Die Kunst der Freiheit - Juliane Rebentisch - E-Book

Die Kunst der Freiheit E-Book

Juliane Rebentisch

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Beschreibung

Der Begriff der demokratischen Freiheit meint nicht nur diejenige Freiheit, die sich in politischen Institutionen und Verfahren verwirklicht. Vielmehr kann demokratische Freiheit in einem politischen Sinn nur dann angemessen verstanden werden, wenn sie als Ausdruck einer Kultur der Freiheit begriffen wird, die die Lebensführung im ganzen betrifft. In einer systematisch angelegten Theoriegeschichte zeigt Juliane Rebentisch, daß sich für das Verständnis der demokratischen Freiheitskultur besonders viel von ihren philosophischen Kritikern lernen läßt. Von Platon bis Carl Schmitt artikuliert sich die Kritik an der demokratischen Kultur als eine Kritik an deren »Ästhetisierung«. Die demokratische Kultur der Freiheit zu verteidigen heißt daher, ihre Ästhetisierung zu rechtfertigen.

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Der Begriff der demokratischen Freiheit meint nicht nur diejenige Freiheit, die sich in politischen Institutionen und Verfahren verwirklicht. Vielmehr kann demokratische Freiheit in einem politischen Sinn nur dann angemessen verstanden werden, wenn sie als Ausdruck einer Kultur der Freiheit begriffen wird, die die Lebensführung im ganzen betrifft. In einer systematisch angelegten Theoriegeschichte zeigt Juliane Rebentisch, dass sich für das Verständnis der demokratischen Freiheitskultur besonders viel von ihren philosophischen Kritikern lernen lässt. Von Platon bis Carl Schmitt artikuliert sich die Kritik an der demokratischen Kultur als eine Kritik an deren »Ästhetisierung«. Die demokratische Kultur der Freiheit zu verteidigen heißt daher, ihre Ästhetisierung zu rechtfertigen.

Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie/Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main. Letzte Veröffentlichung im Suhrkamp Verlag: Ästhetik der Installation (es 2318).

Juliane Rebentisch

Die Kunst der Freiheit

Zur Dialektik demokratischer Existenz

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-75650-8

www.suhrkamp.de

Inhalt

Ästhetisierung – eine Apologie. Einleitung

Erster Teil:Eine antike Krisendiagnose

I. Die provozierende Schönheit der Demokratie: Platon

1. Freiheit und Unbestimmtheit

2. Die Unfreiheit des Tyrannen

3. Der unstete Demokrat

4. Klarsichtige, prozessuale und totalisierte Willensschwäche

5. Willensschwäche oder die Freiheit von sich selbst

6. Die Unfreiheit des Opportunisten

7. Viel- und Fremdtuerei

8. Das Ereignis der inneren Natur oder die Freiheit zu sich selbst

9. Von Demokraten und Theatermännern

10. Theatrokratie: Die furchtlos urteilende Multitude

11. Masse und Mimesis

12. Selbstdifferenz und Perfektionierung

Zweiter Teil:Das ethisch-politische Recht der Ironie

II. Die Moralität der Ironie: Hegel

1. Der Beginn der Moralität in der sokratischen Ironie

2. Die Spaltungsarbeit des Sokrates

3. Ironie und Wahrheitspraxis

4. Hegels Kritik an Kant

5. Eine sokratische Reformulierung des Moralprinzips

6. Kritik der Romantik

7. Abstrakte und subjektive Freiheit

8. Das Böse und der »natürliche Wille«

9. Dialektik der Freiheit

10. Ein nichtrigoristischer Begriff von Selbstbestimmung

11. Konflikte mit und in der Moral

12. Hegels Verdrängung der subjektiven Freiheit aus der Sittlichkeit

13. Das Rätsel der sokratischen Tugend und die Historizität des Guten

III. Die Ethik der ästhetischen Existenz: Kierkegaard

1. Die negative Freiheit der sokratischen Ironie und ihre romantische Überbietung

2. Selbststeigerung und Selbstvergessenheit

3. Der impotente Verführer

4. Der behelmte Wille und seine Verzweiflung am Ästhetischen

5. Reue und Pflicht: Die Freiheit, das zu wählen, was man schon ist

6. Ein Sexismus für einen anderen

7. Die Liebe geschiedener Gesellschaftsdamen

8. Ästhetische und aristokratische Ausnahme

9. Von gewöhnlichen Sündern

10. Der Sprung des Glaubens

11. Wiederholungen

IV. Souveränität im Zeichen der Romantik: Schmitt

1. Ästhetisierung und Neutralisierung

2. Der Anblick einer Apfelsine

3. Fremde Kraft

4. Das Fremde im Eigenen und die Entscheidung

5. Politische Anthropologie

6. Schmitt und Kierkegaard

7. Politische Theologie

8. Das »konkrete Leben« und die Entscheidung

9. Schmitts Rousseauismus

10. Politik als Kritik der Politik

Dritter Teil:Demokratie und Ästhetisierung

V. Das Spektakel der Demokratie: Rousseau

1. Die Ironie des Schauspielers

2. Der öffentliche Ausdruck der Unbestimmtheit

3. Die Schauspielerin und ihre Parodien

4. Die wahre Mitte

5. »Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt«: Das Fest der Brüder

6. Alle Brüder sind auch Menschen: Das Problem männlicher Selbstdifferenz

7. Die zwei Paradoxien des Gesellschaftsvertrags

8. Die Souveränität des Gesetzgebers und das Urteil des »gemeinen Mannes«

9. Eine andere Gleichheit

10. Eine politisierbare Grenze

11. Die zwei Körper des Volkes

12. Repräsentation und Kontingenzcodierung

VI. Die Anästhetisierung des Politischen im Faschismus: Benjamin

1. Charisma versus Ratio

2. Politisierung der Kunst

3. Staunen statt Mitleiden

4. Der Blick des Fremden

5. Entfremdung

6. Anpassungsfähigkeit und Revolution

7. Charisma und Demokratie

8. Politisches Theater

9. Die Anästhetisierung des Politischen in der Postdemokratie. Ausblick

Danksagung

Nachweise

Siglenverzeichnis

Literatur

Namenregister

9Ästhetisierung – eine Apologie. Einleitung

Aus der Perspektive der praktischen Philosophie verheißt Ästhetisierung gewöhnlich nichts Gutes. Der Begriff steht vielmehr für die Diagnose einer Krise, von der unsere Lebenswelt insgesamt betroffen sein soll. Denn Ästhetisierung meint hier keineswegs bloß ein Phänomen der Oberfläche. Im Gegenteil – der so bezeichnete Prozess, und dies erst qualifiziert ihn als Krisenphänomen, soll in die Tiefenstruktur unserer ethischen Selbstverständnisse wie unserer politischen Kultur hineinreichen: An die Stelle der Ethik tritt eine individualistische Ästhetik der Existenz; an die Stelle der Politik tritt deren spektakuläre Inszenierung. Der Begriff der Ästhetisierung bezeichnet mithin eine tiefgreifende Transformation von Ethik und Politik; und zwar eine Transformation, durch die Ethik und Politik sich selbst fremd, nämlich ästhetisch werden. Denn Ästhetisierung bedeutet »grundsätzlich, daß Nichtästhetisches ästhetisch gemacht oder als ästhetisch begriffen wird«.[1] Dies legt zunächst eine Differenzthese nahe: Sofern der Prozess der Ästhetisierung als eine entstellende Transformation von Ethik und Politik gedeutet wird, setzt dies voraus, dass die mit dem Ästhetischen identifizierte Dimension dem eigentlichen Wesen von Ethik und Politik äußerlich ist. Zugleich aber deutet der Umstand, dass Ethik und Politik überhaupt ästhetisiert werden können, auf einen internen Zusammenhang dieser Sphären mit jener Dimension hin. Deshalb beinhaltet die Ästhetisierungskritik nicht nur eine Differenz-, sondern auch eine Zusammenhangsthese: Das Ästhetische erscheint hier nicht als Bedrohung von außen, sondern als eine Form der Entstellung, die Ethik und Politik von innen her zersetzt, weil in ihrer normativen Substanz aushöhlt. Für die Ästhetisierungskritik dreht sich folglich alles um die Ab- und Ausgrenzung des Ästhetischen, aber die entsprechende Auseinandersetzung findet auf dem Gebiet des Nichtästhetischen statt. Die Ästhetisierungskritik, könnte man auch sagen, dokumentiert den Eintritt (oder das re-entry) der Unterscheidung ästhetisch-nichtästhetisch ins Nichtästhetische. Sie 10thematisiert das Ästhetische nicht als einen Gegenstandsbereich, der dem Nichtästhetischen äußerlich gegenübersteht, sondern als eine innerhalb des Nichtästhetischen wirksame Dimension, die, einmal anerkannt, alles verändert.

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, was mit der ethisch-politischen Zurückweisung des Ästhetischen genau auf dem Spiel steht. Dabei ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass »das Ästhetische« im Diskurs der Ästhetisierungskritik keineswegs ein einheitliches Phänomen bezeichnet, sondern als Oberbegriff für eine ganze Reihe von Phänomenen firmiert, darunter so Unterschiedliches wie Genuss, Geschmack, Ironie, Distanz, Veränderlichkeit, kulturelle Vielfalt oder »Buntheit«, Inszenierung, Rhetorik und Schein. Ziel dieser Untersuchung ist es nicht, all dem einen konsistenten Begriff des Ästhetischen abzulesen. Ein solcher Versuch müsste nicht nur deswegen vorab als zweifelhaft erscheinen, weil aufgrund des ethisch-politischen Interesses der Ästhetisierungskritik nicht auszuschließen ist, dass die Kennzeichnung »ästhetisch« von ihr zuweilen auch als rhetorisches Mittel eingesetzt wird, um Elemente aus Ethik und Politik auszuschließen, die gar nicht originär ästhetisch sind. Darüber hinaus erwiese sich eine einseitige Auseinandersetzung mit dem von der Ästhetisierungskritik Abgewehrten für eine Theorie des Ästhetischen, bei aller Vielfalt der Gegenstände, noch als zu wenig inklusiv. Denn auf den zweiten Blick zeigt sich, dass die Ästhetisierungskritik keineswegs alle ästhetischen Praktiken verdammt. Gerade dort, wo sie sich gegen ganz handgreiflich ästhetische Phänomene wie beispielsweise das Theater wendet, verteidigt sie zugleich andere Formen ästhetischer Praxis, die mit den jeweils vertretenen Vorstellungen von Ethik und Politik übereinstimmen. Wir haben es bei der Ästhetisierungskritik also offenbar mit einer sehr spezifischen Verschlingung von ethischen, politischen und ästhetischen Motiven zu tun. Um diesen Knoten analytisch auseinanderzulegen bedarf es nicht, zumindest nicht in erster Linie, der Auseinandersetzung mit all den vorderhand ästhetischen Phänomenen, an denen sich die Ästhetisierungskritik aufrichtet. Vielmehr ist eine Diskussion der ethisch-politischen Probleme erforderlich, die diese Kritik motivieren und den systematischen Zusammenhang ihrer vielfältigen Motive verständlich machen. Das Feld der folgenden Untersuchung ist daher nicht primär das der ästhetischen Theorie, sondern das der praktischen 11Philosophie. Ihre Absicht ist es, Skepsis an der einseitig negativen Bestimmung der unter dem Titel der Ästhetisierung diskutierten Transformation von Ethik und Politik zu wecken, um stattdessen deren produktive Bedeutung für das Verständnis dieser beiden Sphären zu erkunden.[2] In diesem Sinn versteht sich das Folgende als Apologie der Ästhetisierung: als eine Apologie des ethisch-politischen Rechts, das der »ästhetisierenden« Transformation von Ethik und Politik selbst zukommt.

Eine systematische Auseinandersetzung mit dem Problem der Ästhetisierung scheint heute nicht zuletzt auch angesichts der Aktualität und Strahlkraft geboten, die der Begriff im Zusammenhang mit jüngeren Diskussionen um die sogenannte Postmoderne gewonnen hat. »Ästhetisierung der Lebenswelt« ist eine der prominentesten Formeln, mit denen man in den letzten zwei bis drei Dekaden versucht hat, die für das gegenwärtige Gesicht westlicher Gesellschaften entscheidenden Züge auf einen handhabbaren Begriff zu bringen. Die entsprechende Diagnose verbindet sich mit der These, dass das typische Mitglied solcher Gesellschaften als ein homo aestheticus verstanden werden muss, für dessen Lebensvollzug im weitesten Sinne ästhetische Kriterien wie Geschmack, Genuss, Gestaltbarkeit so bestimmend geworden sind, dass sich dies in nahezu allen Bereichen des Lebens niederschlägt. Dieser Befund schien schon vor mehr als zwanzig Jahren so unmittelbar evident zu sein, dass man innerhalb der Philosophie bereits eine Diskussion darüber begann, wie der so beschriebene Umbruch zu bewerten sei. Während die eine Seite eine Herrschaft des Scheins aufkommen sah, durch die Inhalte zu Bildern, Handlungen zu Performances und Selbstverständnisse zu Posen entleert werden,[3] verteidigte die andere ein generalisiert konstruktivistisches Selbst- und Weltverhältnis, das sich in der freien Gestaltung immer weiterer Bezirke des Lebens ausdrückt.[4] Allerdings musste der philosophi12sche Streit um die Bewertung einer als evident vorausgesetzten Gegenwartsdiagnose in dem Maße in der Luft hängen bleiben, wie diese hinsichtlich ihrer Reichweite empirisch in Zweifel gezogen werden konnte.[5] So standen denn auch gerade Versuche, die These von der Ästhetisierung der Lebenswelt empirisch zu fundieren, wie etwa Gerhard Schulzes These einer durch Überfluss hervorgebrachten »Erlebnisgesellschaft«,[6] schnell in der Kritik. Ihr wurde vorgeworfen, von einer privilegierten Schicht auf das Ganze der Gesellschaft zu schließen.[7] Heute scheinen sich die Parameter der sozialwissenschaftlichen Diskussion indes verschoben zu haben: Es gewinnen zunehmend Studien an Einfluss, aus denen hervorgeht, dass ästhetische Motive wie Kreativität, Spontaneität, Originalität nicht mehr einen privilegierten Bereich der Freiheit jenseits reproduktiver Zwänge anzeigen, sondern selbst zu einer derart wichtigen Produktivkraft des kapitalistischen Wirtschaftssystems geworden sind, dass sie sich in entscheidende gesellschaftliche Forderungen verkehrt haben, die für den Einzelnen eher ein Mehr an Zwang denn an Freiheit bedeuten.[8] In jedem Fall scheint inzwischen die Soziologie der zentrale Ort für die ernsthafte Auseinandersetzung um die angemessene Beschreibung, Erklärung und Bewertung des für die westlichen Demokratien nach wie vor auffällig hohen Stellenwerts zu sein, den ästhetisch konnotierte Kriterien im Leben der Einzelnen wie für die Organisation der Gesellschaft einnehmen.

Doch so relevant die sozialwissenschaftlichen Debatten zweifelsohne sind – ich werde auf ihren neuesten Stand verschiedentlich[9] zurückkommen –, ich bin der Meinung, dass sich die Philosophie in den letzten Jahren zu Unrecht aus der Diskussion zurückgezogen hat. Denn die Ästhetisierungsdiagnose impliziert eine Annahme über das eigentliche, das unverstellte Wesen von Ethik und Politik; 13und das ist eine systematische, keine bloß empirische Frage. Der spezifische Einsatz der Philosophie im Kontext zeitgenössischer Ästhetisierungsdiagnosen kann jedoch erst dann im vollen Umfang deutlich werden, wenn man sich vom Geschäft der Gegenwartsdiagnose ab- und, wie ich das im Folgenden tun will, der Geschichte der Philosophie zuwendet. So setzt sich der Begriff der Ästhetisierung schon in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts durch; er ist also bereits für die Theorie der Moderne und nicht erst für die der Postmoderne relevant. Entscheidender aber ist, dass die heute unter diesem Begriff geführte Diskussion eine noch viel weiter zurückreichende Geschichte hat. Ästhetisierung ist mithin ein keineswegs so neues Problem, wie es in den jüngeren Debatten den Anschein haben mag; und es hat traditionell viel mehr mit Philosophie zu tun, als man im Blick auf den weitgehend (kultur-)soziologischen Zuschnitt des aktuellen Ästhetisierungsdiskurses meinen könnte. Tatsächlich hat die Auseinandersetzung mit der Herausforderung, die bestimmte ästhetische Motive für das Verständnis von Ethik und Politik stellen, eine sehr lange, de facto auf antike Diskussionen zurückgehende philosophische Tradition. Die Geschichte der praktischen Philosophie ist eine Geschichte auch von Krisendiagnosen, die das Vordringen des Ästhetischen in den Bereich von Ethik und Politik als deren Zersetzung bekämpft haben – wenn auch nicht alle Etappen dieser Geschichte expressis verbis unter dem heute geläufigen Begriff der Ästhetisierung standen.

Nun ist der Umstand, dass die ethisch-politische Kritik an einigen Figuren des Ästhetischen an äußerst signifikanten Stellen in der Geschichte der praktischen Philosophie vorkommt, zunächst im Blick auf diese selbst bemerkenswert. Er zeigt, dass das Problem der Ästhetisierung für sie kein Randproblem ist, das gemäß der heute üblichen Unterteilung der Philosophie in einen abgegrenzten Bereich namens Ästhetik abgeschoben werden könnte. Vielmehr taucht die Ästhetisierungsproblematik an Stellen auf, an denen zentrale Begriffe der praktischen Philosophie selbst auf dem Spiel stehen. Die signifikante Stellung, welche die entsprechenden Diskussionen hier traditionell einnehmen, verweist aber umgekehrt erneut auch auf das systematische Gewicht, das der aktuelle Ästhetisierungsdiskurs zu tragen hat – zumindest dann, wenn er sich selbst ernst nimmt. Ohne eine Reflexion der langen Geschichte dieses Diskurses wird man diesem Gewicht jedoch kaum gerecht 14werden können. Ohne deren Berücksichtigung wird nicht nur die Behauptung fragwürdig bleiben müssen, dass wir es bei der diagnostizierten »Ästhetisierung der Lebenswelt« mit einem derart neuen Phänomen zu tun haben, dass von einem Epochenumbruch die Rede sein kann. Ohne eine eingehende Diskussion der Probleme, die »dem Ästhetischen« von der praktischen Philosophie historisch zugeschrieben worden sind, wird man überdies bei der Beurteilung der diagnostizierten Entwicklung Gefahr laufen, entweder – etwa als Kritiker einer als neuartig behaupteten »Herrschaft des Scheins« – lediglich alte Vorurteile auf die Gegenwart zu übertragen oder aber – etwa als Parteigänger eines als neuartig gefeierten konstruktivistischen Selbst- und Weltverhältnisses – sich zum Teil eines alten Problems anstatt zum Teil seiner Lösung zu machen. Insofern hingen die philosophischen Debatten, die sich im Kontext der Postmoderne-Diskussion an die suggestive Formel von der »Ästhetisierung der Lebenswelt« anschlossen, auch aus philosophischer Perspektive in der Luft. Zur Aufklärung der philosophischen Hintergrundannahmen, welche die aktuellen Debatten mindestens indirekt beeinflussen, bedarf es der historisch-systematischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der philosophischen Ästhetisierungskritik.

Diese Geschichte, ich habe es eben bereits angedeutet, beginnt in der Antike, genauer: mit Platons Kritik an der demokratischen Kultur, wie er sie in der Politeia formuliert. So misstraut Platon dem »bunten« Nebeneinander von Lebensformen in der Demokratie ebenso wie den »schillernden« Demokraten, die von den (Theater-)Dichtern gelernt haben, dass sich im Leben mehr als nur eine Rolle annehmen lässt. Der schöne Schein der demokratischen Kultur und der von ihr begünstigten Lebensform gilt ihm sogar als ein massives Problem. Denn die Logik des Scheins ist nach seiner Diagnose nichts anderes als das Wesen der Demokratie selbst: die ethische Orientierung am Guten wird durch eine ästhetische Stilisierung der Existenz ersetzt, und an die Stelle der guten (das heißt am Guten orientierten) Regierung tritt das regellose Spektakel der Volksverführung – und so sei es ein kleiner, gefährlich unmerklicher Schritt von der Demokratie in die Tyrannei. Nun ist an dieser antiken Krisendiagnose zunächst erstaunlich, wie vertraut sie uns in ihren zentralen Motiven heute noch ist. Tatsächlich sind diese Motive vom philosophischen Diskurs der beginnenden Moderne 15(»um 1800«) aufgenommen und bis ins 20.Jahrhundert hinein und über es hinaus fortgeschrieben worden. Mit der wachsenden politischen Bedeutung der Demokratien nimmt auch der Einfluss der von Platon etablierten ästhetisierungskritischen Perspektive auf die demokratische Kultur zu, und zwar unabhängig davon, ob die Reflexion der entsprechenden Zusammenhänge in der Folge von einer die Demokratie prinzipiell ablehnenden oder im Gegenteil von einer um die Demokratie besorgten Position aus erfolgt. Warum aber erweist sich ausgerechnet Platon als entscheidende Quelle, wenn es darum geht, die Probleme der modernen Demokratie und/oder die Probleme der sich mit ihr durchsetzenden ästhetisierten Kultur zu benennen? Schließlich haben wir es hier mit einem doch ziemlich beeindruckenden, um nicht zu sagen: enormen zeitlichen Abstand zu tun. Das Modell der antiken Demokratie ist auf die moderne Demokratie bekanntermaßen ebenso wenig übertragbar wie die von Platon wegen ihres subversiven Einflusses auf die Sitten kritisierten Künste der Antike einfach mit denen der Moderne kurzgeschlossen werden können. Dennoch geschieht der moderne Rückgriff auf Platon nicht aus kontingenten Gründen.

Platon erfindet einen Typus der Kritik, der in der Moderne so interessant wird, dass man trotz offenkundiger Differenzen einige begriffliche Anstrengungen unternimmt, um an ihn anzuknüpfen. Er verbindet nämlich seine Analyse unterschiedlicher Regierungsformen mit der Untersuchung von – man möchte es bereits modern ausdrücken: Subjektivierungsformen. Es ist der Zusammenhang von Regierung und Selbstregierung, der in der Moderne an Bedeutung gewinnt, auch wenn dieser Zusammenhang nun kaum noch als ein Verhältnis der Spiegelung von Staat und Seele gedacht wird, wie dies an einigen Stellen der Politeia nahegelegt wird. Allerdings ist die Konstellation von Regierung und Selbstregierung bereits bei Platon, blickt man näher hin, interessanter und komplexer gedacht, als es in der üblichen Spiegelungslesart vorgestellt wird. Denn sie verläuft über ein Drittes. Regierung und Selbstregierung stehen nicht bloß in einem Verhältnis der Ähnlichkeit zueinander; vielmehr bilden sie durch ihren je eigenen Bezug auf einen für beide zentralen Wert eine analogische Einheit. Im Fall der demokratischen Kultur ist dies der Wert der Freiheit. Anders als die Spiegelungsthese ist diese These zum Zusammenhang von Ethik und Politik für die moderne Ästhetisierungskritik bestimmend ge16blieben: Der Schlüssel auch zur modernen Ästhetisierungsdebatte ist das Problem der Freiheit. Ist die demokratische Kultur der Gegenstandsbereich, auf den sich die Ästhetisierungsdiagnose seit ihren Anfängen mal mehr, mal weniger explizit bezieht, so ist die Freiheit, die diese Kultur bestimmt, das systematische Problem, das sie sowohl in ethischer wie in politischer Hinsicht umtreibt. Der Begriff der demokratischen Freiheit meint hier folglich nicht nur diejenige Freiheit, die sich in politischen Institutionen und Verfahren verwirklicht. Vielmehr wird die demokratische Freiheit in diesem politischen Sinn im Kontext der Ästhetisierungskritik als Ausdruck einer Kultur der Freiheit begriffen, welche die Lebensführung im ganzen betrifft. Infrage steht, wie ein freies Subjekt theoretisch zu fassen ist und in welcher Gesellschaftsform diese Freiheit realisiert werden kann. Im Rahmen der Freiheitsproblematik bilden die Themen von Subjekt und Staat, von Selbstregierung und Regierung, Ethik und Politik einen engen Zusammenhang.

Schon der Umstand, dass ein historisch überaus wirkmächtiger philosophischer Diskurs sich der kritischen Diagnose einer Ästhetisierung der demokratischen Freiheitskultur widmet, kann vermuten lassen, dass sich aus einer Auseinandersetzung mit ihm Einsichten in die Verfassung und die Spannungen der demokratischen Freiheit gewinnen lassen, die von ihren üblicherweise ästhetikblinden Rechtfertigungen ebenso übersehen oder nivelliert werden wie von jenem in der Linie Friedrich Schillers argumentierenden Strang republikanischen Denkens, der das Ästhetische in ethischer und politischer Hinsicht als Einheits- und Versöhnungsfigur feiert.[10] Gerade in ihrer Ablehnung oder Skepsis gegenüber der Nähe, welche die demokratische Kultur der Freiheit zum Problem ihrer Ästhetisierung unterhält, bekunden die Ästhetisierungskritiker, wie dieses Buch zeigen wird, ein sehr genaues Gespür für das Risiko und die Herausforderung einer solchen Kultur, das sich aus der Perspektive ihrer Apologie begrifflich fruchtbar machen lässt. Mit anderen Worten: die Ästhetisierungskritik erweist sich gerade für das Projekt einer Neubestimmung der Bedeutung der Ästhetisierung für das ethisch-politische Verständnis der demokratischen Freiheitskultur als eine besonders reichhaltige Vorlage. An ihr wird sich jedes Projekt einer positiven Auszeichnung der Veränderun17gen im Verständnis von Ethik und Politik zu messen haben, die unter dem Begriff der Ästhetisierung zur Debatte stehen. Sofern sich im Rahmen der Freiheitsproblematik ein ethisch-politisches Recht der »ästhetisierenden« Transformation von Ethik und Politik verteidigen lässt, wird dies deshalb durch eine Kritik der (Ästhetisierungs-)Kritik zu zeigen sein, und zwar durch eine Überprüfung ihrer kritischen Operationsweise wie ihrer Voraussetzungen: Was wird jeweils als Ästhetisierung des Freiheitsverständnisses aus ethischen und politischen Gründen verworfen, und ist diese Verwerfung plausibel? Welches Freiheitsverständnis wird dagegen jeweils ethisch und politisch verteidigt, und ist es selbst vor Kritik gefeit?

Gleichgültig, ob die Kritik der Ästhetisierung aus einer Perspektive vorgetragen wird, die das Problem einer »ästhetisierten Kultur« der Demokratie selbst zuschreibt und dieser deshalb prinzipiell ablehnend gegenübersteht, oder aus einer solchen, die es als eine Gefahr für die Demokratie deutet, gegen die diese sich immunisieren sollte – Stein des Anstoßes ist in beiden Fällen ein Freiheitsverständnis, das mit ästhetischen Motiven in Verbindung gebracht wird. Mit dem Ästhetischen wird hier gemeinhin eine Gestalt von Freiheit assoziiert, die sich gegenüber der sozialen Praxis, ihren normativen Ordnungen wie gegenüber den diesen entsprechenden Identitätsangeboten oder Rollenvorgaben geltend macht – und zwar dadurch, dass private Motive (Stimmungen, Genuss, Geschmack) ein solches Gewicht gegenüber Orientierungen gewinnen, die mit einer gegebenen sozialen Ordnung übereinstimmen, dass sie zu den für die Gestaltung des eigenen Lebens maßgeblichen werden. Das Freiheitsverständnis, um das die Ästhetisierungsdebatte kreist, stellt die Behauptung eines konstitutiven Zusammenhangs zwischen dem sozialen und dem individuellen Guten, die Behauptung, dass es Letzteres nur in der und durch die Teilhabe an Ersterem gibt, infrage. Sofern sich ein an privaten Motiven orientiertes Modell von Freiheit gesellschaftlich durchsetzt, so die Befürchtung der Ästhetisierungskritik, wird dies desintegrierende Wirkungen auch auf der Ebene des politischen Gemeinwesens zeitigen: An die Stelle echter sozialer Bindungen treten dann ebenfalls »ästhetische« Relationen. Wo sozial nichts mehr wirklich bindet, wird die Inszenierung des Gemeinwesens zur politisch entscheidenden Kraft. Die Inszenierung von Gemeinschaft aber, so das weitere Argument der Ästhetisierungskritik, schafft noch keine, im Gegenteil: Nicht 18nur vermag eine solche Inszenierung nur dürftig zu verdecken, dass sie erst durch die Infragestellung des Kollektivs von innen heraus, nämlich von den ästhetisierten Selbstverständnissen ihrer (Nicht-)Mitglieder her, nötig geworden ist; auch vermag sie Gemeinschaft nur in dem Maße herzustellen, wie sie zugleich eine Spaltung etabliert zwischen denjenigen, die sie produzieren, und denjenigen, die sie – wiederum im Modus von Stimmungen, Genuss und Geschmack – rezipieren. Die politische Gemeinschaft zerfällt in Spektakel und Publikum.

Aufgrund der Diagnose ihrer desintegrierenden Wirkungen hat die Ästhetisierungskritik die (im genannten Sinne) ästhetische Gestalt der Freiheit als eine »entartete Freiheit« (Platon) oder als »Willkürfreiheit« (Hegel) denunziert. Um die Gefahr zu bannen, die von einer solchen Freiheit für das politische Gemeinwesen ausgeht, ist es für die Ästhetisierungskritik entscheidend, dieser ein Selbstmissverständnis nachzuweisen. Die »ästhetische« Freiheit soll »entartete« Freiheit nicht nur aus der Perspektive des politischen Gemeinwesens sein, das vor ihren Effekten bewahrt werden muss. Um wirklich getroffen werden zu können, muss sich das entsprechende Freiheitsverständnis zunächst und vor allem dort als defizitär erweisen, wo man nach seinen Effekten aufs Gemeinwesen noch nicht unbedingt fragt: im Leben der Einzelnen. Bereits auf dieser Ebene soll sich die Freiheit, die der Einzelne gegenüber der sozialen Ordnung in Anspruch nimmt, in Unfreiheit verkehren. Der Beweis muss folglich gerade an den schillernden Typen, den ausgesprochenen Lebenskünstlern, geführt werden. Wenn nachgewiesen werden kann, dass die Inkongruenz von individuellem und sozialem Guten, die an den ästhetischen Existenzen sichtbar wird, in Unfreiheit führt, ist zugleich begründet, warum auch die weiteren Auswirkungen dieser Lebensform auf das Gemeinwesen bekämpft werden müssen: Es geht dann nicht primär um die Ordnung des Gemeinwesens um der Ordnung, sondern um der Freiheit seiner Mitglieder willen.

Dieser Nachweis wird in der Geschichte der philosophischen Ästhetisierungskritik freilich mit sehr unterschiedlichen begrifflichen Voraussetzungen geführt; und hier wird auch der Abstand der Moderne zur Antike besonders deutlich. Während Platon diesen Beweis im Namen einer metaphysischen Konzeption des Guten führt, führt man ihn seit Hegel durch den Hinweis auf die kon19stitutive Rolle der sozialen Praxis für die Entfaltung individueller Freiheit. So formuliert Platon diese Kritik im Namen einer ebenso problematischen wie metaphysischen Konzeption des Guten, der zufolge das, was für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft gut ist, objektiv feststehen soll, so dass jedes Zuwiderhandeln als eine Form der Entfremdung vom Guten kritisiert werden muss. Seit Hegels Einwand gegen den romantischen Ironiker formuliert sich diese Kritik jedoch durch den Hinweis auf die konstitutive Rolle der sozialen Praxis für die Entfaltung individueller Freiheit. Fraglos besitzt dieser letzte Hinweis auch heute noch einige Berechtigung. Er vermag verschärft konstruktivistische Positionen, die die Möglichkeit zur Gestaltung des eigenen Lebens individualethisch reduzieren,[11] ebenso zu treffen wie all jene, die meinen, Foucaults Forderung, »nicht dermaßen regiert zu werden«,[12] auf das Ganze des Lebens beziehen zu können – ganz so, als wäre ein Leben jenseits aller sozialen Bestimmung wünschenswert oder überhaupt möglich. Nicht nur ist jeder immer schon Teilnehmer an einer sozialen Praxis, auch bedarf jeder Entwurf des eigenen Selbst zu seiner Verwirklichung der sozialen Anerkennung.[13] Als Einwand gegen die schillernden Figuren, die im Zentrum der Ästhetisierungskritik stehen, kann dieser Hinweis gleichwohl nur dann gelten, wenn deren Lebensvollzug notwendig mit einer Verdrängung der konstitutiven Rolle einherginge, die der sozialen Welt für das Selbstverständnis des Einzelnen zukommt. Das aber kann bestritten werden.

Indem die Kritik die »ästhetische« Freiheit mit einer Freiheit vom Sozialen im ganzen assoziiert, verdeckt sie, wie im Folgenden genauer ausgeführt werden soll, eine andere, produktivere Deutung derselben: Die Distanz zum Sozialen, wie sie an den häufig gegen die Erwartungen ihres sozialen Umfelds gerichteten Selbsttransformationen einschlägiger Lebenskünstler besonders anschaulich wird, geht nicht notwendigerweise mit einer ebenso abstrakten wie letztlich imaginären Distanz gegenüber aller sozialen Bestimmtheit 20einher. Eine solche Distanz lässt sich vielmehr auch anders verstehen: nicht als Modell für den, sondern als produktives Moment im praktischen Lebensvollzug des Subjekts. Es ist nicht die abstrakte Freiheit vom Sozialen, sondern dessen Veränderbarkeit, die sich an den ästhetischen Existenzen, den schillernden Lebensformen, zeigt und verteidigen lässt. Die Ästhetisierung des Freiheitsverständnisses steht dann nicht mehr für das Missverständnis einer Freiheit vom Sozialen überhaupt, die der Freiheit im Sozialen undialektisch gegenübersteht, vielmehr bringt sie eine Spannung zum Ausdruck, die das Leben jedes Einzelnen durchzieht. Wer im Missverständnis solipsistischer Selbsthervorbringung lebt, ist ebenso wenig frei wie einer, dem die Erfahrung einer Distanz von sich, von seinen sozialen Rollen und den mit ihnen einhergehenden Erwartungshorizonten gänzlich fremd ist. Beide Seiten dieser Spannung sind vermittelbar nur als Momente in einem Prozess, in dem wir uns und die soziale Praxis, deren Teil wir sind, ändern können. Wie noch genauer zu zeigen sein wird, erfordert diese Vermittlung eine Kunst der Freiheit, die über ein Handwerk[14] – und damit über das zunächst zu erlernende, dann souveräne Vermögen zur Bestimmung des eigenen Lebens[15] – hinausreicht. Denn das Subjekt einer solchen Kunst muss sich in diesem Prozess immer wieder selbst zur Disposition stellen. Die Veränderung des eigenen Selbst vollzieht sich hier nicht von der Position eines seiner eigenen sozialen Identität gegenüber überlegenen Metasubjekts aus. Vielmehr wurzelt sie in der unwillkürlichen Erfahrung einer Selbstdifferenz, die das Subjekt dazu anhält, sich und sein Selbstverständnis, den Sinn seiner Subjektivität, aus einer Distanz zu sich neu zu ergreifen.

Die dialektische Bestimmung von Freiheit im Sinne eines im Herzen des Begriffs wirksamen Antagonismus, der das Vermögen zur subjektiven Selbstbestimmung mit einem Moment zusammenspannt, das »noch nicht von der zentralisierenden Bewußtseinsin21stanz gelenkt wird«,[16] impliziert jedoch keineswegs eine Abkehr von der Normativität, die Ethik und Politik notwendig auszeichnet. Im Gegenteil, nur weil die Einzelnen im lebendigen Austausch mit der Welt in eine Differenz zu sich selbst, und das heißt immer auch: zu ihrer jeweiligen Rolle als Teilnehmer an einer sozialen Praxis geraten können, kann sich die normative Frage nach dem individuell wie sozial Guten überhaupt als Frage stellen. Die Erfahrung einer solchen Differenz ist mit anderen Worten eine Bedingung der Möglichkeit für die selbstbestimmte Aneignung oder Veränderung der sozialen Praxis, die uns immer schon bestimmt. Die Möglichkeit solchen Fragens und damit auch die Möglichkeit der Veränderung jeweiliger Bestimmungen des Guten selbst als ein Gutes anzuerkennen heißt, dieser Möglichkeit einen Vorrang vor jeder inhaltlichen Bestimmung des Guten einzuräumen.

Die Regierungsform aber, welche die Möglichkeit der Infragestellung seiner jeweiligen Bestimmungen in ihren Begriff des Guten mit aufgenommen hat, ist, bereits Platon hat das klar gesehen, die Demokratie: Sie ist die einzige Regierungsform, in der es erlaubt ist, alles öffentlich zu kritisieren, alles öffentlich infrage zu stellen – einschließlich der jeweiligen Ausgestaltungen der Demokratie selbst. Weil sie sich bei allem Risiko, das damit einhergeht, für Neubestimmungen des Guten, für die Möglichkeit einer gerechteren Ordnung also, offen hält, bleibt sie, nach einer berühmt gewordenen Formulierung von Jacques Derrida, »im Kommen«.[17] Dies ist freilich nicht, wie man Derrida oft missverstanden hat, als ewiger Aufschub, als eine Vertröstung auf einen kommenden Messias der Demokratie zu verstehen, im Gegenteil: Unsere Bestimmungen des Guten sind alles, was wir haben, um unsere Freiheit hier und jetzt zu verwirklichen. Entsprechend zielt die demokratische Ereignisoffenheit auch nicht auf das Offene um des Offenen willen; es geht nicht um eine Fundamentalkritik an normativen Bestimmungen überhaupt, sondern um die Möglichkeit von deren historischer Korrektur. Eben dadurch erweist sich die Demokratie, mit einer Formulierung des französischen Demokratietheoretikers 22Claude Lefort, als die »geschichtliche Gesellschaft schlechthin«.[18] Die demokratische Kultur der Freiheit, so kann man auch sagen, wird in ethischer und politischer Hinsicht von jener Dialektik bewegt, die den Begriff der Freiheit in dem hier verteidigten Verständnis wesentlich ausmacht. Worum es in der Verteidigung der freiheitstheoretischen Motive geht, die von der Ästhetisierungskritik voreilig verworfen oder vorab verdrängt werden, ist mithin nicht bloß eine »ästhetische Kultur«, die für die Demokratien irgendwie wünschbar wären, als handelte es sich hier um einen Zusatz – worum es vielmehr geht, ist das Verständnis der ethisch-politischen Strukturbedingungen von Freiheit überhaupt.

Aufgrund ihrer Einsicht in die Historizität des Guten steht die Demokratie allerdings in einem internen Verhältnis auch zu dem, was als »Ästhetisierung des Politischen« kritisiert wurde. Wenn sich plausibilisieren lässt, dass Teilnehmer einer sozialen Praxis potentiell immer auch Nichtteilnehmer und also Mitglieder der Gesellschaft potentiell immer auch Nichtmitglieder sind, so dass der Sinn von Teilnahme und Mitgliedschaft, ja der Sinn der sozialen Praxis selbst jederzeit in Zweifel gezogen werden kann, dann ergibt sich daraus unmittelbar eine Kritik an vorpolitischen Vorstellungen von Ordnung und Einheit des politischen Kollektivs. Weder Ordnung noch Einheit eines Gemeinwesens können als schlicht gegeben vorausgesetzt werden; stattdessen enthüllt sich nun ihr Charakter als politische Setzung. Das heißt weiter: Mit der Ordnung, in der sie sich erfassen soll, wird auch die Einheit des Gemeinwesens immer erst politisch hergestellt, produziert, inszeniert. Dadurch, dass die Demokratie weder Ordnung noch Einheit jenseits der politischen Repräsentation kennt, steht sie jedoch nicht nur in einem klaren Gegensatz zu Platons antidemokratischer Vorstellung einer natürlichen politischen Ordnung, wie er sie für seinen Idealstaat imaginiert. Vielmehr betrifft dieser Punkt auch noch die für das moderne Demokratieverständnis zentrale Idee der kollektiven Selbstregierung – mit weitreichenden Konsequenzen. Sofern richtig ist, dass das Selbst der kollektiven Selbstregierung nicht einfach als Einheit vorausgesetzt werden kann, sondern allererst in der politischen Repräsentation hervorgebracht werden muss, bedeutet dies nichts anderes, als dass es den demos der Demokratie niemals jenseits der 23damit zugleich etablierten Trennung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, Produzierenden und Rezipierenden, Regierenden und Regierten gibt. Es gibt ihn folglich niemals jenseits von Macht- und Herrschaftsverhältnissen; es gibt ihn nie als solchen. Eben dadurch aber erhält das kollektive Selbst der Demokratie, erhält die Demokratie selbst zugleich ihre Zukunftsoffenheit. Denn die demokratische Antwort auf das Problem souveräner Macht besteht nicht darin, es zu verdecken, sondern auszustellen und so auf die Frage der Legitimität zu öffnen. Darin besteht die Pointe einer demokratisch verstandenen »Ästhetisierung des Politischen«. Auf der demokratischen Bühne der Politik müssen sich die jeweiligen Repräsentanten des demos immer wieder vor denjenigen rechtfertigen, deren Willen sie repräsentieren wollen, vor einem heterogenen Publikum also, von dem nie auszuschließen ist, dass seine Mitglieder alternative Vorstellungen vom demokratischen Gemeinwillen haben oder entwickeln und diese womöglich am Ende gegen die jeweils herrschende zu öffentlicher Geltung und (Gegen-)Macht bringen werden.

Nun muss sich eine solche Verteidigung der ästhetischen – oder in diesem Zusammenhang spezifischer: theatralen – Dimensionen demokratischer Politik natürlich besonders von Positionen herausgefordert sehen, die sie aus der Perspektive einer dezidierten Verteidigung der Demokratie kritisiert haben. Tatsächlich ist die Thematisierung dieses Zusammenhangs historisch von sehr unterschiedlichen demokratietheoretischen Intuitionen begleitet worden; und hier ist ein weiterer Unterschied zwischen antikem und modernem Diskurs unübersehbar. Während für Platon Demokratisierung und Ästhetisierung beziehungsweise Theatralisierung der Kultur ein und denselben Prozess bezeichnen, ist die moderne Demokratietheorie, sofern sie sich in die Nachfolge Jean-Jacques Rousseaus stellt, von der gegenteiligen Intuition getragen: Für sie bedeutet Ästhetisierung oder Theatralisierung eine Perversion der demokratischen Kultur – und daher eine Gefahr, vor der man die Demokratie schützen muss, will man ihren Verfall verhindern. Die überraschende Nähe, die sich im Blick auf die ästhetisierungskritischen Motive zwischen Rousseaus Verteidigung und Platons Kritik der Demokratie ergibt, ist dabei freilich höchst aufschlussreich. Sie führt auf die Fährte antidemokratischer Züge in Rousseaus Bild des demokratischen Gemeinwesens und spielt dadurch einer Argumen24tation zu, welche die in der Linie Rousseaus kritisierten Dimensionen des Ästhetischen – mit und gegen Platon – als konstitutive Bestandteile des Lebens (in) der Demokratie zu verteidigen sucht.

Wenn sich die Ästhetisierung der demokratischen Freiheitskultur in ethischer wie in politischer Hinsicht verteidigen lässt, so kann dies indes nicht dadurch geschehen, dass diese Verteidigung von außen an den ästhetisierungskritischen Diskurs herangetragen wird; vielmehr muss sie in ihren Implikationen aus der Kritik der Ästhetisierungskritik entfaltet werden. Die Auseinandersetzung mit der Ästhetisierungskritik ist hier nämlich nicht nur deshalb besonders einschlägig, weil sie auf einen Zusammenhang von ethischen, politischen und ästhetischen Motiven für die Diskussion um das Verständnis der demokratischen Freiheit aufmerksam macht, sondern auch deshalb, weil sie eine ganze Reihe interessanter (und zum Teil miteinander verschränkter) Probleme anspricht: die Willensschwäche, das Böse, die Indifferenz, die Selbstvergessenheit, die Verdinglichung (der Anderen und der Welt), den Opportunismus, die charismatische Herrschaft – Probleme also, denen sich eine Apologie der Ästhetisierung zu stellen hat, will sie nicht zu einem weiteren Symptom des von der Ästhetisierungskritik diagnostizierten ethisch-politischen Problemzusammenhangs werden. Ein entsprechender Begriff von Freiheit gewinnt aus der Auseinandersetzung mit der Ästhetisierungskritik aber nicht nur Tiefe und Kontur; er wird überhaupt erst durch sie motiviert. Denn die Abwehr der Ästhetisierung weist, wie ich an ausgewählten historischen Beispielen der ästhetisierungskritischen Tradition zeigen will, selbst Defizite auf, die sich allein durch einen dialektisch zu denkenden Begriff von Freiheit beheben lassen.

Damit ist der Fahrplan für die folgenden Kapitel bereits grob angegeben. In einem ersten Teil werde ich diejenigen Motive der Platonschen Ästhetisierungs- und Demokratiekritik rekonstruieren und kritisch diskutieren, die sich den Rückgriffen durch die moderne Ästhetisierungskritik angeboten haben. Die folgenden Teile wenden sich den Weisen zu, wie der moderne Diskurs auf Platon beziehungsweise auf die platonische Problemstellung geantwortet hat. Aus der Rekonstruktion des Zusammenhangs von ethischen und politischen Argumenten im ersten Teil ergibt sich die Entscheidung, die modernen Antworten nicht in historischer Chronologie vorzustellen. Vielmehr reflektiert der Aufbau in gewisser 25Weise die platonische Systematik, indem er die Diskussion um die Frage, was es heißt, ein Leben in Freiheit zu führen, vor die – auf dieses ethische Problem wesentlich bezogene – Diskussion um den Begriff der Demokratie setzt. Dieser Zusammenhang ist auch für die moderne Ästhetisierungskritik bestimmend geblieben, wurde aber unterschiedlich, mal eher subjekttheoretisch, mal eher demokratietheoretisch, akzentuiert. Aus dem genannten Grund werde ich – im zweiten Teil – zunächst ästhetisierungskritische Positionen der Moderne diskutieren, die ihren Ausgang bei dem Problem subjektiver Freiheit nehmen. Besonders einschlägig dafür ist die Kritik an der Romantik. Motive aus der platonischen Kritik der ästhetisierten Lebensform und des ihr unterliegenden Freiheitsverständnisses kehren verwandelt in der Kritik am romantischen Ironiker wieder. Bereits hier – in der Diskussion des Verhältnisses von Ironie und Sittlichkeit (Hegel) sowie von Ironie und individueller (Kierkegaard) oder politischer (Carl Schmitt) Souveränität – ergeben sich vielfältige Bezüge auf das Thema der Demokratie und ihrer politischen Kultur, das dann im dritten Teil – freilich nicht ohne Bezug auf dessen freiheitstheoretische Dimension – im Zentrum stehen wird. Dabei wird es auch darum gehen, das hier verteidigte »ästhetisierte« Verständnis der demokratischen Kultur in repräsentationspolitischer Hinsicht genauer zu bestimmen und gegen andere Konstellationen von Ästhetik, Ethik und Politik abzugrenzen. Es wird Rousseaus positive Vision eines republikanischen Fests, das er der Theatralisierung oder Ästhetisierung des Politischen entgegenhält, ebenso zu diskutieren sein wie das Verhältnis, das Walter Benjamins berühmte Kritik an der »Ästhetisierung des Politischen, welche der Faschismus betreibt«, zur generellen Linie der ästhetisierungskritischen Tradition unterhält.

Der enge Verweisungszusammenhang, der sich in allen drei Teilen zwischen ethischen und politischen Motiven ergibt, zeigt allerdings an, dass der gewählte Aufbau im Kontext der vorliegenden Untersuchung, anders als bei Platon, allein heuristische Gründe hat. Denn die Verteidigung der »ästhetisierenden« Transformation von Ethik und Politik betrifft nicht zuletzt deren Verhältnis. Während Platon der Ethik ein Primat vor der Politik einräumt – aus dem Wissen um das, was jedem Einzelnen gemäß ist, folgt die Einrichtung der politischen Ordnung, die das gute Leben aller realisieren soll –, tritt die Ordnung der Gründe nun in eine 26andere Konstellation. Worum es hier geht, ist nicht einfach deren Umkehrung – es wird jetzt nicht die Politik vor die Ethik gesetzt –, sondern die Auflösung der Hierarchie von Ethik und Politik aus der Perspektive einer beide Bereiche gleichermaßen, wenn auch auf je eigene Weise, durchdringenden Dialektik der Freiheit.

27Erster Teil: Eine antike Krisendiagnose

29I. Die provozierende Schönheit der Demokratie: Platon

»Politeia« bezeichnet bei Platon, wie bei den Klassikern überhaupt, weniger die Verfassung als die Lebensweise einer Gemeinschaft. Diese soll jedoch von dem abhängen, was in ihr als höchstes Gut gilt.[1] Das verbindet im klassischen Verständnis die unterschiedlichen Perspektiven von Ethik und Politik. In der Demokratie und der ihr korrespondierenden Lebensweise oder Kultur, wie man heute wohl eher sagen würde, trägt dieses wichtigste Gut Platon zufolge den Namen »Freiheit«. Deshalb ist der eigentliche Gegenstand der Überlegungen zur Demokratie, die Platon seine Figur des Sokrates[2] im achten Buch der Politeia[3] anstellen lässt, das für die demokratische Kultur konstitutive Freiheitsverständnis. Nun ist bekannt, dass Platon kein Freund der Demokratie war. Sie mag bei manchen, wie er Sokrates distanziert feststellen lässt, aufgrund der Vielfalt der Sitten und der Freiheit der Lebensweisen als besonders bunt, ja sogar als die schönste aller Regierungsformen gelten (vgl. Rep. 557c); bei ihm rangiert sie nichtsdestotrotz an vorletzter Stelle – unter ihr steht nur noch die Tyrannei. Der schöne Schein der Demokratie ist für Platon ein falscher Schein. Nach seiner Diagnose führt der demokratische »Durst nach Freiheit« (vgl. Rep. 562c) nämlich notwendig in die Unfreiheit: Er begünstigt die Begierden, schwächt so die Kraft des vernünftigen Urteils, destabilisiert den Willen und bringt einen entsprechend schwachen, in jeder – auch der politischen – Hinsicht haltlosen Menschen hervor. Die »demokratisch gesonnenen« (Rep. 558c) Lebenskünstler schillern, so Platons vernichtendes Urteil, aus Schwäche, weshalb die Buntheit 30der demokratischen Kultur das sichere Zeichen ihres Niedergangs ist. Die demokratische Ästhetisierung ist der Vorbote der Tyrannei.

Man wird dieser Diagnose nicht ohne weiteres zustimmen wollen. Allerdings besteht auch aus der Perspektive einer Apologie der Demokratie und ihrer Schönheit nicht die schlechteste Methode, um die Reichweite eines Begriffs – hier den der demokratischen Freiheit – zu ermessen, darin, ihn ins kontrastreiche Licht einer Position zu rücken, die ihn aufs Schärfste bekämpft hat. Denn für die Implikationen eines Begriffs haben oftmals gerade jene ein besonderes Sensorium, die ihn aus dem praktischen und theoretischen Bewusstsein zu verbannen suchen.

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