Der Sündenbock - Lee Child - E-Book

Der Sündenbock E-Book

Lee Child

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Beschreibung

Eine Stadt wird erpresst, doch Jack Reacher ist nicht zu schlagen!
»›Der Sündenbock‹ zeigt, dass zwei Childs noch besser sind als einer.« James Patterson


Der ehemalige Militärpolizist Jack Reacher reist ziellos durch die USA, und so landet er in einer Kleinstadt, in der ihn seine Mitfahrgelegenheit absetzt. Kurz darauf beobachtet er, wie ein junger Mann von einigen Schlägern verfolgt wird – und greift ein. Dann erfährt Reacher, dass alle Computersysteme der Stadt gehackt worden sind und dass die Bürger Reachers neuen Schützling dafür verantwortlich machen. Die Hacker verlangen mehrere Millionen Dollar als Lösegeld, doch selbst das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es geht um viel mehr! Aber die Verbrecher haben nicht mit Jack Reacher gerechnet.


Dieser »New-York-Times«-Platz-1-Bestseller ist der 25. Fall der SPIEGEL-Bestsellerserie um Jack Reacher. Verpassen Sie nicht die anderen eigenständig lesbaren Jack-Reacher-Romane wie zum Beispiel »Der Bluthund« und »Die Hyänen.

Kennen Sie auch schon den Story-Band »Der Einzelgänger«? Unverzichtbar für alle, die noch mehr über Jack Reacher lesen wollen!

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Seitenzahl: 487

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Buch

Der ehemalige Militärpolizist Jack Reacher reist ziellos durch die USA, und so landet er in einer Kleinstadt, in der ihn seine Mitfahrgelegenheit absetzt. Kurz darauf beobachtet er, wie ein junger Mann von einigen Schlägern verfolgt wird – und greift ein. Dann erfährt Reacher, dass alle Computersysteme der Stadt gehackt worden sind und dass die Bürger Reachers neuen Schützling dafür verantwortlich machen. Die Hacker verlangen mehrere Millionen Dollar als Lösegeld, doch selbst das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es geht um viel mehr! Aber die Verbrecher haben nicht mit Jack Reacher gerechnet.

Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Anthony Award, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.

Lee Child

Der Sündenbock

Ein Jack-Reacher-Roman

Deutsch von Wulf Bergner

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Sentinel (Reacher 25)« bei Bantam Press, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Lee Child

Published by Agreement with Lee Child

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Penguin Random House UK

Umschlagdesign: Stephen Mulcahey

Umschlagmotive: U1 – Nagel Photography / Shutterstock.com; U4 – iStock.com / passigatti

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29109-9V001

www.blanvalet.de

Für Kara und Sarah mit bestem Dank

1

Rusty Rutherford verließ sein Apartment an einem Montagmorgen – genau eine Woche nachdem er fristlos entlassen worden war. Nachdem das Beil gefallen war, verbrachte er die ersten Tage bei zugezogenen Vorhängen, ernährte sich von seinem Vorrat an Tiefkühlpizzen und wartete darauf, dass sein Telefon klingelte. Erhebliche Schwächen, stand in dem Kündigungsschreiben. Totalversagen als Führungskraft. Grundsätzliche Fehler und Fehleinschätzungen. Unglaublich! Eine völlige Verzerrung der Wahrheit. Und so unfair. Tatsächlich versuchte man, ihm die Verantwortung für die gegenwärtigen Probleme der Stadt aufzubürden. Das war … ein Riesenfehler. Schlicht und einfach. Was bedeutete, dass er bestimmt korrigiert werden würde. Und zwar bald.

Die Stunden verstrichen quälend langsam. Sein Telefon blieb stumm. Und sein E-Mail-Account wurde mit nichts als Spam zugemüllt.

Er leistete noch einen Tag länger Widerstand, dann schnappte er sich seinen alten Laptop und schaltete ihn ein. Er besaß keine Schuss- oder Stichwaffe. Er konnte sich nicht von einem Hubschrauber abseilen oder mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug springen. Aber trotzdem würde irgendjemand dafür büßen müssen. Vielleicht würden seine realen Feinde damit durchkommen. Dieses Mal. Aber nicht die Schurken in den Videospielen, die ihm ein Freund, der Spiele entwickelte, geschickt hatte. Bisher war er vor ihnen zurückgeschreckt. Die Gewaltszenen waren ihm zu extrem erschienen. Zu unnötig. So war ihm nicht mehr zumute. In Zukunft würde er keinen Pardon mehr geben. Es sei denn …

Sein Telefon blieb stumm.

Vierundzwanzig Stunden später hatte er jede Menge persönlicher Bestleistungen aufgestellt und war leicht dehydriert, aber ansonsten hatte sich nicht viel ereignet. Er klappte den Laptop zu und sackte auf seiner Couch zusammen. Dort blieb er für den Rest des Tages hocken, spielte willkürlich ausgewählte Blu-Rays, an deren Kauf er sich nicht erinnern konnte, und flehte das Universum stumm an, ihn wieder arbeiten zu lassen. Er würde sich anders verhalten, schwor er. Umgänglicher sein. Geduldiger. Diplomatisch. Sogar mitfühlend. Er würde fürs ganze Büro Doughnuts kaufen. Zweimal im Monat. Auch dreimal, wenn das die Voraussetzung für einen Deal war.

Sein Telefon blieb stumm.

Er trank nicht oft, aber was blieb ihm anderes übrig? Eben lief der Abspann einer weiteren DVD. Weil er keine Filme mehr ertragen konnte, wich er in die Küche aus. Holte eine ungeöffnete Flasche Jim Beam hinten aus einem Schrank. Kehrte damit ins Wohnzimmer zurück und legte eine verkratzte alte LP von Elmore James auf den Plattenteller.

Als er auf dem Bauch liegend aufwachte, hatte er … wie lange geschlafen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass sein Schädel voller Felsbrocken zu sein schien, die sich aneinander rieben, während sie seinen Kopf zu sprengen versuchten. Er fürchtete, dieser Schmerz würde niemals mehr aufhören. Aber als sein Kater endlich abklang, spürte er eine neue Gefühlsregung: Trotz. Schließlich war er sich keiner Schuld bewusst. Keines der schlimmen Dinge, die passiert waren, war seine Schuld. Das stand verdammt fest. Er war nur derjenige, der sie vorausgesehen hatte. Der seinen Chef vor ihnen gewarnt hatte. Wieder und wieder. Öffentlich und privat. Und der ignoriert worden war. Wieder und wieder. Daher beschloss Rutherford, nachdem er sich zwei Tage lang eingeigelt hatte, nun sei es an der Zeit, sein Gesicht zu zeigen. Seine Seite der Story zu erzählen. Jedem, der sie hören wollte.

Nachdem er geduscht hatte, suchte er ein paar Sachen zusammen. Chinos und ein Polohemd. Brandneu. Gedeckte Farben ohne auffällige Logos, um seine Ernsthaftigkeit zu unterstreichen. Seine Schuhe fand er in der Diele, wo er sie wutentbrannt weggeschleudert hatte. Autoschlüssel und Sonnenbrille nahm er aus dem Bücherregal neben der Tür. Damit trat er auf den Korridor hinaus. Fuhr allein mit dem Aufzug hinunter. Durchquerte den Eingangsbereich. Ging durch die schwere Drehtür und blieb auf dem Gehsteig stehen. Die Spätvormittagshitze war ein Gluthauch, der ihn sofort in Schweiß ausbrechen ließ. Er spürte kurzzeitige Panik. Schuldige Menschen schwitzten. Das hatte er irgendwo gelesen, und genau das wollte er um jeden Preis vermeiden. Er sah sich um, weil er sich einbildete, alle starrten ihn an, und zwang sich dann zum Weitergehen. Er steigerte sein Tempo, weil er sich einbildete, auffälliger zu sein, als wenn er nackt unterwegs gewesen wäre. Tatsächlich registrierten die meisten Leute, denen er begegnete, seine Anwesenheit nicht einmal. Nur zwei von ihnen achteten überhaupt auf ihn.

Zur selben Zeit, als Rusty Rutherford sein Apartment verließ, brach Jack Reacher in eine Bar ein. Er war in Nashville, Tennessee, fünfundsiebzig Meilen nordöstlich von Rutherfords verschlafener Kleinstadt entfernt, und auf der Suche nach der Lösung eines Problems. Eigentlich handelte es sich um eine praktische Angelegenheit. Es ging um Physik. Und Biologie. Um die Frage, wie man einen Kerl unter einer Decke aufhängen konnte, ohne viel Schaden anzurichten. Vor allem nicht an der Decke. Der Kerl machte ihm weniger Sorgen.

Die Decke gehörte zu einer Bar. Und die Bar gehörte einem Kerl. Reacher hatte sie erstmals vor etwas über vierundzwanzig Stunden betreten. Am Samstag, fast schon Sonntag, weil er erst kurz vor Mitternacht in Nashville angekommen war. Seine Fahrt war nicht problemlos gewesen. Der erste Bus, in dem er gesessen hatte, war in Brand geraten, und der Fahrer des Ersatzbusses hatte sich zwanzig Meilen vor dem Ziel verfahren. Reacher war von dem langen Sitzen so steif, dass er nach dem Aussteigen aus dem Greyhound ein paar Minuten im Raucherbereich stehen blieb, bis seine Muskeln und Gelenke wieder beweglich waren. So stand er halb im Schatten verborgen, während die übrigen Fahrgäste durcheinanderliefen, mit ihren Handys telefonierten, ihr Gepäck abholten und allmählich verschwanden.

Reacher blieb, wo er war. Er hatte es nicht eilig. Er war verspätet angekommen, aber das war keine große Sache. Er hatte keine Termine einzuhalten. Musste an keinen Besprechungen teilnehmen. Niemand wartete auf ihn, machte sich Sorgen oder wurde wütend. Er hatte vorgehabt, sich eine Übernachtungsmöglichkeit zu suchen. Dann ein Schnellrestaurant, um zu essen. Und anschließend eine Bar, in der es gute Musik zu hören gab. Jetzt würde er diese Reihenfolge möglicherweise umkehren müssen. Vielleicht einige Aktivitäten miteinander kombinieren. Aber er würde überleben. Und bei den Hotels, die Reacher bevorzugte, konnte es sich lohnen, spät einzutreffen. Vor allem wenn man bar zahlte. Was er immer tat.

Erst Musik, beschloss Reacher. Er wusste, dass es in Nashville reichlich Musikkneipen gab, aber er wollte eine ganz bestimmte Art. Eine mit Patina. Und mit Geschichte. Wo früher vielleicht Blind Blake gespielt hatte oder sogar Howlin’ Wolf. Keine frisch renovierte, gentrifizierte, aufgehübschte Bar. Die Frage war nur, wo sich eine Kneipe nach seinem Geschmack befand. Der Busbahnhof war weiterhin beleuchtet, und Reacher sah ein halbes Dutzend Leute, die noch arbeiteten. Die meisten, vermutlich alle waren von hier. Er hätte sie nach dem Weg fragen können. Aber er ging nicht hinein. Er navigierte lieber instinktiv. Er kannte Städte. Er hatte ein Gespür für ihre unterschwellige Energie, wie ein Seemann spürt, woher die Wellen kommen. Sein Bauchgefühl riet ihm, nach Norden zu gehen, also überquerte er eine breite Kreuzung und ein mit Bauschutt übersätes unbebautes Grundstück. Der Gestank von Abgasen und Zigaretten blieb hinter ihm zurück, während sein Schatten vor ihm länger wurde. So gelangte er zu schmalen Parallelstraßen, an denen rußige Klinkerbauten standen. Anscheinend Fabrikgebäude, die jetzt leer und baufällig waren. Reacher wusste nicht, welche Gewerbe Nashville reich gemacht hatten, aber diese Aktivitäten waren offenbar hier konzentriert gewesen. Nun jedoch nicht mehr. Allein die Strukturen hatten überdauert. Vermutlich nicht mehr lange, dachte Reacher. Wurden sie nicht bald mit viel Geld vor dem Verfall gerettet, würden sie einstürzen.

Reacher verließ den unebenen Gehsteig und lief in der Straßenmitte weiter. Er würde noch zwei, höchstens drei Blocks zugeben. Fand er bis dahin nichts, würde er nach rechts in Richtung Cumberland River abbiegen. Er kam an einem Geschäft vorbei, das Gebrauchtreifen verkaufte. An einem Lagerhaus, in dem eine Wohltätigkeitsorganisation gespendete Möbel lagerte. Als er dann die nächste Straße überquerte, hörte er das Grollen einer Bassgitarre und das Dröhnen eines Schlagzeugs.

Die Geräusche kamen aus einem Gebäude in der Mitte dieses Straßenblocks. Es sah nicht gerade vielversprechend aus. Keine Fenster, kein Namensschild, nur ein schmaler gelblicher Lichtstreifen unter einer Eingangstür aus Holz. Reacher mochte keine Gebäude mit nur wenigen Ausgängen, deshalb tendierte er zum Weitergehen, aber als er auf Höhe des Eingangs war, öffnete sich die Tür. Zwei Männer, schätzungsweise Ende zwanzig, beide stark tätowiert und in ärmellosen Muscleshirts, torkelten auf den Gehsteig hinaus. Als Reacher ihnen auswich, begann drinnen eine Gitarre zu spielen. Der Riff war gut. Es bestand aus einer wiederkehrenden, prägnanten, rhythmischen Tonfolge. Als er verhallte, setzte eine Frauenstimme ein. Klagend, verzweifelt, wehmütig wie ein gerader Pfad zu dem tiefsten vorstellbaren Schmerz. Reacher konnte nicht widerstehen. Er trat über die Schwelle.

Drinnen roch es nach Bier und Schweiß, und der Raum war weniger tief, als Reacher erwartet hatte, dafür aber breiter, sodass zwei separate Bereiche mit einer Art Niemandsland in der Mitte entstanden. Die rechte Seite schien für Musikliebhaber reserviert zu sein. An diesem Abend waren es vielleicht zwei Dutzend, die teils standen, teils tanzten oder teils abwechselnd beides taten. Das niedrige Musikpodium vor ihnen nahm die ganze Tiefe des Raums ein. Es bestand aus Bierkästen mit einer Auflage aus miteinander verschraubten Profilbrettern. Auf beiden Seiten des Podiums befanden sich einige wenige Lautsprecher, und unter der Decke hing ein Gitterträger für die Scheinwerfer. Die Sängerin stand vorn in der Mitte. Reacher erschien sie winzig: höchstens einssechzig groß und sehr schlank. Ihr blonder Bob wirkte so dicht, dass Reacher sich fragte, ob er eine Perücke war. Der Gitarrist saß links von ihr, der Bassist spiegelbildlich rechts. Beide hatten wilde Lockenmähnen und hohe Wangenknochen, mit denen sie wie Zwillinge aussahen. Jedenfalls waren sie Brüder. Die Frau am Schlagzeug saß halb von der Sängerin verdeckt im Hintergrund, sodass Reacher sie nicht deutlich erkennen konnte.

Der linke Bereich war für die Trinker unter den Gästen reserviert. Dort gab es sechs runde Tische mit jeweils vier Stühlen und ein halbes Dutzend Barhocker an der Theke. Die Bar wies die üblichen Zapfhähne, einen Weinkühlschrank und Flaschenbatterien auf. Der lange Spiegel hinter der Bar hatte ziemlich genau in der Mitte einen sternförmigen Sprung, der sich nach oben fortsetzte. Von einem Flaschenwurf, vermutete Reacher. Dieser Anblick gefiel ihm. Er verlieh dem Ganzen Charakter. Aber er reichte nicht aus, um den größten Nachteil zu kaschieren. Unmittelbar vor der Theke hingen Dutzende von BHs in allen möglichen Formen, Farben und Größen von der Decke herab. Woher sie stammten, wollte Reacher gar nicht wissen. Sie kamen ihm schmuddelig vor. Unnötig. Und vor allem unpraktisch. Um an die Theke zu gelangen, musste jemand in seiner Größe sie von sich weghalten oder gebückt unter ihnen hindurchgehen. Reacher wartete, bis die Band eine Pause machte, bevor er sich den nächsten Barhocker schnappte. In diesem Bereich war er der einzige Gast. Der ausdruckslosen Miene des Barkeepers war nicht zu entnehmen, ob ihm diese Situation gefiel oder nicht.

»Kaffee«, sagte Reacher, als der Barkeeper ihn endlich zur Kenntnis nahm. »Schwarz.«

»Hab keinen Kaffee«, antwortete der Mann.

»Okay. Cheeseburger. Pommes. Kein Salat. Keine Essiggurke. Und eine Cola.«

»Hab kein Essen.«

»Wo kann man sonst irgendwo in der Nähe essen?«

Der Barkeeper zuckte mit den Schultern. »Bin nicht von hier.«

Reacher griff nach seiner Cola und drehte sich wieder zum Podium um. Er hatte gehofft, dass eine andere Gruppe weiterspielen würde, aber das schien nicht der Fall zu sein. Etwa die Hälfte der Zuhörer kam herüber und nahm an den Tischen Platz. Die andere Hälfte hatte bereits das Lokal verlassen. Ohne Musik und ohne Essen wollte Reacher nur austrinken und ebenfalls gehen. Er war zum Hinterausgang unterwegs, als er in seinem Rücken ein Schlurfen hörte. Als er sich umdrehte, wäre er beinahe mit dem Gitarristen kollidiert. Der Junge wich erschrocken einen Schritt zurück und riss sein Instrument wie einen Schild hoch. Die Sängerin hinter ihm wäre fast mit ihm zusammengestoßen. Reacher hob beschwichtigend die Hände. Er wusste recht gut, wie einschüchternd er auf andere mit zwei Metern Größe und hundertzwanzig Kilo Gewicht wirkte. Sein Haar war ungekämmt, und er trug einen Dreitagebart. Er hatte schon erlebt, dass Kinder bei seinem Anblick schreiend geflüchtet waren.

»Sorry, Leute.« Reacher versuchte ein beruhigendes Lächeln zustande zu bringen. »Ich wollte euch nicht erschrecken.«

Der Gitarrist ließ seinen Instrumentenkoffer sinken, ging jedoch nicht weiter.

»Übrigens habt ihr klasse gespielt«, sagte Reacher. »Wann tretet ihr wieder auf?«

»Danke.« Der Gitarrist hielt weiter Abstand. »Hoffentlich bald.«

»Hier?«

»Ausgeschlossen.«

»Wieso? Mieses Publikum?«

»Nein, mieser Besitzer.«

»Augenblick!« Die Sängerin sah wütend zu Reacher auf. »Was machen Sie hier? Arbeiten Sie für ihn?«

»Ich arbeite für niemanden«, entgegnete Reacher. »Aber was ist schlecht an dem Besitzer? Wo liegt das Problem?«

Die Sängerin zögerte, dann hob sie nacheinander zwei Finger. »Er hat uns nichts gezahlt, und er hat uns abgezockt. Er hat eine Gitarre gestohlen.«

»Eine von meinen«, sagte der Gitarrist. »Mein gutes Ersatzinstrument.«

»Wirklich?« Reacher runzelte die Stirn. »Das klingt nicht nach anständigem Geschäftsgebaren. Da muss mehr dahinter stecken.«

»Was denn?« Die Sängerin schaute den Gitarristen an.

»Nichts«, sagte der. »Wir haben unseren Set gespielt. Haben zusammengepackt. Haben unser Geld verlangt. Aber er hat sich geweigert.«

»Das verstehe ich nicht.« Reacher machte eine Pause. »In diesem Schuppen ist Musik die eigentliche Attraktion. Nicht das Dekor. Das steht verdammt fest. Um Musik zu haben, braucht man Bands. Und wie bringt man sie dazu, für einen zu spielen, wenn man ihnen nichts zahlt? Das kommt mir wie eine unbrauchbare Strategie vor. Ihr müsst irgendwas gemacht haben, das ihn gegen euch aufgebracht hat.«

»Ach, Sie verstehen nichts vom Musikgeschäft.« Der Gitarrist schüttelte den Kopf.

»Erklären Sie’s mir.«

»Wozu?«

»Wozu? Weil ich Sie gefragt habe. Ich mag Informationen. Lernen ist eine Tugend.«

Der Gitarrist stellte sein Instrument ab. »Was gibt’s da viel zu erklären? Dieser Scheiß passiert dauernd. Wir können nichts dagegen machen.«

»Bands haben keine Macht.« Die Sängerin legte dem Gitarristen eine Hand auf die Schulter. »Die haben die Clubbesitzer.«

»Gibt es nicht jemanden, der Ihnen helfen könnte, zu Ihrem Recht zu kommen? Ihr Manager? Ihr Agent? Haben Musiker so was nicht?«

Der Gitarrist schüttelte den Kopf. »Erfolgreiche Musiker vielleicht. Nicht wir.«

»Noch nicht«, warf die Sängerin ein.

»Oder die Polizei?«

»Nein.« Die Hand der Sängerin streifte ihre Jackentasche. »Keine Polizei.«

»Die können wir nicht holen«, sagte der Gitarrist. »Ist man als schwierig bekannt, bucht einen niemand mehr.«

»Welchen Zweck hat es, gebucht zu werden, wenn ihr kein Geld dafür kriegt?«

»Na ja, wir können auftreten. Leute hören uns.« Die Sängerin tippte sich seitlich an den Kopf. »Wer nicht auftritt, kann nicht entdeckt werden.«

»Das stimmt wohl.« Reacher hielt inne. »Offen gesagt solltet ihr die Message überdenken, die ihr sendet.«

»Welche Message?« Der Gitarrist lehnte sich mit einer Schulter an die Wand. »Wir müssen uns damit abfinden. Mehr können wir nicht tun.«

»So schaffen wir’s«, sagte die Sängerin. »Irgendwann.«

Reacher schwieg.

»Was? Sie denken, dass wir uns falsch verhalten?«

»Vielleicht steht mir kein Urteil darüber zu.« Reachers Blick ging zwischen den beiden hin und her. »Aber ich habe den Eindruck, dass ihr den Clubbesitzern signalisiert, dass es okay ist, euch zu bescheißen. Dass ihr damit zufrieden seid, leer auszugehen.«

»Verrückte Idee«, sagte die Sängerin. »Ich hasse es, kein Geld zu kriegen. Das ist das Schlimmste!«

»Habt ihr ihm das klargemacht?«

»Natürlich.« Der Gitarrist richtete sich auf. »Ich hab darauf bestanden, dass er unser Honorar zahlt. Er hat so getan, als wollte er’s tun, und hat mich in sein Büro mitgenommen. Aber dort hat schon jemand gewartet. Der Rausschmeißer, ein riesiger Kerl. Sie müssen alles im Voraus geplant haben, denn er hat kein Wort gesagt. Er hat sich nur meine linke Hand geschnappt und flach auf die Schreibtischplatte gedrückt. Der Clubbesitzer hat inzwischen eine Schublade aufgezogen, einen Klauenhammer rausgeholt und mir erklärt, ich hätte die Wahl. Wir könnten das Geld kriegen, und er würde mir dafür die Finger brechen. Einen nach dem anderen. Oder ich könnte mich unverletzt, aber ohne einen Cent, verpissen.«

Reacher war sich bewusst, dass eine Stimme in seinem Kopf ihn zum Weggehen aufforderte. Dass sie darauf bestand, dies sei nicht sein Problem. Aber er hatte gehört, wie der Junge seine Gitarre beherrschte. Er erinnerte sich daran, die Finger des Spielenden beobachtet zu haben. Sie waren das genaue Gegenteil von Reachers Fingern. Geschmeidig und flink, wenn sie Akkorde griffen. Er stellte sich vor, wie der Rausschmeißer diese Hand packte, während sein Boss den Hammer schwang. Er blieb, wo er war.

»Wenn Sie möchten, könnte ich noch mal reingehen«, sagte Reacher. »Dem Besitzer helfen, die Dinge aus anderer Perspektive zu sehen. Damit er sich die Sache mit dem Honorar überlegt.«

»Das könnten Sie?« Die Sängerin wirkte nicht überzeugt.

»Ich kann ziemlich überzeugend sein, behaupten manche Leute.«

»Sie könnten verletzt werden.«

»Vielleicht andere. Ich nicht.«

»Er hat einen Hammer«, warf der Gitarrist besorgt ein.

»Ich bezweifle, dass der Hammer ins Spiel kommt. Und auch dann wäre er kein Problem. Soll ich’s also versuchen? Was habt ihr schon zu verlieren?«

»Ich weiß nicht recht, ob ich …«

»Vielen Dank.« Die Sängerin unterbrach ihn. »Wir sind Ihnen für alles dankbar, was Sie für uns tun können. Aber seien Sie bitte vorsichtig.«

»Das bin ich immer«, sagte Reacher. »Erzählen Sie mir jetzt von der Gitarre. Von Ihrem guten Ersatzinstrument. Hat der Typ es wirklich gestohlen?«

»Das war der große Kerl«, antwortete der Gitarrist. »Sozusagen. Er ist mir vom Büro aus gefolgt und hat sie mir aus den Händen gerissen. Dann hat er sie die Kellertreppe hinuntergeworfen und mich angestarrt, als wollte er mich dazu auffordern, sie mir zurückzuholen.«

»Sie haben sie dort unten gelassen?«

Der Junge sah weg.

»Kein Grund, sich zu genieren. Das war die richtige Reaktion.« Reacher überlegte. »War sie viel wert?«

»Vielleicht einen Tausender?« Der Gitarrist zuckte mit den Schultern. »Für mich ist das eine Menge Geld.«

»Und der Clubbesitzer mit dem Hammer. Wie heißt er?«

»Lockhart. Derek Lockhart.«

»Welche Abendgage hat er Ihnen versprochen?«

»Zweihundert Dollar.«

»Okay. Und wer arbeitet außer Lockhart, seinem Rausschmeißer und dem Barkeeper noch hier?«

»Niemand«, sagte der Gitarrist.

»Doch«, widersprach die Sängerin. »Der Junge, der die Tische abräumt. Er hockt meist draußen vor dem Hintereingang und kifft.«

»Sonst noch jemand?«

»Nein.«

»Haben Sie im Haus irgendwelche Waffen gesehen?«

Die beiden wechselten einen Blick, dann schüttelten sie den Kopf.

»Okay, wo finde ich Lockharts Büro?«

»Im ersten Stock«, antwortete der Gitarrist. »Die Treppe ist gleich hinter den Toiletten.«

In der Bar leerte ein einsamer Gast mit kleinen Schlucken sein letztes Glas Bier. Der Barkeeper kehrte mit einem krummen Besen die Tanzfläche zwischen den Tischen und dem Musikpodium. Weil sonst niemand zu sehen war, ging Reacher an den Toiletten vorbei weiter und schlich die Treppe hinauf. Die einzige vom oberen Treppenabsatz wegführende Tür war geschlossen. Reacher konnte dahinter eine Männerstimme hören, aber nicht verstehen, was sie sagte. Sie sprach sanft und rhythmisch. Vermutlich zählte dort jemand die Wocheneinnahmen, sodass die Tür abgesperrt sein würde. Reacher griff nach dem Türknopf und drehte ihn. Gleichzeitig warf er sich mit einer Schulter gegen die Tür. Das dünne Holz zersplitterte, als sie aufflog.

»Entschuldigung, Gentlemen.« Er trat über die Schwelle, schloss die beschädigte Tür hinter sich. »Ich wusste nicht, dass sie abgesperrt war.«

Der Raum war klein. Mehr ein Wandschrank als ein Büro. Hinter dem Schreibtisch saßen Schulter an Schulter zwei Männer. Den durchschnittlich großen Kerl hielt Reacher für Lockhart. Der andere, ein schlaffer, schwabbeliger Riese, musste der Rausschmeißer sein. Beide hockten schreckensstarr auf ihren Stühlen. Und die Schreibtischplatte verschwand unter Stapeln abgegriffener, verknitterter, schmutziger Geldscheine.

»Wer, zum Teufel, sind Sie?« Lockhart brauchte ein paar Sekunden, bis er wieder sprechen konnte.

»Ich heiße Jack Reacher und vertrete die Band, die heute Abend bei Ihnen gespielt hat. Ich bin hier, um mit Ihnen über ihren Vertrag zu reden.«

»Sie hat keinen Vertrag.«

»Doch, jetzt schon.« Reacher griff sich den Bugholzstuhl, der das einzige weitere Möbelstück war, prüfte seine Stabilität und setzte sich.

»Wird Zeit, dass Sie gehen«, meinte Lockhart.

»Ich bin eben erst gekommen.«

»Sie haben hier nichts zu suchen. Nicht während wir die Einnahmen zählen.«

»Das haben Sie sich nicht gründlich überlegt, stimmt’s?«

Lockhart zögerte, als witterte er eine Falle. »Wie meinen Sie das?«

»Sie sagen, dass ich hier nichts zu suchen habe. Ich bin aber hier. Also stimmt Ihre Schlussfolgerung nicht.«

»Sie können gehen.« Lockhart sprach übertrieben deutlich. »Oder ich kann Sie rausschmeißen.«

»Sie können mich rausschmeißen?« Reacher gestattete sich ein Lächeln.

Lockharts Faust umklammerte die Schreibtischkante. »Ich kann Sie rausschmeißen lassen.«

»Echt jetzt? Wo sind alle Ihre Kerle?«

»Alle Kerle, die ich brauche, sind hier.« Lockhart deutete auf den schwabbeligen Riesen.

»Der? Erst mal ist er nur ein Kerl. Einzahl. Also müssten Sie sagen: ›Der einzige Kerl, den ich brauche.‹ Aber das stimmt auch nicht, weil er dieser Aufgabe offenbar nicht gewachsen ist. Selbst wenn ich schlafen würde, könnte er mich nicht rausschmeißen. Selbst wenn ich an Altersschwäche gestorben wäre, könnte er mich nicht rausschmeißen.«

Während dieses ganzen Dialogs beobachtete Reacher die Augen des großen Kerls. Er sah, wie die beiden Männer einen Blick wechselten und Lockhart fast unmerklich nickte. Der Rausschmeißer begann aufzustehen. Reacher wusste, dass der andere nur eine mögliche Erfolgschance hatte: Er musste sich über den Schreibtisch werfen. War er schnell genug, würde er ankommen, bevor Reacher stand. Aber selbst dann blieb dem Kerl sein Gewicht als wichtigste Waffe. Er war mindestens vierzig Kilo schwerer als Reacher, sodass seine Geschwindigkeit ihm große Wucht verleihen würde. Reacher würde nicht ausweichen können und rückwärts zu Boden gehen. Eingeklemmt, auf dem Fußboden festgenagelt, ohne Fäuste, Füße oder Ellbogen einsetzen zu können. Und ohne genug Luft zu bekommen. Danach würde der Kerl nur noch abwarten müssen. Die Naturgesetze erledigten den Rest für ihn. Er konnte einfach daliegen, bis Reacher das Bewusstsein verlor. Der leichteste Sieg, den er je erkämpft hatte.

Der Kerl traf die falsche Entscheidung. Statt sich über den Tisch zu werfen, versuchte er, sich daran vorbeizuschieben. Für jemanden mit seiner Statur war das ein großer Fehler. Reachers Spott verhinderte, dass er klar dachte. Er konzentrierte sich nicht auf den Sieg, sondern stellte sich vor, wie er diesen Mann verprügeln würde. So hatte Reacher Zeit, sich die schwere Glasplatte des Schreibtischs zu schnappen. Er riss sie mit beiden Händen hoch, traf den Riesen damit unter dem Kinn und quetschte ihm Kehlkopf und Luftröhre. Dann genügte ein Stoß ins Gesicht, damit der Typ auf den Rücken fiel und keuchend und würgend in der Ecke liegen blieb.

»Normalerweise hätte ich das nicht getan«, erklärte Reacher, als er wieder Platz nahm. »Nicht gleich von Anfang an. Ich hätte ihm eine Chance gegeben, sich zu verpissen. Aber dann ist mir eingefallen, dass er dem Jungen die Gitarre weggenommen hat – und ab da gab’s natürlich keine Rücksichtnahme mehr.«

Lockhart fischte sein Handy heraus. »Wir sollten die 911 anrufen. Schnell.«

»Ihr Freund erholt sich wieder«, sagte Reacher. »Oder vielleicht auch nicht. Aber während er mit seinen Atemproblemen kämpft, sollten wir noch mal über Ihren Vertrag der Band reden. Welches Honorar haben Sie ihr versprochen?«

»Ich habe gar nichts versprochen.«

Reacher fuhr mit einem Zeigefinger die geschliffene Kante der Glasplatte entlang. »Ich denke, dass Sie’s doch getan haben.«

Lockhart beugte sich zur Seite und wollte in eine Schublade greifen. Reacher warf die Glasplatte wie eine Frisbeescheibe nach ihm. Die Kante traf Lockharts Nasensattel, zertrümmerte den Knochen, ließ ihn rückwärts auf seinen Stuhl fallen.

»Dieses Spielzeug ist wirklich sehr gefährlich.« Reacher packte die Glasplatte und legte sie auf den Fußboden, »Sie sollten nicht mehr damit spielen. Jetzt zu dem Vertrag. Sagen Sie mir eine Zahl.«

»Zweihundert Dollar.«

»Zweihundert war die ursprüngliche Summe. Aber seit sie vereinbart wurde, haben Sie Interesse an Fingern erkennen lassen. Wie viele hat zum Beispiel die linke Hand eines Gitarristen?«

»Fünf.« Lockharts Stimme klang wegen seiner blockierten Nase dumpf.

»Theoretisch sind’s nur vier. Der andere Finger ist ein Daumen. Aber bleiben wir bei Ihrer Antwort. Zweihundert Dollar mal fünf ist …?«

»Tausend.«

»Sehr gut. Das ist unsere neue Zahl. Wir nehmen Cash.«

»Kommt nicht infrage!«

»Geld liegt hier reichlich herum. Soll ich alles mitnehmen, wenn Ihnen das Zählen zu schwierig ist?«

»All right«, quiekte Lockhart geradezu. Er schob zwei kleine Stapel Geldscheine über den Tisch.

»Gut. Jetzt noch der Aufschlag für verspätete Zahlung. Das sind weitere fünfhundert.«

Lockhart funkelte ihn an, legte aber noch mal fünfhundert drauf.

»Damit sind wir fast fertig. Bleibt nur mehr der Schadenersatz für zerstörtes Equipment. Ein runder Tausender.«

»Was, zum …«

»Für die Gitarre des Jungen. Ihr Kumpel hat sie eine Treppe runtergeschmissen. Lassen Sie sich das Geld meinetwegen von ihm wiedergeben, aber mein Mandant kommt für den Schaden jedenfalls nicht auf.«

Lockharts sorgenvoller Blick galt seinem schwindenden Bargeldvorrat. Reacher konnte fast sehen, wie die Rädchen in seinem Kopf arbeiteten, während er sich ausrechnete, wie viel er noch besaß und ob er es würde behalten dürfen, wenn er kooperierte. »Okay, noch mal tausend. Aber keinen Cent mehr. Und sagen Sie diesen Kids, dass ich ihnen mehr als nur die Finger breche, wenn sie jemals zurückkommen. Und auch wenn sie nicht zurückkommen, spielen sie in dieser Stadt nie wieder!«

Reacher schüttelte den Kopf. »Alles war bestens, und jetzt haben Sie’s ruiniert. Sie haben mich nicht ausreden lassen. Wir hatten die Zahlungen erledigt, aber noch nicht über die Anreize gesprochen. Die sind wichtig, also hören Sie mir gut zu. Alle Mitglieder der Band, die ich vertrete, haben meine Nummer auf ihren Handys gespeichert. Sollte einem von ihnen etwas zustoßen, bin ich sofort wieder hier. Ich breche Ihnen die Arme. Ich breche Ihnen die Beine. Und ich hänge Ihre Unterwäsche an die Decke der Bar. Mit Ihnen drin. Ist das klar?«

Lockhart nickte.

»Gut. Kommen wir also zum Anreiz Nummer zwei, der andere Bands betrifft. Auch wenn ich sie nicht vertrete, erstreckt mein Schutz sich auf alle. Als mein Beitrag zur Kunstförderung. Erfahre ich also, dass Sie eine andere abzocken, komme ich zurück. Ich nehme Ihnen Ihr ganzes Geld ab. Und ich hänge Ihre Unterwäsche mit Ihnen drin unten in der Bar auf. Ist auch das klar?«

Lockhart nickte erneut.

»Ausgezeichnet. Und falls Sie sich das fragen: Ich überprüfe in unregelmäßigen Abständen, ob Sie sich an unsere Vereinbarung halten. Wann spielt hier übrigens die nächste Band?«

»Morgen.«

»Okay. Hoffentlich ist sie so gut wie die heutige. Aber auch wenn sie’s nicht ist, kriegt sie ihr Geld, verstanden?«

2

Rusty Rutherford verließ sein Apartment an einem Montagmorgen – genau zwei Wochen nachdem er fristlos entlassen worden war. Normalerweise war er kein Typ, der in einem lokalen Coffeeshop herumhing. Er ging jeden Morgen in denselben. Nur wegen des Koffeins. Er ging nicht hin, um sich zu unterhalten. Er war nicht daran interessiert, neue Leute kennenzulernen. Er stand geduldig in der Schlange. Gab seine Bestellung auf. Holte seinen Kaffee ab, sobald er fertig war. Und ging wieder. Selbst nach einer Woche, die er isoliert in seiner Wohnung verbracht hatte, erwies es sich als schwierig, mit dieser alten Gewohnheit zu brechen.

Nicht gerade erleichtert wurde der Umgewöhnungsprozess durch die Reaktion der anderen Gäste. Normalerweise besaß Rusty eine ziemlich neutrale Ausstrahlung. Niemand freute sich, ihn zu sehen. Andererseits war er auch niemandem unangenehm. Die Menschen ließen keine Neugier erkennen. Aber auch keine Feindseligkeit. Urteilte man nach seinem Effekt, auf die sozialen Interaktionen in dem Coffeeshop, hätte er ebenso gut eine Schaufensterpuppe sein können. An diesem Montag kam er sich jedoch wie ein Magnet mit falscher Polarität vor. Er schien jedermann in seiner Umgebung abzustoßen. Die anderen Gäste achteten auf mehr Abstand zu ihm, als sie’s sonst taten. Gelang es ihm einmal, Blickkontakt herzustellen, wandte der andere sich ab, bevor Rusty auch nur versuchen konnte, ein Gespräch zu beginnen. Als er bis zur Theke vorgerückt war, hatte er noch kein einziges Wort mit einem anderen Gast gewechselt. Aber er hatte beobachtet, wie die Barista mit den beiden Kerlen vor ihm kommunizierte. Sie hatte sie angelächelt, und sie gefragt, ob sie ihren Üblichen wollten. Ihn lächelte sie nicht an. Und sie sagte kein Wort.

»Meinen Üblichen, bitte«, sagte Rusty.

»Was wäre der?«, fragte sie.

Rusty hörte jemanden in der Schlange hinter ihm kichern. Am liebsten hätte er die Flucht ergriffen. Aber nein, er war aus Prinzip hier. Um für seine Rechte zu kämpfen. Ein bisschen Spott würde ihn nicht von seiner Entschlossenheit abbringen. »Hausmischung, Medium, randvoll.«

»Zwei Dollar glatt.« Die Barista drehte sich um, griff nach einem To-go-Becher und knallte ihn auf die Theke.

»Nein.« Rusty schüttelte den Kopf. »Ich will ihn hier trinken.«

Die Barista musterte ihn mit einem Blick, der besagte: Echt jetzt? Mir wär’s lieber, wenn du’s nicht tätest.

»Oh, natürlich«, sagte sie laut. »Das hatte ich vergessen. Sie haben Ihren Job verloren. Sie haben kein Büro mehr, in das Sie gehen können.« Sie warf den To-go-Becher in den Abfall, griff nach einem aus Porzellan, füllte ihn so nachlässig, dass Kaffee in die Untertasse lief, schob ihn über die Theke und verschüttete dabei noch mehr Kaffee.

Als Rusty Rutherford den Coffeeshop betrat, begann ein Telefon zu klingeln. In einem Haus etwa eine Meile außerhalb der Stadt. In einem Zimmer, in dem sich zwei Personen aufhielten. Ein Mann und eine Frau. Die Frau erkannte den Klingelton sofort. Sie wusste, was er bedeutete. Ihr Boss würde ungestört telefonieren wollen, deshalb stand sie freiwillig auf, bevor er sie hinausschickte. Klappte ihr Notizbuch zu. Steckte es in ihre vordere Schürzentasche. Und machte sich auf den Weg zur Tür.

Der Mann überzeugte sich davon, dass das kleine Symbol Secure auf dem Display seines Smartphones grün leuchtete, bevor er das Gespräch annahm. »Ja? Speranski.«

Speranski war natürlich nicht sein richtiger Name, aber darauf kam es nicht mehr an. Professionell benutzte er ihn seit über fünf Jahrzehnten.

Die Stimme am anderen Ende sagte nur ein einziges Wort: »Kontakt.«

Speranski schloss kurz die Augen und fuhr sich mit den Fingern seiner freien Hand durch sein wirres weißes Haar. Es wurde allmählich Zeit. Im Lauf der Jahre hatte er viele Pläne geschmiedet. War in zahlreiche Unternehmen verwickelt gewesen. Hatte unzählige Krisen überstanden. Aber der Einsatz war niemals so hoch gewesen.

Für ihn persönlich. Und für den einzigen Menschen auf der Welt, aus dem er sich etwas machte.

Als der Anruf beantwortet wurde, stieg Jack Reacher gerade in ein Auto. Nachdem er seine physikalisch-biologische Interaktion zu seiner Zufriedenheit – und zum großen Unbehagen des Barbesitzers – beendet hatte, war er jetzt auf dem Rückweg zum Busbahnhof. Er hatte vor, sich an sein bewährtes Prinzip zu halten und den nächsten Bus unabhängig von seinem Fahrziel zu nehmen, als er hinter sich ein Auto hörte, das langsam näher kam. Reacher hielt auf gut Glück den Daumen hoch, und zu seiner Überraschung hielt der Wagen. Er war neu und glänzend und langweilig. Ein Mietwagen. Vermutlich am Flughafen übernommen. Der Fahrer war ein adretter Mittzwanziger. Er trug einen gut geschnittenen dunklen Anzug, und die hastige Atmung und sein blasses Gesicht zeigten, dass er kurz davor war, in Panik zu geraten. Ein Geschäftsreisender, vermutete Reacher. Erstmals allein unterwegs. Verzweifelt bemüht, keinen Scheiß zu machen. Was prompt dazu führte, dass er lauter Scheiß machte.

»Entschuldigung, Sir«, seine Stimme klang noch nervöser, als er aussah, »können Sie mir sagen, wie ich zum Highway 140 komme? Ich muss nach Westen.« Er deutete auf den Bildschirm vor ihm. »Dieses Navi hasst mich. Es versucht dauernd, mich auf Straßen zu lotsen, die nicht existieren.«

»Klar«, erwiderte Reacher. »Aber das ist schwierig zu erklären. Einfacher wär’s, wenn ich’s Ihnen zeigen würde.«

Der Mann zögerte, während er Reacher begutachtete, als wäre ihm seine hünenhafte Erscheinung erst jetzt aufgefallen. Seine breite Brust. Sein zu langes Haar. Sein unrasiertes Kinn. Das Narbengeflecht um die Knöchel seiner gewaltigen Pranken.

»Außer Sie wollen weiter ziellos rumfahren.« Reacher bemühte sich um einen besorgten Gesichtsausdruck.

Der Kerl schluckte trocken. »Wohin sind Sie unterwegs?«

»Irgendwohin. Als Ausgangspunkt ist der 140 so gut wie jede andere Straße.«

»Also gut, okay.« Der Mann überlegte. »Ich nehme Sie zum Highway mit. Aber nicht weiter. Mein Ziel interessiert Sie bestimmt nicht.«

»Wie weit fahren Sie denn?«

»Ungefähr fünfundsiebzig Meilen. Eine Kleinstadt in der Nähe von Pleasantville. Klingt verlockend, was?«

»Gibt’s dort einen Coffeeshop?«

Der Kerl zuckte mit den Schultern. »Vermutlich. Sicher weiß ich’s natürlich nicht. Ich war noch nie dort.«

»›Vermutlich‹ genügt mir«, sagte Reacher. »Also los!«

Mit seinem Kaffee in der Hand wurde Rutherford klar, dass er vor einem weiteren Dilemma stand. Wo sollte er sitzen? Normalerweise war diese Entscheidung kein Problem, weil er nicht blieb. Und er musste es nicht ertragen, dass ein Dutzend unfreundlicher Blicke ihn beobachtete, während er einen freien Platz suchte. Er widerstand dem Drang, möglichst weit nach hinten zu schlurfen. Das wäre die am wenigsten unbequeme Lösung gewesen, die aber seiner Ansicht nach kaum dienlich gewesen wäre. Einen Fensterplatz wollte er andererseits auch nicht – er war noch nicht so weit, dass er sich offen zur Schau stellen wollte –, deshalb entschied er sich für einen kleinen quadratischen Tisch in der Mitte des Raums. Zu dem Tisch gehörten zwei rote Vinylstühle. Die Platte des Tisches war eng bekritzelt. Von früheren Gästen, vermutete Rusty. Viele Songtexte. Gedichte. Aufbauende Zitate. Er überflog das Geschriebene, fand nichts, womit er sich hätte identifizieren können, und zwang sich dazu, den Kopf zu heben. Er versuchte, Blickkontakt zu Leuten an anderen Tischen aufzunehmen. Aber das klappte nicht. Außer mit einem kleinen Jungen, dessen Eltern aufstanden und mit ihm den Raum verließen, als ihnen der Blickwechsel auffiel. Rusty trank seinen Kaffee mit ganz kleinen Schlucken. Er sollte mindestens eine Stunde lang reichen. Und ihm gelang weiter keine Kontaktaufnahme mehr außer mit der Barista, die keine Gelegenheit versäumte, ihm feindselige Blicke zuzuwerfen. Er holte sich noch einen Kaffee und wechselte den Tisch. Beides brachte ihm jedoch kein Glück. Er hielt weitere vierzig Minuten durch, bis die Barista kam und ihm erklärte, er müsse etwas zu essen bestellen oder gehen.

»Ich will aber kein Essen bestellen«, entgegnete Rusty. »Lieber gehe ich. Aber ich komme morgen wieder. Und übermorgen. Und an den folgenden Tagen auch, bis alle glauben, dass ich unschuldig bin.«

Die Barista starrte ihn ausdruckslos an und kehrte hinter die Theke zurück.

Rusty stand auf. »Alle mal herhören«, sagte er.

Niemand achtete auf ihn.

»Alle mal herhören!« Rusty erhob die Stimme. »Was in dieser Stadt passiert ist, war absolute Scheiße. Das ist mir klar. Aber es war nicht meine Schuld. Nicht im Geringsten. Tatsache ist, dass ich’s von Anfang an zu verhindern versucht habe. Übrigens als Einziger.«

Keiner achtete auf ihn.

Die Barista beugte sich mit einem To-go-Becher über die Theke. »Nehmen Sie den und gehen Sie, Mr. Rutherford. Niemand glaubt Ihnen. Das bleibt auch zukünftig so.«

Als Rusty Rutherford den Coffeeshop verließ, traf Jack Reacher gerade in seiner kleinen Stadt ein. Aus Nashville rauszukommen, war kein Problem gewesen. Reacher hatte nach Instinkt und den Landmarken navigiert, die er sich am Samstagabend vom Bus aus eingeprägt hatte, und den Highway ohne größere Umwege erreicht. Jedenfalls keine, die dem Mann aufgefallen waren. Sobald die Stadt hinter ihnen lag, hatte Reacher ihn dazu überredet, das Radio auf den hiesigen Blues-Kanal einzustellen, seinen Sitz nach hinten gekippt und die Augen geschlossen. Die Musik war einigermaßen anständig, aber der Typ hatte leider unaufhörlich geredet. Über New York. Die Versicherung, bei der er arbeitete. Dass dies sein erster Fall war, seit er zum Verhandler befördert worden war. Wie er morgens zu einem Treffen in der nächsten Filiale geflogen war. Dass er sich auf dem Weg zu dem Ort, an dem es ein Problem gab, verfahren hatte. Irgendwas mit Computern. Und fremden Regierungen. Und Verschlüsselungen, Portalen und allen möglichen anderen Sachen, für die Reacher sich nie interessiert hatte.

Er blieb in geselligem Schweigen sitzen, ließ den Redestrom über sich hinwegplätschern und öffnete kurz die Augen, als der Wagen langsamer wurde, weil sie auf den nach Süden führenden State Highway abbogen. Auf der ersten Meile nach dem Kleeblatt gab es massenhaft Restaurants, Schnellimbisse, Autohändler und Häuser von Hotelketten. Danach weitete sich die Landschaft. Wo das Land flach war, erstreckten sich die Felder vereinzelter Farmen; seine hügeligen Teile waren mit Wäldern aus mächtigen alten Bäumen bewachsen. Nach zehn Minuten bogen sie wieder nach Westen ab und blieben fast eine Stunde lang auf einer steileren, kurvenreicheren Straße, bis sie die Kleinstadt erreichten. Der Mann fuhr weiter, bis sie auf einer Art Main Street waren, und hielt dann.

Reacher bedankte sich, stieg aus und begutachtete seine neue Umgebung. Gegen sie war wenig einzuwenden, fand er. Ein Stadtkern aus dem späten 19. Jahrhundert, der den Gebäuden nach in den Fünfzigerjahren den Zufluss von viel Kapital erlebt hatte. Einige der älteren Gebäude hatte man durch neue ersetzt, die nun selbst schon wieder alt waren. Das ursprüngliche Layout hatte sich nicht verändert. Ein Standardplan. So kompakt, dass nur an einer Kreuzung eine Verkehrsampel nötig war. Sie funktionierte an diesem Tag nicht, was einige der hiesigen Autofahrer leicht verwirrte. Aber ansonsten schien alles in Ordnung zu sein. Für einen Boxenstopp geeignet, fand Reacher. Vielleicht würde er hier eine halbe Stunde verbringen. Keine familiären Bindungen. Kein neugierig machender Name. Keine militärische Bedeutung. Nichts, was unterschwellig interessant gewesen wäre. Kein Grund, sich hier länger aufzuhalten. Jedenfalls nicht länger, als es dauerte, einen Kaffee zu trinken. Prioritäten waren Prioritäten.

Im Westen der mutmaßlichen Kleinstadt-Hauptstraße war Reacher noch einen halben Block von der Kreuzung mit der defekten Verkehrsampel entfernt. Schräg gegenüber lag ein Coffeeshop. Vielleicht gab es anderswo weitere, aber er sah keinen Grund, sich nicht gleich diesem zuzuwenden. Er war nicht wählerisch. Also nutzte er das Verkehrschaos und machte Anstalten, die Straße zu überqueren.

Reacher war in den Coffeeshops unterwegs. Rutherford verließ ihn gerade. Anfangs achtete Reacher nicht sonderlich auf ihn. Er war nur irgendein Kerl, schmächtig und unauffällig, mit einem To-go-Becher in der Hand, der sich um seinen eigenen Kram kümmerte. Aber im nächsten Augenblick schnellte Reachers Interesse nach oben. Er spürte, wie seine Nackenhaare sich sträubten. Sein im Kleinhirn fest verankerter Steinzeitinstinkt hatte angesprochen. Eine Warnung, ein instinktives Erkennen. Verteilung und Bewegung. Raubtiere, die schleichend ihre Beute umkreisten. Zwei Männer und eine Frau. Zweckmäßig verteilt. Koordiniert. Angriffsbereit. Drei gegen einen. Kein Verhältnis, das Reacher Sorgen gemacht hätte. Aber er war nicht ihr Ziel. Das war ganz offensichtlich.

Die Männer waren an den beiden Enden des Straßenblocks postiert. Einer gab vor, sich an seinem Westende, unmittelbar vor der Kreuzung mit der defekten Verkehrsampel, für ein Schaufenster zu interessieren. Der andere stand im Osten, wo eine schmale Seitenstraße abzweigte, und gab vor, etwas auf seinem Handy zu suchen. Ein Aktionsbereich von etwa vierzig Metern. Die Frau war auf der gegenüberliegenden Straßenseite an der Einmündung einer Gasse postiert – noch einmal zehn Meter weiter. Nördlich des Gehsteigs ragte eine geschlossene Häuserfront auf. Südlich davon lag die Straße. Überall gab es Ladeneingänge, in die man flüchten konnte, wenn der Zeitpunkt günstig war. Auch über den Asphalt konnte man flüchten, wenn der Verkehr es zuließ.

Rutherford war nach Osten unterwegs. Nicht eilig. Auch nicht nur schlendernd. Nur in seiner kleinen Blase dahintreibend. Nicht ziellos, dachte Reacher. Eher in Gedanken versunken. Auf einer vertrauten Route unterwegs. In bekannter Umgebung. Ohne auf irgendwas zu achten. Ohne sich nach Ladeneingängen umzusehen. Ohne sich um den Verkehr zu kümmern.

Der Kerl am Westende war schätzungsweise eins achtzig groß. Er trug ein schwarzes T-Shirt ohne Aufschrift und Cargo Pants. Sein Bürstenhaarschnitt ließ sehen, dass er wie ein Geheimagent einen Knopf im Ohr hatte. Der Kerl im Osten war ähnlich groß und ähnlich gekleidet. Er hatte ebenfalls einen Bürstenhaarschnitt und einen Knopf im Ohr. Auch die Frau auf der anderen Straßenseite war schwarz gekleidet, aber ihre Sachen waren eleganter, und sie hatte vor allem keinen Bürstenhaarschnitt. Ihr langes rotes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst.

Der Kerl am Westende löste sich von seinem Schaufenster und begann nach Osten zu gehen. Nur fünf, sechs Meter hinter Rutherford. Mit lockeren, weit ausgreifenden Schritten. Er musste sich offenbar bremsen, um die Zielperson nicht zu überholen. Vor ihnen hatte eine Frau auf dem Gehsteig halt-gemacht, um sich zu ihrem Kind in einem Sportbuggy hinabzubeugen. Noch etwas weiter stand ein Paar, das sich lachend unterhielt. Die beiden trugen Joggingkleidung. Ganz normale Leute, die nicht ahnten, was hier vorging.

Der Aktionsbereich war auf dreißig Meter geschrumpft.

Der Kerl im Osten berührte seinen Ohrhörer. Wenige Sekunden später erschien ein Auto an der Einmündung der schmalen Seitenstraße. Es hatte im Schatten verborgen gewartet. Ein anonymer Viertürer. Ein Toyota. Dunkelblau. Reacher hatte die Bewegung bemerkt, aber kein Motorengeräusch gehört. Ein Hybridfahrzeug im Elektromodus. Ein clever gewähltes Fahrzeug. Nur schade, dass das 110th damals keine Wagen dieser Art gehabt hatte.

Der Aktionsbereich war auf fünfundzwanzig Meter geschrumpft. Reacher trat auf den Gehsteig.

Rutherford näherte sich der Frau mit dem Sportwagen. Sie richtete sich auf, als er herankam. Ihr kleiner Junge warf seinen Teddybären zu Boden. Rutherford bückte sich, hob ihn auf. Vielleicht war er doch nicht so ahnungslos, wie er tat. Dies war ein perfekter Trick, um den Gehsteig hinter ihm zu überprüfen. Vielleicht wusste Rutherford doch, dass er beschattet wurde. Aber dann verflog Reachers Optimismus. Rutherford hatte nur Augen für den Kleinen. Er hielt ihm den Bären hin. Die Frau riss ihm das Plüschtier aus der Hand, funkelte ihn giftig an. Rutherford ging weiter.

Der Aktionsbereich war auf unter zwanzig Meter geschrumpft. Reacher änderte seinen Kurs. Setzte sich nach Osten in Bewegung. Zehn Meter hinter dem aus Westen kommenden Kerl.

Das Paar in Joggingkleidung trat von der Hauswand weg. Seine Körpersprache wirkte angespannt. Die Unterhaltung musste eine unangenehme Wendung genommen haben. Der Mann stapfte mit vorgeschobener linker Schulter davon. Er rammte Rutherford und verschüttete etwas von seinem Kaffee. Seine Partnerin holte ihn ein. Sie packte ihn am Arm, zog ihn kopfschüttelnd und mit gerunzelter Stirn weg.

»Hey!«, sagte Rutherford. Keine Reaktion.

Dreh dich um, dachte Reacher. Vergiss die Jogger. Achte auf den Typen, der dir folgt.

Rutherford drehte sich nicht um. Er ging stur weiter.

Der Aktionsbereich war auf zwölf Meter geschrumpft. Zwischen Reacher und dem von Westen kommenden Kerl lagen zusätzliche sechs Meter.

Was als Nächstes passieren würde, lag auf der Hand. Reacher sah es so deutlich, als hätte es jemand ins Blau des Himmels geschrieben. Die Limousine würde etwas weiter nach vorn rollen, bis ihre hintere Tür sich auf Höhe des Gehsteigs befand. Der Kerl aus Osten würde sie aufreißen, der Kerl aus Westen würde Rutherford in den Wagen stoßen und nach ihm einsteigen. Der zweite Mann würde den Beifahrersitz bekommen. Die Frau würde auf Rutherfords anderer Seite einsteigen. Und so würden sie davonfahren. Keine fünf Sekunden, wenn sie das Unternehmen richtig aufzogen. Und alles würde lautlos vonstattengehen. Kein Lärm, kein Aufsehen. Niemand würde etwas mitbekommen.

Der Aktionsbereich betrug nur mehr sechs Meter. Drei Meter zwischen Reacher und dem Kerl aus Westen. Zeit, sich zu entscheiden.

Nun hieß es vier gegen einen. Vielleicht fünf oder sechs, wenn sie ein zweites Fahrzeug in Reserve hatten. Kein Verhältnis, das Reacher normalerweise Sorgen machte. Aber er war nicht ihre Zielperson.

Wie auf ein Stichwort hin fuhr der Toyota ein Stück weit vor. Rutherford blieb stehen, ohne sich viel dabei zu denken. Nur ein ungeduldiger Fahrer, der auf die Hauptstraße abbiegen wollte. Er nahm einen Schluck Kaffee, während er darauf wartete, dass das Auto weiterfuhr. Aber es blieb stehen. Der Kerl aus Osten riss die hintere Tür auf, hielt sie offen. Der andere war mit zwei, drei großen Schritten heran. Seine linke Hand umfasste Rutherfords Nacken. Mit der Rechten umklammerte er seinen Ellbogen. So wollte er ihn vor sich herschieben und auf den leeren Rücksitz bugsieren. Aber er war zu langsam.

Der Aktionsbereich betrug null Meter. Reacher erschien links neben dem aus Westen kommenden Kerl. Er packte Rutherford am Kragen. Sein gestreckter rechter Arm lag wie eine Stahlbarriere vor der Brust des westlichen Kerls. Danach eine halbe Drehung auf dem rechten Fuß. Er riss Rutherford seitlich zurück und hielt ihn dort fest, wo kein anderer ihn erreichen konnte.

»Nicht so eilig!«, sagte Reacher. »Zeigt mir Ausweise oder haut ab.«

»Lassen Sie ihn los«, verlangte der westliche Kerl.

»Haben Sie einen legitimen Grund, ihn festzunehmen, haben Sie auch einen Dienstausweis. Den will ich sehen. Habt ihr keinen, müsst ihr verschwinden. Dies ist eure letzte Chance.«

»Wer, zum Teufel, sind Sie?«

»In dieser Situation sollten Sie sich auf relevante Themen konzentrieren.«

»Wer sind Sie?«

»Sie haben die Wahl zwischen zwei Dingen. Irrelevante Fragen gehören nicht dazu.«

»Lassen Sie ihn los!« Der Kerl wollte um Reacher herumgehen, streckte einen Arm aus und versuchte, Rutherford zu fassen. Reachers Faust traf seine Schläfe, sodass er von der Hauswand abprallte und wie eine Marionette mit abgeschnittenen Schnüren zusammensackte.

Reacher wandte sich dem anderen Kerl zu. »Dies ist Ihre allerletzte Chance. Nehmen Sie Ihren Müll mit und verschwinden Sie. Tun Sie’s nicht, liegen Sie gleich neben ihm. Sie haben die Wahl. Mir ist beides recht.«

Aus dem Augenwinkel heraus nahm Reacher eine Bewegung wahr. Das rechte Seitenfenster des Toyotas wurde heruntergefahren. Die Frau am Steuer hob einen Arm. Sie sah ihn direkt an. Hob sie eine Pistole? Reacher wartete nicht darauf. Er ließ Rutherford los und drehte den östlichen Kerl so um, dass er vor der Beifahrertür stand. Packte ihn an Hosenbund und Kragen. Stopfte ihn mit dem Kopf voraus ins offene Fenster und schob kräftig nach, während der Kerl mit angelegten Armen hilflos mit den Füßen strampelte.

Reacher trat einen Schritt zurück, um nicht getroffen zu werden, und sah sich nach Rutherford um, der wie gelähmt an Ort und Stelle verharrte. Noch bevor er etwas hörte, spürte Reacher etwas Schweres auf sie zukommen, schnappte sich Rutherford und stieß ihn gegen die Hauswand. Im nächsten Augenblick rumpelte ein schwarzer Chevy Suburban auf den Gehsteig und hielt da, wo Reacher gestanden hatte. Die Fahrertür wurde aufgestoßen, und ein Mann sprang heraus. Er war kleiner als die anderen und drahtiger. Sein Beifahrer gesellte sich zu ihm. Sie standen kurz in einer Art Kampfsporthaltung nebeneinander, dann entspannten sie sich. Sie traten vor. Beide wirkten ganz locker. Dies war offenbar nicht ihr erster derartiger Einsatz.

»Treten Sie beiseite, Mister!«, befahl der Fahrer. »Dies ist nicht Ihr Kampf. Den Kerl nehmen wir mit.«

Reacher schüttelte den Kopf. »Nein, das tun Sie nicht. Garantiert nicht. Er geht ungehindert weiter. Die Frage ist nur: Wollt ihr das auch? Oder seid ihr scharf darauf, wie eure Kumpel ins Krankenhaus zu kommen?«

Der Fahrer gab keine Antwort, und Reacher wurde auf scharrende Geräusche hinter dem Suburban aufmerksam. Der Typ, den er in den Toyota gestopft hatte, hatte sich befreit und versuchte jetzt gemeinsam mit der Frau, ihren bewusstlosen Kameraden auf den Rücksitz zu manövrieren. Unterdessen hatten sich Gaffer versammelt, die einen Kreis bildeten, der bis auf die Straße reichte. Sie erinnerten Reacher an die Ansammlungen auf dem Pausenhof jeder neuen Schule, in die er in seiner Jugend gekommen war. Sein Bruder Joe und er. Rücken an Rücken. Trotz Unterzahl erfolgreich kämpfend. Er sah zu Rutherford. Der Mann flüchtete nicht, was immerhin etwas war. Aber Reacher wusste, dass von ihm keine Hilfe zu erwarten war, falls der Mob feindselig wurde.

Die beiden Kerle wechselten einen Blick. Sie überlegten, was sie tun sollten. Mit dem Tarnkappenmodus war’s vorbei, also blieb nur die Wahl zwischen Frontalangriff und taktischem Rückzug. Keine dieser Optionen schien ihnen zu gefallen. Dann war die erste Polizeisirene zu hören. Die Fußgänger zerstreuten sich. Der Toyota fuhr an. Sein Benzinmotor heulte auf, als die Fahrerin das Gaspedal durchtrat. Die drahtigen Kerle sprangen in ihren Suburban, stießen zurück und streiften den vorderen rechten Kotflügel des ersten Streifenwagens, als sie davonrasten. Rutherford stand noch immer mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund wie angenagelt da.

Die beiden Streifenwagen hielten am Randstein. Ihre Sirenen wurden ausgeschaltet, aber die Blinkleuchten arbeiteten weiter. Vier Uniformierte sprangen heraus. Drei kamen auf dem Gehsteig heran, während der vierte Mann den Frontschaden an seinem Wagen begutachtete. Alle hatten ihre Revolver gezogen, ohne sie schussbereit zu halten. Sie vertrauten auf ihre zahlenmäßige Überlegenheit, wollten aber nichts riskieren. Eine vernünftige Einstellung, fand Reacher.

»Hinlegen!«, sagte der führende Beamte. »Auf den Bauch.«

»Sie verhaften uns?«, fragte Reacher.

»Was erwarten Sie? Einen Lolli? Los jetzt, hinlegen!«

Reacher machte keine Bewegung.

Der Uniformierte trat einen Schritt näher. »Hinlegen, hab ich gesagt. Sofort!«

Cops in aller Welt waren gleich. Sobald sie öffentlich eine Position eingenommen haben, rücken sie nicht mehr davon ab. Überredungsversuche sind dann bloß Zeitverschwendung. Das wusste Reacher aus eigener Erfahrung. Trotzdem galt es, einen gewissen Standard zu wahren.

»All right«, sagte Reacher. »Meinetwegen können Sie uns verhaften. Wir kommen ohnehin in fünf Minuten wieder frei. Aber wir legen uns auf keinen Fall hin.«

3

Die vorübergehende Basis des Teams war eine Woche zuvor in einem Motel acht Meilen westlich der Kleinstadt eingerichtet worden. Das Verkehrsaufkommen war so gering, dass die Strecke sich theoretisch in zwölf Minuten zurücklegen ließ, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Aber an diesem Nachmittag brauchten beide Fahrzeuge für ihre Rückfahrt erheblich länger.

Die Kerle mit dem Suburban schafften es als Erste. Sie hatten es einfacher, weil keiner von ihnen verletzt war. Die beiden fuhren zunächst zehn Meilen weit nach Norden. Der Fahrer, der auf den Namen Wassili hörte, raste anfangs los, um von den eintreffenden Streifenwagen wegzukommen, hielt sich dann aber an die zulässige Höchstgeschwindigkeit, bis sie einen Waldparkplatz erreichten, der zur Straße hin durch mehrere Baumreihen abgeschirmt war. Dort war es einsam genug, aber sie hüteten sich davor, ihren beschädigten Wagen in Brand zu setzen. Genauso gut hätten sie den Cops einen Lageplan mit dem Hinweis Hier steht der gesuchte SUV übermitteln können. Und weil der Suburban, den andere bergen würden, noch immer ziemlich viel wert war, machten sie sich an die Arbeit. Wassili visierte einen der Betonpfosten der Parkplatzumzäunung an und fuhr rückwärts dagegen. Dieses Manöver wiederholte er, bevor er ausstieg, um den Schaden zu begutachten. Ausreichend, befand er. Die Schrammen waren tief genug, um die Delle von der Vorderfront des Streifenwagens zu tarnen, aber nicht so großflächig, dass ein anderer Cop auf die Idee kommen konnte, den SUV anzuhalten. Er parkte, wo die Bäume am dichtesten standen, und reinigte das Innere des Wagens mit Feuchttüchern, während sein Partner, der sich Anatoli nannte, die Kennzeichen auswechselte. Dann stiegen sie für die dreizehn Meilen lange diagonale Schlussstrecke in ihr zweites Fahrzeug um.

Natascha saß am Steuer des Toyotas. Ihre Rückfahrt begann sie damit, dass sie zunächst sechs Meilen nach Süden fuhr. Sie ließ es langsam angehen. Dafür gab es einen zusätzlichen Grund: Sie machte sich Sorgen wegen zwei ihrer Mitfahrer. Der Kerl, den Reacher durch das Seitenfenster gestopft hatte, Petja, war an der Schulter verletzt. Natascha wusste nicht, wie er sich die Verletzung zugezogen hatte. Er hatte keinen Ton von sich gegeben, aber jetzt war er auffällig blass und stöhnte bei jeder Unebenheit und jedem Schlagloch. Ilja, den Reacher k.o. geschlagen hatte, war noch immer bewusstlos. Natascha, die sich Sorgen wegen einer Gehirnerschütterung machte, wollte auf keinen Fall weitere Schäden verursachen. Sie musste dafür sorgen, dass die beiden möglichst rasch wieder voll einsatzfähig waren. Es fiel schwer, die Ereignisse dieses Nachmittags nicht als totalen Misserfolg zu bezeichnen. Solches Versagen konnte dazu führen, dass ein Team abgelöst wurde. Diese Gefahr drohte erst recht, wenn es nicht hundertprozentig einsatzbereit war. Und das musste unbedingt vermieden werden.

Nach einer Viertelstunde hielten sie auf dem Parkplatz eines plüschigen Schnellrestaurants. Natascha wechselte die Kennzeichen, und die zweite Frau, Sonja, half Petja beim Einsteigen in ihr zweites Fluchtfahrzeug, in das die beiden Frauen den bewusstlosen Ilja hievten. Danach reinigten sie das Innere des Toyotas. Als sie zu ihrem Motel weiterfuhren, holten sie weiter als unbedingt nötig nach Westen aus, sodass ihre Schlussetappe zwölf Meilen umfasste.

Natascha hatte sich auf jeder Etappe Zeit gelassen, denn sie legte Wert darauf, ihren Auftrag genau auszuführen. Doch der Hauptgrund dafür war, dass sie sich nicht auf den bevorstehenden nächsten Schritt freute: auf den Bericht. Vielleicht würde er ganz harmlos ausfallen. Was passiert war, ließ sich mit dürren Worten beschreiben. Sie wusste, dass ihr Kontaktmann zuhören würde, ohne sie zu unterbrechen. Etwaige Fragen würde er erst stellen, wenn sie mit ihrem Vortrag zu Ende war. Zuletzt würde er auflegen. Und dann folgte das Warten auf die Entscheidung. Weitermachen. Oder aufgeben. Eine Bewährungschance. Oder ein Desaster.

Die Informationen würden in der Befehlskette weitergegeben und evaluiert werden, bis eine Entscheidung getroffen wurde. Wer sie traf oder wo diese Leute saßen, wusste Natascha nicht. Das System war absichtlich so konstruiert. Aus Sicherheitsgründen. Abschottung war Trumpf in ihrer gegenwärtigen Welt. Sie vermutete, dass vor Ort ein Verbindungsmann existierte. Jemand, der sein Ohr am Boden und ursprünglich Alarm geschlagen hatte. Der unter Umständen stärker involviert war. Der vielleicht mitzuentscheiden hatte. Sie nahm an, dass es möglich sein würde, diese Person zu identifizieren. Unter Umständen nötig. Jedenfalls wünschenswert. Aber das war ein zukünftiges Problem. Im Augenblick musste sie sich darum kümmern, dass ihr Team – und damit sie selbst – im Einsatz blieb.

Der leitende Beamte tastete Reacher nach Waffen ab. Er arbeitete gründlich. Und langsam. Rutherford saß hinten in dem ersten Streifenwagen, bevor der Uniformierte bei Reachers Taille angelangt war. Um ein bisschen Autorität zurückzugewinnen, vermutete Reacher. Damit klar war, wer hier den Ton angab. Reacher hielt still und ließ ihn weitermachen. Dann trat der Beamte zur Seite und telefonierte mit einem Handy, während ein anderer Cop Reacher aufforderte, sich in den Fond des zweiten Streifenwagens zu setzen.

Reacher ging davon aus, dass das Polizeirevier außerhalb der Innenstadt lag, wo Immobilien billiger waren, und war überrascht, als die Fahrt schon zwei Straßen weiter endete. Der Cop schaltete seine Blinkleuchten ein, um die Kreuzung mit der defekten Ampel zu überqueren, bog bei erster Gelegenheit links ab und fuhr nochmals links abbiegend auf den Parkplatz neben einem großen Sandsteingebäude. Es war mit griechischen Säulen geschmückt und hatte lange parallele Fensterreihen. Der Beamte hielt neben dem Fahrzeug, das der Subaru gestreift hatte, und stieg aus. Eine Bronzeplakette bezeichnete den Bau als Gerichtsgebäude, und kleinere Tafeln zeigten, dass hier auch die Stadtkasse, der Stadtdirektor und die Polizei ihr Domizil hatten. Um voll funktionsfähig zu sein, fehlte nur noch ein städtisches Gefängnis.

Der leitende Cop ging am Haupteingang unter dem Säulenvordach vorbei weiter, als wäre der nur für nicht Verhaftete reserviert. Er blieb vor einem Nebeneingang mit einer einfachen Stahltür stehen, die er aufsperrte, bevor er Reacher eine mäßig beleuchtete Betontreppe hinunterschob. Unten standen sie seitlich neben einer bis zur Decke hinauf verglasten Empfangstheke mit Jalousien, die alle geschlossen waren. Auf der anderen Seite gab es eine Holztreppe mit Messinggeländer, die ehrenwerte Bürger benutzten, wenn sie kamen, um Anzeige zu erstatten oder Auskünfte einzuholen oder was normale Leute sonst hier taten.

Als der Uniformierte klingelte, öffnete sich einige Sekunden später die Tür zum Einlieferungsbereich. Dort wartete ein weiterer Beamter hinter einem langen Holztisch. Auf zwei Schreibtischen hinter ihm standen alte, aber noch funktionierende Computer, die jetzt ausgeschaltet waren, ein Stapel tiefer Plastikkörbe in Regenbogenfarben und eine blasse Topfpflanze mit herabhängenden Blättern. Die Wände waren mit Plakaten tapeziert, die vor Kriminellen warnten und die Bürger aufforderten, selbst auf ihre Sicherheit zu achten. Der Cop griff sich einen der Körbe und knallte ihn vor Reacher auf den Tisch.

»Für Ihr persönliches Eigentum.« Er wirkte gelangweilt. »Bei der Entlassung kriegen Sie’s zurück.«

Reacher legte seine Geldscheinrolle hinein. Seine Klappzahnbürste. Seine Bankkarte. Und seinen Reisepass.

»Ist das alles?«

»Was brauche ich mehr?«, fragte Reacher.

Der Cop zuckte mit den Schultern und fing an, das Geld zu zählen. Als er fertig war, gab er Reacher eine Quittung und führte ihn über einen kurzen Flur zum Vernehmungsraum 2. Wände und Decke dieses Raums waren mit Schallschutzpaneelen verkleidet, die Reacher auch schon anderswo gesehen hatte. Er wusste, dass sie keinen akustischen Zweck erfüllten. Sie gehörten zu einem psychologischen Trick, der Verdächtigen suggerierte, es sei ungefährlich, ihre Komplizen zu verpfeifen. Der Fußboden bestand aus Zementestrich, auf dem der Tisch und die Stühle festgeschraubt waren. Das Beobachtungsfenster war wie üblich als Wandspiegel getarnt und der Alarmknopf unter dem Tisch nicht zu übersehen. Reacher vermutete, dass er hier war, weil es nur eine Haftzelle gab. Sie würden nicht wollen, dass er mit dem Mann redete, den er gerettet hatte. Die Gefahr, dass sie ihre Storys abglichen, war zu groß. Und er wusste, dass sie ihn warten lassen würden. Mindestens eine Stunde lang. Vielleicht zwei. Ein alter Trick: Isolation macht gesprächig. Mitteilungsdrang kann zu dem Drang führen, ein Geständnis abzulegen. Er hatte diese Methode unzählige Male selbst angewandt. Und dies war nicht das erste Mal, dass sie gegen ihn eingesetzt wurde.

Beide Stühle standen zu dicht an dem Tisch, um bequem zu sein, also setzte Reacher sich in der Ecke der Tür gegenüber auf den Boden. Die Uhr in seinem Kopf zeigte an, dass siebenundneunzig Minuten vergangen waren, als die Tür wieder geöffnet wurde. Die größte Primzahl mit zwei Ziffern. Eine seiner Favoriten. Das musste ein gutes Omen sein. Ein weniger gutes Zeichen war das selbstgefällige Grinsen auf dem Gesicht des Mannes, der jetzt hereinkam. Er war keinen Tag älter als dreißig und bestand ganz aus lockigem Haar und Pausbacken. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem er mit dem Rücken zum Fenster saß, und grinste dabei weiter.

»Wie ich sehe, haben Sie sichs schon gemütlich gemacht«, sagte der Mann. »Sorry, dass ich Sie habe warten lassen. Wollen Sie sich nicht zu mir setzen? Damit wir versuchen können, diese Sache zu bereinigen?«