Der Strom des Lebens - Simone Dorra - E-Book

Der Strom des Lebens E-Book

Simone Dorra

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Beschreibung

Ex-Agent Vikram Sandeep hat die Leitung seines Waisenhauses Dar-as-Salam bei Srinagar in die Hände seines ehemaligen Zöglings Yussuf Sadaq gelegt. Nun genießt er seinen Lebensabend, zusammen mit seiner Frau Sameera und seinem besten Freund Raja Sharma. Natürlich stehen alle drei ihren Kindern, Enkeln und Freunden auch weiterhin mit Rat und Tat zur Seite, wenn ihre Hilfe gebraucht wird. Das ist in der Unruheprovinz Kashmir öfter der Fall, als ihnen lieb sein kann - und zudem haben sie noch immer Feinde, die ihnen nach dem Leben trachten... In der Kashmir-Saga erzählen Simone Dorra und Ingrid Zellner in sieben Bänden die Geschichte zweier in Freundschaft eng verbundener Familien in Indien und Kashmir. Sie erstreckt sich über vier Jahrzehnte und berichtet von großen Gefühlen, von spannenden Abenteuern, von Terror und Liebe in einem durch anhaltende Konflikte geschundenen Land.

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www.tredition.de

Simone Dorra / Ingrid Zellner

Der Strom des Lebens

Roman

Band VII der Kashmir-Saga

www.tredition.de

© 2022 Simone Dorra / Ingrid Zellner

Druck und Distribution im Auftrag der Autoren: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Umschlaggestaltung: Kai S. Dorra

Coverfoto: HitMYFeel/Shutterstock.com

Ornament: iStock.com/AnnaPoguliaeva

www.kashmirsaga.de

www.simonedorra.de

www.ingrid-zellner.de

ISBN

Paperback:

978-3-347-62728-4

e-Book:

978-3-347-62729-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte sind die Autoren verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne deren Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autoren, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

»Der Fluss setzt seinen Weg zum Meer fort, ob das Rad der Mühle gebrochen ist oder nicht.«

Khalil Gibran

Ein Personenverzeichnis und ein Glossar befinden sicham Ende des Buches.

Vorwort

In seinem Roman First Among Equals (Rivalen) schildert Jeffrey Archer einen britischen Politiker, der im Jahr 1991 nach einer Parlamentswahl eine königliche Einladung in den Buckingham Palace erhält… und zwar von König Charles III. Ein historischer Fauxpas, möchte man meinen – der jedoch verständlich wird, wenn man weiß, dass First Among Equals bereits 1984 erschien. Archer schrieb darin also Passagen, die aus seiner Sicht in der Zukunft spielten, und offenbar ging er davon aus oder hielt es zumindest für wahrscheinlich, dass bis 1991 der Prince of Wales seiner Mutter Königin Elizabeth II. auf den Thron gefolgt sein würde. Selbstverständlich mit Königin Diana an seiner Seite.

So etwas kann nun auch uns in den letzten beiden Bänden unserer Kashmir-Saga passieren. Im Verlauf von Band 6 haben wir die Realzeit hinter uns gelassen und damit begonnen, in die Zukunft hineinzuschreiben – und beim Beginn der Handlung von Der Strom des Lebens befinden wir uns bereits im Jahr 2029.

Nun ist unsere Kashmir-Saga in erster Linie einfach die fiktive Geschichte eines Waisenhauses bei Srinagar und zweier Familien aus verschiedenen Teilen Indiens – kein zeitgeschichtliches Sachbuch und auch kein politischer Doku-Thriller. Doch der Kashmir-Konflikt und die schwierige Realität in diesem so schönen wie geschundenen Tal waren, sind und bleiben stets der Hintergrund unserer Saga, deshalb haben wir stets genau überlegt, wie dieser Hintergrund sich in den nächsten Jahren verändern könnte. Allerdings haben wir keine Kristallkugel; so konnten wir beim Schreiben beispielsweise nicht ahnen, dass Anfang 2022 mitten in Europa ein grausamer Krieg ausbrechen würde, weswegen er in unserer Geschichte nun auch nicht vorkommt. Und was noch alles vor uns liegt, können wir erst recht nicht wissen.

Wir bitten daher um Nachsicht, sollte sich irgendwann in künftigen Jahren ergeben, dass in den letzten beiden Kashmir–Saga-Bänden die Wirklichkeit unserer Geschichte und die Wirklichkeit der Welt rings um uns herum nicht immer ganz zusammenpassen.

Welzheim/Gomadingen, April 2022

Simone Dorra & Ingrid Zellner

Vorspiel

Erinnerungen

Die Nächte in den Bergen waren kalt. Sobald die Sonne hinter den mächtigen Gipfeln des Himalaya versank, flammten überall in Kashmir kleine Feuer auf – in Häusern und Hütten ebenso wie im Freien, wo Schäfer auf den Hochweiden ihre Herden bewachten und Wanderer sich eine windgeschützte Ecke gesucht hatten, um die sternklare Sommernacht in ihrem Zelt zu verbringen.

In einem schmalen Seitental nahe der pakistanischen Grenze flackerte ein Lagerfeuer vor einem halb verfallenen Bauernhof. Ein paar Männer hatten sich dort niedergelassen, tranken stark gesüßten heißen Tee und unterhielten sich leise miteinander.

Einer von ihnen hatte sich wenige Minuten zuvor in das Bauernhaus zurückgezogen. Nun saß er, in eine dicke Outdoorjacke gehüllt, auf seinem Strohlager und fuhr sein Tablet hoch, dessen Akku dank des erfreulich gut funktionierenden Generators in dem ehemaligen Schafstall nebenan voll aufgeladen war.

Lange betrachtete er das Foto, das den gesamten Bildschirm ausfüllte. Ein hübsches junges Mädchen von siebzehn Jahren mit langen, dunklen Zöpfen und blauen Augen, die vor Lebensfreude leuchteten.

Salma, dachte er. Meine liebe kleine Schwester. Alles Gute zum Geburtstag.

Er schloss die Augen und versuchte, sich vorzustellen, wie das Mädchen auf dem Foto heute aussehen mochte. Sieben Jahre waren vergangen, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Ob sie das Haar wohl immer noch so lang trug? Die Lebensfreude in ihren Augen war auf jeden Fall mit Sicherheit erloschen – nach dem, was man ihr damals angetan hatte, nur wenige Wochen, nachdem diese Aufnahme entstanden war.

Kurz vor ihrem Schulabschluss war sie bei einem Spaziergang verschleppt worden; drei Männer hatten sie fünf Tage lang gefangen gehalten, wieder und wieder vergewaltigt und am Ende wie einen Müllsack am Straßenrand weggeworfen. Bis heute hatte man die Verbrecher nicht identifiziert, geschweige denn festgenommen und zur Verantwortung gezogen – zumindest war in den Medien, die er online regelmäßig im Auge behielt, nie eine entsprechende Meldung aufgetaucht. Wahrscheinlich wurde nach den Dreckskerlen nicht einmal mehr ernsthaft gesucht.

Er spuckte voller Verachtung neben sich auf den Boden. Schuld daran war sowieso einzig und allein Vikram Sandeep – der Ex-Agent aus Delhi, der nach seinem vorzeitigen Ausscheiden aus der Armee allen Ernstes geglaubt hatte, er könne sich in Kashmir um muslimische Waisenkinder kümmern. Als ehemaliger Elitesoldat verstand er vielleicht etwas von Kriegsführung, und seine Angrezi-Ehefrau Sameera war zumindest ausgebildete Traumatherapeutin, die jahrelang für eine internationale Hilfsorganisation gearbeitet hatte. Aber sie war Christin und er Hindu – weswegen sie in ihrem Waisenhaus Dar-as-Salam vor allem ihren Ziehtöchtern Freiheiten ließen, die sich für anständige Muslimas einfach nicht gehörten. Beim Besuch fremder Männer wurde nicht von ihnen verlangt, sittsam die Augen niederzuschlagen, und sie durften auf ihre Hijabs verzichten, anstatt sich zu verhüllen und damit ihre Keuschheit zu bewahren, wie es die vierundzwanzigste Sure von gläubigen Frauen und Mädchen forderte. Obendrein hatten sie die Erlaubnis, das Haus jederzeit zu verlassen… auch allein.

Seine Schwester hatte einen schrecklichen Preis dafür bezahlt. Wäre sie unter Aufsicht daheim geblieben (wie er es vehement gefordert hatte), dann wäre sie ihren Peinigern niemals in die Hände gefallen.

Er hatte damals umgehend die Konsequenzen gezogen. Nicht einen Moment länger hatte es ihn in dem sogenannten Haus des Friedens gehalten, in dem er und Salma seit dem Tod ihrer Mutter untergebracht gewesen waren. Er hatte seine wenigen Habseligkeiten gepackt und war geflüchtet – zu Freunden, die ihn verstanden und den wahren Glauben so lebten und verteidigten, wie es dem Allerbarmer in Wirklichkeit gefiel. Nicht so, wie dieser kafir Sandeep es seine Pflegekinder lehrte und wodurch er sie zielsicher in die Irre führte.

Dass Salma nach allem, was man ihr angetan hatte, nicht nur weiterhin im Dar-as-Salam geblieben war, sondern inzwischen sogar als Kinderbetreuerin dort arbeitete, war ihm vollkommen unbegreiflich. Ebenso wie die Tatsache, dass das Heim überhaupt noch existierte. Vor einem Jahr war es überraschenderweise von einem Tag auf den anderen geschlossen worden, nachdem ein Junge – Dakhil, wenn er sich recht erinnerte – mit Drogen in der Schule aufgegriffen worden war und glaubhaft versichert hatte, dass Sandeep ihn mit Prügeln zum Dealen zwang. Er hatte den damaligen Polizeichef Narendra Nikam noch gut vor Augen, wie er triumphierend in die Pressemikrophone posaunte, dass er dem Landesverräter und Terroragenten endlich das Handwerk gelegt hatte. Bei dem Gedanken, dass Sandeep im Gefängnis saß, hatte er durchaus Genugtuung empfunden – auch wenn die Anschuldigungen in seinen Ohren absolut unglaubwürdig geklungen hatten, denn was immer man gegen den kafir sagen konnte: Drogen hatte es in seinem Heim ebenso wenig gegeben wie Prügel. In all den Jahren, die er mit seiner Schwester im Dar-as-Salam verbracht hatte, war er dort immer gut behandelt worden; Sandeep hatte ihm den Schulbesuch ermöglicht, und nie im Leben wäre es ihm eingefallen, die Hand gegen einen seiner Schützlinge zu erheben.

Deshalb hatte er sich auch nicht wirklich gewundert, als ein paar Wochen später die Nachricht durch sämtliche Kanäle ging, dass Sandeep unschuldig gewesen und deshalb auf freien Fuß gesetzt worden war. Das Ganze hatte sich als eine handfeste Verschwörung gegen ihn herausgestellt – inszeniert von Polizeichef Nikam persönlich, der daraufhin selbst in den Knast gewandert und dort nach nur wenigen Tagen unter noch nicht ganz geklärten Umständen zu Tode gekommen war. Während Sandeep sein Waisenhaus ungehindert und mit höchster Genehmigung wiedereröffnen konnte.

Aus einem plötzlichen Impuls heraus suchte er auf seinem Tablet nach einem alten Foto-Ordner, den er schon einige Male hatte löschen wollen; wahrscheinlich hatte er es vor allem deshalb nicht fertiggebracht, weil er trotz Salmas Unglück nach wie vor gute Erinnerungen mit dem Haus des Friedens verband. Wann immer er in den vergangenen sieben Jahren mit seinen Freunden von Versteck zu Versteck geflüchtet war, in feuchten Kellerlöchern und zugigen Ruinen gehaust oder sich in Zelten fast zu Tode gefroren hatte, wann immer er nachts in kleine Läden einbrach, um Lebensmittel für seine Truppe zu stehlen, oder in Apotheken Drogen raubte, die er auf dunklen Hinterhöfen an die viel zu vielen Süchtigen in Kashmir verkaufte, damit er und seine Kameraden die Mittel hatten, um ihren Kampf fortzusetzen – dann erinnerte er sich oft an sein helles, warmes Zuhause im Dar-as-Salam, an das gute Essen und die Mühe, die Vikram und Sameera Sandeep sich gegeben hatten, um ihm und Salma die verstorbenen Eltern zu ersetzen.

Und manchmal – aber auch wirklich nur manchmal – ertappte er sich dann bei der Frage, ob es richtig gewesen war, dass er dieses Haus damals im Zorn verlassen und sich dem Hizbul-Kommando seines Freundes Haroun Raheem angeschlossen hatte. Er war dort mit offenen Armen empfangen worden, sicherlich nicht zuletzt aufgrund seiner fundierten Kenntnisse in Physik und Chemie, die er sich während seiner Schulzeit angeeignet hatte und die inzwischen mehr als einmal auch zur Anwendung gekommen waren. Haroun hatte ihm erst neulich wieder versichert, dass er niemanden kannte, der so raffinierte und effektive Sprengsätze bauen konnte wie er.

Nein, er bereute nichts. Es war richtig, die Ungläubigen zu bekämpfen und sein ganzes Leben Azadi Kashmir zu verschreiben.

Aber andererseits wusste er genau, dass Salma nichts von alledem, was er in den vergangenen sieben Jahren getan hatte, gutgeheißen hätte. Und wenn es außer seinen Hizbul-Freunden noch jemanden auf der Welt gab, der ihm etwas bedeutete, dann war sie es. Seine wunderbare, geschundene, geliebte Schwester.

Er hatte den Ordner gefunden, öffnete ihn und rief das erste Bild auf. Es zeigte einen großen, kräftigen Mann von Mitte sechzig mit lohbraunen, durchscheinenden Löwenaugen; die Haare und der sauber gestutzte Vollbart waren graumeliert (nach den Ereignissen des vergangenen Jahres waren sie wahrscheinlich inzwischen weiß). Er trug Cargohosen und lose darüber ein kariertes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Vikram Sandeep, auch der »alte Löwe« genannt. Neben ihm stand seine Frau Sameera, einige Jahre jünger und einen Kopf kleiner als er, das lange Haar von kupferschimmerndem, reichlich von Silber durchzogenem Braun. Ein blauer Salwar Kameez umschmeichelte ihre schlanke Gestalt, sie lächelte und ihre mandelförmigen dunklen Augen funkelten lebhaft. Eigentlich ist sie ja nur zur Hälfte Angrezi, fuhr es ihm durch den Sinn. Ihr Vater war Ire, aber ihre Mutter kam aus Ladakh, und die hat auch solche Augen gehabt. Egal – das ändert nichts daran, dass auch sie eine Ungläubige ist, eine mushrik. Isa ibn Maryam war ein Prophet, aber der eine, unteilbare Gott ist Allah und niemand sonst.

Lange betrachtete er das Foto. Vikram baba. Sameera ammi. Er erinnerte sich daran, dass Salma, im Gegensatz zu ihm, ihre Ziehmutter niemals ammi genannt hatte, sondern immer nur Sameera aunty. Ein Schatten glitt über sein Gesicht. Vielleicht hatte seine Schwester von Anfang an instinktiv gespürt, dass dieses Haus nicht gut für sie war, und war deshalb in dieser Form auf Distanz gegangen, um Sandeeps Frau nicht zu nahe an sich heranzulassen. Aber warum hatte sie dann andererseits zu Sandeep genauso zutraulich wie alle anderen Vikram baba gesagt? Und warum war sie bei diesen Menschen geblieben, die sie verraten und den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hatten? Er würde es nie verstehen.

Er suchte weiter und blieb bei einer Aufnahme hängen, die ihn selbst und Salma zeigte, zusammen mit einem hochgewachsenen schlanken Mann Anfang sechzig mit ergrautem Haar, sanften braunen Augen, mehreren Narben im Gesicht und nur noch vier Fingern an der linken Hand. Raja Sharma. Vikram Sandeeps bester Freund aus Shivapur, einem kleinen Ort bei Pune in Maharashtra. Ein Mann, dem das Schicksal sein Leben lang immer wieder übel mitgespielt hatte: Mit zweiundzwanzig war er wegen Vergewaltigung und Mord zu lebenslanger Haft verurteilt worden und hatte fünfundzwanzig Jahre lang im Yerawada Central Jail gesessen, bis er wegen guter Führung begnadigt wurde – und danach erst hatte sich herausgestellt, dass er unschuldig war und diese Verbrechen niemals begangen hatte. Ein paar Jahre später fiel er einer Bande sadistischer Paramilitärs in die Hände, die ihn eine Woche lang brutal folterten, bis Vikram Sandeep ihn in letzter Minute und mehr tot als lebendig befreien konnte. Und dann kam auch noch seine über alles geliebte Frau Sita bei einem Unfall ums Leben und ließ ihn mit ihrer damals erst sechs Jahre alten Tochter Rani allein zurück. Doch trotz allem hatte Raja Sharma nie den Lebensmut verloren. Ein bewundernswerter Mann. Natürlich auch ein kafir, aber dennoch bewundernswert.

Während der Jahre, in denen er mit Salma im Dar-as-Salam gelebt hatte, war Raja oft zu Besuch gekommen. Er wusste noch gut, wie schnell er seinerzeit zu diesem Mann Vertrauen gefasst hatte. Raja hatte etwas an sich, das die Menschen um ihn herum anzog. Vielleicht waren er und Vikram baba auch deshalb so gute Freunde geworden – obwohl, das war ja schon keine simple Freundschaft mehr: Die beiden sahen sich als Brüder, hatten einander schon mehrfach das Leben gerettet und würden wahrscheinlich jederzeit wieder Kopf und Kragen füreinander riskieren.

Er schloss die Augen, und statt dem Geruch nach verrottendem Holz, ungewaschenen Kleidern und muffigem Stroh stieg ihm plötzlich ein ganz anderer Duft in die Nase. Klare Bergluft. Schafwolle und gerade erst erloschene Kochfeuer. Gras, feucht vom Nachttau. Und über ihm der Himmel wie ein Tuch aus schwarzem Samt, übersät mit unzähligen funkelnden Sternen.

»Das da ist Capella.«

»Capella?«

»Der leuchtende Stern da rechts. Er gehört zum Fuhrmann. Gleich daneben ist der Stier… und da, der Stern, der am hellsten strahlt, das ist Aldebaran.«

»Donnerwetter. Jetzt hab ich wieder was Neues gelernt – danke!«

Das war auf der Hochweide von Bauer Alef gewesen. Er hatte Raja die Sternbilder erklärt, und dann war Vikram baba gekommen und hatte ihn freundlich, aber bestimmt in seinen Schlafsack gescheucht.

Wie viele Jahre war das jetzt her? Er wusste es nicht, und er wollte es auch nicht wissen. Das war eine andere Zeit gewesen, eine andere Welt. Den Jungen von damals gab es nicht mehr, Raja war in der Vergangenheit zurückgeblieben und Vikram baba war in Wahrheit ein hinterlistiger kafir, der die ihm anvertrauten Kinder mit seinen Lügen verdarb und die Unschuld seiner Schwester auf dem Gewissen hatte.

Er verfluchte die Tatsache, dass er nicht aufhören konnte, sich an solche friedlichen Augenblicke zu erinnern. Sie waren nichts als ein Werkzeug des Shaitan, um ihn zu schwächen und von seinem Weg abzubringen. Zur Hölle damit.

»Sinan?«

Er schrak zusammen und wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme ihn gerufen hatte. Im Türrahmen zeichnete sich ein Schatten ab, und im Lichtkegel einer schräg nach oben gerichteten Maglite erkannte er Haroun.

»Ja, hier. Ist was?«

»Abdul und Suleiman sind gekommen. Sie bringen keine guten Nachrichten. Wir müssen unsere Pläne ändern. Kommst du?«

»Bin gleich da.«

Der Schatten verschwand. Sinan warf noch einmal einen liebevollen Blick auf das Mädchen neben Raja Sharma, dann schloss er das Bild, schaltete das Tablet aus und ging hinaus zu den Männern am Feuer, die seine Brüder geworden waren. Brüder, die sich ebenfalls gegenseitig das Leben retteten und jederzeit Kopf und Kragen füreinander riskierten. Und die für die Freiheit Kashmirs und den wahren Glauben kämpften.

Allahu akbar, dachte er. Gott ist groß. Größer als dieser verfluchte Sandeep. Größer als jede trügerische Erinnerung, auch wenn sie noch so süß ist.

Größer als alles andere.

Kapitel 1

Der neue Heimleiter

Yussuf Sadaq verließ den Generatorschuppen, schloss die Tür und blieb einen Moment lang stehen, den Blick auf das Gebäude gerichtet, das im Licht der warmen Sommersonne vor ihm lag. Ein altes, langgestrecktes Holzhaus mit geschwungenem, schindelgedecktem Dach; mehrere reichgeschnitzte Säulen trugen einen Balkon, der sich über die gesamte Vorderfront der oberen Etage erstreckte. Das Dar-as-Salam, idyllisch in einem Himalaya-Seitental in der Nähe von Srinagar gelegen, das sein Zuhause gewesen war, solange Yussuf sich erinnern konnte. Und das er von nun an selbst leiten würde – als Nachfolger seiner beiden geliebten Zieheltern Vikram und Sameera Sandeep.

Noch immer kam ihm diese Vorstellung ein wenig unwirklich vor – und das, obwohl der Anstoß zu dieser Wachablösung von ihm selbst gekommen war. Er hatte schon seit Jahren immer wieder überall mit angepackt und dabei festgestellt, dass diese Arbeit ihm Freude machte. Gleichzeitig hatte er sich mehr als einmal den Kopf darüber zerbrochen, wie es mit dem Haus des Friedens wohl weitergehen würde, wenn Vikram baba – der mittlerweile immerhin siebzig war – irgendwann in den Ruhestand ging. Die Vorstellung, dass dann womöglich ein empathieloser Paragraphenhengst hier das Sagen haben und das Dar-as-Salam seiner Seele berauben könnte, hatte in ihm schließlich den Wunsch heranreifen lassen, selbst derjenige zu sein, der eines Tages die Leitung dieses Waisenhauses übernahm – um es ganz und gar im Sinne seines Gründers weiterzuführen.

Zugegeben: Er hätte niemals gedacht, dass diese Idee bei Vikram baba und Sameera ammi derart großen Anklang finden würde, dass sie ihm – nach einigen Monaten Einarbeitung und Probezeit – den Staffelstab jetzt schon übergaben. Aber andererseits verstand er sehr gut, dass sie allmählich gerne ein wenig kürzertreten wollten. Um mehr Zeit für ihren Sohn Mohan zu haben, der inzwischen dreizehn war, seinem Vater vom Aussehen her immer ähnlicher wurde und seiner Mitwelt genauso gern Streiche spielte, wie Yussuf es in dem Alter ständig getan hatte. Und für ihren besten Freund Raja, der seit knapp einem Jahr dauerhaft im Dar-as-Salam lebte und von den Kindern als ihr Raja daada heiß und innig geliebt wurde.

Deshalb hatte er auch ohne zu zögern Ja gesagt. Von nun an würde er Yussuf baba sein für die achtundzwanzig Kinder, die das Dar-as-Salam beherbergen konnte, seit vor ein paar Jahren zwei Seitenflügel errichtet worden waren; sie bildeten zusammen mit dem alten Haupthaus ein U und rahmten den Innenhof mit dem großen, alten Chenarbaum und der allseits beliebten Feuerstelle ein.

Es war eine gewaltige Aufgabe, die ihn erwartete, aber er war sicher, dass er sie bewältigen würde. Schließlich hatte er ein großartiges Team: die liebe alte Köchin Zobeida Mafous (mitsamt ihrem Mann Hamid, der, wann immer er gebraucht wurde, als Busfahrer und Heimwerker zur Verfügung stand), die Wirtschafterin Safa Muhseni, die beiden Erzieherinnen Chaima Khan und Salma Desouli, den zuverlässigen Wachmann Himal Hussein und den gewissenhaften Buchhalter Mesud Khan. Nicht zu vergessen seine Zieheltern und Raja, bei denen er sich jederzeit Rat und Hilfe holen konnte.

Er atmete tief die warme, würzig nach Kiefern duftende Luft ein und lächelte. Das Dar-as-Salam würde auch weiterhin bleiben, was es war: ein liebevolles Zuhause für Kinder, die hier eine neue Familie finden konnten mit vielen Geschwistern, einem Vater – und mit Vikram daada, Sameera daadi und Raja daada sogar drei wundervollen Großeltern.

Er war bereit.

***

Zwei Wochen später summte das gesamte Dar-as-Salam wie ein Bienenstock. Vikram und Sameera Sandeep hatten beschlossen, dass ein so epochales Ereignis wie der Wechsel an der Spitze der Heimleitung nach einem Fest verlangte, und Yussufs frühere Pflegegeschwister waren ebenso dazu eingeladen wie Rajas Angehörige aus Shivapur.

»Nicht alle werden kommen können«, meinte Raja, als sie ein paar Tage vor dem Fest abends zusammensaßen. »Aber Rajil und Premal wollen es sich auf keinen Fall nehmen lassen, das Trio infernale wiederzuvereinen. Surya und Tara haben auch zugesagt. Und vorhin hab ich mit Vishal telefoniert: Rajata will jetzt doch mitkommen.«

»Oh nein!«, stöhnte Yussuf. »Und ich dachte schon, die bleibt mir erspart.«

Er verdrehte die Augen. Vishal Nath war Rajas bester Freund aus ihren gemeinsamen Gefängniszeiten und ein ausgesprochen sympathischer Mensch, gegen den Yussuf nicht das Geringste hatte. Umso mehr allerdings stand er mit Vishals temperamentvoller Tochter Rajata auf Kriegsfuß, und das schon seit ihrer ersten Begegnung, als sie beide noch Kinder gewesen waren.

»Beruhige dich«, schmunzelte Raja. »Sie wird mit ihren Eltern bei Moussa und Rani logieren, also hast du hier weitgehend deine Ruhe vor ihr. Mit etwas Glück musst du außer einem halbwegs höflichen Salaam kein Wort mit ihr wechseln.«

»Mehr hab ich auch nicht vor«, knurrte Yussuf. »Wieso kommt sie überhaupt mit, die will doch bestimmt bloß wieder Ärger machen!«

»Na komm«, gluckste Sameera belustigt. »Sie ist jetzt achtzehn. Ich denke, über alberne Kinderstreiche ist sie mittlerweile ebenso hinaus wie du.«

»Das glaub ich erst, wenn ich es sehe«, versetzte Yussuf. »Und wenn nicht, dann kann sie sich schon mal warm anziehen.«

Vikram grinste breit. »Vergiss nicht, dass du jetzt ein würdiger Heimleiter bist, mein Lieber. Keine Frösche, Schlangen, Chilischoten oder andere verdächtige Utensilien in Rajatas Nähe, ist das klar?«

»Ich wusste, die Sache mit dem Heimleiter hat einen Haken«, seufzte Yussuf. »Na gut, ich werde versuchen, mich zusammenzureißen.«

»Du schaffst das schon«, versicherte Sameera tröstend und mit einem unverkennbaren heiteren Funkeln in den Augen. –––

Der große Tag war da; das ganze Haus war festlich geschmückt und durchzogen von Duftschwaden, aus denen man die geballten Kochkünste von Zobeida, Sameera und Raja herausriechen konnte. Die meisten Gäste waren bereits eingetroffen, und auf einem Tisch stapelten sich ihre Geschenke für Yussuf und das Heim, darunter ein Netz mit mehreren Fußbällen und einer Karte daran, die die mit zwei Smileys versehenen Unterschriften von Rajil und Premal Sharma trug.

»Hallo, Yussuf!«

Yussuf wirbelte herum; Vishal bahnte sich einen Weg auf ihn zu und schloss ihn stürmisch in die Arme. »Mubarak ho, Junge! Ganz, ganz tolle Sache, dass du jetzt hier das Heft in die Hand nimmst. Das ist bestimmt auch für Vikram eine große Erleichterung; bei dir kann er sich sicher sein, dass du das Heim in seinem Sinne weiterführst.«

»Das habe ich jedenfalls vor«, erwiderte Yussuf. »Danke, Vishal. Schön, dass du da bist. Wo sind denn Pooja und… und Rajata?«

»Die kommen gleich«, antwortete Vishal. »Unser Flieger nach Srinagar hatte Verspätung, und Rani hat vorgeschlagen, dass wir direkt hierherfahren und uns in Rajas Zimmer ein bisschen frisch machen, damit ihr nicht noch länger auf uns warten müsst. Bei mir ging das eben etwas schneller als bei meinen beiden Damen.«

Er zwinkerte ihm zu, und Yussuf grinste schräg. Als ob Rajata eine halbe Stunde brauchte, um von einem T-Shirt in das andere zu schlüpfen – und in eine andere Jeans, sofern sie überhaupt eine zweite dabeihatte.

»Da sind sie ja!«, stellte Vishal plötzlich erfreut fest. »Pooja! Hier sind wir!«

Yussuf wandte den Kopf und sah Vishals Frau in einem eleganten lilafarbenen Sari auf sich zukommen. Er begrüßte sie respektvoll, nahm ihren Glückwunsch entgegen und wappnete sich innerlich für das Wiedersehen mit seiner jahrelangen Intimfeindin.

Und dann erstarrte er und spürte, wie sein Unterkiefer langsam nach unten sackte.

In der Tür war eine anmutige junge Dame erschienen. Ein Sari in leuchtenden Gold- und Orangetönen zierte ihre schlanke Gestalt, dezenter Goldschmuck ihren Hals, ihre Ohrläppchen und ihre Handgelenke. Langes dunkelbraunes Haar fiel ihr offen und üppig glänzend über die Schultern. Er musste tatsächlich zweimal hinsehen, um zu begreifen, dass er Rajata Nath vor sich hatte.

Auf ihrem Gesicht machte sich ein Lächeln breit, als sie nun auf ihn zuging.

»Namaste, Heimleiter sahab«, sagte sie, und ihre Augen blitzten. »Schön, dich wiederzusehen!«

Yussuf war noch immer zu verblüfft, um zu reagieren. Er tat das einzig Sinnvolle, was ihm in diesem Moment einfiel, und klappte den Mund wieder zu.

»Ich höre, hier ziehen jetzt neue Sitten ein«, fuhr sie unbekümmert fort. »Ich meine, wenn du hier das Sagen hast, dann wird der Frosch- und Schlangenverbrauch des Hauses rapide in die Höhe schnellen. Ich hatte Papa ja eigentlich vorgeschlagen, dir zum Amtsantritt ein Terrarium zu schenken.« Sie warf ihre Haare in den Nacken und lachte ihn vergnügt an.

Unwillkürlich gab Yussuf ein amüsiertes Prusten von sich.

»Dem Himmel sei Dank«, sagte er. »Ich wollte dich schon fragen, wer du bist und was du mit Rajata angestellt hast. Aber offenbar kenne ich dich doch von früher.«

»Aber sicher doch!« Sie hob ein schmales Päckchen hoch. »Herzlichen Glückwunsch zum neuen Job!«

»Danke.« Yussuf nahm das Geschenk entgegen und befingerte es vorsichtig; es fühlte sich weich und geschmeidig an. »Ist es ungefährlich, das aufzumachen?«

»Seit wann bist du so ängstlich, Heimleiter sahab?«, gab sie augenzwinkernd zurück.

Yussuf schnaubte leicht. »Für dich immer noch Yussuf«, sagte er und stellte überrascht fest, dass er sie tatsächlich anlächelte. Dann riss er das Geschenkpapier auf. Zum Vorschein kam ein froschgrünes T-Shirt, auf dem mit knallroten Buchstaben Ich bin hier der Chef! stand.

Er hielt es sich vor, sah auf und grinste.

»Passt. Das wird meine neue Dienstkleidung. Shukriya.«

»Gern geschehen«, antwortete Rajata lächelnd.

»Und das ist von uns«, sagte Vishal und drückte Yussuf einen Umschlag in die Hand. »Eine kleine Spritze dafür, dass du deine Pläne und Ideen für dieses Haus verwirklichen kannst.«

»Vielen Dank.« Yussuf legte den Umschlag und das T-Shirt auf den Geschenketisch. »Wollt ihr etwas zu trinken?«

»Ein Glas Lassi wäre schön«, sagte Pooja.

»Ich würd auch einen nehmen«, ergänzte Vishal.

»Ich hol euch welchen«, erbot sich Yussuf. »Du auch, Rajata?«

»Ja, bitte.«

Yussuf machte sich auf den Weg. Als er mit drei vollen Lassigläsern zurückkam, hörte er schon von weitem Vishals Stimme: »… passt wirklich alles bestens. Der Junge kennt dieses Haus von klein auf, und er hat das Herz am rechten Fleck. Der wird den Laden hier schon schmeißen.«

Yussuf blieb stehen. Er sah, dass Vikram sich zu den Naths gesellt hatte und nun zustimmend nickte: »Ja, ich bin sehr glücklich, dass es sich so gefügt hat. Ich habe volles Vertrauen zu Yussuf; er hat alles, was es braucht, um das Dar-as-Salam zu leiten.«

»Nicht ganz«, warf Rajata ein. Yussuf sah, dass ihre Augen übermütig blitzten, und seufzte. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Mit Sicherheit kam jetzt gleich wieder eine der typischen kleinen, gemeinen Rajata-Spitzen.

»So, findest du?« Vikram sah sie interessiert an. »Was fehlt ihm denn noch, deiner Meinung nach?«

Rajata richtete sich kerzengerade auf und schüttelte ihr dunkles Haar.

»Der Mann braucht eine Frau.«

***

Das Fest für den frischgebackenen Heimleiter neigte sich seinem Ende entgegen. Die Kinder waren ins Bett geschickt worden, und nur die Erwachsenen saßen noch bei Kaffee, Zitronenwasser und Wein im Aufenthaltsraum zusammen. Als Yussuf zwischendurch ein paar leere Tassen und Gläser abräumte, stellte er fest, dass die Küche einem Schlachtfeld glich. Zobeida hatte bereits mit den Aufräumungsarbeiten begonnen, allerdings war nicht zu übersehen, dass sie am Ende ihrer Kräfte war; ihr Gesicht war zerfurcht vor Müdigkeit, und sie konnte kaum noch die Augen offenhalten. Yussuf überschlug blitzschnell, wie lange die getreue alte Köchin jetzt schon ununterbrochen im Einsatz war, stellte sein Geschirr auf dem Tisch ab und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter.

»Geh schlafen, Zobeida«, sagte er ruhig, aber bestimmt. »Du siehst aus, als ob du gleich vor lauter Erschöpfung ins Spülbecken fällst.«

Sie betrachtete ihn liebevoll. »Ich muss mich immer noch ein wenig daran gewöhnen, dass du jetzt hier das Sagen hast, chhote«, erwiderte sie, und ihre Augen zwinkerten. »Es kommt mir vor, als ob ich dich erst gestern mit dem Handtuch um den Küchentisch gejagt habe, weil du mir die frische Kokossahne für mein Lamm-Korma durch Flüssigseife ersetzt hast.«

Yussuf lachte. »Und du hast es erst gemerkt, als du danach das Korma abgeschmeckt hast. Ich hätte nie gedacht, dass du so schöne Seifenblasen spucken kannst!«

»Dusht!« Zobeida schnappte sich ihren größten Kochlöffel und hielt ihn vielsagend in die Höhe. »Ich hoffe ja nur, dass du dir hier nicht zum Ziel gesetzt hast, lauter kleine Nachfolger für dich heranzuziehen. Es reicht schon, dass Mohan dich zu seinem großen Vorbild auserkoren hat.«

»Mohan?«, fragte Yussuf mit Unschuldsmiene.

»Na komm«, erwiderte Zobeida trocken. »Wer hat denn vorige Woche Seifenflocken in die Grießdose geschüttet, als ich Kesari machen wollte? Also wirklich! Von wem der Junge sich das wohl abgeschaut hat?«

Yussuf grinste und tätschelte ihr die Schulter. »Wenigstens musste anschließend er die Küche wieder saubermachen und nicht du. Und jetzt geh ins Bett, Zobeida, du hast heute wirklich genug gearbeitet. Ich mache hier klar Schiff.«

»Aber das geht doch nicht!«, protestierte Zobeida.

»Und wie das geht!«, widersprach Yussuf energisch. »Außerdem: Was wetten wir, dass irgendwann demnächst Raja hier auftaucht und mir bereitwillig zur Hand geht? Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, dass ich mich deinetwegen zu Tode schufte. Ab ins Bett mit dir; ich sag Hamid Bescheid, dass du bei uns übernachtest. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, mein lieber Junge.«

Sie verbarg ein Gähnen hinter vorgehaltener Hand, warf ihm ein so verlegenes wie dankbares kleines Lächeln zu und ging hinaus. Yussuf sah ihr nach; er dachte an die Gästekammer, die Zobeida jederzeit zur Verfügung stand, wenn sie sich während ihres Dienstes mal ausruhen wollte – und während er damit begann, den Rest des köstlichen Rogan Josh in eine Plastikdose zu löffeln, erinnerte er sich plötzlich an jenen Tag vor fünfzehn Jahren, an dem Raja zum ersten Mal ins Dar-as-Salam gekommen war und die Nacht in ebendieser Kammer verbracht hatte. Damals war er, Yussuf, acht Jahre alt und der jüngste von Vikram babas Pflegekindern gewesen. Jetzt war er der Leiter des Heims, und Raja war hier ebenso zuhause wie er. Ohne Frage hatten sie beide ihren Platz im Haus des Friedens gefunden.

Yussuf lächelte in sich hinein, drückte den Deckel auf die Dose und verstaute sie in dem riesigen Kühlschrank. Dann registrierte er drei weitere, bereits leergekratzte Karahis sowie die zahlreichen Schalen und Schüsseln, die sich auf dem Tisch stapelten, und beschloss, in diesem Fall höchstselbst die Spülbürste zu schwingen.

Er ließ heißes Wasser in die Steinspüle laufen, versenkte den Schüsselstapel darin und machte sich an die Arbeit. Dabei pfiff er laut vor sich hin und musste schon wieder lächeln, als er begriff, welche Melodie ihm da gerade durch den Kopf ging: Hum Tere Bin, ein flotter Song aus einem alten Film von 1991, in dem der gutaussehende mutige Held die verschreckte Jungfer erst rettete und dann liebevoll umwarb. Es war unvermeidlich, dass seine Gedanken von der jungen Pooja Bhatt (die besagte Jungfer gespielt hatte und damals erst neunzehn und ausgesprochen niedlich gewesen war) zu einer anderen Jungfer abirrten, die er heute wiedergetroffen – und fast nicht wiedererkannt hätte.

Wann zum Donnerwetter war Rajata Nath so schön geworden?

Yussuf kannte die Tochter von Vishal und Pooja Nath, seit er vor dreizehn Jahren zusammen mit seinen Ziehgeschwistern einige Monate lang bei den Sharmas in Shivapur gelebt hatte, als das Dar-as-Salam nach schweren Sturmschäden evakuiert und renoviert werden musste. Damals war sie gerade mal fünf und Yussuf herzlich egal gewesen; er hatte bevorzugt mit Rajas Enkeln Rajil und Premal zusammengesteckt, mit denen man herrlich Fußball spielen und allerhand Unfug anstellen konnte. Das änderte sich anderthalb Jahre später schlagartig, als Rajata zusammen mit ihren Eltern zu einem Weihnachtsbesuch ins Dar-as-Salam kam und als Erstes das Herzlich-willkommen-Schild an dem großen Schneemann, den die Heimkinder gebaut hatten, zu Fall brachte. Yussuf war empört auf sie losgegangen, sie hatte ihm ebenso empört Paroli geboten, der unschuldige Schneemann war ihrem Streit am Ende vollends zum Opfer gefallen, und von da an waren Yussuf und Rajata unversöhnliche Feinde gewesen.

Dass sie beide mit den Jahren älter wurden, änderte daran überhaupt nichts. Sie spielten einander mit Leidenschaft hinterlistige Streiche, zogen wortreich über den jeweils anderen her und wünschten sich gegenseitig die Pest an den Hals. Yussuf schmuggelte Rajata Heuschrecken und Frösche ins Bett (die Krönung war eine – gottlob ungiftige – Schlange) und nagelte einmal sogar ihre Lieblingsschuhe auf den Dielenboden. Rajata revanchierte sich mit Ohrfeigen, streute Salz in seinen Mangolassi und bemalte die Wand über seinem Bett mit Blümchen und Schweinchen in grellem Pink – eine Farbe, die Yussuf auf den Tod nicht ausstehen konnte.

Ihr Vater Vishal hatte fast immer nur auf der Straße und im Knast gelebt, bis er erst Raja und dann Pooja begegnet war und mit ihrer Hilfe sein Leben in geordnete Bahnen gebracht hatte. Er pflegte gerne zu sagen, dass sein einziges Kind ganz klar nach ihm geriet, und Yussuf glaubte ihm das sofort: Rajata trug am liebsten Hosen und Schlabberhemden, kletterte schneller und geschickter auf die Bäume als jeder Junge im Dar-as-Salam und scheute vor keiner handfesten Auseinandersetzung zurück. Außerdem besaß sie einen farbigen Wortschatz, der selbst dem vorlauten Tunichtgut Yussuf die Schamröte ins Gesicht trieb, und hatte keine Skrupel, ihn einzusetzen, wenn sie wütend auf Yussuf war – und das war sie praktisch ständig. Irgendwann entschied sie sich, zuhause zu bleiben, wenn ihre Eltern Kashmir besuchten, und so verschwand sie für mehrere Jahre aus Yussufs Blickfeld. Er weinte ihr keine Träne nach.

Jetzt war sie wieder da… und doch wieder nicht. Die geschmackvoll gekleidete und geschmückte junge Frau mit den leuchtenden braunen Augen, dem langen Haar (das Yussuf am liebsten berührt hätte, um festzustellen, ob es wirklich so seidig war, wie es aussah) und den ausgesprochen hübschen Kurven hatte mit der jungenhaften Kratzbürste vergangener Jahre nicht das Geringste gemein. Er erinnerte sich, wie ihm die Knie weichgeworden waren und sein Mund ausgetrocknet war, als sie vorhin den Raum betreten und ihn angelächelt hatte. Dass er in dem Moment überhaupt ein halbwegs geistreiches Gespräch mit ihr zustande gebracht hatte, ohne zu stottern, verblüffte ihn immer noch.

»Schau an, Heimleiter sahab! Da bist du also abgeblieben!«

Yussuf fuhr herum. Der Topfdeckel in seiner Hand, glitschig vom Seifenwasser, glitt ihm aus den Fingern und wirbelte quer durch die Küche wie ein Diskus bei den Olympischen Spielen. Er prallte dicht neben Rajatas Kopf an die Wand und landete scheppernd auf dem Boden. Sie schüttelte belustigt den Kopf, bückte sich und hob ihn auf.

»Ich hatte eigentlich vor, die Friedensverhandlungen zwischen uns endgültig zu einem positiven Abschluss zu bringen«, verkündete sie. »Und dann bewirfst du mich mit Geschirr? Offenbar sind die alten Zeiten doch noch nicht vorbei.«

Yussuf hätte gern eine schlagfertige Antwort darauf gefunden – aber es hatte ihm einmal mehr die Sprache verschlagen. Sein Mund war genauso trocken wie vorhin, seine Knie fühlten sich an wie Sameera ammis Apfelgelee und sein Herz schlug einen Purzelbaum nach dem anderen.

»Es… es war doch bloß das blöde Spülmittel«, brachte er endlich heraus. »Und der Schwung, als ich mich zu dir umgedreht hab. Alles Physik, weißt du?«

»Aber sicher«, sagte sie, eine Augenbraue hochgezogen und ein Grinsen in den Mundwinkeln, das ihn geisterhaft an das kleine Mädchen erinnerte, das einst zusammen mit ihm den großen Schneemann zum Einsturz gebracht hatte. »Wobei ich ja eher auf einen Fall von Chemie getippt hätte.«

»Ch-chemie?« Jetzt stotterte er doch noch, verflixt noch mal. »Was meinst du denn damit?«

»Wenn es zwischen zwei Menschen funkt«, erklärte sie in aller Seelenruhe, nahm ein Küchenhandtuch von der Halterung an der Wand und fing an, den Topfdeckel abzutrocknen. »Zwischen Mann und Frau, vor allem. Schaust du denn niemals Filme?«

»Doch, natürlich«, erwiderte er. »Kinos sind hier in Kashmir zwar immer noch Mangelware, und mit Streamingdiensten ist unser Internet meistens überfordert, aber wir haben immerhin einen Fernseher und einen DVD-Player.«

»Dann musst du doch wenigstens ein bisschen über Romantik Bescheid wissen!« Rajatas Augen blitzten herausfordernd.

Hum tere bin kahin reh nahin paate tum nahin aate to hum mar jaate. Der Songtext und die Melodie, die er vorhin vor sich hin gepfiffen hatte, drängten sich ungebeten in Yussufs Kopf. Ohne dich kann ich nicht mehr leben; wäre ich dir nicht begegnet, ich wäre längst gestorben.

»Ein bisschen«, gab er kurzangebunden zurück und wandte sich hastig von dem hübschen Mädchen ab, das ihn auf so unerwartete Weise durcheinanderbrachte. Ohne einen weiteren Kommentar schrubbte er die angetrockneten Reisreste aus einem Dechki. Dann merkte er, dass sie neben ihn trat. Sie roch sanft und süß, wie ein frisch erblühter Rosenstock.

Hastig zog er die große Schüssel aus der Spüle und bespritzte sich prompt von oben bis unten mit Seifenwasser. Rajata lachte leise, aber der spöttische Spruch, auf den er gewartet hatte, blieb aus.

Kabhi dekhoon jo main darpan chehra tera nazar aaye, jab jab leti hoon main saansein teri khushboo bikhar jaaye. Da war die Stimme von Manhar Udas schon wieder. Selten finde ich dein Gesicht auf meiner Türschwelle, doch wenn ich Atem hole, spüre ich deinen Duft. Yussuf seufzte. Konnte der alte Knabe in seinem Kopf nicht endlich die Klappe halten?

»Du solltest heiraten«, sagte Rajata plötzlich; ihr Tonfall war vollkommen unbefangen. »Das hab ich heute auch schon zu Vikram baba gesagt. Für den Job, den du da übernommen hast, brauchst du dringend eine Frau.«

Sie nahm ihm den blankgeschrubbten Dechki aus der Hand, um ihn abzutrocknen – und Yussuf nutzte die Gelegenheit, um einmal mehr nach Luft zu schnappen.

»Hast du… vielleicht auch irgendwelche Kandidatinnen in petto?«, fragte er. »Wenn du schon so genau weißt, was ich brauche, d-dann musst du dir darüber doch Gedanken gemacht haben!«

Er hatte den Satz überlebt, fast ohne zu stottern. Es geschahen noch Zeichen und Wunder.

»Ja, was denn!« Sie lachte. »Keine ehemaligen Klassenkameradinnen, die schmachtend vor dem Dar-as-Salam Schlange stehen?«

»Siehst du da draußen welche?« Er errötete, musste nun aber selbst lachen und stellte erleichtert fest, dass er sich entspannte.

»Um diese Zeit schlafen sie wahrscheinlich«, meinte Rajata, ein ausgesprochen amüsiertes Funkeln in den Augen.

»Schön wär’s«, versetzte er. »Aber um ehrlich zu sein: Der Andrang ist nicht gerade riesig. Genau genommen ist er gar nicht vorhanden.«

Rajata legte den Kopf schräg.

»Ziemlich merkwürdig«, erwiderte sie. »Wenn man bedenkt, was für eine scheußliche Nervensäge du gewesen bist, dann hast du dich ganz ordentlich herausgemacht, finde ich.«

»Und du erst!«, platzte Yussuf heraus – und verstummte, den Kopf knallrot vor Verlegenheit.

Sie hängte das Küchenhandtuch über eine Stuhllehne, kam auf ihn zu und lächelte. Y’Allah, wie schön sie war. Seine Knie zitterten schon wieder, und der Herzschlag schwirrte in seinem Brustkorb wie eine nervöse Hummel.

»Man tut, was man kann«, sagte sie. »Und wenn ich schon an deinem großen Tag endlich mal wieder hier antanze, dann ist es ja wohl selbstverständlich, dass ich mich für dich in Schale werfe. Ich wollte, dass du dich freust.«

»Ich hab mich gefreut.« Jetzt stand sie dicht vor ihm; er konnte sehen, wie sich sein Gesicht in ihren Augen spiegelte, und seine Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen. »Ich… ich freu mich immer noch.«

»Wenn das so ist, dann freu ich mich auch.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, und im nächsten Moment spürte er ihre Lippen auf seinem Mund. Kein bloßer Hauch, kein zartes Streifen, sondern ein ausgewachsener Kuss. Wenn Rajata etwas machte, dann machte sie es richtig. Yussuf hielt es für angebracht, ihren Kuss zu erwidern. Und sie in die Arme zu nehmen und an sich zu ziehen. Sie roch nicht nur betörend, sie schmeckte auch noch himmlisch – besser als sämtliche köstlichen Desserts aus der Küche des Dar-as-Salam zusammen.

Als sie zurücktrat, kämpfte Yussuf mannhaft gegen den heftigen Widerwillen an, sie loslassen zu müssen. Das Haus war vollkommen still; alles, was er hörte, war sein eigener rascher Atem und der dieser hübschen jungen Frau, die er am liebsten für immer festhalten wollte.

»Ich glaub, ich geh jetzt besser, bevor sich die Runde drüben im Aufenthaltsraum auflöst und Papa zur Abfahrt bläst«, sagte Rajata leise.

»Verstehe«, erwiderte Yussuf ebenso leise. »Aber ihr bleibt doch noch ein bisschen, deine Eltern und du – in den nächsten Tagen, meine ich?«

»Papa hat gesagt, wir fliegen erst am Donnerstag wieder heim«, antwortete Rajata. »Das sind drei Tage.«

»Gut«, sagte Yussuf und meinte es absolut ernst. »Sehr gut.«

»Find ich auch.« Rajata hob eine Hand und strich ihm zart und flüchtig über die Wange. »Schlaf schön, Heimleiter sahab.«

»Du auch.«

Er schaute ihr nach, während sie hinausging und lautlos die Tür hinter sich schloss. Dann ließ er sich auf den Küchenstuhl fallen und stellte fest, dass seine Hände zitterten.

Was war da gerade passiert?

Yussuf schloss die Augen. Eigentlich wusste er ganz genau, was da gerade passiert war. Ohne jeden Zweifel. Und in diesem Moment, allein in der Küche, erlebte er einen völlig unerwarteten Augenblick tiefsten Friedens.

Tere bin ab jeena mushkil hai, main dil hoon tera tu mera dil hai.

Jetzt machte es ihm nichts mehr aus, dass sich das romantische alte Liebeslied in seine Gedanken drängte. Er sang die Zeile mit und lächelte dabei.

Von nun an ist es schwer, ohne dich zu leben. Du bist mein Herz, und ich bin das deine.

***

»… und dann sagte sie, Yussuf sei der mit Abstand grässlichste Junge in Kashmir, Jammu und ganz Indien, und sie würde es ihm heimzahlen. Als er vor dem nächsten Freitagsgebet in seine nagelneue Kurta schlüpfen wollte, da waren beide Ärmel und der Halsausschnitt zugenäht. Und zwar so geschickt, dass es ihm erst auffiel, als er schon mit dem Kopf drinsteckte. Er verwickelte sich in den Stoff, rannte prompt gegen den Türpfosten – und während des gesamten Salat-al-dschumma konnten die Beter in der Moschee sein prächtig schillerndes Veilchen bewundern.«

Vikram lehnte sich in dem ledernen Schreibtischstuhl zurück, mehr als zufrieden mit der Wirkung seiner kleinen Anekdote. Vishal, der in weniger als zwei Stunden zuschauen würde, wie seine Tochter Vikrams Ziehsohn heiratete, lachte herzhaft und entspannte sich zusehends.

Die stürmische Romanze von Rajata und Yussuf, die bei dem Fest anlässlich von Yussufs Amtsübernahme ihren Anfang genommen hatte, war nicht nur für die beiden Beteiligten selbst ziemlich überraschend gekommen, sondern auch für alle anderen, die den jahrelangen Kleinkrieg der beiden Streithähne vom Dienst hautnah miterlebt hatten. Auch wenn Yussuf längst nicht mehr der kleine Tunichtgut von einst war; er war jetzt dreiundzwanzig, groß und mit seiner drahtigen Gestalt, den dunkelbraunen funkelnden Augen und dem schwarzgelockten Haar ein, wie Vishal sich ausdrückte, durchaus ansehnliches Exemplar von einem Mann. Rajata ihrerseits hatte gelernt, ihren Charme, der beträchtlich war, gezielt einzusetzen. Und nun hatte es zwischen ihr und dem neuen Heimleiter derart gefunkt, dass sie sich ihrer Sache schon nach kurzer Zeit bombensicher war: Sie würde Yussuf heiraten, niemanden sonst.

Vishal hatte entschieden länger gezögert. Nicht weil er etwas gegen Yussuf oder das Dar-as-Salam hatte, wirklich nicht – aber die Sache kam ihm ein wenig übereilt vor, und außerdem: War Rajata mit ihren achtzehn Jahren nicht noch etwas zu jung zum Heiraten? Und war ihr überhaupt bewusst, worauf sie sich einließ und was es bedeutete, die Pflegemutter von achtundzwanzig Kindern zu sein? Rajata hatte seine Bedenken jedoch samt und sonders lachend beiseitegewischt: War Rani, die Tochter von Papas bestem Freund Raja, nicht auch erst knapp achtzehn gewesen, als sie mit ihrem Moussa um das Feuer ging, und waren die beiden nicht trotzdem heute ein überaus glückliches Ehepaar? War Yussuf nicht eigentlich auch viel zu jung, um das Heim zu leiten, und tat es jetzt trotzdem? Und hielt Papa sie allen Ernstes für so blauäugig, dass sie nicht genau wusste, welche Aufgabe an Yussufs Seite auf sie wartete? Abgesehen davon: Vor der Arbeit mit Kindern hatte sie keine Angst; im Gegenteil, sie freute sich darauf.

Vishal war danach zwar halbwegs, aber noch lange nicht ganz überzeugt gewesen. Erst als seine Frau ein Machtwort sprach, streckte er die Waffen. »Sie weiß genau, was sie will«, sagte Pooja, »wieso sollen wir sie da erst noch ein paar Jahre zappeln lassen? Der Junge liebt sie, sie liebt ihn auch, und bessere Schwiegereltern hätten wir uns für unser Kind kaum wünschen können.«

Also signalisierte er Gesprächsbereitschaft nach Srinagar, woraufhin Yussuf in Begleitung von Vikram, Sameera und Raja nach Shivapur reiste und in aller Form um Rajatas Hand anhielt. Da er von seiner Zukünftigen keine Konvertierung zum Islam verlangte (womit er bei Rajata auch definitiv auf Granit gebissen hätte), war auch eines der weiteren Probleme gelöst, die Vishal schlaflose Nächte bereitet hatten – nämlich dass diese »interreligiöse Verbindung« bei gewissen Nationalisten und hinduistischen Extremisten auf heftigen Widerstand stoßen könnte. Schließlich konnte wohl niemand Yussuf ernsthaft einen »Love Jihad« unterstellen, wenn seine indische Ehefrau ungehindert zu ihren Göttern beten und ihre Hindu-Feste feiern durfte.

Und nun war es so weit. Alles war vorbereitet, hinter dem Dar-as-Salam rührte der Waza eifrig in seinen vierzig dampfenden Wazwan-Kesseln, in Sameeras Schlafzimmer schlüpfte Rajata soeben unter den vielstimmigen »Ahhhs« und »Oooohs« der weiblichen Verwandtschaft in den herrlichen perlenbestickten Anarkali, den ihre zukünftige Schwägerin Zeenath extra für sie entworfen hatte – und Vikram hatte den Brautvater in sein Büro beordert, um dessen schwer angegriffene Nerven mit einer guten Dosis Humor und Bushmills zu besänftigen.

»So gefällst du mir schon viel besser«, sagte er lächelnd. »Du hast eben ausgesehen wie ein Stück Paneer frisch aus dem Kühlschrank. Wir wollen doch nicht, dass du nachher vor den Augen des Imams zusammenklappst.«

»Du hast leicht reden«, erwiderte Vishal trocken und stellte das leere Whiskeyglas auf den Tisch. »Du hast schon ein paar Töchter verheiratet, für mich ist das noch absolutes Neuland.«

»Ich gebe zu, als ich damals Zeenath an Nadim übergeben habe, war ich froh, dass nicht ich sie zur Sänfte tragen musste«, erwiderte Vikram tröstend. »Ich hätte sie wahrscheinlich fallen gelassen; mir haben die Knie nicht schlecht gezittert. Zum Glück hat Raja diese Aufgabe übernommen und absolut souverän durchgeführt.«

»Dabei habe ich doch eigentlich gar keinen Grund, nervös zu sein.« Sichtlich ungläubig über sich selbst schüttelte Vishal den Kopf. »Schließlich gebe ich meine Tochter nicht irgendeinem Wildfremden zur Frau, bei dem ich mir alles andere als sicher sein kann, ob sie gut bei ihm aufgehoben ist. In gewissem Sinne geht es mir genauso wie im vorigen Jahr Raja: Ich muss mir um das Glück meiner Tochter keine Gedanken mehr machen, denn sie heiratet einen Sohn von Vikram Sandeep.«

Vikram verneigte sich leicht. »Danyavaad – vielen Dank. Aber Yussuf hat auch Glück. Deine Rajata ist ein Schatz und eine patente Frau, die das Zeug hat zur Mutter der Kompanie. Genau das, was der Junge braucht – und dieses Haus auch.«

»Das ist der Punkt, über den Rajata und ich in den vergangenen Wochen am ausgiebigsten miteinander debattiert haben«, versetzte Vishal. »Ich habe ihr ganz klar vor Augen gehalten, dass sie bei einer Hochzeit mit Yussuf nicht einfach nur Ehefrau wird, sondern zugleich eine Verantwortung übernimmt, die sie auf keinen Fall unterschätzen darf. Nächtelang haben wir ernsthaft darüber geredet, was es bedeutet, die Frau eines Waisenhausleiters zu sein – und ich bin sicher, sie ist sich darüber im Klaren, was auf sie zukommt. Aber sie ist bereit und willens. Und ich denke, sie wird es schaffen.«

»Das glaube ich auch«, sagte Vikram. »Wobei ich deine Bedenken gut verstehen kann. Wir sind nicht irgendein Kinderheim. Dieses Haus hat einen bestimmten Ruf, es wird noch immer von vielen Augen beobachtet, und nicht alle schauen freundlich hin. Daran hat auch die Tatsache, dass ich sozusagen abgedankt habe und jetzt Yussuf hier das Zepter schwingt, nichts geändert. Wenn ich das Gefühl hätte, dass Rajata diesem Druck nicht gewachsen ist, dann hätte ich diese Bedenken von vornherein offen geäußert. Aber sie hat deinen Mumm geerbt; ich bin sicher, sie kriegt das hin. Und was noch viel wichtiger ist: Sameera denkt genauso. Rajata wird uns beide haben und Yussuf dazu, um in diese Aufgabe hineinzuwachsen.«

»Das beruhigt mich sehr.« Vishal lächelte. »Außerdem… weißt du, wir haben Rajata stets dazu erzogen, alles erst einmal auszuprobieren, bevor sie sagt: nein, das kann ich nicht oder das schaff ich nicht. Ich selbst hab das auf die harte Tour lernen müssen, als ich noch auf der Straße gelebt habe, und deshalb wollte ich, dass meine Tochter von Anfang an vor nichts zurückscheut und selbstbewusst durchs Leben geht. Jetzt wird sich erweisen, wie erfolgreich diese Strategie wirklich war.«

»Da mache ich mir keine Sorgen«, versicherte Vikram. »Außerdem seid ihr ja nicht aus der Welt; der Weg von Srinagar nach Shivapur ist keine Einbahnstraße. Und du und deine Frau, ihr gehört nicht erst seit heute zu unserer Familie. Dass ihr hier jederzeit willkommen seid, muss ich dir ja wohl nicht extra erklären.«

»Nein, wirklich nicht.« Vishal richtete sich in seinem Sessel auf und sah Vikram voller Zuneigung an. »Das weiß ich seit dreizehn Jahren. Seit damals… du weißt schon.«

Vikram nickte. Ja. Seit damals, als Vishal ihm geholfen hatte, Raja in einer waghalsigen Aktion aus dem Folterlager von Djamal Kamils Paramilitärs zu befreien. Er hatte Vishal schon vorher durchaus gemocht, aber in jener Nacht hatte er ihn erst wirklich schätzen gelernt.

»Weißt du«, fuhr Vishal fort, »ich denke oft an diese Zeit zurück. Nicht nur wegen Raja. Ich erinnere mich vor allem daran, wie wir dieses Haus nach den Sturmschäden wiederaufgebaut haben. Damals hab ich mich ein bisschen in das Dar-as-Salam verliebt, und seitdem verstehe ich auch, warum es Raja von Anfang an immer wieder hierhergezogen hat – so sehr, dass er jetzt bei euch seinen Lebensabend verbringt. Dieser Ort ist etwas Besonderes. Und der Gedanke, dass nun auch meine Tochter hierhergehört, gefällt mir ausnehmend gut.«

Mit einem Mal grinste er.

»Aber wenn uns seinerzeit jemand gesagt hätte, dass wir beide eines schönen Tages miteinander verwandt sein würden – das hätten wir wohl niemandem so recht abgenommen, was?«

Vikram streckte die Beine von sich und lachte leise. »Ach, weißt du – wenn mir damals bei der Armee jemand gesagt hätte, dass ich irgendwann Problemkinder in einem Heim in Kashmir aufziehe, dass ich einen Bruder wie Raja und einen Freund wie dich finde, dass ich heirate und mit Ende fünfzig noch Vater werde, dann hätte ich das auch nicht geglaubt. Das Leben überrascht uns immer wieder. Und Rajata ist eine der schönsten Überraschungen der letzten Jahre. Sie ist ein wunderbares Mädchen.«

»Ich bin mit Yussuf auch sehr zufrieden.« Vishal schmunzelte. »Den hab ich schon damals gemocht, als ihr eure Kinder zu uns evakuiert habt. Er hat zu Rajil und Premal gepasst wie ein Deckel auf den Topf; ich hatte richtig Spaß mit den drei Lausern, in der Zeit, bevor ich dann mit dem Renovierungskommando hierhergekommen bin. Jungs von dem Kaliber finde ich klasse.«

»Das glaub ich dir sofort.« Vikram schnaubte amüsiert. »Ihr seid von haargenau demselben Schlag.«

Er betrachtete den Mann vor sich, der ihm inzwischen so vertraut geworden war: Kind der Straße, geläuterter Gauner, Rajas brother from another mother und hingebungsvoller Ehemann und Vater. Sein Gesicht wurde ernst.

»Ich möchte, dass du eines weißt«, sagte er. »Deine Tochter ist nun auch meine Tochter, und ich werde sie ebenso beschützen wie den Rest meiner Familie. Sie wird hier so sicher sein, wie es in Kashmir nur irgend möglich ist. Und sollte sie jemals in Gefahr geraten, dann werde ich sie mit meinem Leben verteidigen. Jederzeit.«

Vishal war bei Vikrams Worten ebenfalls sehr ernst geworden.

»Daran zweifle ich keine Sekunde. Dazu kenne ich dich inzwischen viel zu gut. Wobei ich ja hoffe, dass nie wieder jemand von uns ernsthaft in Gefahr gerät. Aber wenn – dann erinnere dich daran, was Surya und ich damals zu dir gesagt haben: Das, was wir für Raja getan haben, würden wir jederzeit auch für dich tun. Versteh mich richtig, ich mache mir um Rajata keine Sorgen, solange ich sie in deiner und Yussufs Obhut weiß. Aber ich erwarte von dir, dass du im Notfall nicht zögerst, mir Bescheid zu geben, wenn du meine Hilfe brauchst. In Ordnung?« Seine Augen funkelten. »Ich meine, ich bin zwar immer noch kein Profi, aber Amateur bin ich auch keiner mehr. Ich hab die Kniffe und Tricks, die du mir in den vergangenen Jahren beigebracht hast, alle noch drauf!«

»Und das ist verdammt viel«, erwiderte Vikram lächelnd. »Du warst einer der besten Schüler, die ich je hatte; was deine Nahkampftechnik betrifft, brauchst du dich schon lange hinter keinem Profi mehr zu verstecken. Gut, ich verspreche dir: Wenn ich dich brauche, werde ich dich rufen. Aber nimm’s mir nicht krumm: Ich hoffe und bete, dass wir nie wieder solche Kampfeinsätze nötig haben. Vielleicht juckt es dir ja in den Fingern, aber in meinem Alter hat man es gern ein bisschen friedlicher.«

»Friedlich?« Vishal grinste breit. »Mit meinem Wildfang und Yussuf unter einem Dach? Träum weiter. Und was die Kampfeinsätze betrifft – das würde dann zwar bedeuten, dass ich ganz umsonst jahrelang mit dem besten Elitesoldaten Indiens trainiert habe, aber zugegeben: Ich hab auch nichts dagegen, wenn uns keiner mehr ernsthaft ans Bein pinkelt. Wollen wir darauf anstoßen?«

Vikram warf einen Blick auf Vishals leeres Glas. Seine Brauen stiegen hoch. »Aha, du möchtest also noch einen?«

»Nur, wenn ich nicht allein trinken muss«, gab Vishal augenzwinkernd zurück.

»Für jeden einen Fingerbreit«, entschied Vikram salomonisch. »Mehr nicht, sonst kippst du nachher nicht aus Nervosität, sondern aus ganz anderen Gründen um, und das wäre auf einer islamischen Hochzeit vielleicht ein bisschen unpassend.«

»Willst du mich beleidigen?« Vishals Augen blitzten herausfordernd auf. »Ich und nach nur zwei Whiskeys umkippen? Pass bloß auf, dass ich meine gesammelten Nahkampf-Elitekenntnisse nicht gleich mal an dir ausprobiere!«

»Das sollten wir besser lassen, mera dost.« Vikram schmunzelte amüsiert. »Schließlich will ich meine neue Schwiegertochter nicht damit verschrecken, dass ich ihren Vater… ähm… demoliere.«

»Du kämst auch nicht ohne ein paar ordentliche Dellen davon«, lachte Vishal. »Denk dran, dass du mir gerade erst Profiqualitäten bescheinigt hast! Aber gut, ich mache einen Alternativvorschlag: Irgendwann in den nächsten Tagen setzen wir uns abends mal bei Raja und seiner Nachttischbar zusammen. Und dann werden wir schon sehen, wer von uns beiden als Erster umkippt!«

Vikram hob den Daumen. »Blendende Idee. Aber lass Sameera nichts davon hören. Die hat inzwischen ein gestrenges Auge auf meinen Lebenswasser-Konsum.«

»Vielleicht drückt sie dieses gestrenge Auge ja zu, wenn wir sie gleich mit einladen«, versetzte Vishal. »Soweit ich weiß, ist sie bislang noch nicht zur Abstinenzlerin konvertiert, und ich bin sicher, Raja hat genügend Bushmills auf Lager, dass es für uns alle reicht.«

Er hob sein Glas hoch.

»In diesem Sinne: Her mit dem Fingerbreit, Kommandant!«

Kapitel 2

Der neue Küchenchef

Nur ein Jahr, nachdem Yussuf Sadaq die Leitung des Dar-as-Salam übernommen und Rajata geheiratet hatte (die sich tatsächlich schnell und mühelos in ihre neue Position als ammi eingearbeitet hatte), stand dem Haus des Friedens eine weitere einschneidende Veränderung bevor: Zobeida Mafous ging in den Ruhestand.

Siebzehn Jahre lang war sie der gute Geist des Heimes gewesen, hatte in der Küche den Kochlöffel geschwungen und Tag für Tag köstliche Mahlzeiten für alle gezaubert. Selbst die Aussicht, dass sich durch die beiden vor vier Jahren neu errichteten Seitenflügel die Zahl der zu bekochenden Heimkinder mehr als verdoppelte, hatte sie nicht schrecken können: »Dann stellen wir eben noch einen zusätzlichen Topf auf den Herd, das geht schon«, hatte sie gelassen erklärt. Solange sie Kinder um sich hatte, die ihr beim Gemüseschneiden, Tischdecken und Geschirrspülen halfen, war sie glücklich und durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

In der letzten Zeit jedoch hatte ihre Energie merklich nachgelassen; wahrscheinlich, so vermutete Sameera, auch eine Folge der Unterleibsoperation vor drei Jahren, bei der ihr ein gutartiger Tumor entfernt worden war. Danach hatte sie sich nie wieder vollständig erholt, und immer öfter war vor allem Raja eingesprungen, um sie in der Küche zu entlasten. Was Zobeida nicht wirklich gepasst hatte. »Er ist nach Kashmir gezogen, um hier in Ruhe seinen Lebensabend zu verbringen«, hatte sie eines Abends frustriert zu Sameera gesagt, »und jetzt nutzen wir ihn als unbezahlte Küchenkraft aus, weil ich alt und müde werde. Das ist doch nicht richtig!«

Sameera hatte ihr Möglichstes getan, um Zobeida ihre Gewissensbisse auszureden. Dennoch beobachteten auch sie und Vikram die Entwicklung mit Sorge – allerdings sorgten sie sich mehr um Zobeida selbst, ebenso wie Yussuf, mit dem sie oft über die Situation sprachen. »Eigentlich müsste man sie in Rente schicken, bevor sie irgendwann in der Küche umkippt«, meinte Yussuf resignierend, »aber ich bring’s nicht fertig. Diese Arbeit hier ist doch ihr Leben – wenn wir ihr die wegnehmen, dann hat sie am Ende noch das Gefühl, dass sie nicht mehr gebraucht wird, und dass wir sie loswerden wollen. Ob wir vielleicht mal mit Hamid darüber reden sollen, wie er das Ganze sieht?«

Doch noch während sie über dieses Thema beratschlagten, bat Hamid sie eines Tages von sich aus um eine Unterredung, zu der er zusammen mit Zobeida erschien; sie war blass und unglücklich, und Hamid hielt sie umarmt, während er sehr ruhig sein Anliegen erläuterte: Er und seine Frau hätten nun schon mehrfach darüber gesprochen, und jetzt habe sie schweren Herzens den Entschluss gefasst, ihre Arbeit aufzugeben und in den Ruhestand zu gehen. Natürlich würde sie noch bleiben, bis eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger für sie gefunden sei. Ginge das in Ordnung?

Sie hatten den beiden versichert, dass das selbstverständlich in Ordnung ging und dass sie Zobeidas Entschluss akzeptierten – zwar durchaus mit einem weinenden Auge, weil sie ihnen entsetzlich fehlen würde, aber andererseits auch mit einem Lächeln, weil Zobeida damit die wohlverdiente Chance bekam, ihren Ruhestand zusammen mit ihrem Mann zu genießen. Und ein Teil des Dar-as-Salam würden sie beide in jedem Fall bleiben; sie würden hier immer willkommen sein.

Danach stürzte Yussuf sich voller Energie in die Suche nach einem neuen Koch für das Waisenhaus. Er lancierte Inserate, studierte Stellengesuche in lokalen Zeitungen, Fachmedien und Online-Foren und lud auch den einen oder anderen Kandidaten zu einem Vorstellungsgespräch ein. Doch keiner von ihnen schien ihm geeignet. Sicher, gut kochen konnten sie alle – aber Yussuf sah sie nicht als (nach Möglichkeit auch noch warmherzigen) Mittelpunkt einer Küche, in der sich zwei Dutzend Kinder wie zuhause fühlen sollten.

Vikram, Sameera und Raja halfen Yussuf, so gut sie konnten; aber mit jedem Bewerber, der unverrichteter Dinge wieder von dannen zog, schwand ihr Optimismus, und Raja bot bereits in einem Anflug von Galgenhumor an, sich selbst zu bewerben – zumindest für die Übergangszeit, damit Yussuf nicht irgendwann unter Zeitdruck geriet und sich mit einer zweiten oder dritten Wahl begnügte, nur um Zobeidas Ruhestand nicht noch weiter hinauszuzögern.

Doch noch am gleichen Abend, als Raja sich mit Vikram und Sameera auf einen kleinen Bushmills als Schlummertrunk zusammengesetzt hatte, stand mit einem Mal Yussuf auf der Schwelle, ein Funkeln in den Augen.

»Ich hab ihn!«, verkündete er heiter.

»Wen?«, fragte Vikram.

»Zobeidas Nachfolger«, erwiderte Yussuf, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.

»Was?« – »Wen?«

Yussuf grinste breit.

»Verrat ich euch nicht. Aber ich bin sicher, ihr werdet ihn genauso großartig finden wie ich.«

»Und wo kommt der jetzt so plötzlich her?« Sameera legte den Kopf schräg. »Du hattest heute doch gar niemanden da zu einem Vorstellungsgespräch.«

»Das hab ich telefonisch erledigt«, erklärte Yussuf lässig. »Er kommt am nächsten Ersten. Ich schlage vor, wir veranstalten an dem Tag ein großes Abschiedsfest für Zobeida, und bei der Gelegenheit präsentier ich euch dann unseren Neuen, ja?«

Vikram schüttelte sachte den Kopf. »Bis jetzt bin ich ja immer davon ausgegangen, dass du weißt, was du tust, auch wenn es weiß Gott nicht immer danach aussieht. Aber was ich davon halten soll…«

»Vertrau mir, Vikram baba«, sagte Yussuf lächelnd. »Und vergiss nicht, dass du mir gegenüber immer noch ein ungeschriebenes Veto-Recht hast. Wenn ich bei Zobeidas Abschied ihren Nachfolger vorstelle und du bist überzeugt, dass ich mit dem Mann komplett danebenliege, dann sagst du es knallhart, und ich suche weiter und übernehme in der Zwischenzeit freiwillig selbst die Küche. Aber das wird nicht passieren. Ich bin sicher, einen besseren Nachfolger hättest auch du nicht finden können.«

»Aber wieso dann diese Heimlichtuerei?« Jetzt schüttelte auch Sameera den Kopf. »Warum sagst du uns nicht einfach, wer es ist?«

»Weil’s sonst keine Überraschung mehr wäre.« Yussufs Augen blitzten fröhlich. »Und ich will euch überraschen, wenn ich den Mann sozusagen in Fleisch und Blut aus dem Hut zaubere.«

»Du machst es wirklich spannend.« Vikram musterte ihn scharf. »Aber gut, ich vertraue dir. Weil ich davon ausgehe, dass diese Personalfrage dir zu wichtig ist für irgendeinen dummen Streich.«

»Also bitte!« Yussuf setzte eine empörte Miene auf. »Ich und Streiche! Kabhi nahin!«

»Eben«, warf Raja amüsiert ein. »Wo du doch nicht einmal weißt, wie man dieses Wort schreibt.«

»Endlich ein Mensch, der mich versteht!«, deklamierte Yussuf theatralisch mit der Hand auf der Brust und grinste. »Gut, dann geh ich jetzt zu meiner Frau und fang schon mal an, Pläne für die Abschiedsparty zu schmieden. Gute Nacht allerseits!«

Er verbeugte sich schwungvoll und verschwand. Vikram, Sameera und Raja sahen sich an.

»Er muss schon einen sehr sicheren Trumpf in der Tasche haben, um einen solchen Auftritt hinzulegen«, meinte Raja nachdenklich.

»Ja, aber mir wäre es trotzdem lieber, ich wüsste, wie dieser Trumpf aussieht«, grummelte Vikram. »Diese Geheimniskrämerei passt mir nicht.«

»Lass dich überraschen, mera jaan