Töchter Haitis - Marie Vieux-Chauvet - E-Book
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Töchter Haitis E-Book

Marie Vieux-Chauvet

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Beschreibung

Exklusive Entdeckung der haitianischen Klassikerin des 20. Jahrhunderts: «Weltliteratur.» Libération

Port-au-Prince, Haiti, Anfang der 1940er Jahre. Die junge Lotus gehört der herrschenden «mulattischen» Gesellschaftsschicht an. Doch als Tochter einer Prostituierten ist sie stigmatisiert und hat für Männer nur Verachtung übrig. «Weil sie meine Mutter gestohlen haben, sind sie meine schlimmsten Feinde.» Sie führt ein Leben in Langeweile und zerstreut sich mit oberflächlichen Männerbekanntschaften. Unter ihnen ist nur einer, zu dem sie sich wirklich hingezogen fühlt: Georges Caprou, einer der Führer der Opposition gegen das herrschende Regime. Er öffnet Lotus die Augen für das Elend der Menschen in Haiti. Also gibt sie ihr ausschweifendes Leben auf, um den Ärmsten in ihrem Viertel zu helfen. Dabei wird sie von ihrem Nachbarn, dem alten Charles, unterstützt. Lotus und Caprou führen eine Beziehung mit Wechselbädern, die durch den revolutionären Kampf, dem sich Lotus angeschlossen hat, zusammengeschweißt wird. Die von ihnen entfachten Unruhen führen zum Sturz der Regierung. Doch auf die Begeisterung folgt die Ernüchterung: Sie haben die Büchse der Pandora geöffnet. Denn sobald sie von ihren Unterdrückern befreit sind, kehren die Menschen im Land zu ihren alten Dämonen zurück, der Rivalität zwischen Schwarzen und «Mulatten». Von der Polizei gejagt, verstecken sich Lotus und Caprou in den Bergen, wo sich die Ereignisse weiter zuspitzen …

Schnörkellos erzählt, eindringlich, kraftvoll und ergreifend besticht Marie Vieux-Chauvet in «Töchter Haitis» durch ihre Weitsicht: 1957, drei Jahre nachdem sie diesen Roman schrieb, ergriff der blutrünstige Diktator Duvalier die Macht, wobei ihm die Konkurrenz von Schwarzen und «Mulatten» in die Hände spielte.

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Zum Buch

Port-au-Prince, Haiti, Mitte der 1940er-Jahre. Die junge Lotus sitzt zwischen den Stühlen. Zwar gehört sie der gesellschaftlichen Oberschicht an, doch als Tochter einer Prostituierten ist sie stigmatisiert und hat für Männer nur Verachtung übrig. «Weil sie meine Mutter gestohlen haben, sind sie meine schlimmsten Feinde.» Sie führt ein Leben in Langeweile und zerstreut sich mit oberflächlichen Männerbekanntschaften. Unter ihnen ist nur einer, zu dem sie sich wirklich hingezogen fühlt: Georges Caprou, einer der Führer der Opposition gegen das herrschende Regime. Er öffnet Lotus die Augen für das Elend der Menschen in Haiti. Also gibt sie ihr ausschweifendes Leben auf, um den Ärmsten in ihrem Viertel zu helfen. Dabei wird sie von ihrem Nachbarn, dem alten Charles, unterstützt. Lotus und Caprou führen eine Beziehung mit Wechselbädern, die durch den revolutionären Kampf, dem sich Lotus angeschlossen hat, zusammengeschweißt wird. Die von ihnen entfachten Unruhen führen zum Sturz der Regierung. Doch auf die Begeisterung folgt die Ernüchterung: Sie haben die Büchse der Pandora geöffnet. Denn sobald sie von ihren Unterdrückern befreit sind, kehren die Menschen im Land zu ihren alten Dämonen zurück, der Rivalität zwischen Schwarzen und Mulatten. Von der Polizei gejagt, verstecken sich Lotus und Caprou in den Bergen, wo sich die Ereignisse weiter zuspitzen …

Schnörkellos erzählt, eindringlich, kraftvoll und ergreifend, besticht Marie Vieux-Chauvet in Töchter Haitis durch ihre Weitsicht:1957, drei Jahre nachdem sie diesen Roman schrieb, ergriff der blutrünstige Diktator François Duvalier die Macht, wobei ihm die Konkurrenz von Schwarzen und Mulatten in die Hände spielte.

Zur Autorin

MARIE VIEUX-CHAUVET (1916–1973) wurde in Port-au-Prince in Haiti geboren und machte 1933 ihren Abschluss als Grundschullehrerin. Ab 1947 trat sie als Theaterautorin in Erscheinung. Ihr erster Roman Töchter Haitis erschien 1954 unter dem Pseudonym «Colibri» und wurde mit dem Prix de l’Alliance Française ausgezeichnet. Es folgten weitere Romane. Als sich François Duvalier zum haitianischen Diktator aufschwang, bedeutete das für sie massive Einschränkungen. Schließlich musste sie ins US-amerikanische Exil fliehen und lebte bis zu ihrem Tod in New York.

Marie Vieux-Chauvet

Töchter Haitis

Roman

Aus dem Französischen übersetzt von Nathalie Lemmens Mit einem Nachwort von Kaiama L. Glover

MANESSE VERLAG

1

Ich heiße Lotus.

Der Name dieser orientalischen Blüte mag für eine Haitianerin zwar unpassend erscheinen, aber den Vorwurf richten Sie bitte an meine Mutter. Für mich ist es weniger ein Vorname, den ich trage, als eine Last, die ich mit mir herumschleppe, und notgedrungen finde ich mich ab mit dem unharmonischen Kontrast, den er zu meiner hellen Haut und meinem stark gelockten Haar bildet.

Ich wohne in einem der nach Bolosse hin gelegenen Viertel im Zentrum von Port-au-Prince.1 Ich lebe allein in einem zu großen Haus, auch dies ein Erbe meiner Mutter, das von zwei Bediensteten geführt wird. Mein Haus ist schön, mit seinem schmiedeeisernen Tor und dem großen Garten voller hoher, dicht beieinanderstehender Bäume. An manchen Tagen scheinen ihre in einem seltsamen Ringkampf verschlungenen Äste im Licht der Sonne irgendwelche wilden Schreie zu ersticken. Nachts, unter dem Sternenregen, sprenkeln goldene Tupfen die in schimmernden Glanz getauchten Blätter der Katappenbäume2, und in den nach oben hin auseinanderstrebenden Palmengruppen herrscht, da die Vögel schlafen, eine ohrenbetäubende Stille.

Hier in diesem Haus bin ich geboren. Mein altes Hausmädchen Maria, das offenbar der Hebamme dabei geholfen hatte, mich zu waschen, hat mir die Geschichte von meiner Ankunft in der Welt erzählt. Meinen Vater kenne ich nicht,3 und meine Geburt war, wie ich später verstand, vielmehr hingenommen als Erfüllung eines Wunschs. Eines Abends hatte in diesem abgeschiedenen, von einem riesigen Hof umschlossenen Heim ein Besucher den Arm meiner Mutter genommen. Sie waren in das Zimmer neben demjenigen gegangen, das ich heute bewohne, hatten gemeinsam Likör getrunken, und neun Monate später war unter Tränen und Geschrei ein kleines Mädchen zur Welt gekommen.

Lange hielt ich dies für meine Vergangenheit. Wenn die alte Maria mich an sich drückte und mich «Armes Ding!» nannte, ahnte ich mehr oder weniger, weshalb sie mich bedauerte. Ich sehe mich wieder vor mir, ein kleines Mädchen mit mageren Beinen und einem schmalen, ausgezehrten Gesicht mit übergroßen, wie von Fieber glühenden Augen. Meine Zöpfe waren so dick, dass die Leute, als ich immer dünner wurde, behaupteten, meine Haare würden mir das Blut aussaugen. Meine Mutter fürchtete, ich könne krank werden, und wollte sie mir abschneiden. Aber ich lief weg, tief hinein in den Garten, wo ich mich, meine Puppe fest an mich gedrückt, versteckte. Stundenlang kauerte ich dort im Verborgenen und malte mir aus, wie sie überall nach mir suchten. Da hörte ich Marias gütige Stimme, die, um meine Mutter zu beruhigen, während sie sanft die Küchentür schloss, zu ihr sagte: «Nun lassen Sie der süßen Kleinen doch ihre Haare, wenn Sie sie ihr abschneiden, wird sie hundertmal hässlicher aussehen.»

Meine Mutter war sehr schön. Ich erinnere mich, wie sie, eingehüllt in ihr langes Haar, im Halbdunkel nach Männern Ausschau hielt. Lachend hakte sie sich bei ihnen unter, führte sie in ihr Zimmer und bot ihnen Liköre an, deren scharfen, aromatischen Duft der allzu warme Wind zu mir hertrug. Dann schlüpfte ich in mein Bett, und Maria kam, um mir einen Kuss zu geben und sich zu vergewissern, dass ich schlief. Ich wurde häufig wegen belangloser Dinge ausgescholten. Mit gesenktem Blick trat ich vor meinen Richter, äußerlich kühl, dabei pochte mein Herz so stark, dass ich zu sterben glaubte. Beim ersten Vorwurf begannen meine Augen von Tränen zu brennen, sodass ich sie, um diese zurückzudrängen, fest zusammenkniff und dabei das Gesicht verzog. Meine Mutter missverstand dies und glaubte, ich wolle sie verhöhnen, indem ich die Lider zusammenpresste, um mir Tränen abzuringen, die von selbst nicht kamen. «Böses, böses Mädchen», rief sie, «will sich zwingen zu weinen.» Hochrot rannte ich davon und suchte Zuflucht in der Küche, wo Maria mir ein Stück Kuchen in die Hand drückte.

Mit zehn Jahren liebte ich nichts so sehr wie das Lesen. Um mein Zutrauen zu gewinnen, brachten die Freunde meiner Mutter, von ihr über meinen liebsten Zeitvertreib in Kenntnis gesetzt, mir Bücher mit, die mich lange genug wach hielten, dass ich um mich herum die tausend wispernden Geräusche der Nacht hörte, deren eindringlicher Klang in der Stille die vorgerückte Stunde verriet. Die Hand um eine Seite geklammert, schlief ich schließlich vor Erschöpfung ein.

Ich will gleich gestehen, dass es mir ein gewisses Vergnügen bereitet, diese Erinnerungen wachzurufen und zu versuchen, das seltsame kleine Mädchen wiederauferstehen zu lassen, das ich einst gewesen bin.

Damals galt ich als unkonventionell. Seither bin ich durch den Kontakt mit dem Leben gewöhnlicher geworden, denn mag Erfahrung uns auch wehrhafter machen, so nutzt sie doch zugleich unsere schönsten Eigenschaften ab. Inzwischen lebe ich wie jeder andere, errege so wenig Anstoß wie möglich und vergrößere jene Schar unbekümmerter Menschen, die sich aus der großen Zahl von Egoisten auf Erden zusammensetzt. Das Einzige, was mich vor dem allgegenwärtigen Mittelmaß rettet, ist der zarte innere Kampf, den sich in mir Gefühle liefern, von denen noch nur erste Ansätze zu erkennen sind. Soll ich mir wünschen, sie mögen endgültig zur Entfaltung gelangen? Wenn ich nach Glück strebe, bietet der Gedanke, ich könne es in der Vollendung meiner eigenen Natur finden, eine zusätzliche Hoffnung.

In der Schule hatte ich drei Freundinnen. Ich hatte sie unter den Glücklosen gewählt, die bei den Prüfungen durchfielen. Sie hießen: Nicole Darcé, Anna Verdieu und Janine Larivière.

Die beiden ersten waren Mulattinnen4, die dritte eine hinreißende kleine Schwarze, deren perfekter Körper einer Statue glich. Seit zwei Jahren bildeten wir eine Gruppe, die, obwohl in der Schule unzertrennlich, zerfiel, sobald wir das Schultor hinter uns ließen, denn bei den Eltern meiner Freundinnen war ich unerwünscht. Vergeblich hatte ich auf den Moment gewartet, in dem eine von ihnen mich zu sich nach Hause einlud. Nur die kleine Larivière stellte mich einmal ihrer Mutter vor. Nicole und Anna trennten sich stets vor ihrem Haus von mir, und der Blick, den Madame Verdieu mir eines Tages zuwarf, ließ mich erkennen, dass sie Annas Umgang mit mir missbilligte. Aber junge Mädchen, die ihre Freundinnen mit Leidenschaft wählen, verstehen sich darauf, ihren Eltern deren Namen zu verschweigen, wenn sie ahnen, dass diese eingreifen und den ohne ihre Zustimmung geschlossenen Freundschaften ein Ende setzen könnten. Nicole, die von spontanem Naturell war, hatte mir gleich zu Beginn anvertraut, dass ihre Mutter ihre Schwärmerei für mich verurteilte. An dem Tag, als eine ältere Schülerin mich als pitite bouzin5 beschimpfte, weil ich ihr vorwarf, es sei feige von ihr, ein achtjähriges Mädchen zu schlagen, begriff ich, was man mir selbst zum Vorwurf machen konnte. Durch das Leben, das sie geführt hatte, verdammte meine Mutter mich von vornherein in den Augen der anderen. Die Welt, die über mich richtete, nannte mich «Hurentochter», nachdem sie die Vergangenheit meiner Familie durchleuchtet und meine finanziellen Mittel bewertet hatte, und nach dieser Abwägung strich sie mich von der Liste derjenigen, die sie ins vorderste Glied der Gesellschaft stellte.6

Meine drei Freundinnen bewunderten mich. Um mich an ihren Eltern zu rächen, nährte ich diese Bewunderung, indem ich meine Aufmüpfigkeit weiter steigerte und während der Unterrichtsmonate den Ruf einer guten Schülerin mit dem der «Unruhestifterin» verband. Voller Geringschätzung nahm ich die Bestrafungen hin, und jeden Monat aufs Neue gelang es mir, trotz null Punkten in Betragen die beste Note zu erzielen. Ich ging dazwischen, wenn Schülerinnen geschlagen wurden, protestierte, wenn die Nonnen ungerecht waren, beschützte die Schwächsten und Ärmsten und prügelte mich ihretwegen aus nichtigsten Anlässen mit den Ältesten. Ich sah, dass meine Freundinnen sich im Glanz meiner Erfolge sonnten, was meinen Eifer noch zusätzlich anstachelte. Im Überschwang der Begeisterung hatten Anna und Nicole es sich nicht verkneifen können, ihren Müttern von dieser unvergleichlichen Lotus zu erzählen, die ihnen zufolge mit den hervorragendsten Eigenschaften begabt war. Man ließ sie versprechen, mich nicht wiederzusehen. Also belogen sie ihre Eltern und verkehrten heimlich weiter mit mir.

Janine Larivière hingegen besuchte ich auch zu Hause. Dank ihrer Bescheidenheit und ihrer Liebenswürdigkeit herrschte zwischen uns eine Kameradschaft, die in den Augen ihrer Mutter unbedenklich erschien; und diese tat ihr Bestes, um jede Möglichkeit einer innigeren Freundschaft zwischen uns zu verhindern. Ich stellte mir vor, wie sie, kaum dass ich zur Tür hinaus war, zu ihrer Tochter sagte: «Vergiss nicht, mein Kind, auch wer selbst rein bleibt, kann die Sünden Israels tragen.7 Verhalte dich daher stets so, dass die Fehler der anderen nicht auf dich zurückfallen.»

Dieser schalen Freundschaft wurde ich mit der Zeit überdrüssig, Annas allzu eigennütziges Interesse missfiel mir – ich sollte für sie alle Hausaufgaben erledigen. Nur Nicoles spontanes Wesen bezauberte mich weiterhin. Ich spürte, dass sie aus anderem Holz geschnitzt war als die beiden anderen und mir trotz unserer unterschiedlichen Erziehung ähnelte. Wir verstanden einander. Und eines Tages schworen wir uns nach dem Unterricht, Freundinnen zu bleiben.

Ich muss gestehen, dass meine Sinne für eine «Hurentochter» mit sechzehn Jahren noch so gemäßigt waren, dass ich nicht ein einziges Mal von jenen lustvollen Träumereien heimgesucht wurde, die die Priester «unreine Gedanken» nennen. In Nicole dagegen erkannte ich Koketterie und Sinnlichkeit. Auf der Straße machte sie sich einen Spaß daraus, durch Lächeln und Zwinkern die Aufmerksamkeit der Männer zu erregen, und genoss ihre Komplimente. Ich schimpfte mit ihr, bemühte mich, sie mit gutem Ratschlag zu leiten, und wiederholte, um sie zu zügeln, den Satz, den Maria mir aus Angst, mich den schwindelerregenden Abhang leichter Liebschaften hinabstürzen zu sehen, häufig predigte:

«Je gefälliger und fröhlicher eine Frau, umso weniger achten sie die Männer.»

Ich geize mit Gefälligkeiten, geize mit meinem Lächeln, doch habe ich mir damit keinen Dienst erwiesen. Arme, brave Maria, deine schlichte Seele war von einer ganz ähnlichen Philosophie erfüllt. Dir hat das Sprichwort gute Dienste erwiesen, weil du daran glaubtest. Offenbar liegt im Glauben die Rettung. Ich glaube an nichts außer an den Tod. Du bist gestorben, Maria, nachdem du mir beim Aufwachsen geholfen hast, wie einer Pflanze, die man gießt, damit sie gedeiht. Ich habe dir viel Kummer bereitet, denn ich glaube, ich war ein fürchterliches kleines Mädchen.

Ich wäre eine ganz andere gewesen, hätte ich in einer anderen Umgebung gelebt, denn ich erinnere mich, dass ich bis zum Alter von acht Jahren ein sanftmütiges, stilles kleines Geschöpf war, das zwischen den Bäumen der Allee spielte. Meine Puppe und der kleine gelbe Hund, den Maria eines Tages vom Markt mitgebracht hatte und der zwei Jahre darauf starb, waren meine einzigen Vertrauten und meine einzigen Freunde. Mit ihnen erlebte ich wunderbare Abenteuer, die ich unterbrach und später wieder aufnahm, ohne jemals den Faden der langen Geschichten zu verlieren, die ich mir erzählte und in denen ich selbstverständlich die Hauptrolle spielte. Stets wurde in diesen Erzählungen meine Hingabe auf die Probe gestellt. Bald musste ich auf eine reiche Heirat verzichten, um einen gebrechlichen Vater zu pflegen, ein andermal floh ich die Zärtlichkeit eines Verlobten, um ins Kloster einzutreten, und verteilte, bevor ich meine Familie verließ, meine gesamte Habe so selbstlos wie eine Königin, die ihre Besitztümer zum Wohle ihres Volkes weggibt. Wie schmerzt es mich, diese reizende Seele verloren zu haben! Wenn ich allein bin, ertappe ich mich oft dabei, wie ich mich in diesem mageren kleinen Mädchen suche, das Langeweile und Überdruss nicht kannte.

Doch unversehens lehrte mich mein mit den Jahren geschärfter Verstand, die Menschen und Dinge eingehender zu betrachten. Und ich entdeckte Aspekte des Lebens, die mich auf neue Wege führten. Natürlich erschienen sie mir faszinierend, und ich konnte nicht anders, als ihnen blindlings zu folgen. So geriet ich ganz allmählich in die Fänge der Versuchung. Ich ging auf meinen vierzehnten Geburtstag zu. Das erste Objekt meiner Begierden waren die Kleider meiner Mutter. Stets war sie herausgeputzt wie eine Prinzessin. Eine wahre Parade zahlloser Kimonos und weit ausgeschnittener Kleider – das hing von der Uhrzeit ab – trug Maria vom Abend bis zum Morgen entweder zerknittert oder frisch gestärkt die schmale Treppe hinauf und hinab. Dieser zur Schau gestellte Luxus schürte meine aufkeimende Koketterie, und ich begann die allzu bescheidenen kurzen Kleider aus bunt bedrucktem grobem Baumwollstoff zu verabscheuen, die man mich tragen hieß. Es schien, als wollte meine Mutter sich demonstrativ von mir abheben, denn je prächtiger sie sich kleidete, desto schlichtere Kleidung schenkte sie mir. An ihr Leben, das mit meinem eigenen keinerlei Berührungspunkte aufwies, hege ich nicht die geringste Erinnerung. Es kam mir vor, als lebte ich Seite an Seite mit einer Fremden. Manchmal jedoch, in ihren seltenen Momenten der Einsamkeit, zog sie mich seufzend an sich und strich mir mit traurigen Augen ohne ein Lächeln übers Haar. Aber ihre Liebkosungen kamen von zu weit her; ich spürte, dass sie von anderen Gesten umhüllt waren, die ich nicht zu deuten wusste. Lange musste ich dagegen ankämpfen, mich ihr an gewissen Tagen zu Füßen zu werfen und um ihre Küsse zu betteln, musste ich dagegen ankämpfen, in ihren Armen in Schluchzen auszubrechen. Doch je aufgewühlter ich innerlich war, desto mehr versteifte ich mich. Ich stand einfach nur da, ohne ein Wort, ohne eine Geste, mit zitternden Lippen und starrem Blick. Woraufhin sie mich betont entmutigt fortschickte und anschließend Maria zu sich rief, um sie anzuweisen, mich nicht aus den Augen zu lassen.

Hin und wieder drückte ich mich an die Tür und lauschte ausgedehnten Unterhaltungen, die mir über zahlreiche Dinge ein wenig Aufschluss gaben. Maria machte meiner Mutter Vorhaltungen, wenn sie innerhalb einer Woche zu viele Besucher empfing, und meine Mutter antwortete ihr, ohne wütend zu werden, mit einer Stimme, die ich an ihr nicht kannte: «Lass mich zufrieden, Maria. Wie soll ich jemals dieses Haus kaufen können, wenn ich keine Besucher mehr empfange?»

«Ach, Madame, Madame!», hörte ich aufs Neue die Stimme unseres Hausmädchens. «Sie bringen sich noch um, Sie bringen sich noch um.»

Und meine Mutter erwiderte: «Wenn ich des Lebens überdrüssig werde, wird es mir ein Leichtes sein, ihm ein Ende zu setzen.»

Maria schimpfte so leise mit ihr, dass ich nichts mehr hören konnte. Da ergriff ich die Flucht, und in mir pochte eine Erregung, die mich vor Fieber glühend zurückließ. Die Worte «Hurentochter», «Schlampentochter», die meine Mitschülerinnen mir hinterherriefen, klangen mir wieder in den Ohren. Ich wälzte mich auf meinem Bett, gepeinigt von Überlegungen, die mich wie von selbst dazu brachten, meine Mutter zu verurteilen und schließlich zu hassen.

In manchen Nächten wachte ich von entsetzlichen Schreien auf. Am nächsten Morgen erklärte Maria mir, dass meine Mutter unpässlich gewesen sei und nicht gestört werden dürfe.

Mit voller Absicht – vielleicht trug ich den ererbten Keim auch unwissentlich in mir – verwandelte ich das folgsame kleine Mädchen, das ich war, in eine Rebellin, deren vornehmstes Anliegen darin bestand, anderen die Stirn zu bieten.

Manchmal stand ich abends auf, wenn man mich brav, ein Buch in den Händen, im Bett glaubte, und schlich ohne einen Laut auf Zehenspitzen barfuß die Treppe hinunter. Wider Willen lauschte ich dem Lachen meiner Mutter und der Männerstimme, die ihr antwortete. Eine Weile atmete ich den Geruch des Minzlikörs ein, der mich bis ans Ende meiner Tage mit unüberwindlichem Ekel erfüllen wird, dann öffnete ich leise die Tür des Salons und floh hinaus in die Dunkelheit.

Meine ärgsten Feinde waren die Männer, denn sie hatten mir meine Mutter gestohlen. Sie liebte sie zu sehr, als dass ich ebenfalls Gefallen an ihnen hätte finden können. Diese Abneigung, Ergebnis eines kindlichen Denkens, war mein frühester Schutz. Ich hatte noch nicht gelernt, in mir jene Regungen aufzuspüren, die manchen Eltern Anlass zu Stolz gewesen wären. Mehr noch als die strenge Aufsicht, unter der ich stand, verhinderte mein Hochmut – auf ewig gesegnet sei diese Todsünde –, dass ich mich auf die unschuldigen Flirts einließ, nach denen es meine Freundinnen so sehr gelüstete. Angesichts der Jungen in meinem Alter kniff ich die Lippen zusammen, ballte die Fäuste, und meine von wer weiß welcher unbewussten Reinheit gespeiste Haltung schlug sie rasch in die Flucht.

Die Darcés empfingen häufig Besuch. Nicoles Geburtstag, ein neues Möbelstück, das es vorzuzeigen galt, eine gute Note, die ihr Bruder heimgebracht hatte, all das diente als Vorwand für kostspielige Feste, zu denen Janine Larivière und ich nie eingeladen wurden. Und am nächsten Morgen schilderte Anna Verdieu uns ausführlich jede noch so geringe Einzelheit der abendlichen Feiern.

Nicole hingegen vermied es aus Taktgefühl, mir von diesen Zusammenkünften zu erzählen, bei denen sie Janine und mich zweifellos gern dabeigehabt hätte, vor allem wenn sie ihr zu Ehren stattfanden, wie etwa anlässlich ihres fünfzehnten Geburtstags.

Am Morgen jenes Tages kam sie mit geröteten Augen in die Schule und gestand mir, dass sie eine schmerzliche Auseinandersetzung mit ihrer Mutter gehabt habe, weil sie meinen Namen und den von Janine auf die Gästeliste gesetzt hatte. Außer sich vor Zorn hatte ihre Mutter sie heftig zurechtgewiesen.

«Ich habe von meiner Mutter eine Erklärung verlangt und stattdessen Ohrfeigen kassiert», fügte Nicole hinzu, nachdem sie mir alles erzählt hatte. «Aber ich bin fünfzehn Jahre alt, ich kann mir selbst ein Urteil bilden. Ich finde meine Mutter ungerecht und kleinlich, so kleinlich, denn Janine, also Janine …»

Sie beendete den Satz nicht. Janine Larivière, die bei uns stand, vergrub das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus. Ich sah, wie sich ihr hübscher schwarzer Nacken hob, Tränen strömten durch ihre Finger und rannen ihre Arme hinab. Was man ihr vorwarf, begriff ich erst später, als Nicole, die sich über sämtliche Verbote hinwegsetzte, um mich weiterhin zu treffen, mir all ihre Geheimnisse anvertraute.

Drei Monate nach diesem Vorfall starb meine Mutter. Ich sehe noch vor mir, wie ich während ihrer Krankheit Doktor Garin die Tür öffnete und er mit aufgelöster Miene die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufrannte. Seit einem Monat wurde sie von Tag zu Tag schwächer, aufgezehrt, so sagte man mir, von einem epidemischen Fieber. Eines Tages blieb ich, nachdem ich den Doktor in den ersten Stock hinaufbegleitet hatte, noch eine Weile vor der Tür stehen, lauschte dem Klirren von Stethoskop und Spritzen auf dem Tisch und hörte meine Mutter schreien. Als sei sie verrückt geworden, wiederholte sie unzusammenhängende Worte, schließlich sagte sie: «Julien, Julien …» Ich ahnte, dass sie sich an den Doktor klammern musste und das Leben anflehte, ihr noch einen Aufschub zu gewähren. Aufgewühlt rannte ich davon, denn trotz meiner Unerfahrenheit hatte ich begriffen, dass ich schon bald würde allein leben müssen, und diese Vorstellung quälte mich. Ich hatte mich nicht getäuscht. Zwei Tage später begleitete ich meine Mutter auf den Friedhof. Nicht einer ihrer Freunde war gekommen. Ich erinnere mich nicht, jemals um sie geweint zu haben.

Als ich tags darauf leichenblass in meinem Trauerkleid am Fenster meines Zimmers lehnte und auf die Bäume im Garten hinausblickte, sah ich plötzlich Maria hereinkommen, die eine große Truhe vor sich herschob.

«Hier», sagte sie zu mir, «wenn deine Trauerzeit abgeschlossen ist, wirst du ein junges Mädchen sein, und dann wird dir das alles wunderbar passen.»

«Was ist das?», wollte ich wissen.

«Die Kleider deiner Mutter.»

«Ich will sie nicht. Schaff die Truhe aus meinem Zimmer», wies ich sie an.

«Soll ich etwa meinem kleinen Biest gehorchen?»

«Schaff sie raus», schrie ich, nun voller Zorn.

Da trat sie auf mich zu und musterte mich mit großer Traurigkeit. Ich sah Tränen über ihr dickes schwarzes, sonst so heiteres Gesicht laufen, die sie mit dem Handrücken wegwischte.

«Wenn du wüsstest, wenn du wüsstest …», sagte sie nur. «Aber ich kann dir nichts sagen, ich habe versprochen zu schweigen. Promesse nèguesse, cé dette.»8

Dennoch gehorchte sie mir nicht, und die Truhe blieb unter der Kleiderstange in einer Ecke meines Zimmers.

Ich öffnete sie vier Jahre später. Damals war ich achtzehn Jahre alt. Sie enthielt tatsächlich die Kleider und Negligés meiner Mutter. Eines Abends trug ich sie in den Hof hinaus. Die Kleiderstoffe bildeten unter den Palmen einen großen bunten Haufen, der sich im Wind sacht regte. Ich zündete ihn an und sah mit verschränkten Armen zu, wie all diese Zeugen einer widerwärtigen Vergangenheit verbrannten.

Beim Tod meiner Mutter erbte ich zwei Häuser: das, in dem ich bis heute wohne, und ein kleineres, dessen Miete mir regelmäßig vierzig Dollar einbringt.9

Wann hatte sie die Zeit, all das zu erwerben? Ich habe keine Ahnung. Wie sie es geschafft hat? Die Welt übernahm es, mich darüber aufzuklären.

Gesegnet seist du, o meine Mutter, für deinen Pragmatismus und deinen gesunden Menschenverstand. Leider genieße ich die Früchte deiner Mühen allein. Allzu früh hat dich der Tod dahingerafft. Ich danke dir für diese beiden Häuser, ebenso wie für das reizende kleine Bündel an Makeln, mit dem du das wehrlose Geschöpf beladen hast, das in aller Unschuld durch dich sein Leben erlangte. Es ist nicht deine Schuld. Denn sonst müsstest auch du deiner Mutter danken, und deine Mutter wiederum müsste meiner ehrwürdigen Urgroßmutter danken. Mögen ihre Seelen ungestört ruhen … und lass uns Frieden schließen mit der traurigen Gorgone10 namens Vererbung …

Drei Jahre darauf starb auch Maria, und ich blieb allein in dem Haus zurück. Plötzlich erschien mir die Einsamkeit als etwas Furchteinflößendes: Die vertrauten Klänge der Nacht verwandelten sich mit einem Mal in grausige Schreckensschreie. Das ferne Bellen eines Hundes, der Flügelschlag einer Fledermaus, die durch mein Zimmer flatterte, das schrille Zirpen der Insekten, der Schein des Mondes, all das erfüllte mich mit Entsetzen. Marias Geschichten kamen mir in den Sinn, in denen stets von Teufeln die Rede war, die die Gestalt einer frisée11 annahmen, und von coucouilles12, die nichts anderes waren als die Augen der Dämonen. Der drängende Klang der Trommeln in der Ferne verstärkte diese Atmosphäre der Furcht noch und erfüllte meine Ohren mit einem geheimnisvollen Widerhall. Die Erzählungen über den Vodou13, die Tänze für die gefährlichen Götter,14 die wehmütigen, von fernen Stimmen psalmodierten Gesänge schürten meine Nervosität. Oft vergrub ich, des vergeblichen Wartens auf den Schlaf überdrüssig, schluchzend den Kopf in mein Kissen. Als ich später ein neues Dienstmädchen einstellte, war ihre Anwesenheit für mich wie eine Erlösung. Dabei hatte diese Gertrude – und bitte sprechen Sie ihren Namen kreolisch aus: Gètride – kein liebenswürdiges Wesen, sie war mir weder treu ergeben noch freundlich, aber ich hatte Gesellschaft, und für den Moment genügte mir das. Sie jedoch verachtete mich von Anfang an, sobald ich, um meiner Einsamkeit zu entfliehen, einige junge Leute einzuladen begann, die alle ein wenig verrückt waren und, nachdem sie meine Konfitüren gegessen und in meinem Salon getanzt hatten, erst sehr spät wieder gingen, sodass ich vor Müdigkeit völlig benommen zurückblieb.

Mein erster Flirt war ein junger, höchst selbstgefälliger Dandy, den ich im Halbrausch einiger Rum-Cola erwählte und dem ich, auf ewig verflucht sei dieser junge Idiot, meine ersten Küsse gewährte. Sein einziger Vorzug bestand darin, dass er klug genug war, mich nicht zu zwingen, ihn hinauszuwerfen, als ich eines Tages mit ihm allein war und er mich zu vergewaltigen versuchte.

Selbst körperlich wäre ich ihm wohl überlegen gewesen. Von Dandy zu Dandy erreichte ich so mein zwanzigstes Jahr, und keiner dieser jungen Taugenichtse konnte sich je rühmen, ich hätte seinetwegen den Kopf verloren. Verdanke ich diesen Erfolg dem Groll, den mir der lasterhafte Lebenswandel meiner Mutter einflößte und der mich die Männer lange Zeit hassen ließ? Wie dem auch sei, bislang schmeichelt mir dieses männliche Begehren nicht, vielmehr erscheint es mir wie eine Falle, aufgestellt, damit sich meine weibliche Schwäche darin verfängt.

2

An diesem Morgen schlenderte ich, müßig wie stets, die Allee entlang. Ein Lied vor mich hin summend, pflückte ich ein paar Blätter von einem bonbon-yin-Strauch15 ab und zerrieb sie zwischen den Fingern. Ihr schwerer, hartnäckiger Duft stieg mir zu Kopf, und ich weitete meine Nasenflügel, um ihn noch tiefer einzuatmen, als suchte ich geradezu den Rausch. Über mir umspannte ein heller blauer Himmel die Landschaft.

Draußen auf der Straße schrie jemand mit entsetzlicher, rauer Stimme. Einer kaum als menschlich zu erkennenden Stimme, sie erinnerte an ein gequältes Tier. Ich rannte ans Tor, um zu sehen, was vor sich ging: ein alltäglicher Anblick, ein Gendarm hatte einen Dieb verhaftet. Was er gestohlen hatte? Zwei Kochbananen. Er reckte sie gen Himmel, als wollte er diesen zum Zeugen anrufen. «Zwei Kochbananen, das ist doch nichts», schien er zu sagen, «das ist doch kein Stehlen, wenn man bloß das nimmt.» Wieder und wieder prallte der gaillac16 auf sein Kreuz, und die Schläge erzeugten ein eigentümliches, dumpfes Geräusch, das einem Schauer über den Rücken jagte. Der Mann hatte zu weinen begonnen. Seine Frau folgte ihm mit großen Schritten, begleitet von den schallend lachenden Gaffern.

«Wartet nur, ihr sans avés17», schrie sie ihnen zu, «bald seid ihr selbst an der Reihe.»

Sie folgte ihrem Mann, der, die Kochbananen noch immer in den Händen, unter den Schlägen vor Schmerzen schrie. Er wurde ins Gefängnis abgeführt, sie wollte mit ihm gehen.

Als der Gendarm sah, dass sie sich dem Gefangenen näherte, stieß er sie fluchend zurück.

«Zwei Bananen … wegen zwei Bananen … verhaftest du ihn, brichst ihm die Knochen mit deinem cocomacaque18. Erbarmen! Erbarmen! Wir haben Hunger», schrie sie … «Und außerdem hat er sie in einem großen Laden gestohlen. Was schaden diesen reichen Leuten denn schon zwei Bananen?»

Diesmal stieß der Gendarm sie brutaler von sich.

«Hab Erbarmen, wir haben Kinder. Schlag ihn nicht länger, er wollte ja arbeiten, aber er konnte nichts finden.»

Statt einer Antwort versetzte der Gendarm dem Unglücklichen einen so fürchterlichen Schlag, dass dieser schwankte. Dann schleifte er ihn halb ohnmächtig die Straße entlang.

Ich beobachtete die Frau: Ihr schwarzes Gesicht wurde mit einem Mal aschgrau, ihre Lippen begannen zu zittern. Mit beiden Händen packte sie ihr Kleid, hob es mit einer vulgären Geste an und stemmte die Fäuste in die Hüften.

«Verdammte Scheiße», schrie sie, «Scheiße, Schweinerei, du tioule19. Du prügelst ihn, um Gefreiter zu werden, du willst befördert werden, aber du wirst dein Leben lang ein einfacher Gendarm und tioule bleiben …»

Der Gendarm drehte sich um, der gaillac traf den Mund der Frau. Ein einzelner, wohlgezielter, heftiger Schlag, und sie spuckte Blut und Zähne. Sie blieb stehen.

Eine Menschentraube hatte sich um sie versammelt. Man bedauerte sie, man befragte sie, manche lachten.

Auch ich beobachtete sie. Als ich genug gesehen hatte, zuckte ich mit den Schultern und ging zurück zum Haus. Menschen, die stahlen und geschlagen wurden, ein alltäglicher Anblick …! Das war nichts Neues für mich. Nichts war neu. Alles in meinem Land, in den anderen Ländern, auf der ganzen Welt ging einfach seinen Gang, ohne sich groß zu ändern. Einen Mann zu schlagen, weil er zwei Kochbananen gestohlen hatte, war das nicht gerecht? Die Ordnung wiederherzustellen, das rasche Eingreifen der Polizei zu demonstrieren20 … Ich verspürte nicht einmal den Drang zu lachen. Was diese Frau angesichts ihres verhafteten, geschlagenen, gedemütigten Mannes erlebt hatte, sollte auch ich irgendwann kennenlernen. Nichts würde sich im Lauf der Jahre ändern. Heute schlug man Diebe, und eines Tages würden auch diejenigen geschlagen werden, die für Gerechtigkeit und das Wohl des Volkes kämpften.

3

Nebenan, in einer scheußlichen, vom Lärm und Staub der Straße erfüllten Bruchbude, lebt mein bester Freund. Er heißt Charles, und er ist alt und weise. Abends sehe ich von meinem Fenster aus das Flackern der Petroleumlampe, deren schwaches Licht auf die Bibel fällt, in der er liest und die er kommentiert. Dort liebe ich und werde ich wiedergeliebt. So etwas spürt man ohne Gesten oder Worte. Ich bin so glücklich, so ruhig und gelassen, wenn ich mich bei meinem Freund auf dem wackligen Stuhl niederlasse, den ich gegen die Wand lehnen muss, um nicht damit umzufallen. Wenigstens dort versuche ich, mein Herz zu öffnen. Er hört mir zu, ohne zu lächeln, stellt mir niemals Fragen. Er besohlt seine Schuhe und wartet ab, während ich in mir all die verworrenen Knoten löse, die mir das Herz abschnüren und mir die Luft zum Atmen nehmen. Manchmal lasse ich mich dazu hinreißen, Sätze wie diesen zu sagen: «Vater Charles, heute Morgen bin ich aufgewacht und habe mich nicht wiedererkannt.»

Dann schiebt er die Brille auf seiner Nase vor, mustert mich einen Moment, schlägt seine alte Bibel auf und sucht auf den Seiten nach einer begütigenden Antwort.

An jenem Tag sah er mir direkt ins Gesicht und sprach leise, jedes Wort betonend, diesen Satz: «Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.»21

Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch mit einer Geste hieß er mich schweigen, dann, als ich gähnte, seufzte er leise, griff nach dem Schuh, den er auf dem Tisch abgelegt hatte, und fuhr fort, Nägel einzuschlagen.

Eigentlich war er gar kein Schuster, doch als ihm die Armut eines Tages keinen anderen Ausweg mehr ließ, hatte er sich selbst davon überzeugt, dass alle Berufe einfach seien, wenn man kein Dummkopf ist. Er hatte sich auf die Suche nach Kundschaft gemacht, und inzwischen verdiente er jeden Tag ein paar Münzen, indem er die verschlissenen Schuhsohlen von Menschen reparierte, die genauso arm waren wie er selbst.

Er hatte niemals gebettelt, nicht einmal als die Not am größten war. Dabei hatte ihm das Leben nur allzu oft übel mitgespielt; doch er beklagte sich nicht mehr darüber. Hin und wieder erinnerte er sich noch an jene lange zurückliegenden Zeiten, als er ein hervorragender Schüler und ein glücklicher Junge gewesen war. Zwar war er in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, aber es war ein glückliches Leben gewesen: Seine Eltern hatten ihn vergöttert.

Seine Mutter war eine einfache Näherin gewesen, sein Vater Ladengehilfe. Sie hatten ihn zu einem gebildeten Mann machen wollen, hatten Opfer gebracht, um ihm Bücher zu kaufen, und waren stolz auf ihren gescheiten Sohn, der diese unwissenden Menschen in Erstaunen versetzte. Sein Vater war bäuerlicher Herkunft und kannte hougans22, die er bei Krankheiten gelegentlich aufsuchte. Die Mutter, weniger abergläubisch, da klüger und gebildeter – sie war vier Jahre zur Schule gegangen –, träumte davon, aus ihrem Sohn einen «großen Doktor» zu machen.

Sie starben beide innerhalb von kaum zwei Jahren und unglücklicherweise zu früh.

Nach dem Tod seiner Eltern stand Charles plötzlich allein da. Er erlebte Zeiten bitterer Not, in denen er schmuddelige Kragen und geflickte Hosen trug. Als die Armut schließlich zu groß geworden war, um noch länger zur Schule gehen zu können, war er jahrelang herumgewandert, hatte seine Dienste angeboten und vor den Ladentüren den Besitzern aufgelauert. Er wollte arbeiten; er bettelte um eine Anstellung wie andere um Brot. Doch das Unglück verfolgte ihn, und auf keine seiner Bitten erhielt er je eine Antwort.

Aufgebracht machte er die Regierung für diese Zustände verantwortlich, und um seiner Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen, schloss er sich einer Gruppe junger Revolutionäre an, die sich eher durch Reden auszeichneten als durch Taten. In ihren Reihen lernte er Gefängnis und die Prügel mit dem cocomacaque kennen. Während der Affäre Vilbrun Guillaume Sam gehörte er zu den Verhafteten.23 Nachdem der Befehl ergangen war, sie alle zu ermorden, trafen ihn zwei Revolverkugeln am Arm. Wer noch lebte, wurde mit Bajonetten getötet. Er entging dem sicheren Tod nur dadurch, dass er in den aufgeplatzten Schädel eines neben ihm liegenden Leichnams griff. Er verstrich das blutige Hirn des Unglücklichen auf seinem Gesicht, und man hielt ihn für tot.

Seitdem hatte er sich in eine Art Philosoph verwandelt, stellte keine Ansprüche mehr, begnügte sich mit dem, was das Leben ihm gab, und schätzte sich schon glücklich, nicht zu verhungern. Wenn man ihn mit seinem schmutzigen Bart in seinen alten Pantoffeln vorbeischlurfen sah, wirkte er wie ein Mann, der weiß, was die Welt wert ist und wie man sie zu nehmen hat.

Ich bin dir zu dreckig, schien er zu denken, dann besorg mir doch neue Lumpen; ich bin dir zu mager, dann gib mir zu essen. Aber es steht dir frei, mir nichts zu geben, und genauso steht es mir frei, dich durch mein dreckiges Äußeres anzuwidern und durch meine Magerkeit zu bekümmern.

«Wissen Sie, wer ich bin?», hatte er mich eines Tages gefragt. «Ein König! Aber ja doch, ein König des Elends.»

Wenn ihn die Erinnerung an seine Kindheit zuweilen wie eine sanfte Wärme erfasste, biss er nervös auf seiner Zigarre herum und erzählte mir die lange Geschichte seines freudlosen Lebens.

Natürlich hatte er alles versucht, um der Armut zu entkommen. Er hatte aufbegehrt, hatte die Reichen gehasst, von blutigen Schlachten geträumt, die die geltende Ordnung umstürzen würden, doch irgendwann hatte er die Hoffnung verloren und bloß noch das Schicksal verflucht, das ihn zwang, trotz seiner Begabungen als einfacher Schuster zu arbeiten.

Dann war allmählich auch die Auflehnung von ihm gewichen. Mit zunehmendem Alter hatte er sich an seine kleinen Leiden gewöhnt wie an etwas Schätzenswertes, und ihm blieb die Befriedigung, niemals gegen sein Gewissen gehandelt zu haben.

«Wir sollten die anderen nicht um ihr Los beneiden, denn was sie im Unglück erwartet, wird dem Glück entsprechen, das sie erlebt haben …»

Wie stets lauschte ich folgsam.

An jenem Tag war ich in die ärmliche Behausung gekommen, um mein aufgewühltes Herz zu besänftigen.

Thérèse, Vater Charles’ Tochter, kochte hustend die tägliche Suppe. Zwei kleine Jungen, der eine sechs Jahre alt, der andere acht, klammerten sich an ihre Röcke und weinten angesichts des singenden Kessels vor Ungeduld.

«Ihr müsst euch gedulden, meine Kleinen, ihr müsst lernen zu warten …»

Ein Husten unterbrach sie, und ermattet schob sie die Kinder von sich, die laut heulend zu mir hersahen. Nachdem sie sich beruhigt hatten, kamen sie, in der Nase bohrend, auf mich zu und bettelten um ein paar Münzen. Voll guten Willens überwand ich mich und wollte ihnen die Nase putzen, doch im letzten Moment verließ mich der Mut, ich senkte den Kopf und dachte bei mir, dass ich nicht einmal würdig sei, Kinder zu haben.

«Kleinem Herzen entspringt kleines Gefühl», sagte ich mir daraufhin, «meine Unfähigkeit, gewisse Dinge zu tun, beweist, dass es mit meinen Gefühlen nicht weit her ist.» Ich dachte an Krankenschwestern, an die klaffenden Wunden vor ihnen, und ich beneidete sie um ihren Heldenmut.

«Ich bin nie zufrieden mit mir, Vater Charles», vertraute ich dem Alten eines Tages leise an.

«Das Gegenteil wäre ein Unglück», antwortete dieser, «wer mit sich selbst zufrieden ist, beweist dadurch nur, dass er nie etwas durch eigene Mühen erreichen wird. Schauen Sie sich um, überall herrscht Aufruhr, überall herrscht der Wunsch nach Veränderung; das ist das Spiel des Teufels, er zerrt an unseren Kleidern und will uns zwingen zurückzublicken. Sehen Sie, junges Fräulein, was wir bräuchten, wäre eine hübsche Freiheit für alle. Alle gleich, alle ebenbürtig. Dann gäbe es keinen Hass und keinen Aufruhr. Aber Gott, unser Schöpfer, hat von Anfang an Unterschiede zugelassen: Es gibt Hässliche und Schöne, Weiße und Schwarze, Riesen und Zwerge. Wie wollen Sie bei einer solchen Vielfalt zu Ruhe und Eintracht unter den Menschen gelangen?»

«Und ich bin davon überzeugt», antwortete ich nachdenklich, «dass das Leben ohne diese Unterschiede, ohne diese fruchtlosen Auseinandersetzungen so eintönig würde, dass in uns irgendwann der Wunsch nach Veränderung aufkäme und wir dadurch das Leiden erfinden würden.»

Ich dachte an den Hass, der die Herzen gegeneinander aufbrachte. Ich dachte an die ausgebeuteten Bauern, an die Dienstboten, die kaum mehr waren als Sklaven, dann blickte ich mich nach Thérèse und ihren Kindern um, und meine Seele füllte sich mit Traurigkeit, als ich sah, wie mager und schmutzig sie waren, ohne Hoffnung auf Veränderung und ohne jede Befriedigung außer ihrem Groll gegen die Reichen.

Manchmal erzählt mir mein alter Freund auch von dem kleinen Mädchen, das ich einst war. Er liebt es, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Jedes Mal, vertraut er mir an, findet er daran aufs Neue ein Vergnügen, das ihn sich wieder jung fühlen lässt.

«Erinnern Sie sich an den Tag, als wir uns kennenlernten?», sagt er dann. «Erinnern Sie sich, wie Sie zu mir sagten: ‹Wie heißt du?›? Und ich antwortete: ‹Charles.›»

Er verstummt. Und ohne mein eigenes Zutun sehe ich die Szene im Geist wieder vor mir:

«Möchtest du jemanden besuchen?», hatte ich weitergefragt.

«Dein Hausmädchen. Ich bin Schuster. Sie hat mir Arbeit versprochen.»

«Wo wohnst du?»

Er hatte sich zur Allee umgewandt und, ein wenig vorgebeugt wegen der Bäume, mit ausgestrecktem Finger auf ein kleines Häuschen gedeutet.

«Da wohne ich mit meiner Tochter Thérèse.»

«Wie kannst du Schuster sein und so gut Französisch sprechen?»24

Er hatte gelacht, oh, was für ein fröhliches Lachen, nicht die geringste Boshaftigkeit schwang darin mit, doch als er gerade zu sprechen anhob, wurde er von Maria unterbrochen, die laut um Hilfe rief. An diesem Tag erfuhr ich, dass meine Mutter sich ein böses Fieber zugezogen hatte und man mich von ihrem Zimmer fernhalten solle.

Während der gesamten Dauer ihrer Krankheit blieb ich mir selbst überlassen. Ich nutzte meine Freiheit nur dazu, den alten Charles zu besuchen. Wenn er mich näherkommen sah, sagte er zu seiner Tochter: «Da ist das kleine Fräulein. Thérèse, hol dem kleinen Fräulein einen Stuhl.»

Und Thérèse, die damals noch keine Kinder hatte, schob lächelnd den Stuhl gegen die Wand. Daraufhin nahm ich aus der Tasche die Zigaretten, die ich für meinen alten Freund aus dem Jackett stibitzt hatte, das Doktor Garin stets auf dem Esszimmertisch ablegte.

An dem Tag, als meine Mutter starb, brachte Charles mich selbst nach Hause und hielt mich an der Hand. Maria erwartete mich auf der Galerie25. Weinend zog sie mich an ihr Herz.

«Ich habe eine Bibel», sagte da der gute Mann. «Das ist ein Buch, in dem die schönsten Geschichten der Welt stehen. Möchtest du sie kennenlernen?»

Und von da besuchte ihn jeden Tag ein kleines Mädchen in Trauerkleidung, setzte sich brav hin und lauschte mit gefalteten Händen und strahlender Miene der Geschichte von der Erschaffung der Welt und ihrem göttlichen Erlöser.

4

Ich sitze in meinem Garten auf einer kleinen Holzbank, die ich zwischen die Hibiskusblüten gestellt habe. Ringsum neigen die Bougainvilleen ihre blütenbehangenen Zweige über die grünen Fiederaralien26 zu beiden Seiten der Allee. Ein Stück weiter fliegen fröhlich zwitschernde Palmschwätzer27 wie kleine Leuchtstreifen durch die Luft. Vom Hügel herab, wo sich ein paar heruntergekommene, verfallene Hütten an den Hang klammern, erklingt der frenetische Ruf einer Trommel. Ich warte auf Georges und zerdrücke mit den Fingern ein paar Russelien, die mit einem leisen Ploppen aufplatzen. Doch der abgehackte Rhythmus der Trommel lässt mir keine Ruhe, unwillkürlich beginne ich mich im Takt zu bewegen. Langsam, gleichmäßig heben sich meine Schultern, sinken herab, runden sich. «Yayoutes Blut»28, wie Maria es immer nannte, jenes schwarze Blut, das in meinen Adern fließt, gerät in Wallung, und um es zufriedenzustellen, stehe ich auf, raffe brüsk meinen Rock und tanze auf dem großen, raschelnden Teppich aus trockenem Laub unter meinen Füßen den Vodou.

So traf mich Georges an jenem Nachmittag an. Er streckte einen Arm zwischen den Blüten hindurch und rief, um mich zu überraschen: «Hallo, Lotus! Hallo, Lotus!»

Ich antwortete nicht, sondern setzte meinen Tanz fort, und ein paar Minuten lang erhaschte ich nur flüchtige Blicke auf sein verblüfftes, von den Fiederaralien der Allee eingerahmtes Gesicht.

«Du beherrschst den Vodou? Du hast gerade getanzt wie eine richtige hounsi29.»

«Wieso nicht?»

«Davon hast du mir nie erzählt.»

«Ist das wichtig?»

«Wer hat es dir beigebracht?»

«Maria, als ich klein war.»

«Ach so.»

Zwischen mir und Georges gibt es nichts außer zarten Liebkosungen. Und Liebkosungen, ist der Hunger danach erst einmal gestillt, hinterlassen nur einen schwachen, schalen Nachgeschmack wie Abführmittel, die auf nüchternen Magen geschluckt werden.

Er betrachtete meine nackten Füße, den zerknitterten Rock, den ich zu seinem Empfang nicht gewechselt hatte, mein zerwühltes Haar, das mich wie eine Wilde aussehen ließ.