Der Tanz auf dem Vulkan - Marie Vieux-Chauvet - E-Book

Der Tanz auf dem Vulkan E-Book

Marie Vieux-Chauvet

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Beschreibung

»Eine ergreifende Geschichte über Hass und Angst, Liebe und Verlust und die komplexen Spannungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Ein Meisterwerk.« Boston Globe

Port-au-Prince 1792: Minette ist die Tochter einer freigelassenen Sklavin. Dank ihrer außergewöhnlichen Gesangsstimme darf sie als erste Farbige im Theater von Port-au-Prince auftreten. Auf den Zuschauerrängen sitzen die Kolonialherren. Sie sind durch die harte Arbeit ihrer Sklaven reich geworden und kopieren die Pariser Lebensart. Doch unter der Oberfläche brodelt es schon lange. Die Ausbeutung von Mensch und Natur schürt soziale und ethnische Spannungen. Minette verliebt sich in einen erfolgreichen Freigelassenen. Als sie jedoch bemerkt, dass er seine Sklaven genauso brutal behandelt wie die Weißen, bricht sie mit ihm und schließt sich einer Untergrundorganisation an.

Wie schon in «Töchter Haitis» besticht Vieux-Chauvets Erzählkunst durch die lebensnahe Figurenzeichnung. Zudem ist «Tanz auf dem Vulkan» eine historische Tiefenlotung, die uns Geschichte und Gegenwart des Karibikstaates erschließt.

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Seitenzahl: 698

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Zum Buch

Port-au-Prince1792, als Haiti noch Sainte-Domingue hieß und französische Kolonie war: Minette ist die Tochter einer affranchie, einer freigelassenen Sklavin. Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Gesangsstimme darf sie als erste Farbige im Theater der Hauptstadt auftreten. Auf den Zuschauerrängen sitzen die Kolonialherren, durch die harte Arbeit der Sklaven reich geworden. Doch in der Bevölkerung brodelt es schon lange. Die Ausbeutung von Mensch und Natur schürt soziale und ethnische Spannungen. Auch Minette spürt dies: Trotz ihres Ruhms wird sie angefeindet und aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Im Untergrund formiert sich indes Widerstand, die Trommeln und Lambis verkünden den Aufruhr auf den Plantagen. Sklaven fliehen, Hütten gehen in Flammen auf, die Revolution bricht aus …

Marie Vieux-Chauvets Roman spielt am Vorabend des einzigen Sklavenaufstands der Weltgeschichte, der je zu einem unabhängigen Staat geführt hat.

Auf realen Fakten und Figuren basierend, ist Der Tanz auf dem Vulkan eine mitreißende historische Tiefenlotung, die uns Geschichte und Gegenwart des Karibikstaates erschließt.

Zur Autorin

MARIE VIEUX-CHAUVET (1916–1973) wurde in Port-au-Prince in Haiti geboren und arbeitete zunächst als Grundschullehrerin. Ab 1947 veröffentlichte sie Theaterstücke. Ihr Roman Der Tanz auf dem Vulkan erschien 1957 und wurde mit dem Prix de l’Alliance Française ausgezeichnet. Als sich Präsident François Duvalier («Papa Doc») zum haitianischen Diktator aufschwang, bedeutete das für sie massive Einschränkungen. Schließlich musste sie ins US-amerikanische Exil fliehen und lebte bis zu ihrem Tod in New York.

NATHALIE LEMMENS, geboren 1976, studierte literarisches Übersetzen in Düsseldorf und überträgt seitdem Romane und Sachbücher aus dem Französischen, Englischen und Niederländischen, u. a. Jean-Christophe Rufin, Adam Zamoyski und Gustaaf Peek.

KAIAMA L. GLOVER ist Professorin für Französisch und Afrikanistik am Barnard College der Columbia University. Sie schrieb Essays über das postkoloniale Haiti und über Frauen in der Karibik. Zudem ist sie preisgekrönte Übersetzerin mehrerer Werke haitianischer Prosa, u. a. von Marie Vieux-Chauvet.

Von der Autorin bereits erschienen: Töchter Haitis (2020)

Marie Vieux-Chauvet

Der Tanz auf dem Vulkan

Roman

Aus dem Französischen übersetzt von Nathalie Lemmens Mit einem Nachwort von Kaiama L. Glover

MANESSE VERLAG

Vorbemerkung der Autorin

Dieses Buch entstand auf der Grundlage historischen Materials. Die beiden Protagonistinnen und alle weiteren Hauptfiguren haben wirklich gelebt und treten unter ihren tatsächlichen Namen auf. Die wichtigsten Ereignisse in ihrem Leben sowie die geschilderten historischen Begebenheiten entsprechen den Tatsachen.1

«Dies ist die Geschichte zweier mit Talent überreich gesegneter farbiger Mädchen. Lächelnd überwanden sie die Hindernisse, die Menschen ihrer Rasse in den Weg gestellt wurden, durchbrachen die kolonialen Vorurteile, den Neid und den Hass und erklommen, getragen vom Überschwang der begeisterten Menge, gemeinsam die Stufen des Ruhms …2

Jean Fouchard, Le Théâtre à Saint-Domingue

I

Ganz Port-au-Prince hatte sich an diesem Junitag auf den Kaimauern eingefunden und erwartete freudig die Ankunft eines neuen Gouverneurs.

Seit zwei Stunden hielten bewaffnete Soldaten eine riesige Menschenmenge in Schach, in der Männer, Frauen und Kinder aller Hautfarben versammelt waren. Die Mulattinnen3 und schwarzen Frauen, die wie üblich ein wenig abseits standen, hatten sich größte Mühe gegeben, um mit der Eleganz der weißen Kreolinnen4 und der Europäerinnen zu konkurrieren. Hin und wieder berührten die gestreiften oder geblümten Kattunröcke der affranchies5 im Vorübergehen demonstrativ die schweren Taftröcke und die duftigen gaules6 aus transparentem Musselin der Weißen. Die hier wie dort nur notdürftig von zarten, durchscheinenden Miedern verhüllten Busen zogen die erfreuten Blicke der Männer auf sich, die trotz der entsetzlichen Hitze an diesem Sommermorgen samtene Anzüge trugen, dazu plissierte Jabots, Gehröcke und, als sei das alles noch nicht genug, Westen. Unter ihren Lockenperücken schwitzten sie schlimmer als Sklaven. Welch ein Segen war es da, wenn die Frauen hochmütig ihre Fächer wippen ließen. Die farbigen Frauen, denen ein neues Gesetz das Tragen von Schuhen verbot, wirkten durch den Schmuck an ihren Zehen nur umso origineller und begehrenswerter. Beim Anblick ihrer diamantengeschmückten Füße bereuten die weißen Frauen, die neue Vorschrift gegen «diese Kreaturen» gefordert zu haben, die es gewagt hatten, ihre Kleidung und ihre Frisuren zu imitieren.

Sie hatten sich beim Gouverneur über dieses unverzeihliche Vergehen beschwert und Gerechtigkeit gefordert, ohne einzugestehen, dass sie dadurch lediglich Rivalinnen bestrafen und demütigen wollten, von denen sich ihre Liebhaber und Ehemänner allzu sehr angezogen fühlten. Die Gesetze der Gesellschaft waren seit jeher mächtig. Mühelos errangen sie den Sieg gegen die aus der minderwertigen Rasse der Sklaven hervorgegangenen affranchies.

Doch nun schmückten «diese Kreaturen», zweifellos aus Rache, ihre Füße mit Juwelen, die ihnen von weißen Männern geschenkt worden waren. Das war der Gipfel der Unverschämtheit. Trotzdem konnte niemand umhin, zuzugeben, dass sie hinreißend waren, kokett und betörend. Unübertroffene Meisterinnen darin, ihre schön geschwungenen Taillen, die provozierenden Rundungen ihrer Brüste und ihre geschmeidigen, breiten Hüften zur Geltung zu bringen. Die Vermischung so unterschiedlichen Blutes hatte in ihnen wahre Wunder an Schönheit hervorgebracht. Und das wiederum war von der Natur selbst unverzeihlich.

Die Offiziere in ihren blitzenden Uniformen, die sich jede Frau, ob weiß oder farbig, als Liebhaber wünschte, schielten unverhohlen nach den schwarzen Schönheiten, an deren kunstvoll geknoteten Kopftüchern ebenso viele Juwelen funkelten wie an ihren Füßen. Das Dekolleté halb entblößt, lächelten sie ihnen zu, und ihre perfekten Zähne zeichneten sich wie ein leuchtendes Band auf ihren dunklen Gesichtern ab. Hin und wieder erklang schallendes Gelächter. Doch die lärmende Fröhlichkeit war nur vorgetäuscht, und in den Blicken lauerten Verachtung, Hass und Provokation.

Unter den Frauen von Saint-Domingue tobte ein Kampf auf Leben und Tod, ausgelöst durch eine Rivalität, die in jener Zeit sämtliche Beziehungen prägte: die Rivalität zwischen weißen Plantagenbesitzern und landlosen Weißen7, zwischen Offizieren und Regierungsbeamten, zwischen Neureichen ohne Namen oder Titel und Angehörigen des französischen Hochadels, dazu die Rivalität zwischen den weißen Grundbesitzern und jenen aus der Klasse der affranchis, zwischen den Haussklaven und den Feldsklaven. Zusammen mit dem Groll der affranchis und dem stummen Protest der afrikanischen Schwarzen, die wie Vieh behandelt wurden,8 erzeugte dieser Zustand eine nie nachlassende Anspannung, die die Atmosphäre seltsam drückend machte.

Das war zweifellos der Grund dafür, dass man trotz des regen Treibens, des Gelächters, der prächtigen Kleider und der Perücken eine vage Bedrohung zu spüren meinte. Auch wenn nach außen hin nichts davon zu erkennen war. Wie stets bei öffentlichen Festlichkeiten reihten sich in den Straßen sechsspännige Karossen, Kutschen mit Dachsitz und leichtere Chaisen9 aneinander. Die prächtigen Uniformen der Offiziere, die eleganten Anzüge der Kolonisten, die goldgesäumten Kutschen und die frisierten, geschminkten, behandschuhten, mit Blumensträußchen geschmückten Frauen bildeten im Zusammenspiel mit den Bäumen, dem strahlend blauen Himmel und der gleißenden Sonne ein herrliches Tableau. Lachend blieb man vor den Auslagen der Juweliere und der Parfümeure stehen, und die Frauen nahmen mit verheißungsvollen Blicken die Geschenke der Männer entgegen. Gruppen aneinandergeketteter Sklaven wurden von ihren Herren vorbeigeführt, und ab und an hörte man den scharfen Knall einer Peitsche, die auf einen nackten Oberkörper traf.

Plötzlich erhob sich aus der Menge lautes Geschrei: Das königliche Schiff war in Sicht gekommen. Sogleich begannen die Glocken zu läuten, Kanonen wurden abgefeuert. Mit Bannern und Kreuzen, Zierrat und Weihrauchfässern erwarteten die Geistlichen unter einem Baldachin das Eintreffen des neuen, vom König ernannten Gouverneurs.

Hundert Männer stiegen in Schaluppen und ruderten ihm entgegen. Als er an Land kam, applaudierte die Menge, Rufe erschallten: «Lang lebe Seine Majestät der König von Frankreich», und man geleitete ihn zur Kirche. Neugierige kleine Kinder wehrten sich dagegen, zur Seite gedrängt zu werden. Beschimpfungen wurden laut. Einige Frauen nutzten die Gelegenheit, ihren Rivalinnen Beleidigungen zuzurufen. Eine junge Mulattin heftete ihren Blick auf einen Offizier, der zu ihr herübersah. Er hielt eine blonde Frau am Arm, deren ganze Aufmerksamkeit auf das Spektakel gerichtet war. Die Mulattin nahm ein Blumensträußchen von ihrem Mieder und warf es dem Mann zu, der es lächelnd auffing. Sofort fuhr die blonde Frau herum.

«Du dreckiges Negerweib10», schrie sie die Mulattin an, «wenn du jemanden brauchst, der dein Feuer löscht, dann such dir einen Sklaven, die helfen dir gern.»11

Wortlos sah sich die Mulattin nach den Soldaten um.

Wie sollte sie dieser weißen Hure bei so vielen Uniformen um sich herum ihre Schmähungen heimzahlen? Wenn doch bloß die Soldaten nicht wären, dann würde sie ihr die Augen auskratzen! Doch nach reiflicher Überlegung zog sie es vor, dreist lächelnd die Achseln zu zucken.

Sie trug einen langen weißen, mit roten Blüten bedruckten Leinenrock, und das Batistmieder, das er an ihrer Taille umschloss, war so durchsichtig, dass darunter ihre Brüste zu sehen waren. Das Brusttuch, das sie sich nachlässig um die Schultern gelegt hatte, fiel ihr spitz über den Rücken und ließ den Ausschnitt des Mieders frei. Der hohe madras12 saß schräg auf ihrem Kopf, sodass er die rechte Braue halb verdeckte, und die falschen Juwelen, mit denen er geschmückt war, funkelten in der Sonne. In geschmeidigem, wiegendem Gang folgte sie langsam der Menge, wobei sie sich mit koketten, aufreizenden Blicken umsah.

Jemand rief: «Tausendlieb». Lächelnd drehte sie sich um und winkte.

«Wo bist du denn abgeblieben? Ich sehe dich ja gar nicht mehr», rief sie auf Kreolisch.

Ein Mann trat zu ihr. Es war ein Weißer in Leinenrock und -hose, ohne Perücke und Schnallenschuhe.

«Du lässt dich nicht mehr trösten, obwohl sie dir immer noch Hörner aufsetzt?», fragte sie mit einem fröhlichen Lachen.

«Ich habe mich mit dem Gehörntsein abgefunden», antwortete der Mann und nahm ihren Arm. «Komm, Tausendlieb, lass uns im nächsten Wirtshaus etwas trinken. Ich kenne einen Wirt, der macht einen fabelhaften Punsch mit Tafia13 …»

«Tafia … Wenn das alles ist, was du mir zu bieten hast …!»

«Meinetwegen, komm mit und bestell, was du willst.»

«Süßen Bordeauxwein, den mag ich.»

Sie gingen davon, während sich die Menge auf dem weitläufigen Platz allmählich auflöste. Unter lautem Hufgeklapper fuhren von schwarzen Kutschern gelenkte Karossen durch die Straßen.

Zwei kleine Mädchen, das eine zwölf, das andere zehn Jahre alt, gingen Hand in Hand nebeneinanderher. Sie waren barfuß, ärmlich gekleidet in ausgebleichte Kattunröcke und Mieder, die von Nadeln züchtig zusammengehalten wurden, und trugen das Haar offen. Mit ihrer goldenen Haut und dem langen Haar hätte man sie für zwei mittellose weiße Mädchen halten können. Doch wer genauer hinsah, bemerkte, dass schwarzes Blut ihren Zügen jenen besonderen Reiz, jene Spur von Andersartigkeit verlieh, die ein Weißer auf den ersten Blick erkannte. Vor allem die Ältere war mit ihren sinnlichen Lippen, den schwarzen, zu den Schläfen hin verlängerten Augen und dem widerspenstigen Haar der Inbegriff einer mestive14. Wie sie so Hand in Hand dahingingen, wirkten sie brav und folgsam, doch der Anschein wurde durch ihre neugierig blitzenden Augen Lügen gestraft.

«He, Minette», rief plötzlich eine dicke, farbige Frau, die einen schweren Korb mit Vorräten in der Hand hielt, auf Kreolisch, «wo willst du denn mit deiner kleinen Schwester hin? Sieh zu, dass du nach Hause kommst, sonst macht sich deine Mutter noch Sorgen …»

Kaum hatte sie den Satz beendet, da rannte Minette auch schon los und zog ihre Schwester hinter sich her. Achtlos liefen sie an den Läden und den Zeltbuden der erst kürzlich aus Frankreich eingetroffenen Akrobaten vorbei und erreichten keuchend die Ecke der Rue Traversière. Eine Hand aufs Herz gedrückt, sahen sie einander lachend an. Die Straßenkrämerinnen hatten ihre Waren vor die Tür gestellt und bemühten sich, durch lautes Rufen die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen. Mühsam bahnten sich die beiden einen Weg durch das lärmende Gewühl, bis sie bei einem bescheidenen Häuschen anlangten, dessen schmale hölzerne Balken weiß gekalkt waren.

«Minette, Lise, wo seid ihr gewesen?»

Eine fünfunddreißig bis vierzig Jahre alte Mulattin, deren mageren, müden Zügen noch ein Rest der früheren Schönheit anhaftete, erhob sich von einem kleinen Schemel vor ihrer Haustür und kam den beiden Mädchen entgegen.

«Los, antwortet. Wo wart ihr, so schmutzig, so nachlässig angezogen und dazu noch barfuß?»

Ihr Gang hatte etwas Schwerfälliges, als sei sie müde. Alles an ihr wirkte erloschen: ihr Blick, ihre Stimme, sogar ihr Lächeln. Minette ließ die Hand ihrer Schwester los, rannte zur Mutter und schlang die Arme um deren Taille.

«Wir wollten den ‹General›15 sehen, der gerade angekommen ist. Oh, Maman, es war so wunderschön! Wir haben elegante Damen und Herren gesehen und singende Matrosen …»

«In diesem Aufzug?», fiel die Mutter ihr ins Wort. «Ihr könnt von Glück reden, dass euch niemand für zwei entlaufene Sklavinnen gehalten hat!»

«Uns, Maman? Oh, nicht doch …», entgegnete Minette so selbstgewiss, dass ihre Mutter lächelte.

Sie führte sie ins Haus und stellte ihnen unter sanftem Geplauder Reis und rote Erbsen hin, die sie zum Mittagessen für sie aufbewahrt hatte.

«Euer Essen ist kalt geworden, das geschieht euch recht», sagte sie und ging wieder hinaus auf die Straße.

Die beiden Mädchen aßen mit herzhaftem Appetit, spülten ihre Teller und Becher ab und setzten sich dann zu ihrer Mutter zwischen die bunten Kopftücher, den schlichten Schmuck, die Seifenstücke und das billige Parfüm.

«Hallo, m’sieur, hallo, m’dame, hübsche Tücher, duftende Seifen, schauen Sie her, schauen Sie her …», stimmten sie in die Rufe der übrigen Krämerinnen ein.

Aus dieser Straße stammten ihre frühesten Erinnerungen. Hier in der Rue Traversière hatten sie ihre ersten Bekanntschaften geschlossen. Alle, die sie kannten, verkauften billigen Tand wie ihre Mutter. Was sie um sich herum sahen, gab ihnen keinerlei Anlass zur Sorge. Mit ihren ersten Blicken hatten sie gelernt, die farbigen Kinder von den weißen zu unterscheiden, die reichen weißen Kolonisten von den armen Weißen und die Sklaven von den affranchis, zu denen auch sie gehörten. Seit ihren ersten Schritten hatten sie gewusst, dass es Orte gab, die sie niemals würden betreten dürfen; in der Kirche hatten sie Plätze für die Weißen gesehen und andere für die Schwarzen. Nicht ohne Neid hatten sie wahrgenommen, dass die Kinder der Weißen zur Schule gingen, während sie selbst nur im Verborgenen lesen lernen durften. Die Mutter war ihre erste Lehrerin gewesen und hatte ihnen abends, im Schein der kleinen Lampe, deren schwaches Licht auf die Fibel fiel, die Buchstaben des Alphabets beigebracht. Damit endete ihr Wissen, und das bekümmerte sie, denn sie hegte für ihre Töchter ehrgeizigere Träume. Da sie nicht genug Geld hatte, um einen weißen poban16 zu bezahlen, der bereit gewesen wäre, sie auf eigenes Risiko heimlich zu unterrichten, suchte sie geduldig unter den affranchis nach einem Lehrer, der weniger verlangte.

Bis es so weit war, wuchsen Minette und Lise wie all die anderen Kinder in ihrem Viertel ohne Bildung auf. Es gab unter ihnen eine hübsche Mulattin von vierzehn Jahren, die alle nur «das verrückte Ding» nannten, weil sie närrisch war: Sie ließ sich auf offener Straße von den Jungen küssen. Doch Nicolette, das rief Jasmine ihren Töchtern oft in Erinnerung, hatte weder Vater noch Mutter, die auf sie aufpassten. «Ach, das a’me Waisenkind», riefen die Frauen der Nachbarschaft in ihrem schleppenden Kreolisch, «de’ ist nicht meh’ zu helfen …» Es gab auch einen kleinen mestif17 mit lockigem Haar und schön gezeichneten Lippen, dem eine weiße Dame namens Madame Guiole den Spitznamen Pitchoun18 gegeben hatte. Einen anderen Namen hätte man für ihn auch nicht gewusst, denn obwohl sein Vater mit seiner Mutter, der Mulattin Ursule, in wilder Ehe lebte, hatte er sich geweigert, den Jungen anzuerkennen, da er seine Haut zu dunkel fand. Pitchoun liebte es, die Soldaten vorbeimarschieren zu sehen, und er träumte davon, später selbst einer von ihnen zu werden. Er bewunderte ihre Uniformen, aus blauem Nankingstoff19 für die affranchis und aus weiß-rotem Stoff für die Weißen. Er bastelte Säbel aus Karton oder Holz und sang Kriegsmärsche, die ihm sein Lehrer beibrachte. Denn als privilegierter affranchi hatte er einen weißen Lehrer und lernte bei Madame Guiole das Handwerk eines Goldschmieds. Obwohl Monsieur Sabès keinerlei Zuneigung für seinen Sohn empfand, hatte er sich Ursules Flehen gebeugt. Dabei war sie so sanftmütig und ängstlich, dass sie nicht einmal zu protestieren wagte, wenn Monsieur Sabès das Kind grundlos schlug und es dabei als kleinen Neger beschimpfte. Mutter und Sohn vergötterten einander. Das war ihr einziger Trost. Manchmal, wenn Pitchoun seine Mutter weinen sah, lief er davon und suchte Zuflucht in dem kleinen Häuschen in der Rue Traversière, wo Minette und Lise ihn freudig wie einen Bruder aufnahmen. Sein größtes Vergnügen war es, sie singen zu hören. Wenn sie sich bitten ließen, zauberte er als geübter Charmeur Bonbons aus seinen Taschen hervor oder schmeichelte ihnen auf tausenderlei andere Weisen.

«Kommt schon, singt etwas für mich, und wenn ich groß bin, heirate ich eine von euch.»

«Du bist zu jung», entgegnete Minette verächtlich, «wenn wir irgendwann junge Mädchen sind, bist du immer noch ein kleiner Knirps.»

Dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, um seine ansehnliche Gestalt zur Geltung zu bringen, warf sich in die Brust, zückte seinen Kartonsäbel und begann aus voller Kehle Kriegsgesänge zu schmettern …

Als man den neuen Gouverneur an jenem Tag in seinen Palast gebracht hatte und sich das Gedränge in den Straßen auflöste, zog es die Menschen in die Schenken und Gasthäuser. Die Glocken und Kanonen waren verstummt. Man hörte nur noch die Peitschen der Kutscher knallen und die Pferdehufe auf dem Boden klappern. Dichte Staubwolken wirbelten auf und hüllten die Fußgänger ein, die sicherheitshalber zur Seite wichen und zusahen, wie die prächtigen Karossen vorbeifuhren. Da es den Farbigen verboten war, durch die Königlichen Gärten und Prachtstraßen zu gehen, wandten sie sich den schmalen Gassen zu, in denen einfachere, weiß gekalkte Gebäude standen. Pitchoun kehrte in Begleitung einiger Freunde von den Feierlichkeiten in die Rue Traversière zurück. Sie boten einen spektakulären Anblick, wie sie mit dem Säbel über der Schulter und Märsche singend die Straße auf und ab paradierten. Als sie ihr Repertoire erschöpft hatten, scharten sie sich unter dem fröhlichen Beifall der Krämerinnen um Jasmines Auslage.

«Singt etwas für uns, meine Goldkehlchen», bat Pitchoun Jasmines Töchter in schmeichelndem Ton.

«Wir sind müde. Los, verschwindet», wehrte Minette ihn ab.

Pitchoun zog eine Zuckerstange aus der Tasche und hielt sie ihnen vor die Nase. Lachend griff Minette danach.

«Ein Lied, ein Lied …»

Rasch sammelte sich eine Menschentraube um sie. Ein paar der Krämerinnen verließen ihren Stand und kamen näher.

«Jasmines Mädchen singen …»

Minette hob die Hand, um den Takt zu schlagen und ihrer Schwester den Einsatz zu geben. Gleich darauf erklangen ihre erstaunlich vollen, klaren Stimmen. Sie sangen eine der zahllosen französischen Balladen, die die Matrosen aus dem Mutterland nach Saint-Domingue brachten, wenn Hunderte von Schiffen, die im Lauf eines Jahres in den Häfen anlegten, sie zusammen mit einem nie versiegenden Strom von Waren auf die Insel spülten.

«Mein Gott, wie schön sie singen», rief eine alte, ärmliche Weiße in zerschlissenen Kleidern, das Gesicht gepudert wie ein Pierrot. «Das sind ja wahre Wunderkinder …»

Sie spitzte die Lippen, streckte eine Hand aus und hob den verkrümmten Zeigefinger.

«Ich weiß, wovon ich rede, ich war Sängerin am Königlichen Theater.» Dann beugte sie sich zu Jasmine vor. «Ich sage dir, mein Kind, du kannst stolz auf sie sein …»

Ohne zu lächeln, betrachtete die Mutter ihre Töchter. Ja, sie hatten Talent, aber was nützte das schon? Der Blick ihrer starren, weit geöffneten Augen schien die beiden zu durchbohren. Alles um sie herum war verschwunden. Unversehens war sie in die Vergangenheit zurückgekehrt. Das passierte ihr oft in letzter Zeit. Wie an einer Leine führte eine Art krankhafte Obsession ihre Gedanken immer wieder zurück zu ihren schlimmsten Erinnerungen. Dann sah sie das Herrenhaus ihrer Kindheit vor sich, den Markt, auf dem sie verkauft worden war, das rot glühende Eisen, das ihre rechte Brust zeichnete, die Peitschenhiebe, die sie erhielt, nachdem man sie dabei erwischte hatte, wie sie von einem alten Sklaven das Lesen lernte, den Blick des Herrn an jenem Abend, als er sie begehrte, den Hass ihrer Herrin und die zahllosen Züchtigungen, die ihr das eintrug … Ohne sich etwas anmerken zu lassen, erschauerte sie, dann dachte sie zurück an die Geburt der Mädchen und schließlich an jenes Testament, das nach dem Tod des Herrn eine affranchie aus ihr gemacht hatte …

Als Minette den starren, schmerzerfüllten Blick der Mutter bemerkte, verstummte sie abrupt, stieß einen leisen Schrei aus, rannte zu ihr und vergrub das Gesicht in den Falten ihres Caraco20. Mit ihren zwölf Jahren hatte sie viele Dinge bereits verstanden. Sie nahm sie als unausweichliches Schicksal hin, und doch stellte sie sich Fragen. Warum? Warum waren die Dinge so und nicht anders? Warum gab es Reiche und Arme? Warum wurden die Sklaven geschlagen? Warum gab es gute und schlechte Herren, gute und schlechte Priester? Warum lehrte der Katechismus das eine und taten die Priester das andere? Sie sagten: Wir sind alle Brüder, und trotzdem kauften sie Sklaven, manchmal schlugen sie sie oder quälten sie zu Tode. Warum durfte sie nur heimlich lesen lernen? Warum hatte Rosélia, die Krämerin aus der Nachbarschaft, ihre Freiheit verloren, weil sie einen entlaufenen Sklaven versteckt hatte? Und vor allem: Warum hatte sie diesen Sklaven, den sie nicht einmal kannte, bei sich versteckt, obwohl sie um die möglichen Folgen wusste? Sie hatte den Eindruck, dass ihre Mutter nur widerstrebend antwortete, wenn sie ihr diese verstörenden Fragen stellte. Ganz allein hatte sie herausgefunden, dass Geld einem alles schenken konnte: schöne Kleider, Plantagen, Sklaven und prächtige Kutschen. Als wahre affranchie dankte sie Gott dafür, dass sie nicht als Sklavin zur Welt gekommen war, sprach, dem Rat ihrer Mutter folgend, Französisch, was ein Beweis für eine kultivierte Erziehung war, und betrachtete die Sklaven, obwohl sie sie um ihr Los bedauerte, als eine minderwertige, erbarmungswürdige Klasse. Unbewusst lehnte sich ihre empfindsame Natur gegen die Ungerechtigkeit ihres Schicksals auf, aber noch war sie in einem Alter, in dem man Auflehnung leicht mit Mitleid verwechselt. So spürte sie instinktiv, dass die Hand ihrer Mutter nicht ohne Grund in der ihren zitterte, wenn an Markttagen die Sklaven verkauft wurden. Doch sie ahnte nichts von ihrer entsetzlichen Vergangenheit.

II

Ein paar Tage nach der Ankunft des neuen Gouverneurs klopfte es an der Tür des kleinen Häuschens in der Rue Traversière. Minette beeilte sich zu öffnen und sah sich einem jungen Mann von achtzehn Jahren mit dunkler Haut und krausem Haar gegenüber. Er war von zarter Statur, und obwohl sein Gesicht nicht schön war, verlieh sein ungewöhnlich offener, sanftmütiger Blick den Zügen einen Ausdruck lächelnder Güte, der einen sofort für ihn einnahm.

«Ist deine Mutter da?», fragte er das Mädchen, während er respektvoll den Strohhut abnahm. «Mein Name ist Joseph Ogé.»

Dann beugte er sich zu ihrem Ohr hinab und flüsterte: «Ich bin hier, um euch zu unterrichten. Ich verlange nichts dafür. Deine Mutter soll mir zahlen, was sie kann.»

Er sprach ein makelloses Französisch mit dem leicht schleppenden Akzent der Kreolen. Minette verschwand, um ihrer Mutter Bescheid zu sagen. Sofort eilte Jasmine herbei. Sie musterte Joseph Ogé lange, dann beugte sie sich ebenfalls vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

«Ich vertraue dir, Schulmeister», sagte sie schließlich laut.

Er brach in ein offenes, jungenhaftes Lachen aus.

«Das ist die schönste Art, uns zu verraten. Nenn mich einfach Joseph. Leute unseres Standes tragen keine Titel.»

«Gut, Joseph.»

Der Unterricht begann, und schon bald konnten die Mädchen fehlerfrei lesen. Dann brachte er ihnen Geschichtsbücher mit. An seiner Seite betraten sie eine neue Welt. Er erzählte ihnen vom König von Frankreich, von der Königin, von ihren Kindern und von ihren Vorgängern. Er versprach ihnen, sie später auch die Werke von Racine, Corneille, Molière und Jean-Jacques Rousseau lesen zu lassen.21 Lise gähnte, doch Minette hörte ihm mit leuchtenden Augen aufmerksam zu.

Bald war Joseph nicht mehr ihr Lehrer, sondern ein Freund, den sie nicht mehr missen wollten, und Jasmine selbst begann ihn zu lieben wie einen Sohn.

Als hungerte er nach dieser Vertrautheit, verlor auch er mit jedem Tag ein wenig mehr von seiner Zurückhaltung. Er erzählte ihnen, dass er allein in einem Zimmer lebte, das er von einem freien Mulatten gemietet hatte, einem raffgierigen Geizhals ohne Herz und Gefühl …

Eines Abends traf er schweißüberströmt bei ihnen ein, als sei er lange gerannt. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, lehnte er sich eine Weile dagegen, ohne ein Wort zu sagen, und rang nach Atem. Jasmine und ihre Töchter führten ihn zu einem Stuhl und setzten ihm einen Rest Konfitüre vor, den sie für ihn aufgehoben hatten.

Doch er brachte keinen Bissen hinunter und schob den Teller von sich.

Minette brach als Erste sein verstörendes Schweigen.

«Joseph», fragte sie ihn, «wieso bist du gerannt?»

Er stand auf, und Jasmine war nicht überrascht, die Auflehnung in seiner Stimme zu hören, als er antwortete: «Ich musste wie ein Dieb vor den Gendarmen fliehen …»

«Fliehen, aber wieso denn?»

«Sie haben mich dabei erwischt, wie ich jungen Sklaven das Lesen beibrachte.»

Mit geballten Fäusten ging er im Zimmer auf und ab, Tränen standen ihm in den Augen.

«Sie verkleiden unsere eigenen Brüder als Gendarmen und lassen sie Jagd auf uns machen. Sie versprechen ihnen Belohnungen, befördern sie und machen sie zu Mördern …»22

«Wieso?», fragte Minette und stellte sich ihm in den Weg. «Wieso, Joseph, ich will das verstehen.»

«Die Wahrheit», antwortete er mit dumpfer Stimme, «ist dies: Sie fürchten sich davor, dass wir etwas lernen, denn Bildung treibt die Menschen zum Aufstand. Unwissenheit erzeugt Resignation.»

Ohne Minette anzusehen, setzte er sich hin, legte die Stirn in seine Hände und fuhr fort: «Genau wie du und Lise habe ich heimlich lesen gelernt. Als meine Mutter starb, blieb ich ganz allein zurück. Eines Tages habe ich auf dem Markt Obst gestohlen, weil ich Hunger hatte. Die Polizei wurde gerufen und verfolgte mich bis zu dem Haus, wo man mich versteckte. Dieses Haus gehörte einem freien Mulatten namens Labadie, der Sklaven und Plantagen besitzt.23 Er gab mir Kleidung und beschützte mich. Bei ihm bin ich aufgewachsen. Nachdem er mir lesen und schreiben beigebracht hatte, versprach er mir, mich nach Frankreich zu schicken, damit ich dort einen Beruf erlernen könne. Ich sollte bei meinem Halbbruder Vincent wohnen, der seit vielen Jahren dort studiert, aber kürzlich wurde ein Gesetz erlassen, das es farbigen Menschen verbietet, das Mutterland zu betreten.»24

«Warum kommt dein Bruder denn nicht zurück?»

«Zurückkommen? Wozu?», entgegnete er in dem gleichen dumpfen Tonfall. «Hier ist uns alles verboten, alles bleibt uns verschlossen. Wir dürfen nicht einmal den Beruf erlernen, der uns gefällt.»

Beinahe schüchtern senkte er den Kopf.

«Ich wäre so gern ein …»

Er verstummte, lächelte traurig und fuhr sich in einer ihm typischen Geste mit einer Hand über die Brust.

«Lassen wir das.»

Dann besann er sich, beugte sich zu Jasmine vor und sah ihr in die Augen.

«Hast du schon einmal vom Code noir25 gehört?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Nun», fuhr er fort, «dieser Gesetzestext wurde vor fast hundert Jahren erlassen, um unsere politischen Rechte festzuschreiben. In Artikel 59 steht, dass wir affranchis die gleichen Rechte und Privilegien genießen wie Menschen, die frei geboren wurden.»

«Die Weißen haben ihre Versprechen nicht gehalten?»

«Labadie denkt, sie verübeln uns, dass wir Wert auf Bildung legen, Ländereien besitzen und vor allem dass es zu viele von uns gibt.»

«Haben sie womöglich Angst vor uns, Joseph, haben sie Angst?», wollte Jasmine wissen, und in ihrer Stimme lag so viel Leidenschaft, dass Minette sich eine Sekunde lang fragte, ob es tatsächlich ihre Mutter war, die gesprochen hatte.

Joseph antwortete nicht, doch er musterte Jasmine so eindringlich, dass sie erschauerte. Was hatte dieser Blick zu bedeuten? Wollte er sie an die entlaufenen Sklaven erinnern, die sich in den Bergen versteckten, an die beunruhigenden Botschaften ihrer Trommeln und Lambis26? Doch was hatten jene Unglücklichen mit den affranchis gemein, zu denen sie jetzt gehörte? Hatte sie ihr früheres Leben nicht sorgsam vor ihrem Umfeld geheim gehalten? Für alle, wie für sie selbst, war diese Vergangenheit tot, endgültig tot. «Sklaventochter», das Wort war eine Beleidigung. War es nicht besser, friedlich und mehr oder weniger respektiert zu leben, indem sie alle glauben ließ, sie und ihre Töchter seien in Freiheit geboren? Auf dem Grunde ihres Herzens verbarg sie ein grenzenloses Mitleid mit ihren einstigen Gefährten. Doch was konnte ihr Mitleid schon ausrichten? Und was ihr Bekenntnis zur Wahrheit? Wenn sie das Glück gehabt hatte, freigelassen zu werden, wenn die Dinge so waren, wie sie waren, wenn es nun einmal Kolonisten, freie Farbige und Sklaven geben musste, dann blieb ihr doch gar nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu ergeben.

Sich in ihr Schicksal zu ergeben! Unversehens hatte Joseph diese Gewissheit erschüttert. Sein Blick, als sie, Jasmine, es gewagt hatte, von der Angst der Weißen zu sprechen! Dieser arroganten Weißen, die nachts vor Angst zittern mussten, wenn sie den schroffen, furchteinflößenden Rufen der Lambimuscheln lauschten. Wie oft hatte sie ihnen nicht selbst gelauscht und sich überrascht gefragt, wieso sie so laut klangen und ob die anderen sie ebenfalls hörten.

Sie hatte Makandal27 und seine blutigen Aufstände nicht vergessen. Wer hätte ihn vergessen können? Sie hatten ihn getötet, das wohl. Aber wenn ein Anführer stirbt, hinterlässt er nach seinem Tod ein Vorbild … Ja, das war es, was Josephs Blick ihr hatte sagen wollen. Ja, die Sklaven waren sehr viel weniger schicksalsergeben, als man glaubte, und die Weißen irrten, wenn sie sie für harmlose Arbeitstiere hielten. Durften sie also hoffen, gütiger Herr im Himmel … dass irgendwann … Nein, das war nicht möglich. Joseph war noch ein Kind, sonst würde er so etwas nicht denken.

«Hat man je Herren gesehen, die ihre Hunde fürchten?», sagte sie und schüttelte traurig den Kopf.

«Ja, wenn sie tollwütig werden», entgegnete Joseph unerbittlich.

Und bei diesen Worten richtete sich sein durchdringender Blick erneut mit der gleichen forschenden Intensität auf Jasmines Augen.

Da begriff sie, dass er nicht zu ihr, Jasmine, der affranchie, sprach, sondern zu der einstigen Sklavin, die gekauft, geschlagen, gedemütigt worden war, zu der einstigen Sklavin, die sie, in ihrer ständigen Angst und ihrer jämmerlichen Schicksalsergebenheit, niemals aufgehört hatte zu sein.

«Du hast es gewusst …?», fragte sie leise.

Überrascht spürte sie, wie ein wohltuender Frieden sie erfasste.

«Man fühlt sich besser, wenn man denen, die man liebt, nichts mehr verheimlichen muss», fügte sie hinzu, und das Lächeln, das über ihre Lippen huschte, war so traurig, dass Joseph ergriffen den Kopf senkte.

Lise hüstelte unangenehm berührt und erklärte, dieses Gespräch sei unverständlich und wenig erfreulich. Joseph sah sie an: Sie wirkte gelangweilt und distanziert, als sei alles, was gesagt worden war, von ihren Ohren in ihr Herz gelangt, ohne dort die geringsten Spuren zu hinterlassen. Minette hingegen senkte besorgt den Kopf und blickte nachdenklich vor sich hin …

… Zum Glück war die Stimmung nicht an allen Abenden so traurig. Im Gegenteil, jener Moment, als Joseph sich dazu hinreißen ließ, seine Auflehnung zu zeigen, war der letzte seiner Art. Normalerweise griff Jasmine nach dem Unterricht oder einer gemeinsamen Lektüre zu einer Handarbeit, die Mädchen sangen und Joseph hörte ihnen, glücklich und entspannt, mit einem Lächeln auf den Lippen zu. Manchmal kamen auch Freunde aus der Nachbarschaft, die nach ihren Lieblingsliedern verlangten, und ohne sich lange bitten zu lassen, bezauberten die jungen Mädchen ihr Publikum. Jasmine empfand Stolz. Sie, die erniedrigte, geschlagene ehemalige Sklavin, richtete sich auf, vergaß die Vergangenheit und blickte der Zukunft mit einem Lächeln entgegen. Doch dieser flüchtige Zauber hielt nur so lange an, wie ihre Töchter sangen. Sobald das Haus wieder leer war, die Kinder im Bett lagen, erfasste sie aufs Neue die Angst vor dem, was kommen mochte, und sie zitterte um ihre Kleinen. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie diese Angst schon in frühester Kindheit kennengelernt. Sie hatte Angst vor ihrem Vater, dem weißen Plantagenbesitzer, sie hatte beim Tod ihrer Mutter Angst, sie hatte auf dem Markt Angst, wo sie verkauft worden war, und Angst vor ihrem neuen Herrn, dem Vater ihrer Kinder. Ihr Leben lang hatte sie gezittert. Wer weiß, vielleicht war sie im Grunde dazu geboren, eine verheiratete Frau zu sein, eine Frau, die beschützt wurde, die einen Namen trug und deren Kinder sich an ihre Röcke hängten. Das Leben hatte sich in ihrem Schicksal geirrt und ihren ganzen Mut ausgelöscht, indem es sie zwang, jenes unerwünschte Los zu akzeptieren. Andere – denn solche Menschen hatte sie gekannt – waren eher zu Kampf und Rache geboren als sie. Sie hatte sich ihr Leben lang danach gesehnt, beschützt zu werden, und durch den Kontakt mit der entsetzlichen Realität hatte sich ihre verschreckte Seele so stark zusammengezogen, dass sie daran beinahe zugrunde gegangen wäre. Ihre Töchter waren das Einzige, was für sie auf Erden wirklich von Bedeutung war. Und dieser Junge, dieser Joseph, der sie unterrichtet, der sie geformt hatte, wie sollte sie ihn nicht lieben? Er war mit einer solchen Großzügigkeit in ihr Leben getreten, dass sein Lohn allein in der Zuneigung bestehen konnte, die sie ihm schenkte. Seine Augen erinnerten sie an die eines Mannes, den sie vor langer Zeit gekannt hatte und an dessen Namen und Gesicht sie sich nicht mehr erinnern konnte. Er war wie eine schemenhafte Erinnerung, die gelegentlich aus der Vergangenheit auftauchte und gleich wieder darin versank. Nur manchmal, wenn sie ihn betrachtete, sagte sie sich: Dieser Junge hat die Augen von jemandem, den ich kenne, aber von wem? Und irgendwie schien ihr, als liebte sie ihn vor allem deswegen so sehr.

III

Oft, wenn Minette und Lise zwischen den Kramwaren saßen und sangen, wurde das Fenster des Nachbarhauses aufgerissen und ein blonder Kopf beugte sich, überrascht und entzückt, heraus. Überrascht, ja, denn wie kamen diese beiden kleinen, mittellosen affranchies bloß zu solchen Stimmen? Und entzückt, denn diese Weiße war eine Künstlerin bis ins Mark … Ihr Name war Madame Acquaire. An dem bescheidenen Haus, in dem sie ein Zimmer gemietet hatte, verkündete ein Aushang: «Hier werden Gesang, Diktion und Tanz unterrichtet». Sie war Schauspielerin am Theater von Port-au-Prince und lebte mit ihrem Mann zusammen, einem weißen Kreolen wie sie selbst. Acquaire, der Sohn eines Perückenmachers, war Tänzer und Schauspieler und bis über beide Ohren verschuldet. An Tagen größter Bedrängnis, wenn er beim Spiel verloren hatte, was sie abends zuvor bei einer Benefizvorstellung28 zu seinen Gunsten eingenommen hatten, klopfte er an die Tür von François Mesplès29, einem steinreichen weißen Wucherer, der als herz- und skrupellos verrufen war …

«Hör doch, Scipion, die kleinen Nachtigallen der Rue Traversière singen wieder!»

An diesem Morgen trat ein riesiger schwarzer Sklave mit offenen, glücklichen Zügen zu ihr ans Fenster.30

«Ja, Herrin, das sind die kleinen Nachtigallen.»

Madame Acquaire lauschte noch einen Moment dem reinen Klang der jungen Stimmen, dann setzte sie sich, das Fenster immer noch weit geöffnet, ans Klavier.

«Das ist mein Lieblingsspiel, Scipion», sagte sie. «Ich singe etwas, und die Nachtigallen singen es mir nach.»

Sie stimmte eine Opernmelodie an, die sich gerade großer Beliebtheit erfreute. Dann hielt sie inne und spitzte die Ohren. Auch die Mädchen waren still. Madame Acquaire sang erneut ihr Lied, bevor sie wieder verstummte. Plötzlich antwortete ihr eine der Stimmen so wunderschön, dass sie begeistert vom Klavier aufstand und zu Scipion sagte: «Eines Tages lasse ich die beiden herkommen, hörst du?»

«Ja, Herrin», antwortete der Sklave lächelnd.

Er gehörte zu jenen seltenen Sklaven, die mit Menschlichkeit behandelt wurden, und aus diesem Grund war er seinen Herren bis in den Tod ergeben. Weil er, Scipion, nicht geschlagen wurde, weil man ihn wie ein menschliches Wesen behandelte, aber vor allem weil er sein Schicksal mit dem der anderen geschlagenen, gefolterten, zu Tode gequälten Sklaven vergleichen konnte, brachte er seinen Herren eine abgöttische Verehrung entgegen. Monsieur Acquaire hatte ihn eines Tages erworben, nachdem ihm das Glück beim Spiel hold gewesen war, und obwohl er seit jenem Tag schwor, mit dem Kauf des freundlichen Riesen, der ihm und seiner Frau als Domestik diente, bloß sein Geld verschwendet zu haben, war es ihm damit nicht ernst, denn im Grunde mochte er ihn gern. Scipion brachte ihn ins Bett, wenn er griesgrämig und schwankend von seinen Zechgelagen heimkehrte. Scipion strich ihm mit einer aufgeschnittenen Zitrone über die Lippen, benetzte seinen Kopf und hielt seine Eskapaden vor seiner Herrin geheim. Scipion kochte für sie, besorgte den Haushalt und lauerte an Tagen, an denen sie nichts zu essen hatten, Monsieur Mesplès auf der Straße auf, um ihm ein wenig Geld abzuschwatzen. Scipion war für sie genauso unentbehrlich geworden wie das Klavier. So wenig, wie sich die Acquaires ein Leben ohne Klavier vorstellen konnten, so wenig mochten sie auf Scipion verzichten. Madame Acquaire ließ sich sogar dazu hinreißen, ihm ihre Sorgen, ihre Hoffnungen und ihre Pläne anzuvertrauen.

Und so fühlte er sich dazu befähigt, seine Herrin auf jenes Thema anzusprechen, das ihm am Herzen lag. Ohne Schläge fürchten zu müssen, erzählte er ihr beharrlich immer wieder in schmeichelhaften Worten von den beiden kleinen Mädchen aus der Rue Traversière.

«Ich bitte dich, Herrin, lass sie hier singen.»

«Ich denke darüber nach, aber lieg mir nicht ständig damit in den Ohren …»

«Zeig ihnen das Klavier, Herrin, sie sind arm, und du bist so gut», ließ der tapfere Sklave nicht locker.

Madame Acquaire antwortete nicht, doch wenn sie nun an Jasmines Haus vorbeikam, gab sie stets vor, die ausgelegten Waren zu betrachten, um den beiden Schwestern mit mehr Muße zuhören zu können.

Eines Tages hielt sie es nicht mehr länger aus und ging zu früher Stunde hinaus. Die Straße lag verlassen da, die Krämerinnen hatten ihre Waren noch nicht nach draußen gebracht. Sie klopfte an Jasmines Tür, und da die beiden Schwestern noch schliefen, konnte sie ganz offen mit ihrer Mutter reden.

«Jasmine», sagte Madame Acquaire voller Vorfreude auf die Reaktion, die ihr Angebot auslösen würde, «willst du mir deine Töchter anvertrauen, damit ich ihnen Gesangsunterricht gebe?»

«Ihnen meine Töchter anvertrauen!»

Zitternd vor Glück wollte die Ärmste auf die Knie fallen und Madame Acquaire zum Dank den Rocksaum küssen. Doch der Kreolin genügte die Freude, die sie ihr bereitete, sie hielt sie zurück und erklärte in ihrer leicht theatralischen Art: «Ich will versuchen, mein Kind, und sei es nur in geringem Maße, jenes Böse wiedergutzumachen, das einige meinesgleichen anrichten.»

Dann forderte sie Jasmine auf, die Mädchen jeden Morgen von acht bis zehn Uhr zu ihr zu schicken.

Nachdem dies abgemacht war, kehrte Madame Acquaire nach Hause zurück, um Scipion die gute Nachricht zu verkünden. Glücklich versprach der Sklave seiner Herrin, dass der liebe Gott ihr das Gute, das sie damit tue, hundertfach vergelten werde und ihr von nun an ein Platz im Himmel sicher sei. Skeptisch, was jenseitige Belohnungen anging, lächelte Madame Acquaire, öffnete ihr Klavier, spielte eine Melodie und sang dazu. Sie war eine Frau von etwa dreißig, fünfunddreißig Jahren, nicht sonderlich schön, aber zierlich und lebhaft wie ein Vogel. Durch das regelmäßige Tanzen hatte sie sich einen geschmeidigen, makellosen Körper bewahrt. Sie verfügte über die gleiche Künstlernatur wie ihr Mann, und das Leben bestand für sie aus Glücksfällen und Widrigkeiten, die sie allesamt frohen Herzens hinnahm. Ihre Eltern waren reiche Pflanzer in Saint-Domingue gewesen, jedoch nach einem Brand, der ihr Herrenhaus und die Plantage verwüstet hatte, in Armut gestorben. Im Alter von fünfzehn Jahren, noch vor dem Tod ihrer Eltern, war sie nach Frankreich gereist, wo sie Gesang, Diktion und Tanz erlernte. Als sie mit zwanzig Jahren zurückkehrte, war sie eine gute Partie, und der Graf von Chastel, Besitzer einer Plantage mitsamt Sklaven, hatte um ihre Hand angehalten, die man ihm eilends gewährte. Die Hochzeit sollte zwei Monate später stattfinden, doch eines Abends zerstörte ein Feuer den gesamten Besitz der Eltern der jungen Kreolin. Man machte einen Sklaven, der tags zuvor gezüchtigt worden war, für die Katastrophe verantwortlich, aber als man ihn bestrafen wollte, war er verschwunden. Sobald der Graf von Chastel vom Ruin seiner Verlobten erfuhr, schob er dringende Geschäfte vor, die seine sofortige Abreise nach Frankreich erforderten. Erst zwei Jahre später kehrte er zurück, standesgemäß verheiratet mit einer Weißen aus dem Mutterland. Die junge Kreolin wusste ihre Enttäuschung zu verbergen und willigte ein, Monsieur Acquaire zu heiraten, einen Kreolen wie sie selbst, dessen Vater Perücken fertigte und über keinerlei Vermögen verfügte. Aus ihrem plötzlichen Ruin und der anschließenden Enttäuschung folgerte sie, dass der Graf, wie alle Männer aus angesehener Familie, die sich auf der Insel niedergelassen hatten, sie nur wegen ihres Vermögens hatte heiraten wollen und dass das Feuer, das man einem Sklaven zur Last legte, allein durch die schlechte Behandlung heraufbeschworen worden war, die man diesen gelegentlich angedeihen ließ. Schon in sehr jungen Jahren hatte sie grausamste Bestrafungen mit angesehen, die von Kolonisten angeordnet wurden, Freunden ihres Vaters oder auch ihrem Vater selbst, der keine Gelegenheit ausließ, zu behaupten, «diese Art» verlange eine harte Hand.

Sie hatte erlebt, wie eine ganze Familie durch Gift umgekommen war. Nicht ein einziger Sklave auf jener Plantage war bereit gewesen, den Schuldigen zu verraten. Um ein Exempel zu statuieren, hatte man drei von ihnen zu Tode gefoltert, und sie waren unter entsetzlichen Schmerzensschreien gestorben, aber ihr Geheimnis hatten sie gewahrt. Das hatte das junge Mädchen zum Nachdenken gebracht. Solche Akte der Missbilligung und der Rebellion, ausgeführt von Unglücklichen, die von allen nur als Tiere betrachtet wurden, bewogen sie zu dem Schluss, dass die Sklaven vielleicht doch nicht so dumm waren, dass sie in Wahrheit ihren Zorn verbargen, ihr Schicksal nur zum Schein akzeptierten und sich zum Ausgleich an ihren Herren rächten, so gut sie es vermochten. Sie bedauerte nichts von dem, was geschehen war, denn Monsieur Acquaire machte sie nicht unglücklich. Sie teilten dieselben Interessen.

Monsieur Acquaire liebte den Tanz und die Kunst, er war im gleichen Alter wie seine Frau, wie sie nicht mit großer Schönheit gesegnet, aber dafür gut gebaut, und er schwor, dass er nur im Theater Erfolg haben könne, denn er sei zum Künstler geboren und daher von Natur aus ein Gegner von Handel und Politik. Als die alte Scheune, die seit 1762 in Port-au-Prince als Theater gedient hatte, acht Jahre später durch ein Erdbeben zerstört wurde,31 ersetzte man sie durch einen eleganten Saal mit siebenhundertfünfzig Plätzen, der den Namen Schauspielhaus auch tatsächlich verdiente. Damals lernten die Acquaires François Mesplès kennen, den Konzessionär des neuen Schauspielhauses, der sich trotz seines Geizes murrend bereit erklärte, ihnen gegen Zinsen ein paar Livres32 vorzustrecken, wenn das Geld wieder einmal knapp wurde. Bald erkannten François Saint-Martin, der Direktor des Theaters, und François Mesplès, der Konzessionär, dass die Acquaires dank ihrer Begeisterung, ihres Einfallsreichtums und ihrer aufrichtigen Liebe zur Kunst für den Betrieb und den Erfolg des Schauspielhauses unentbehrlich geworden waren. Was den beiden das großzügige Wohlwollen des jungen Direktors und die freilich ordinäre Nachsicht des Konzessionärs einbrachte.

Während Madame Acquaire noch sang, wurde die Tür geöffnet, und auf der Schwelle erschien ihr Mann. Sobald Scipion seinen Herrn erblickte, beeilte er sich, ihm einen Zitronenpunsch zu servieren, den dieser so gern mochte, und ihm aus dem Leinenrock zu helfen.

«Ich komme gerade aus dem Schauspielhaus», sagte Monsieur Acquaire, nachdem er es sich in einem alten, halb durchgesessenen Sessel gemütlich gemacht hatte. «Ich habe Mesplès getroffen. Er hat uns ein paar Livres vorgestreckt.»

Madame Acquaire schlug ein paar Akkorde an und sang: «Triumph, wie schön ist das Leben …»

Dann hielt sie abrupt inne und drehte sich zu ihrem Mann um.

«Weißt du, wen ich bald unterrichten werde? Rate … Jasmines Töchter.»

«Die kleinen Nachtigallen aus der Nachbarschaft?», fragte Monsieur Acquaire und kniff hektisch das rechte Auge zusammen.

Er litt an einem Tick.

«Genau.»

«Und sie bezahlt dich dafür?»

«Nein, nicht einen Sol33.»

«Wieso tust du es dann?»

«Es macht mir Spaß.»

«Du spielst die Wohltäterin, dabei lebst du hier in einer Bruchbude. Oh, diese Kreolinnen, sie sind ja so spendabel.»

«Schließe nicht von einer auf alle. Ich kenne so einige vom gleichen Schlag wie Mesplès.»

Monsieur Acquaire zog die Schuhe aus, dehnte seine Füße zu einem perfekten Bogen und streckte sich.

«Ich bin zu lange hinter Mesplès hergerannt. Mir tun die Muskeln weh», sagte er, und sein Auge zuckte noch stärker als zuvor.

Madame Acquaire schien nachzudenken. Plötzlich sah sie ihren Mann an.

«Diese Kleinen von nebenan haben außergewöhnliche Stimmen», sagte sie. «Vor allem eine von ihnen. Ich weiß noch nicht, ob es die Ältere ist oder die Jüngere, aber dieses Kind singt die Opernarien, die es aus meinem Fenster hört, mit einer erstaunlichen Kunstfertigkeit nach.»

«Ja», stimmte Monsieur Acquaire ihr zu, wenn auch weniger enthusiastisch als seine Frau, «sie haben hübsche Stimmen.»

«Hübsche Stimmen nennst du das?», rief Madame Acquaire. «Ich will ganz ehrlich zu dir sein. Wenn diese Kleine, die mir neulich Morgen die schwierige Melodie aus den Drei Sultaninnen34 nachgesungen hat, an ihrer Stimme arbeitet, wird aus ihr eine herausragende Sängerin.»

«Welch überschwängliche Begeisterung! Aber was soll ihr das bringen? Mit diesem neuen Gesetz, das kürzlich gegen die Farbigen erlassen wurde, kann sie nicht einmal nach Frankreich reisen.»

«Das ist ungerecht und widerlich.»

«Lass uns keine Politik machen, mein Kätzchen. Wir sind Schauspieler, vergiss das nicht.»

«Ich vergesse gar nichts, trotzdem finde ich das Ganze … widerlich. Und hindere mich nicht daran, es wenigstens dir zu sagen, sonst ersticke ich.»

Monsieur Acquaire gähnte, ließ erneut die Muskeln an seinen Füßen spielen, und streckte sich so bequem aus, wie es in dem durchlöcherten Sessel möglich war.

Am nächsten Morgen zog Jasmine ihren Töchtern die kurzen Baumwollkleider an, die sie tags zuvor gestärkt und mit Frangipani-Blüten in eine Schublade gelegt hatte, damit sie deren Duft annahmen. Dann gab sie ihnen ihre Sandalen, die sie mit Ruß eingerieben hatte, und sagte, dass sie in der Sonne wie Spiegel glänzen würden.

«Seid ja artig», schärfte sie ihnen ein, «sprecht Französisch und benehmt euch kultiviert, um eurer Maman Ehre zu machen.»

Scipion öffnete ihnen die Tür. Er lächelte sie an, nahm sie bei der Hand und führte sie zum Klavier. Bis zu diesem Tag hatten sie noch nie ein Klavier gesehen. Sie umrundeten es und bückten sich, um die Pedale zu betrachten. Der Deckel war aufgeklappt. Schüchtern legte Minette einen Finger auf eine Taste, und ein Ton erklang. Sie zuckten zusammen, und Lise schrie leise auf.

«Habt keine Angst», hörten sie Madame Acquaires Stimme. «Ich bin ganz in eurer Nähe, hier, hinter dem Paravent. Ich kleide mich nur noch fertig an. Na los, Minette, drück noch eine Taste und sing den Ton nach.»

Mit nunmehr sichererem Finger tippte Minette aufs Geratewohl ein E an. Dann öffnete sie den Mund, und der klare, schwingende Ton erfüllte das kleine Zimmer.

«Dann warst du es also, die mir so schön Antwort gegeben hat», sagte Madame Acquaire und kam in einer zerknitterten durchscheinenden gaule hinter dem Paravent hervor. Um ihren Kopf hatte sie ein Tuch geschlungen, dessen Zipfel ihr auf eine Schulter fielen.

Sie zog Minette zu sich heran und musterte sie. Ohne jede Scheu richtete das Mädchen seine schräg stehenden schwarzen Augen auf sie. Madame Acquaire strich ihr über die langen geflochtenen Zöpfe und die sonnengebräunten Wangen und lächelte belustigt über den sinnlichen, willensstarken Ausdruck der bezaubernd vollen, afrikanisch gezeichneten Lippen. Von Minette ging ein ganz besonderer Reiz aus, der zweifellos von ihrem unverwandten schwarzen Blick herrührte, einem Blick, der, was selten vorkam, sich nicht einmal in Gegenwart einer Weißen veränderte. Die leicht ausgestellten Nasenflügel bebten bei der geringsten Erregung, doch niemals senkten sich die Lider und verbargen ihre Augen. Im direkten Vergleich der beiden Schwestern fand Madame Acquaire Lise hübscher, ihre Zöpfe waren nicht ganz so schwarz, ihre Augen weniger schmal, und ihr Mund war nicht so sinnlich. Minette verkörperte einen vollendeten Typus, der Madame Acquaires künstlerische Ader eher ansprach. Lise senkte den Blick, wenn sie mit ihr sprach, Minette hingegen verblüffte sie, indem sie ihr, nicht unverschämt, sondern mit gelassener Selbstsicherheit, geradewegs in die Augen sah.

Gleich in der ersten Unterrichtsstunde erkannte die Kreolin in ihrer Lieblingsschülerin ein solches Verständnis für Musik und so viel Temperament, dass sie sie an sich zog und küsste.

«Ich werde eine wahrhaft große Opernsängerin aus dir machen», versprach sie ihr lachend.

«Und was ist mit mir?», fragte Lise.

«Du wirst auch sehr gut singen, aber ich prophezeie dir, dass Minette eine ganz und gar außergewöhnliche Sängerin sein wird.»

Ein paar Monate lang besuchten die beiden Schwestern ihre Lehrerin fast jeden Tag. Oft wohnten Monsieur Acquaire und Scipion dem Unterricht bei. Der eine tief in seinem alten Sessel versunken, wo sein Auge bei jedem schönen Ton von Minette zuckte, und der andere auf dem Boden sitzend, ein seliges Lächeln auf den Lippen, die langen Beine vor sich ausgestreckt und den Blick auf die Münder der Sängerinnen geheftet. Während dieser Monate wurde das Leben der kleinen Mädchen aus der Rue Traversière zu dem, was ihre Mutter, die für sie so ehrgeizige Ziele hegte, sich stets erhofft hatte. Sie waren beschäftigt, sodass sie nicht dem Müßiggang anheimfielen, jenem süßen Laster der Frauen auf der Insel, das in Jasmines Augen alle übrigen Laster nach sich zog. Morgens hatten Minette und Lise Gesangsunterricht, und abends lernten sie auch weiterhin mit Joseph. Er hatte vor Kurzem ein Buch von Jean-Jacques Rousseau mitgebracht, das Minette die Ansichten eines unabhängigen Weißen offenbart hatte, der die Freiheit liebte und sie auch für andere einforderte, außerdem Athalie, ein Theaterstück von Jean Racine,35 durch das sie die Tragödie, die Kunst der Klassik, klangvolle, wohlgeschmiedete Verse und den Rhythmus eines harmonischen Satzbaus kennenlernte.

Sie ertappte sich häufig dabei, wie sie die schönen Worte, die der Autor seiner Heldin in den Mund gelegt hatte, vor sich hin rezitierte, wobei sie auf ihre Aussprache achtete, um so zu klingen wie Joseph. Überglücklich lauschte Jasmine ihrem Deklamieren, und obwohl sie ihre Vergangenheit so sorgsam vor ihren Töchtern geheim hielt, ließ sie sich dazu hinreißen, ihr zu erzählen, dass sie früher einmal eine junge Dame gekannt habe, die genau wie Minette vor einem versammelten Publikum herrliche Sätze vortrug.

«Wo denn?», wollte das Mädchen wissen.

«Ach, das ist schon so lange her … das war eine Dame aus … aber es ist viel zu lange her … ich habe es vergessen.»

Wie immer, wenn sie ihre Vergangenheit wieder aufleben lassen sollte, begann sie zu stammeln. Zwar schliefen sie alle im selben Zimmer, doch seit ihre Töchter alt genug waren, um zu begreifen, hatte sich Jasmine nie mehr in ihrer Gegenwart ausgezogen. Gewisse Male, die sie am Körper trug, mussten verborgen bleiben. Sie war jetzt frei, und ihre Kinder ebenfalls. Sie wollte die Vergangenheit vergessen, sie aus ihrer Erinnerung verbannen. Die Zukunft lag noch im Dunkeln, aber sie durfte sich die leise Hoffnung erlauben, dass ihre Töchter später einmal ihren Lebensunterhalt verdienen könnten, indem sie den reichen Farbigen Gesangsunterricht erteilten.

Denn es gab sehr wohlhabende Farbige, die genau wie die weißen Kolonisten Plantagen und Sklaven besaßen. Es gab sogar viele von ihnen, zu viele, wie Joseph glaubte, um nicht die Aufmerksamkeit der reichen Weißen auf sich zu ziehen. Wie sollten diese es auch leichten Herzens hinnehmen, plötzlich mit Angehörigen einer verachteten Klasse im Wettstreit zu stehen, deren Status so niedrig war, dass man ihnen noch das Recht auf Bildung verwehrte? Man hatte inzwischen alles getan, um Hochzeiten zwischen Weißen und affranchies zu verhindern. Es war ihnen verboten, bestimmte Berufe zu ergreifen, selbst wenn sie mit einer einzigartigen Begabung für diese Tätigkeit geboren worden waren. Der Kampf wurde erbarmungslos geführt. Nachdem bei einem Aufstand entlaufener Sklaven Hunderte von Weißen ums Leben gekommen waren, hatte man den farbigen Männern vorgeworfen, sie hätten die Rebellen bewaffnet, und ihnen skrupellos die eigenen Waffen abgenommen. Ihre Soldatenuniform, die sich natürlich in jeglicher Hinsicht von der der Weißen unterschied, war zu einer lächerlichen Verkleidung verkommen und zog die Beleidigungen der mittellosen Weißen auf sich, die ihnen noch weniger Respekt entgegenbrachten, seit sie keine Waffen mehr tragen durften. Dabei hatte sie, Jasmine, ebenjene Männer, die man heute demütigte, erst vor wenigen Monaten Seite an Seite mit weißen Soldaten in die Schlacht von Savannah ziehen sehen, aus der sie als Sieger zurückgekehrt waren.36

Dieselben Männer, die inzwischen schamlos auf offener Straße durchsucht wurden, denen man noch das kleinste in einer Tasche versteckte Messer entriss, hatten die Weißen auf den Schlachtfeldern in Erstaunen versetzt. Jasmine hatte durch Joseph davon erfahren. Seit er in ihrem Haus verkehrte und vor allem seit sie ihn reden hörte, erwachten in ihr Empfindungen, die vielleicht nur geschlafen hatten oder die sie schlichtweg für tot gehalten hatte. Sie setzte nicht länger mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern einen Fuß vor den anderen wie ein Automat. Sie schaute sich um wie ein neugieriges Kind, das das Leben entdeckt. Und da hatte sie die Augen jenes jungen, freien Schwarzen gesehen, der von einem Weißen durchsucht und beleidigt wurde. Es braute sich etwas zusammen; sie hätte nicht sagen können, was es war, aber nach einer langen Phase der Blindheit schien ihr nun, als hätten sich einige Menschen in ihrer Umgebung verändert. Dabei wurden die affranchis stärker zurückgedrängt denn je, wurden die Sklaven grausamer misshandelt und gefoltert, und bei jedem Aufstand entlaufener Sklaven reagierten die Weißen mit schrecklicheren Vergeltungsmaßnahmen. Doch um sich zu trösten, sagte sie sich, dass viele der affranchis reich waren, und sie lobte ihre Intelligenz und ihren Erfolg auch deshalb, weil sie glaubte, dass sie eines Tages respektable Ehemänner für ihre Töchter abgeben würden.

… An jenem Morgen kamen Minette und Lise zu spät zum Unterricht. Sie fanden Madame Acquaire weinend und stöhnend mit einem kühlenden Umschlag auf der Stirn im Bett vor. Sie liefen zu ihr, knieten an ihrer Seite nieder und bestürmten sie beide gleichzeitig mit Fragen. Doch die Kreolin antwortete nicht, sondern jammerte weiter wie ein Kind. Monsieur Acquaire blickte besorgt drein und ging mit großen Schritten in dem winzigen Zimmer auf und ab, wodurch er an eine Raubkatze erinnerte, die sich in ihrem Käfig unablässig im Kreis dreht.

«Oh, hör doch auf, so herumzulaufen», flehte Madame Acquaire gereizt. «Deine Schritte dröhnen wie Hammerschläge in meinem Kopf.»

Resigniert setzte Monsieur Acquaire sich auf einen Schemel am Fußende des Bettes, während sein Tick sein rechtes Auge hektisch zucken ließ. Minette, die ihn beobachtete, fragte sich, ob er sich insgeheim amüsierte, denn dieses Zwinkern verlieh ihm unvermittelt einen überraschend vergnügten Ausdruck.

«Hast du noch keine Entscheidung getroffen?», fragte er, den Blick auf seine Frau gerichtet.

«Was soll ich denn tun? Das Klavier verkaufen?», entgegnete sie.

In dem Moment klopfte es an der Tür, und Madame Acquaire verstummte abrupt. Nervös winkte sie ihren Mann heran, und er beugte sich über sie.

«Das sind Schülerinnen», flüsterte sie, «schick sie weg. Sie dürfen Minette und Lise hier nicht sehen.»

«Du hast recht.»

Monsieur Acquaire öffnete die Tür einen Spalt: Drei kleine weiße Mädchen grüßten ihn fröhlich.

«Eure Lehrerin ist unpässlich», sagte er zu ihnen, «sie bittet euch, sie zu entschuldigen.»

«Könnten wir nicht eine Minute mit ihr reden?», erkundigte sich eines der Mädchen.

Monsieur Acquaires Auge zuckte, und er kratzte sich verlegen am Kopf.

«Hmm … Ich fürchte, sie kann euch nicht empfangen … Hmm …»

«Na gut», antwortete das kleine Mädchen erstaunt. Und statt noch länger darauf zu drängen, fügte es hinzu: «Dann kommen wir morgen wieder.»

«Natürlich, bis morgen, bis morgen, Mesdemoiselles …»

Mit einem Seufzer der Erleichterung schloss Monsieur Acquaire die Tür.

«Pff … Das war knapp …»

Minette wechselte einen Blick mit ihrer jüngeren Schwester. Sie hatte begriffen, dass Madame Acquaire sie heimlich unterrichtete! Sie ließ sie nur deshalb frühmorgens kommen, weil sie nicht das Missfallen ihrer übrigen Schüler erregen wollte. Man behandelte sie wie Aussätzige, und das nur, weil sie affranchies waren.

Minettes Herz zog sich zusammen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie waren bloß zwei kleine, mittellose affranchies, die eine weiße Dame aus Mitleid singen ließ! Minette stand auf, nahm Lises Hand und sah Madame Acquaire an, die mit gesenkter Stimme mit ihrem Mann redete.

«Können wir gehen, Madame?», bat sie in gedämpftem Ton.

Dem Ton eines Kleinkinds, das seine Tränen hinunterschluckt. Oh, sie würde ihrer Mutter nichts von alldem erzählen! Wozu denn auch? Das sei doch normal, würde Jasmine fraglos entgegnen, und sie sollten sich ordentlich benehmen, wenn sie weiter von Madame Acquaire unterrichtet werden wollten.

«Natürlich, geht nach Hause, meine Kleinen», antwortete die Kreolin hastig, «ich schicke Scipion zu euch, sobald es mir wieder besser geht. Und vergesst nicht, dass ihr niemals nach zehn Uhr hierherkommen dürft, niemals, habt ihr mich verstanden?»

«Ja, Madame.»

«Gut, dann geht jetzt. Auf bald, meine Kleinen.»

«Danke, Madame.»

Als Minette und Lise fort waren, ließ Madame Acquaire ihrer Erregung freien Lauf. Sie setzte sich im Bett auf, nahm den feuchten Umschlag von ihrer Stirn und tupfte sich damit die geröteten Augen.

«Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?»

«Ich weiß es doch auch nicht.»

«Ach, wieso hast du nur das Geld, das wir mit dem letzten Stück verdient haben, beim Würfeln verspielt?»

Monsieur Acquaires Auge zuckte so stark, dass sie Mitleid mit ihm bekam.

«Mesplès weigert sich also, uns zu helfen, sagst du?»

«Ja, leider! Der Schuft behauptet, er hätte keinen Sou mehr, er sei beinahe ruiniert, nun, ein Haufen Unsinn, den ein Dieb wie er niemals erzählen sollte. Wenn ich bloß daran denke, dass ich in einer einzigen Woche über dreißigmal Schulden für ihn eingetrieben habe, um ihn zu erweichen. Dazu noch die Proben im Schauspielhaus, ich bin vollkommen erledigt.»

«Mein Gott, was sollen wir nur tun?»

Madame Acquaire stöhnte erneut.

«Eine Lösung bleibt uns.»

«Welche?»

«Wir müssen Scipion verkaufen.»

«Das kannst du nicht tun! Das kannst du nicht tun!»

Sie schrie beinahe.

«Wir haben leider keine andere Wahl!»

Madame Acquaire ließ sich weinend auf das Bett zurücksinken, während sie mit zitternder Hand den Umschlag auf ihre Stirn drückte. Scipion verkaufen! Nein, das war unmöglich! Nicht eine Minute war es ihr in den Sinn gekommen, dass man mit ihm so verfahren könnte wie mit den anderen Sklaven. Was kümmerte es sie, dass man Sklavinnen, den Säugling noch an der Brust, als Ammen weiterverkaufte, oder altersschwache Greise, deren Preis in Tonnen berechnet wurde wie beim Vieh, solange nur Scipion bei ihr blieb! Sie hatte in Saint-Domingue Zustände vorgefunden, die ihrer Ansicht nach nicht zu ändern waren. Als Tochter eines Plantagenbesitzers, die in einem Herrenhaus aufgewachsen war, hatte man sie von klein auf daran gewöhnt, bedient und umschmeichelt zu werden; wie alle jungen Kreolinnen hatte sie eine cocotte37 gehabt, der sie ihre ersten Geheimnisse erzählte. Sie hatte sie schlagen lassen, oh, niemals heftig, nur gerade genug, damit diese Vertraute von niederer Abkunft begriff, dass sie ihre Herrin war und ihr Leben in ihrer Hand lag. Jetzt, in reiferem Alter, hatte sie gelernt, dieser Rasse gegenüber nachsichtig zu sein, aus der jener Mann hervorgegangen war, dessen rebellischer Akt sie Rang und Vermögen gekostet hatte.

Während sie solchen Gedanken nachhing, kam ihr plötzlich ein Geistesblitz. Hastig richtete sie sich auf und rief: «Aber ja doch, das wäre eine Idee …»

«Was ist denn los?», fragte Monsieur Acquaire, abrupt aus jener Benommenheit gerissen, in die ihn sein Elend gestürzt hatte.

«Minette!», flüsterte Madame Acquaire, als wagte sie noch nicht, ihren Einfall laut auszusprechen …

«Was ist mit Minette?»

Sie breitete theatralisch die Arme aus und verkündete, nun mit erhobener Stimme: «Um das Schauspielhaus bis auf den letzten Platz zu füllen und das Publikum, das sich an unseren alten Visagen ein wenig sattgesehen hat, zu begeistern, brauchen wir etwas Sensationelles, nicht wahr?»

«Stimmt!», entgegnete Monsieur Acquaire, der bemüht schien, ihr zu folgen.

«Diese Sensation wird Minette sein, in einem Duett mit einem unserer jungen Sänger.»

Monsieur Acquaire sah seine Frau an, und in seiner Miene spiegelten sich sowohl Überraschung als auch Mitleid, als er bemerkte: «Du bist verrückt geworden.»

«Verrückt, nein, ganz und gar nicht …»

«Aber man wird einem farbigen Mädchen niemals erlauben, auf der Bühne des Schauspielhauses zu stehen! Du willst einen Skandal heraufbeschwören! Hast du vergessen, wer François Mesplès ist?»

«Nein, ich weiß, wer er ist … Hör mir zu, wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Nur solch ein Skandal kann all unsere Hoffnungen vernichten oder unsere Rettung sein.»

Monsieur Acquaires Auge zuckte mehrmals hintereinander. Er strich sich über das Kinn, was bei ihm stets ein Zeichen für intensives Nachdenken war.

«Ich kann nicht bestreiten, dass das Mädchen über ein außergewöhnliches Talent verfügt.»

Dieses Entgegenkommen nutzte Madame Acquaire und drängte ihn weiter.

«Lass mich nur machen. Was kann denn schon passieren? Schlimmstenfalls werden wir von der Insel vertrieben. Sei’s drum. Ich verspreche dir, wenn wir scheitern, verkaufe ich Scipion, um unsere Überfahrt zu bezahlen …»

Der Sklave hatte alles mit angehört. In einem derart kleinen Heim haben die Wände Ohren, und obwohl er nicht absichtlich lauschte, verstand er jedes Wort, das seine Herren redeten. Er begriff, dass sein Glück nicht mehr von den Acquaires abhing, sondern von jenem farbigen jungen Mädchen mit der kristallklaren Stimme. Hatte er sie bisher bewundert, so begann er sie nun zu vergöttern.

Durch ihren genialen Einfall in Windeseile geheilt, zog Madame Acquaire eine gaule aus malvenfarbener Seide an, band einen züchtigen Unterrock darunter und rannte zu Jasmine.