Der Streit um Pluralität - Juliane Rebentisch - E-Book

Der Streit um Pluralität E-Book

Juliane Rebentisch

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Beschreibung

In zehn hochkonzentrierten Kapiteln legt Juliane Rebentisch Hannah Arendts politische Philosophie der Pluralität frei und diskutiert sie im Horizont gegenwärtiger Debatten. Politik und Wahrheit, Flucht und Staatenlosigkeit, Sklaverei und Rassismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus, Moral und Erziehung, Diskriminierung und Identität sowie Kapitalismus und Demokratie sind die Stichworte der entsprechenden Auseinandersetzungen. Indem sie den Fokus auf das Motiv der Pluralität legt, lässt Rebentisch in diesen unterschiedlichen thematischen Kontexten jeweils den Zusammenhang von Arendts Gesamtwerk ebenso greifbar werden wie die Widersprüche, die es durchziehen.

Das Buch macht vermittels genauer Lektüren und unter Einbeziehung zeitgeschichtlicher Hintergründe die weitreichenden Implikationen von Arendts Denken sichtbar, und zwar vor allem dadurch, dass es die begrifflichen Sperren, die Arendt selbst diesem Denken setzte, klar herausarbeitet und konsequent kritisiert. Gerade deshalb erweist sich Der Streit um Pluralität, der hier mit und gegen Hannah Arendt auf beeindruckende Weise ausgetragen wird, als überaus passende Reverenz an eine Autorin, deren Liebe zur Welt sich auch in der Streitbarkeit ihrer Urteile gezeigt hat.

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Seitenzahl: 351

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Titel

3Juliane Rebentisch

Der Streit um Pluralität

Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2022© Juliane Rebentisch

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Umschlagfoto: Regina Göllner

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-77256-0

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

1. Intellektuelle in finsteren Zeiten

2. Das Geschehen der Pluralität

3. Im Negativraum des Erscheinens

4. Politische Optik

5. Liebe zum Leben, Liebe zur Welt

6. Die Weltlosigkeitshypothese

7. Eichmanns Unfreiheit

8. Assimilation und Diskriminierung

9. Paradoxien der Gleichheit

10. Das Erscheinen des Streits

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Namenregister

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71. Intellektuelle in finsteren Zeiten

Es besteht kein Zweifel, dass die Schriften von Hannah Arendt heute nicht zuletzt aufgrund der Aktualität ihrer Themen wieder mit großem Interesse gelesen werden. Ihre schonungslosen Beschreibungen von Flucht und Staatenlosigkeit, ihre klarsichtige Analyse der Aporien der Menschenrechte sowie ihre eindrücklichen Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Wahrheit haben Eingang in die öffentlichen Debatten unserer Zeit gefunden. Arendts Lebenswirklichkeit war bekanntlich geprägt durch die Erfahrung von Antisemitismus, Staatsterror, Flucht und Staatenlosigkeit und, in den USA, durch die Enthüllungen einer von unwahren Behauptungen, von Täuschung und Selbsttäuschung seitens der US-Regierung durchzogenen Geschichte des Vietnamkriegs. Trotz der historischen Differenz scheinen Arendts Versuche, ihre eigene Gegenwart zu verstehen, in unsere hineinzusprechen. Noch nicht einmal ein halbes Jahrhundert nach Hannah Arendts Tod im Dezember 1975 finden wir uns in einer Situation wieder, in der eine ethnonationalistische Rechte global Triumphe feiert, in der wir bezeugen mussten, wie ein US-Präsident von Anfang bis Ende seiner Amtszeit alles daransetzte, die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu untergraben, und in der die schlimmen Zustände in den immer zahlreicheren und immer größeren Flüchtlingslagern – der Arbeit internationaler Hilfsorganisationen und NGOs zum Trotz – jeden Tag aufs Neue den brutalen Kern nationalstaatlicher Souveränität demonstrieren. »Liest man Hannah Arendt heute […]«, schreibt Richard J. Bernstein, »überkommt ei8nen ein fast schon unheimliches Gefühl zeitgenössischer Relevanz«.[1] 

Sosehr also die Themen begründen, warum Arendt heute posthum als »Denkerin der Stunde« erscheint: Die gegenwärtige Arendt-Renaissance erklärt sich nicht im alleinigen Blick auf die Themen. Es gibt darüber hinaus eine Faszination für die Person der Denkerin selbst, die sich zum einen Hannah Arendts bewegter Biographie im Strudel der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verdankt,[2]  zum anderen aber auch dem intellektuellen Temperament einer Frau, die dieses Jahrhundert in Weisen gedeutet hat, die keineswegs unwidersprochen geblieben sind. Von diesem Temperament zeugen nicht nur einige Bild- und Tonaufnahmen, zum Beispiel das berühmte Fernsehinterview mit Günter Gaus.[3]  Es steckt auch im Ton all ihrer Texte, in der außerordentlichen Unabhängigkeit ihrer Urteile und in der großen 9Konsequenz, mit der sie diese trotz zum Teil erheblichen Gegenwinds und persönlicher Kosten in der Öffentlichkeit vertrat. Die geistesgeschichtliche Bedeutung Hannah Arendts bemisst sich nicht zuletzt an den zum Teil heftigen Kontroversen, die ihre Publikationen in der Öffentlichkeit auslösten.

Arendt war eine streitbare Intellektuelle, und diese Streitbarkeit hat einen Rückhalt in ihren Überzeugungen. Einen regelrechten Bärendienst würde man dem Erbe Hannah Arendts erweisen, würde man ihren Schriften die Autorität heiliger Texte zusprechen und sie so aus dem Raum der lebendigen Auseinandersetzung entfernen. Eine solche Heiligsprechung zu versuchen, wäre vermutlich ohnehin kein sonderlich aussichtsreiches Unterfangen, denn es ist eine der wesentlichen Qualitäten von Arendts Arbeiten, dass sie sich genau dagegen sperren: zu provokativ oft die Thesen, zu sarkastisch häufig der Ton, zu eigensinnig die Argumentation. Zwischen diesem Eigensinn der Texte und den darin entfalteten Thesen besteht ein interner Zusammenhang. Denn dass vom Werk die Person der Autorin nicht abzuziehen ist, dass sie in ihm auf spezifische Weise präsent bleibt, ist keine Äußerlichkeit, wenn es um ein Motiv geht, das sich wie ein roter Faden durch all ihre Publikationen zieht: Pluralität.

Tatsächlich steht die Überzeugung, dass menschliche Würde nicht ohne Pluralität gedacht werden kann, im Hintergrund ihrer umstrittensten Interventionen. So grundiert diese Überzeugung ihre Verurteilung der Gedankenlosigkeit als einer banalen, aber darum besonders weitreichenden 10Form des Bösen im Eichmann-Buch ebenso wie ihre eigenwillige Verteidigung sozialer Diskriminierung im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit den staatlichen Maßnahmen zur Desegregation an Schulen im US-amerikanischen Little Rock. Sie ist auch zentral für ihre Hauptwerke Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Vita activa und Über die Revolution. Die Überzeugung, dass die Entfaltung menschlicher Würde auf Pluralität angewiesen ist, bestimmt ihren Begriff der Öffentlichkeit und ihre Unterscheidung von Macht und Herrschaft; sie motiviert Arendts Kritik der modernen Arbeitsgesellschaft ebenso wie ihre Aversion gegen die Gleichsetzung von Souveränität und Freiheit sowie den Sog der Brüderlichkeit. Sie ist in ihrer frühen Kritik der Assimilation ebenso präsent wie im Spätwerk über das Denken und Urteilen. Kurz: Arendts Texte können in wesentlichen Zügen als Beiträge zu einer »Apologie der Pluralität«[4]  gelesen werden.

Hebt man das Arendt'sche Begriffsnetz von der Seite der Pluralität hoch, wird jedoch nicht nur ein Zusammenhang des Gesamtwerks deutlich, vielmehr gewinnt der Begriff der Pluralität auch umgekehrt durch die unterschiedlichen Beleuchtungen und Bezüge an Komplexität. Wie ich im Folgenden zu zeigen hoffe, eröffnen sich auf diese Weise überdies Perspektiven auf das Werk Hannah Arendts, die sich im Horizont gegenwärtiger Debatten als einschlägig erweisen, und zwar nicht zuletzt dadurch, dass sie es erlauben, 11Arendt gegen Arendt zu diskutieren. Dass Arendts Schriften zu einer solchen – mit der Autorin gegen sie streitenden – Lektüre einladen, hat indes nicht nur etwas mit dem Gedankenreichtum ihrer Schriften, sondern auch mit der Qualität der Präsenz der Autorin in ihnen zu tun. Denn diese wirkt einer unbedachten Übernahme der Thesen entgegen und fordert stattdessen zur aktiven Stellungnahme heraus. In diesem Effekt zeigt sich, dass sich das Motiv der Pluralität auch noch in der Weise manifestiert, wie Arendt ihre Publikationen, wie sie ihre eigene öffentliche Rolle verstanden hat.

Ihrem Selbstverständnis als öffentliche Intellektuelle kommt man vielleicht dort am nächsten, wo sie über das intellektuelle Profil eines anderen spricht. In ihren »Gedanken zu Lessing«, die sie anlässlich der Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg 1959 vortrug, zeichnet sie ein Bild Lessings, in dessen Konturen sich die von Arendt selbst erkennen lassen. Lessing wird hier charakterisiert als jemand, der noch dort, wo er sich zum Denken zurückzog, zu anderen hinsprach.[5]  Das Denken, das die westliche philosophische Tradition seit Platon zumeist dem Handeln kontrastiert, weil es mit einem Rückzug von der Welt verbunden ist,[6]  zeichne sich bei Lessing durch einen »heimlichen Bezug« (GL 19) zum Handeln und auf die Welt aus. Bei Arendt ist dieser Bezug freilich nicht heimlich geblieben. Ihre Liebe zur Welt ist sicher ein wesentlicher Grund, weshalb sie sich angesichts des traditionellen 12Spannungsverhältnisses zwischen Philosophie und Politik, zwischen Denken und Handeln trotz ihres Studiums der Philosophie nicht als Philosophin, sondern als politische Theoretikerin (vgl. GG 45) verstand, der es im Denken um die Welt (des Handelns und der Politik) selbst geht. Arendts Selbstverständnis als politische Theoretikerin bezieht sich aber nicht nur auf die Gehalte ihres Denkens oder auf dessen impliziten Bezug zur Öffentlichkeit. Vielmehr geht es auch um die Idee davon, wie dieses Denken in ihren Schriften erscheint, wie es öffentlich auftritt. Auch in diesem Punkt gibt es eine gewisse Resonanz mit ihrer Charakterisierung Lessings.

Mehr noch als der eigenen Position sei Lessing nämlich, wie Arendt betont, dem intersubjektiven Raum verpflichtet gewesen, in dem die eigene Position von anderen verhandelt und also auch bestritten werden kann. Es wäre ein Missverständnis, aus dieser Haltung einen erkenntnistheoretischen Relativismus oder gar eine frivole Indifferenz den eigenen Überzeugungen gegenüber abzuleiten. Lessing war überaus parteiisch und geradezu obsessiv detailversessen in der Sache. Aber jede noch so leidenschaftlich vertretene und hart erarbeitete Überzeugung richtete sich an die Öffentlichkeit als derjenigen Instanz, vor der sie sich zu bewähren hat, ja, die Leidenschaft der Argumentation speiste sich nicht zuletzt aus dieser Adressierung. Dem entsprach ein Denken, das hinsichtlich seiner programmatisch vorläufigen Resultate nicht nur mit Einwänden aus erwarteten wie unerwarteten Richtungen rechnete, sondern aus der Möglichkeit solcher Bestreitung sein Lebenselixier bezog. Der polemische Ton, der Lessings Texte zum Teil auszeichnet, ist nach Arendts deutlich sympathisierender Deutung Ausdruck weniger von Rechthaberei denn eines Wissens um die Be13schränktheit der Perspektive des Einzelnen (vgl. bes. GL 39-45).

Lessing war davon überzeugt, dass es die eine, von solchen Perspektiven unabhängige Wahrheit nicht gibt, sondern dass es Wahrheit im Gegenteil nur durch den Vergleich der Perspektiven selbst geben kann. Denn im Streit der Meinungen, im Prozess des Austauschs von Gründen, ist es möglich, dass die jeweiligen perspektivischen Bestimmungen der Wahrheit durchaus an Allgemeinheit gewinnen, dass sie mehr werden als subjektive, willkürliche Bestimmungen oder bloße Meinungen. Dennoch aber, und auch das war Lessing durchaus bewusst, kann keine Bestimmung der Wahrheit die Bedingung der Endlichkeit aufheben. Auch die jeweils als allgemein gültig akzeptierten Bestimmungen bleiben prinzipiell an die Möglichkeit ihrer Bestreitung ausgesetzt. Nichts, auch das, was sich als Wahrheit etablieren mag, ist vor dieser Möglichkeit sicher oder sollte es sein. In diesem Sinne, so war Lessing überzeugt, kann die Wahrheit bei jedem Streit nur gewinnen. Denn noch jeder Streit hat »den Geist der Prüfung genährt, […] Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz […] die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen.«[7] 

Die Begeisterung für ein derart »unorthodoxes« (GL 39) oder genauer: nachmetaphysisches Wahrheitsverständnis verbindet Arendt nicht nur mit Lessing, sondern auch, allerdings nicht ganz so ausdrücklich, mit Nietzsche.[8]  Gleiches 14gilt für das nonkonformistische Misstrauen allem gegenüber, was gemeinhin für objektiv und unverrückbar wahr gehalten wird, für die Bereitschaft, gewohnte Perspektiven und Wertungen umzukehren, und für einen gewissen Zug zur sprachlichen Zuspitzung. Bei allen dreien – Lessing, Nietzsche, Arendt – nährt sich der polemische Geist aus der Überzeugung, dass kein Mensch jemals im Besitz der Wahrheit sein kann. Den »eingeschränkten Göttern«, wie Arendt Lessing zitiert (GL 39), ist Wahrheit nur im Medium des intersubjektiven Vergleichs ihrer Perspektiven möglich: »[J]e mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen«, so Nietzsche in Zur Genealogie der Moral, »um so vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache, unsre ›Objektivität‹ sein«.[9]  Die beschränkten Perspektiven der Einzelnen erscheinen dann nicht, wie es die philosophische Tradition häufig gesehen hat, als unüberwindbare Hindernisse, wenn es darum geht, zur Objektivität der Welt vorzudringen, sondern im Gegenteil als die einzig verfügbaren Werkzeuge, diese Objektivität zu erschließen – gesetzt den Fall, das aus der beschränkten Perspektive der Einzelnen jeweils als wahr Erscheinende wird der Prüfung durch andere unterzogen.

Ein solcher erkenntnistheoretischer Perspektivismus geht, 15wie Arendt immer wieder hervorgehoben hat, philosophiegeschichtlich auf Sokrates zurück. Seinen Ausspruch »Ich weiß, dass ich nichts weiß« versteht Arendt als Ausdruck einer tiefen Einsicht in die beschränkten Perspektiven der Sterblichen. Entgegen der seit Platons Höhlengleichnis etablierten Unterscheidung von philosophischer Wahrheit und bloßer Meinung nimmt Arendt entschieden für Sokrates Partei. Denn Sokrates wendet sich eben nicht im Namen einer vermeintlich höheren Wahrheit von den gewöhnlichen Sterblichen und ihren Meinungen ab, sondern legt in den Meinungen selbst ein Wahrheitspotenzial frei. Seine Mäeutik, die sokratische Hebammenkunst, zwingt die Gegenüber im Gespräch dazu, ihre Meinungen im Spiegel anderer möglicher Sichtweisen zu betrachten und so auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Ebendarin war Sokrates skandalös: dass er die gewöhnlichen Bürger zur Philosophie verführte – mit dem Ergebnis, dass sich die »unbedarfte Sittlichkeit« Athens, wie Hegel das vorkritische Verhältnis der Athener zu den geltenden Gesetzen und Geboten nannte, zersetzte.[10]  In Hegels Augen ist das sokratische Prinzip jedoch von einem entscheidenden Mangel gezeichnet: So helfe Sokrates' Gesprächsführung zwar dabei, Vorurteile infrage zu stellen, und motiviere zum ernsthaften Nachdenken, jedoch führe sie nicht auf das positive Resultat einer neuen Wahrheit, wie dies ein ordentliches philosophisches System beanspruchen müsse. Für Hegel beginnt deshalb auch erst mit Platon die »philosophische Wissenschaft als Wissen16schaft«.[11]  Auch Arendt bemerkt, dass es »[n]ach all dem, was wir von Sokrates' Wirkung wissen, […] offensichtlich [ist], dass viele seiner Zuhörer nicht mit einer wahrhaftigeren Meinung nach Hause gegangen sind, sondern mit gar keiner« (S 64). Doch sieht sie in Sokrates' Abstinenz gegenüber jeder Festlegung auf eine positive Wahrheit gerade die Bedingung der Möglichkeit für das eigentliche Projekt des Sokrates, nämlich »alle um ihn her und zuallererst sich selbst wahrhaftiger zu machen« (S 65).

Dieses Projekt ist ebenso philosophisch wie politisch. Denn die »Bürger wahrhaftiger zu machen« bedeutet, die »doxai [zu] verbessern, die Meinungen, welche das politische Leben bildeten, an dem [Sokrates] teilnahm« (S 49). Die doxa, die Meinung, bezieht sich auf das, was »mir scheint«, sie erfasst die Welt, wie sie sich dem Einzelnen – in seiner beschränkten Perspektive – darbietet. Sie ist darin weder einfach willkürlich noch aber etwas Absolutes und Allgemeingültiges (vgl. S 47). Wahrheitsfähig, also »besser«, wird sie jedoch erst in dem Moment, in dem die Bürger, die sie vertreten, wahrhaftig werden, in dem Moment also, in dem sie in ein reflektiertes Verhältnis zu ihren Meinungen treten. Denn diese Form der Reflexivität speist sich aus der Erfahrung, dass die Welt anderen anders erscheint und dass die Wahrheit der doxa sich deshalb einzig in der Übereinstimmung der verschiedenen Perspektiven zeigen kann.

17Selbst wahrhaftig zu werden kann dann nur heißen, gerade auch in der Einsamkeit des die eigenen Meinungen überprüfenden Denkprozesses noch auf die Welt und die sie auszeichnende Pluralität hin orientiert zu bleiben. Die »Signatur dieser Pluralität« (S 60) zeigt sich daher nicht zuletzt im denkenden Selbstgespräch. In dem von der impliziten Anwesenheit anderer gezeichneten Selbstgespräch kommt der Denkende, so Arendt, zwar gar nicht umhin, sich selbst eine Meinung, also eine eigene doxa, zu bilden (S 81f.). Auch eine solche in der Einsamkeit des prüfenden Selbstgesprächs entwickelte doxa aber kann niemals einen abschließenden Wahrheitsanspruch erheben. Vielmehr ist die Wahrhaftigkeit denkender Selbstkritik die Voraussetzung einer funktionierenden politischen Öffentlichkeit (vgl. S 62), in der sich deren Resultate – als dennoch »nur« endliche – aufs Neue erst als wahrheitsfähig zu erweisen haben.

Orientiert man sich an Sokrates statt an Platon, so liegt die besondere Stellung des Philosophen gerade nicht in einem gegenüber dem Feld der Meinung substanziell verschiedenen Zugang zur Wahrheit; auch er kann schließlich die Bedingung der Endlichkeit nicht überwinden. Sie liegt vielmehr in einer Bereitschaft zur staunenden Infragestellung der eigenen Überzeugungen sowie in einer Verpflichtung auf die Pluralität der Meinungen selbst, in deren vergleichender Konfrontation allein die Wahrheit erschlossen werden kann – und dies immer wieder neu. Denn in ihrer Abhängigkeit vom Abgleich der Perspektiven muss die Wahrheit geschichtlich und also als fallibel gedacht werden. Das heißt aber auch, dass das Wahrheitspotenzial der doxai immer wieder dem »Dogmatismus des doxazein« (S 82), dem »Dogmatismus derer […], die lediglich über Meinungen verfügen« (ebd.), abgerungen werden muss: Weil der 18einzige Ort der Wahrheit, die Intersubjektivität der Sprache, zugleich auch der Ort des Geredes, der unbedacht übernommenen Meinung ist, muss die Wahrheit dieser Dimension immer wieder neu abgewonnen werden; und zwar durch Fragen und die von solchen Fragen provozierten Begründungen von dem, was jeweils für wahr gehalten wird. Genau hierin liegt die Rolle des Sokrates als des ersten public intellectual: »Die Rolle des Philosophen besteht […] nicht darin, den Staat zu regieren, sondern dessen Bürger permanent zu irritieren (mit dem von Sokrates gebrauchten Bild: wie eine lästige summende Bremse) […].« (S 49)

Es fällt nicht schwer, im sokratischen Modell des Intellektuellen als »lästige[s] Insekt« (S 63) einen Vorläufer des »Ahnherr[n] und Meister[s] aller Polemik in deutscher Sprache« (GL 41) zu sehen – einen Vorläufer Lessings. Dennoch ist die Lage für Lessing eine grundsätzlich andere als für Sokrates. Denn Lessing ist nach Arendts Diagnose bereits mit einer Situation konfrontiert, in der der plurale Raum der Öffentlichkeit gegenüber der Antike deutlich an »Leuchtkraft« (GL 12) verloren hat, in der die durch die öffentliche Diskussion der verschiedenen Perspektiven erzeugte Gemeinsamkeit der Welt im Schwinden begriffen ist (vgl. GL 19f.). Dies ist zugleich eine Situation, in der sich die Erschütterung etablierter Wahrheiten weniger einem durch Kritik angestoßenen öffentlichen Diskurs verdankt denn einem Zerfall des fragilen intersubjektiven Raums, in dem Wahrheit überhaupt ihren Ort haben kann. »In den zweihundert Jahren, die uns von Lessings Lebenszeit trennen«, bemerkt Arendt, »hat sich in dieser Hinsicht manches geändert, aber weniges zum Besseren« (GL 19f.): »Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen […] ist heute der Gegenstand der größten Sorge und der offenbars19ten Erschütterung in nahezu allen Ländern der Erde.« (GL 12) Man muss heute feststellen, dass sich die Lage in den rund 60 Jahren, seit Arendt diesen Satz vortrug, ebenfalls nicht zum Besseren verändert hat.

Schlagwörter wie »postfaktisches Zeitalter« oder »alternative Fakten« weisen auf die jüngste Krise der Wahrheit hin. Doch erweist sich die damit nahegelegte Diagnose vor dem Hintergrund des eben skizzierten Wahrheitsverständnisses als irreführend. An der Rede von den »alternativen Fakten« ist dann nämlich weniger der Umstand skandalös, dass bestritten wird, was allgemein als Tatsache erwiesen scheint, etwa dass zu Donald Trumps Amtseinführung im Januar 2017 deutlich weniger Menschen anwesend waren, als vom Pressesprecher damals behauptet, oder dass Joe Biden – und nicht Trump – die Präsidentschaftswahl 2020 gewonnen hat, sondern dass sich die Falschbehauptung aus dem Raum der Beweisführung meinte herausnehmen zu können. Der Skandal liegt nicht schon in der Behauptung einer alternativen Tatsachenwahrheit, sondern in der Abkehr von jenem Raum des Gebens und Nehmens von Gründen, an dem jeder Wahrheitsanspruch seinen Prüfstein findet. Und diese Abkehr findet ironischerweise gerade unter Berufung auf einen positivistischen Begriff der Tatsachenwahrheit statt. Mit anderen Worten: Das Problem der Rede von »alternative facts« liegt nicht bei »alternative«, sondern bei »facts«. Denn diese werden ohne jede Beweisführung, nämlich im Gestus schlichter Faktenfeststellung behauptet. Es geht in solchen Fällen jedenfalls offenkundig nicht darum, die Gegenseite argumentativ von der Evidenz einer alternativen Wahrheit zu überzeugen. Vielmehr werden die anderen als Gegenüber entwertet, wird ihr Einsatz im Feld der Gründe von vornherein diskreditiert. Die Be20rechtigung der öffentlichen Gegenrede wird – sozusagen gegen alle Evidenz – kategorisch bestritten. Davon zeugt die auch hierzulande erschreckend um sich greifende Rede von der manipulativen »Lügenpresse« ebenso wie die von den politischen Gegnern als »korruptem Establishment«. Hier, in der Bestreitung des Streits um die Wahrheit, liegt die Ungeheuerlichkeit des Vorgangs: Die »alternativen Fakten« werden als Alternativen präsentiert, zu denen es selbst keine mehr geben soll. Genau deshalb wird die positivistische Sprache der Fakten immer dann gesprochen, wenn die Orientierung der Öffentlichkeit an der Wahrheit mit Füßen getreten wird.[12] 

21Auch die Diagnose eines »postfaktischen Zeitalters« erscheint in diesem Licht irreführend. Sie setzt nicht nur den positivistischen Begriff der Tatsachenwahrheit voraus, der in der Linie Sokrates ‌– ‌Lessing ‌– ‌Nietzsche ‌– ‌Arendt eher als Teil des Problems denn als Teil seiner Lösung beschrieben werden muss. Zudem stellt diese Diagnose auf den falschen Problemzusammenhang scharf. Politische Falschbehauptungen, auch Lügen, hat es schon immer gegeben. Neu ist vielmehr der Umstand, dass der Nachweis der Lüge keine großen Konsequenzen mehr hat, weil von politischen Akteuren der gemeinsame Raum bestritten wird, in dem dies der Fall sein könnte. An die Stelle eines Streits der Meinungen, der die stets prekär bleibende Wahrheit entbirgt und lebendig hält, tritt dann die Durchsetzung von Interessen. Das ist ein Rahmen, in dem auch Lessings berühmter Satz »Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen!«[13]  absolut zynisch gewendet werden kann. Was bei Lessing ein Bekenntnis zu einem plural verfassten öffentlichen Raum ist, »in dem es viele Stimmen gibt und wo das Aussprechen dessen, was ›Wahrheit dünkt‹ 22sowohl verbindet wie voneinander distanziert, ja diese Distanzen zwischen den Menschen, die zusammen die Welt ergeben, recht eigentlich schafft« (GL 51), erscheint dann als eine Abkehr nicht nur von der Wahrhaftigkeit, sondern von der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit überhaupt.

Die Effekte dieser Abkehr, die mit einer offiziellen Geringschätzung der Welt und der Öffentlichkeit einhergehen, sind dramatisch. Denn durch diese Geringschätzung wird nicht nur die Frage, ob etwas wahr oder unwahr ist, ersetzt durch die nach den eigenen Interessen; eine solche Umstellung wird vielmehr die Gemeinsamkeit der Welt, in der allein ihr Bestand gewahrt werden kann, zerfallen lassen. »In der Geschichte«, liest man bei Arendt, »sind Zeiten, in denen der Raum des Öffentlichen sich verdunkelt und der Bestand der Welt […] fragwürdig wird, […] nicht selten« (GL 21). Arendt nennt sie mit Bertolt Brecht »finstere Zeiten« (ebd.).

So finster eine Zeit sich jedoch ausnehmen mag, die Finsternis wird, solange es Menschen im Plural gibt, nie total sein können. Das betont Arendt unter anderem in ihrem Kommentar zu den Pentagon-Papieren, die die nachgerade atemberaubende Entwirklichung dokumentieren, von der die Washingtoner Entscheidungsprozesse im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg geprägt waren – eine Entwirklichung, die Arendt vor allem auf den Einfluss von PR-Beratern und Akademikern auf die US-Regierung zurückführt, welche im Namen von Imagepflege oder Theorie daran gewöhnt waren, von einer Prüfung der Wirklichkeit selbst abzusehen. Es seien nämlich vornehmlich die Agenten dieser Entwirklichung selbst gewesen, die ihr vollends zum Opfer fielen (vgl. LP 345). Das schmälert den Schaden 23nicht, der entstehen kann, wenn ein derart entwirklichtes Bewusstsein zugleich mit der Staatsgewalt ausgestattet ist, die Welt nach den eigenen Interessen nicht nur auszulegen, sondern diese Auslegung auch durchzusetzen. Dennoch kann auch dies nur bis zu einem gewissen Grad gelingen. Denn das entwirklichte Bewusstsein mag auch und gerade die Wirklichkeit anderer Perspektiven ignorieren; ähnlich aber dem Kind, das die Hände vor die Augen nimmt und fragt: »Siehst du mich noch?«, kann es diese Perspektiven durch Ignoranz und wohl auch durch Gewalt niemals ganz ausschalten, im Gegenteil: Was sich den anderen darbietet, ist die in gewisser Hinsicht lachhafte Arroganz einer Haltung, die so agiert, als ob ihr Sieg im Streit der Meinungen bereits gegeben sei (vgl. LP 345). So zeugen unter anderem der Mut jenes, heute würde man sagen: Whistleblowers, der Auszüge aus den Pentagon-Papieren der Presse zuspielte, sowie deren Veröffentlichung durch die New York Times und die Washington Post für Arendt von einer anderen Realität als derjenigen, welche die US-Regierung sich zurechtgelegt hatte (vgl. LP 351f.).

Auch heute, unter dem Eindruck, dass sich die Entwirklichung der Welt durch einen Machthaber nicht nur unter aller Augen vollziehen, sondern in gewisser Hinsicht auch normalisieren kann, mag man darauf hinweisen, dass die mit einer solchen Entwirklichung einhergehende Arroganz die Öffentlichkeit und die von ihr hervorgebrachte Welt offenbar nicht vollständig zu verfinstern imstande ist. In den USA gab es auch während der Präsidentschaft Trumps noch Bestandteile eines demokratischen Systems, in dem die Möglichkeit der Infragestellung von Regierungsbehauptungen und -entscheidungen nicht nur vorgesehen ist, sondern auch geschützt wird. Es gab eine Presse, die der inte24ressierten Öffentlichkeit Material für eine Überprüfung der von der Regierung lancierten »alternativen Fakten« zur Verfügung gestellt hat; und es gab die Opposition, die schon aus strukturellen Gründen an der Debattierbarkeit der Regierungswahrheiten festgehalten hat – und damit an einem politischen System, das Rede und Gegenrede zwischen sich wechselseitig ernst nehmenden Opponenten vorsieht. In finsteren Zeiten ist dieses realitätsverbürgende Zusammenspiel demokratischer Institutionen allerdings nicht mehr selbstverständlich, ja, es droht dessen Auflösung.[14]  Zunehmend, und das betrifft keineswegs nur die Situation in den USA, in denen der Spuk des »Trumpismus« mit der Abwahl Donald Trumps keineswegs vorbei sein dürfte, geht es heute um den Konflikt zwischen solchen Parteien, die an einem gemeinsamen Raum des Streits orientiert sind, und solchen, die sich populistisch im Namen des »wahren Volkswillens« von ihm abkehren. Eine derartige Abkehr kann – wie die Delegitimierung des politischen Gegners, mit der sie einhergeht – freilich nur dort erfolgreich sein, wo von einer Feststellbarkeit des »wahren Volkswillens« vor allem Streit ausgegangen wird.[15]  Die Sorge um die Möglichkeit eines öffentlichen Streits der Meinungen und damit einer gemeinsamen Welt betrifft jedoch nicht nur die Gefahr, die in dieser Hinsicht von populistischen Parteien und Bewegungen ausgeht, sondern auch die Effekte, die ihre asymmetrischen, nämlich den Streit der Meinungen verlassenden Polarisierungsbestrebungen auf die »traditionelle« Medienlandschaft haben – sei es dergestalt, dass die einzelnen Zeitungen und 25Rundfunkanstalten schon gar nicht mehr damit rechnen, eine andere als die eigene Klientel überzeugen zu können; sei es dergestalt, dass die alte Neutralitätsidee der medialen Gleichbehandlung von politischen Opponenten unter Bedingungen asymmetrischer Polarisierung sich zugunsten derjenigen auswirkt, die kein Interesse mehr haben an der Bewährung ihrer Behauptungen in der öffentlichen Debatte und damit auch keines an der Institution der Presse als vierter Gewalt.[16]  Die Sorge um einen Verlust des öffentlichen Raums betrifft schließlich auch die explosive Mischung, die dieser Verlust mit dem Potenzial der neuen Technologien zur Manipulation der Meinungen bilden kann.[17] 

Angesichts der politischen Gefahren, die mit einem Verlust des öffentlichen Raums einhergehen, reicht es nicht aus, auf der Ebene des Streits von Meinungen zu verbleiben und etwa den von den Populisten behaupteten Wahrheiten andere entgegenzusetzen, wie dies derzeit häufig in etwas technokratischer Manier geschieht. Für Arendt in finsterer Zeit am dringendsten geboten ist eine Insistenz auf Menschlichkeit – allerdings nicht einer menschelnden Menschlichkeit, sondern einer Menschlichkeit à la Lessing, die der Möglichkeit des Streits der Meinungen Vorrang einräumt vor dem jeweils zu erfechtenden Sieg der eigenen 26Meinung, ihrer Durchsetzung als Wahrheit. »Weil Lessing ein so durchaus politischer Mensch war, hat er darauf bestanden, daß es Wahrheit nur geben kann, wo sie durch das Sprechen vermenschlicht wird […].« (GL 45) Denn »unmenschlich im wörtlichsten Sinne«, so Arendt weiter, wird jede Wahrheit in dem Moment, in dem sie sich solcher Besprechbarkeit entzieht, sei es – politisch – durch die Gewalt, mit der allein sie dann nur durchgesetzt werden kann, sei es – philosophisch – durch ihre Lokalisierung in einem von der Bedingung der Endlichkeit befreiten Reich letzter Ideen. In beiden Fällen wäre eine »Tyrannei der Wahrheit« (S 44) die Folge. Wenn Arendt es mit Lessing und Sokrates gegen Platon hält, also für den intellektuellen Einsatz im Streit der Meinungen und gegen die Entgegensetzung von Philosophie und Politik, von absoluter Wahrheit und bloßer Meinung plädiert, so geht es dabei nicht nur um die Verteidigung eines nachmetaphysischen Wahrheitsbegriffs, sondern zugleich um die Verteidigung einer menschlichen Welt. Gerade durch die herausgestellte Parteilichkeit in der Sache – ähnlich wie Lessing war Arendt in dieser Hinsicht »keineswegs ein besonders toleranter Mensch« (GL 40) – ist jede ihrer Interventionen an die unabsehbar vielfältigen Positionen und Meinungen anderer gerichtet und von der Bereitschaft begleitet, die eigene Position dem Fortgang des Austauschs von Gründen unterzuordnen, die perspektivisch angenommene eigene Wahrheit der Menschlichkeit einer durch die Differenzen zwischen den Menschen sich erst bildenden Welt zu »opfern« (vgl. GL 40-43). Denn eine Welt, so ist Arendt mit Lessing überzeugt, in der sich alle auf eine Meinung geeinigt hätten, hörte auf, eine Welt von und für Menschen zu sein. Gleiches gilt für eine Welt, in der sich niemand mehr um die Meinung der anderen scherte, 27eine Welt isolierter Einzelner. Als Intellektuelle in finsterer Zeit ist Arendt wie ihr Vorbild Lessing von einer Unruhe getrieben, die den Zerfall der Öffentlichkeit ebenso wenig erträgt wie deren Schließung und die sie deshalb nach beiden Seiten hat wachsam sein lassen.

Im Horizont dieser Sorge wächst das Bedürfnis nach einer »neue[n] politische[n] Philosophie« (S 85), welche die von Platon initiierte Entfremdung von Philosophie und Politik zu überwinden hätte, indem sie, wie Arendt am Ende ihres Vortrags über Sokrates spekuliert, zu jenem Staunen zurückkehrt, das am Anfang aller Philosophie steht. Gegenstand des »thaumazeins [Staunens] über das, was ist, wie es ist« müsste dann »die Pluralität des Menschen« sein, »aus der die ganze Vielfalt menschlicher Angelegenheiten hervorgeht« (ebd.). In ebendiesem Sinne aber ist Hannah Arendt selbst Philosophin gewesen: Ihr Werk kann als das einer politischen Philosophie gelesen werden, die ihren Ursprung im Staunen über die Pluralität des Menschen hat.

292. Das Geschehen der Pluralität

Hannah Arendts Staunen über die Pluralität des Menschen beginnt bei zwei Gegebenheiten, nämlich (1) der »Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern« und (2) »daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird«.[18]  Sosehr jedoch Arendts Texte vom Staunen über diese »grundsätzliche Bedingung« (VA 213) der Vielheit und Vielgestaltigkeit des Menschen geprägt sind, so sehr ist sie doch an der Pluralität des Menschen nicht als Bedingung, sondern als Implikation menschlichen Miteinanders im Sprechen und Handeln interessiert. Und weil Sprechen und Handeln für Arendt die politischen Tätigkeiten »par excellence« (VA 18) sind, geht es ihr also um Pluralität als ein politisches Phänomen.

Auch bei den jeweiligen Mitgliedern anderer Spezies gibt es »Variationen und Verschiedenheiten«, aber nur dem Menschen ist es laut Arendt »eigen, diese Verschiedenheit aktiv zum Ausdruck zu bringen, sich selbst von Anderen zu unterscheiden und eventuell vor ihnen auszuzeichnen, und damit schließlich der Welt nicht nur etwas mitzuteilen – Hunger und Durst, Zuneigung oder Abneigung oder Furcht –, sondern in all dem auch immer zugleich sich selbst« (VA 214). Sofern der Mensch sich von anderen Spezies also dadurch unterscheiden soll, dass er seiner Verschiedenheit Ausdruck verleiht und somit zur »Einzigartigkeit« 30(ebd.) ausprägt, scheint auch das, was Arendt »Pluralität« nennt, zwar biologisch vorgespurt zu sein, sich aber erst kommunikativ, das heißt im Miteinander, zu verwirklichen. Entscheidend ist für Arendt deshalb eine »zweite Geburt« (vgl. VA 215), durch die sich das qua »erster« Geburt von anderen Menschen bereits verschiedene Einzelwesen als einzigartiger, ja erst eigentlich als Mensch zur Welt bringt. Die Welt, um die es hier geht, ist eine dezidiert menschliche Welt. Sie besteht, wie man mit Arendt auch sagen kann, in einem durch die kommunikative Vermittlung der pluralen Perspektiven entstehenden und durch diese Vermittlung sich stetig verändernden »Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten« (VA 225, vgl. auch VA 234). Konsequenterweise geschieht die »zweite Geburt«, durch die sich die Einzelnen als einzigartige in die Welt oder zur Welt bringen, im Sprechen und Handeln mit anderen. »Sprechend und handelnd«, schreibt Arendt, »unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart« (VA 214).

Anders als die erste Geburt vollzieht sich die zweite offenbar durch die Initiative der Einzelnen: Sie müssen sich sprechend und handelnd in die Welt »einschalten« (vgl. VA 215). Dies darf nicht, wie Arendt erläutert, voluntaristisch verstanden werden, im Sinne eines »besonderen Entschlusses« (VA 214). Schließlich könne »kein Mensch des Sprechens und des Handelns ganz und gar entraten« (VA 214). Dennoch rechnet Arendt das »Minimum an Initiative« (VA 215) zum Sprechen und Handeln, ohne die kein Mensch als Mensch existieren kann, interessanterweise nicht den intersubjektiven Prozessen des Miteinander selbst zu. Obwohl sie betont, dass »Menschen im Singular gar 31nicht vorstellbar« (FP 214) sind, dass sie vielmehr wesentlich soziale und damit von der Kommunikation mit anderen abhängige Wesen sind, bindet sie die Initiative zum Sprechen und Handeln an die »Tatsache« des »Geborenseins« (VA 217). Dabei geht es ihr nicht, wie man vielleicht meinen könnte, darum, dass Menschsein zunächst voraussetzt, von einem anderen Menschen geboren worden zu sein,[19]  sondern es geht ihr um das »Wunder« (VA 316), dass mit jedem Kind, das geboren wird, nicht nur etwas Neues in die Welt kommt, sondern etwas Neues, das selbst Neues beginnen kann: ein »Anfang des Anfangens« (vgl. VA 216). »Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen« (VA 215), zitiert sie Augustinus – und überträgt, was dieser im Blick auf die göttliche Schöpfung des Menschen sagt, auf die innerweltliche Geburt jedes einzelnen Menschen: »Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen« (VA 215; vgl. auch 459, Anm. 3). Wie bei ihrer These, dass sich die biologisch gegebene Verschiedenheit, die der Mensch qua Geburt »mit allem Lebendigen teilt« (VA 214), kommunikativ als menschliche Einzigartigkeit verwirklicht, scheint Arendt auch hinsichtlich des Umstands, dass mit der Geburt jedes neuen Menschen etwas Neues in die Welt kommt, davon auszugehen, dass diese »Tatsache« vom Menschen im späteren Leben eingeholt, nämlich als Neuanfangen, mit dem sie das Anfangen unter 32der Hand gleichsetzt, im Handeln realisiert wird (VA 217). Allerdings ist dieses Neuanfangen Arendt zufolge zunächst etwas nicht sonderlich Hochstufiges, denn jedes Handeln sei in seinem »ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne« ein Neuanfangen: »[J]ede Aktion setzt vorerst etwas in Bewegung, sie agiert im Sinne des lateinischen agere, und sie beginnt und führt etwas weiter im Sinne des griechischen [archein].« (Vgl. VA 215) Sosehr insbesondere der Gedanke, dass nicht nur mit der Geburt eines jeden Menschen, sondern auch mit jeder (Sprech-)Handlung ein Neuanfang gemacht ist, zuweilen als der eigentlich originelle Beitrag Hannah Arendts zur Philosophiegeschichte gepriesen, gar mit zum »Unerhörtesten, was die moderne Geschichte des Denkens zu bieten hat«,[20]  erklärt wird, so erläuterungsbedürftig bleibt doch die suggestive Rückführung menschlicher Spontaneität auf das »Faktum der Natalität« (vgl. VA 216), und zwar selbst dann, wenn man die ebenfalls alles andere als selbstevidente Gleichsetzung von Handeln und Anfangen einmal beiseitelässt.[21] 

33An einer anderen Stelle spricht sie jedoch davon, dass die Fähigkeit zum Neuanfang – nun durchaus anspruchsvoll als die »Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare« verstanden – »ausschließlich auf der Einzigartigkeit beruht«. Zwar fügt sie hinzu, dass die Einzigartigkeit wiederum auf der »Gebürtlichkeit« beruhe, »kraft derer jeder Mensch einmal als ein einzigartig Neues in der Welt erschienen ist« (VA 217), und gerät damit begrifflich in Konflikt mit ihrer zuvor entwickelten These, dass die Einzigartigkeit, anders als die Verschiedenheit, eben gerade nicht bereits mit der biologischen Geburt gegeben sei, sondern sich erst im kommunikativen Miteinander verwirkliche. Aber die Stelle enthält einen Hinweis auf den fundamentalen Status, den die Einzigartigkeit – und damit die Pluralität – auch noch für das Denken der Möglichkeit des »schlechthin Unvorhersehbaren«, also des Ereignisses, einnimmt. Dieser Zusammenhang lässt sich allerdings nur dann erhellen, wenn man die von Arendt eingeführte Differenz zwischen Verschiedenheit und Einzigartigkeit, Vielheit und Pluralität schärfer stellt, als dies bei Arendt selbst der Fall ist.

Wie Sophie Loidolt in ihrer phänomenologischen Arendt-Rekonstruktion betont, meint Pluralität bei Arendt weder »eine bloß quantitative Vielheit« noch »eine quantitativ oder qualitativ benennbare Unterschiedenheit«,[22]  son34dern etwas viel Unfasslicheres, Fragileres, Flüchtigeres: ein im Sprechen und Handeln erst als solches sich realisierendes »Pluralitätsgeschehen«.[23]  Erst bei einem solchen Geschehen, in dem die Perspektive der Einzelnen sich in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit geltend macht, kann von »menschlicher Pluralität« gesprochen werden, das heißt von einer »Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist« (VA 214). Diese Einzigartigkeit ist dann jedoch gerade nicht, wie Arendt zuweilen nahelegt, als Kultivierung von biologisch angelegten Eigenschaften der jeweiligen Person zu fassen; vielmehr geht es, wie Loidolt erläutert, um die Einzigartigkeit des jeweiligen »Weltzugangs«,[24]  das heißt der Perspektive, aus der die Welt den Einzelnen erscheint: »Was die Einzigartigkeit […] ausmacht, ist, dass niemand die Stelle des anderen einnehmen kann, ohne entweder sich oder den Anderen dabei zu verlieren.«[25]  Die in diesem Sinne einzigartige Perspektive ist notwendig allem vorausgesetzt, was in ihr erscheinen mag. Das bedeutet zugleich, dass sie selbst nicht in der Weise objektiviert werden kann wie das, was in ihr erscheint. Die jeweilige Perspektive erscheint nicht selbst in der Welt wie andere Gegenstände, vielmehr macht sie sich mal mehr, mal weniger explizit in allem geltend, was über das, was in ihr erscheint, mitgeteilt werden kann. Weil der Weltzugang 35stets übersteigt, worin er sich, deshalb auch immer nur vorläufig, manifestiert, kann er sich im Sprechen und Handeln nur mit zeigen, nie aber als solcher vergegenständlicht werden.

Arendt überblendet dieses Motiv mit einer Ethik der Unfasslichkeit der Person. Das »Wer der Person« könne gerade nicht durch das Feststellen ihrer Eigenschaften bestimmt, sondern nur im lebendigen Miteinander erfahren werden. Versuche man die Person qua »Was« zu fassen zu bekommen, erhalte man allenfalls »Charaktertypen«, »die alles andere sind als Personen, hinter denen vielmehr das eigentlich Personale sich mit einer solchen Entschiedenheit verbirgt, daß man versucht ist, die Charaktere für Masken zu halten, die wir annehmen, um das Risiko des Aufschlusses im Miteinander zu verringern.« (VA 223) Wenn es nach Arendt eine greifbare Manifestation personaler Einzigartigkeit gibt, so in der Nachträglichkeit, in der sie sich in einer erzählbaren Geschichte auskristallisiert – einer Geschichte, die sich aus dem »Bezugsgewebe« zwischen den Menschen generiert, also gerade nicht in der Verfügungsgewalt der Einzelnen steht, die sprechend und handelnd ihre »Fäden« in dieses Gewebe »schlagen« (vgl. VA 226). Die für solche Geschichten entscheidenden Aspekte mögen sich zwar in der Gegenwart »für den Handelnden selbst erst einmal wie nebensächliche Nebenprodukte seines Tuns darstellen« (ebd.). Gleichwohl sind die von den Handelnden unter Umständen gar nicht intendierten Geschichten für Arendt »das ursprünglichste Produkt« des (Sprech-)Handelns im Miteinander, weil sich dieses »Produkt« nicht auf die »Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke« (ebd.) zurückrechnen lässt, sondern der Unvorhersehbarkeit des Miteinander selbst entstammt.

Dies legt nun eine Deutung nahe, nach der das unvor36hersehbar Neue eben nicht als »Begabung« (VA 217) an die Einzelnen – im Sinne einer biologischen Mitgift – zurückzubinden wäre. Vielmehr erscheint das Unvorhersehbare und Unkalkulierbare nun als eine Implikation des kommunikativen Pluralitätsgeschehens selbst. Der Zusammenhang zwischen erster und zweiter Geburt wäre dann ein anderer als der zwischen Anlage (als Anfang- und Verschiedensein) und ihrer kultivierten Aktualisierung durch das sprechende und handelnde Wesen (als Spontaneität und Einzigartigkeit). Ein Zusammenhang zwischen erster (biologischer) und zweiter (kommunikativer) Geburt wäre vielmehr durch das gegeben, was sich den Einzelnen konstitutiv entzieht, nämlich ihre Bedingtheit durch Alterität. Peg Birmingham hat diesen Aspekt an Arendts Idee der Natalität hervorgehoben: »Durch das Ereignis der Natalität werden wir«, schreibt sie, »in einer Öffnung gehalten, die wir nicht geschaffen haben und die wir uns nie aneignen können«.[26]  Wenn man die »Bedingung der Natalität« (VA 18) in diesem Sinne versteht, muss, so Loidolt im Anschluss an Birmingham, das kommunikative Pluralitätsgeschehen in seiner Produktion intersubjektiv erzeugter Unvorhersehbarkeiten als eine Aktualisierung ebendieser Bedingung vorgestellt werden: der Bedingung durch »Alterität, Entzug, Unergründlichkeit«.[27]  Dieses eher negativistische Verständnis des Zusammenhangs zwischen erster und zweiter Geburt betrifft indes nicht nur die vom Einzelnen nicht zu kontrollierende Generativität des Pluralitätsgeschehens. 37Auch die Einzigartigkeit der Person erscheint dann in einem anderen Licht: nicht als die kultivierte Fassung einer biologisch angelegten Besonderheit, sondern als die in keiner handelnden und/oder sprechenden (Selbst-)Positionierung je aufgehende Offenheit des Weltzugangs. Das »Wer« der Person erweist sich dann als gerade nicht fixiert, sondern wesentlich durch Kontingenz und Unvorhersehbarkeit bestimmt. Es ist damit offen für das Sich-Ereignen von etwas, das anders ist als das, als »was« es sich und anderen gerade erscheint.

Dass sich die für die Lebensgeschichten entscheidenden Momente nicht unbedingt mit dem decken, was die Person ursprünglich im Moment ihres Handlungsvollzugs intendiert hatte, erhält zudem eine Pointe für die in diesem Zusammenhang von Arendt eigentümlich übergangene Perspektive der ersten Person. Was der aktuell Handelnden unwichtig scheinen mag, kann sich später aufgrund der Verkettung ihrer Handlungen mit dem »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (VA