständen als Zeichen von Macht verkaufen. Was, wenn er zu spät war, weil er ein wichtiges Telefongespräch mit seiner Agentin geführt hatte? Was, wenn er eine längere Anfahrt hatte, aus Malibu oder Venice Beach zum Beispiel, wo er sich mit einem renommierten Cutter getroffen hatte, den er vielleicht mit an Bord holen wollte? Was, wenn er mit seiner Familie telefoniert hatte, ein fürsorglicher, geliebter Vater, der sich aus der Ferne um Probleme kümmerte?

Am Ende war er allerdings nur ein paar Minuten zu spät und das Restaurant leer bis auf die Mitarbeiter, die in die bodenlose Tiefe ihrer Smartphones starrten und ab und zu schäkernde Bemerkungen austauschten, wodurch er sich gänzlich unsichtbar fühlte. Inzwischen waren vierzig Minuten vergangen, und Patrick widmete sich jetzt der Überlegung, wie er sein frühes Erscheinen verkaufen sollte. Was, wenn auch er erst wenige Minuten zuvor eingetroffen wäre? Was, wenn sie ihn bei einem Telefonat vorfänden, das er gerade elegant beendete, bevor er sie mit einem herzhaften Klaps auf den Rücken begrüßte? Oder mit Handschlag und angedeuteter Umarmung? Er gibt dem Kellner ein Zeichen und bestellt noch etwas Brot und Olivenöl.

Arvid und Billington treffen ein, werden am Eingang vom Oberkellner, der Empfangsdame, dem Brotsommelier und dem gesamten Servicepersonal begrüßt und mit guten Wünschen überschüttet. Er kann sie zwar nicht sehen, aber anhand der Ausrichtung der schwarzhosigen Kellner ist es ihm trotzdem möglich, ihren Standort zu bestimmen. Er hält Ausschau nach dem Gesicht aus der Bildersuche, weicher Hals, kantige Nase, zierliches Kinn, doch der Mann, der sich aus der Personaltraube löst, wirkt weitaus markanter. Sein gebräunter, sehniger Hals scheint das Gewicht einer handgefertigten Axt zu besitzen, die mit zugehöriger handgefertigter Ledertasche angeboten wird, und er erinnert Patrick an jemanden, der für sein gutes Aussehen berühmt ist, einen austauschbaren Hauptdarsteller, oder eine glatte, flüssige Mischung aus all diesen Männern. Zuerst fällt ihm Gerard Butler ein, dann Edward Norton, dann Russell Crowe, doch je länger er Arvids Gesicht betrachtet, desto weniger gelingt es ihm, sich Vergleichsmodelle vorzustellen. Wenige Sekunden später steht Jay Arvid, der im Übrigen genau eins achtzig misst, allerdings größer wirkt, neben Patrick und zerrt ihn auf die Füße, um ihn mit einer Mischung aus Handschlag und Rückenklopfen zu begrüßen. Hinter ihm wartet Brenda mit seidigem nerzfarbenem Haar und roter XXL-Brille, die an einer kitschigen Goldkette befestigt ist, ein privilegiertes Kunsthochschultöchterchen aus mächtigem Elternhaus. Sie hebt die schlanke, bleiche Hand zur Begrüßung, obwohl sie nahe genug für einen Handschlag ist.

»Super, dass es geklappt hat.« Arvid klingt gleichgültig und aufrichtig auf einmal. »Wir freuen uns, den Autor kennenzulernen.«

»Wir speisen nicht jeden Abend mit Schriftstellern«, ergänzt Billington. »Da müssen Jay und ich wohl auf unsere Grammatik achten. Ich will ja nicht zu viel verraten, aber wir erwarten noch jemanden. Das wird eine Riesenüberraschung.«

Billington bestellt Rotwein für alle, und Patrick ruft die Kellnerin zurück an den Tisch und bittet um Wasser.

»WAT-R?« Die Kellnerin schaut von Patrick zu Jay zu Brenda. »Kein Problem.«

Wein gluckert aus der Flasche. Sie stoßen an. Patrick verschätzt sich am Rand seines mundgeblasenen Wasserglases und schüttet sich WAT-R übers Hemd. Alles scheint sich in anderthalbfacher Geschwindigkeit abzuspielen, ein Phantomfinger spult die Szene bis zur Haupthandlung vor. Er hält sein Glas gegen das Licht, um nach einem Knacks oder Riss zu suchen, doch er sieht lediglich die Deckenlampen, die sich in gefleckter Klarheit vor- und zurückbewegen. Die Eiswürfel sammeln sich am Boden, und das kommt ihm seltsam vor. Er überlegt, wo er das schon einmal gesehen hat, doch es fällt ihm nicht ein.

Brenda mustert ihn. »Keine Angst, das tut nichts. Ihr habt gar nicht so viel von dem Zeug an der Ostküste, oder?« Ihr Tonfall verunsichert ihn.

Patrick trinkt zwei kleine Schlucke und stellt das Glas wieder ab.

»Hamlin, eins muss ich Ihnen sagen.« Arvid lehnt sich zu Patrick. »Als ich Ihr Buch zum ersten Mal in der Hand hielt, da habe ich es umgedreht und folgende Worte auf der Rückseite gelesen: ›Eine Geistergeschichte‹, stand da. ›In Familienblut verfasst.‹ Da ist es mir kalt über den Rücken gelaufen. Was für eine tolle Geschichte.«

»Danke.« Patrick trinkt einen Schluck Wein. »Das Zitat stammt aus der Besprechung in der Times.«

»Geistergeschichten sind in unserer Branche eine sichere Nummer.« Brenda knabbert an einer Scheibe Brot. »Das gefällt dem Publikum. Geister tauchen nämlich nicht einfach so auf. Wo ein Geist ist, ist auch eine Geschichte.«

»Hm, ich sehe den Roman eigentlich nicht als reine Geistergeschichte«, erwidert Patrick. Er gerät in Fahrt, während er über seine Arbeit spricht. »Oder … vielleicht doch, wenn man Hamlet als solche liest, also eigentlich kaum. Das Buch ist inspiriert von persönlichen Erfahrungen. Nach dem Tod meines Vaters bin ich nach Hause zurückgekehrt und musste feststellen, dass meine Mutter in einer neuen Beziehung war. Wie eine ganze Kindheit von einem rasch zusammengewürfelten Erwachsenenleben davongeschwemmt wird. Wie das lebenslange Streben, den Vater zu übertreffen, von einem verfrühten Tod über den Haufen geworfen wird und man plötzlich orientierungslos dasteht. Der damit verbundene Schmerz. In Geistergeschichten geht es grundsätzlich um die Vergangenheit, um verschüttetes Trauma, das ausgehoben und ein für alle Mal begraben werden soll. Im Roman erforsche ich, wie die Erinnerung an einen Menschen, die ja an sich schon eine Art Geist ist, in der Gegenwart und der Zukunft weiterleben kann.«

»Hmm«, macht Brenda.

»Eine Story mit Fortsetzungspotenzial.« Jay kichert. »Nein, im Ernst. Vielleicht behalten wir Sie einfach hier, Sie können Ihre Familie rüberholen und so weiter.«

»Das Drehbuch habe ich allerdings noch immer nicht gesehen«, bemerkt Patrick beiläufig. »Ich weiß ja nicht, ob ich da noch irgendwas absegnen muss oder so. Mich würde nur interessieren, was euer Drehbuchautor daraus gemacht hat.«

»Jay, muss Patrick da noch irgendwas absegnen?«, fragt Brenda freundlich. »Die Änderungen, die unser Drehbuchautor vorgenommen hat? Ich glaube nicht, oder?«

Jay schüttelt den Kopf.

»Dann kann er ja vielleicht einfach ein Exemplar im Büro einsammeln«, schlägt Brenda vor. »Nächste Woche irgendwann? Bestimmt liegt noch irgendwo eins rum, das grad keiner benutzt.«

Die zwei nicken einander enthusiastisch zu.

Jay blickt ihn gutmütig an. »Wie gefällt es Ihnen hier in Kalifornien?«

»Ich glaube, hinter meinem Hotel hausen Kojoten«, erwidert Patrick abgelenkt. »Mitten in der Nacht geht das Geschrei los. Hört sich an wie Kinder, die sich wehgetan haben.«

»O ja«, pflichtet Brenda ihm bei.

Jay nickt. »So leben wir hier nun mal, dicht an der Schattenseite der Wildnis. Letzten Monat ist ein Reh in meinem Pool ertrunken. Nein, im Ernst. Jetzt machen wir immer den Witz, dass wir den schönen Pool lieber abgedeckt hätten.«

»Du kannst dir nicht die Schuld an allem geben, was auf der Welt passiert.« Brenda legt in einem unerwarteten Anflug von Zärtlichkeit die Hand auf seine. »Die Welt ist nun mal ein Ort, an dem schreckliche Dinge einfach geschehen.«

Dann steht sie abrupt auf und winkt in Richtung Eingang. Patrick spürt, wie sich die Atmosphäre verändert. Niemand dreht den Kopf oder gafft, doch sämtliche Körper werden von der unsichtbaren Gestalt angezogen, die sich einen Weg durch Kellner, Empfangsdamen und wartende Gäste bahnt, so wie die Äste eines Baumes, die alle dezent in dieselbe Richtung weisen und die Spuren von Wind und Sonne widerspiegeln. Plötzlich werden alle zu Schauspielern, die geschäftig ihren Aufgaben nachgehen und sorgfältig den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit ignorieren. Sie teilt die Menge in einem hauchdünnen Pullover und weißen Jeans mit teuer platzierten Rissen an den Kien. Es ist Cassidy Carter, mit den Haaren und dem Gesicht einer Puppe, was in echt überrumpelnd wirkt, so als wäre ein Bild zum Leben erwacht. Unter ihrem linken Arm klemmt ein perlmutterner Motorradhelm, dessen schillernde Oberfläche auf der einen Seite zerschrammt ist.

»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, keucht sie und greift nach Brendas Arm, um sie in eine Art halbherzige Umarmung zu zerren. »Ich hatte ein Meeting in der Stadt wegen so einer Werbekampagne, und das hat ewig gedauert, da rauszukommen. Ich bin am Verhungern. Habt ihr schon ein paar Kleinigkeiten bestellt?«

Jay steht auf und schließt sie in die Arme. »So schön, dich zu sehen, Cass. Toll, dass du es einrichten konntest.«

Patrick erhebt sich ebenfalls. »Hallo«, sagt er. »Patrick Hamlin. Sind Sie mit dem Motorrad gekommen?«

»Nein, warum?«

»Na, wegen des Helms.«

»Das ist Chanel.« Die ineinander verschlungenen Cs leuchten auf dem Helm.

»Cass, was magst du trinken?«, unterbricht Jay. »Sag dem netten Mann doch, was du möchtest.« Er deutet in Richtung des Kellners, der mit einem Korb handgemachter Tortillas in der Nähe steht.

»Doppelten Tequila mit Mineralwasser und ein Glas Wasser.« Cassidys Lippen sind voll und exakt gezeichnet, wie der perfekt gemeißelte Mund einer römischen Statue. Sie sieht die Flasche auf dem Tisch. »Und ein Weinglas für den Rotwein hier können Sie mir auch bringen.«

»Sehr gern.« Der Kellner wendet sich ab.

»Moment«, sagt Cassidy. »Ich will echtes Wasser, nicht die Billigkopie. Haben Sie da was Schönes, aus Norwegen oder Finnland oder so?«

Der Kellner deutet ein Nicken an. »Ich bringe Ihnen sofort die Karte.«

Jay setzt sich neben Patrick, und Cassidy gleitet neben Brenda auf die Bank. Brenda bestellt die über Kreosotkraut geräucherte Bergforelle, Cassidy die gegrillte Wachtel mit Kumquats, die auf dem Foto zu sehen war. Als Patrick an der Reihe ist, wird er von Jay unterbrochen, der ihnen jeweils ein Elchsteak bestellt, rare. »Er ist zum ersten Mal hier«, erklärt Jay dem Kellner. »Er weiß noch nicht, dass er genau das haben will.« Als das Essen kommt, fragt Brenda, ob Patrick den Platz mit ihr tauschen würde. Er quetscht sich an Jay vorbei und lässt ihr den Vortritt. Jay lehnt sich an die weiche, schwammartige Polsterung, und Brenda schneidet ihm den Elch fein säuberlich in kleine Quadrate. Unter der teuren Beleuchtung sehen die Würfel aus wie kleine Blutportionen, die in unmöglicher, unnatürlicher Form gefangen sind. Patrick betrachtet sein Steak. Er stellt sich einen Elch vor, wie er bei Sonnenuntergang durch einen Nadelwald trottet, die Hufe sinken weich auf Kiefernnadeln, und an seinem Hinterbein klafft ein leuchtend rotes Loch. Cassidy entfernt der Wachtel die Beine und dreht den winzigen Körper um, um ihn zu zerlegen.

»Also, Cassidy«, setzt Jay an. »Wir hatten diesen Termin hier mit Patrick, vertragsgemäß, und da kam Brenda auf die Idee, sich mit dir in Verbindung zu setzen, bevor es richtig losgeht. Wir dachten, das können wir ja kombinieren, direkt eine Party draus machen. Wie siehts aus, kannst du nächste Woche mit dem Dreh anfangen? Die Leseprobe ist morgen. Sollen wir dir ein Auto schicken?«

»Ach, schon gut.« Ihr Lächeln flackert kurz auf wie die Flamme eines fast leeren Feuerzeugs und entfaltet sich dann zu einem breiten Grinsen. »Ich fahre gerne selbst, überhaupt kein Problem. Außerdem stehe ich jeden Tag für mein Bikram früh auf, das kriege ich also locker hin. Ich starte gerne mit einer ordentlichen Runde Schwitzen in den Tag, um die ganzen Giftstoffe loszuwerden.« Sie neigt den Kopf und lächelt wie eine verführerische Maus.

Patrick blickt zu Cassidy: Sie sitzt aufrecht wie ein Schulmädchen, das Kinn leicht gereckt, sodass ihr glatter, weißer Hals länger wirkt, an einen Vogel erinnert. Im hauchdünnen himmelblauen Oberteil und den strahlend weißen Jeans wirkt sie gleichsam irdisch und überirdisch. Die gefasste, elegante junge Frau lässt sich nur schwer mit der wilden, waschmittelschwingenden Furie aus dem Video vereinbaren. Er greift nach seinem Glas und trinkt einen großen Schluck WAT-R. Die kalte Flüssigkeit drückt von innen gegen seine weiche rosa Kehle wie ein Stein. Er könnte an der Masse ersticken, doch sie verschwindet rasch in die dunkle Tiefe.

»Sag jedenfalls einfach Bescheid, falls es dir zu viel wird, dann schicken wir dir direkt jemanden mit einer Flasche Wasser und ein paar Vitaminen, der dich dann ins Büro bringt. Überhaupt kein Problem. Vielleicht kann Patrick das ja übernehmen.«

»Gute Idee, Jay«, sagt Brenda. »Unser Patrick hier ist kein typischer PA. Ein genialer Schriftsteller, klar, aber ehrlich gesagt fehlt ihm die Erfahrung als PA, und wir wollen ja nicht, dass er ziellos am Set rumstolpert. Er braucht eine besondere Aufgabe, und Cassidy braucht einen besonderen Assistenten. Das wär für euch beide interessanter als mit irgendeinem dahergelaufenen PA.«

Cassidy wirkt gelangweilt. »Morgen fahre ich selbst«, sagt sie. »Erster Schultag und so. Ich will mit meinem Auto angeben. Danach dann von mir aus.«