Der Teekultivar - Hanspeter Reichmuth - E-Book

Der Teekultivar E-Book

Hanspeter Reichmuth

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Beschreibung

Spitzentee? In dreißig Lebensjahren als Teehändler reiste der Autor häufig in die Anbaugebiete. Er will verstehen, was für ein Potenzial im Teeblatt schlummert und wie der Mensch es weckt und weitet (Manufaktur) oder auch reduziert (Industrie). Auf seinen Wegen wird deutlich, wie wenig die Beschaffenheit dieses Produktes vom Denken der Menschen zu trennen ist, die sich mit ihm befassen. Dieses erzählende Sachbuch nimmt Sie mit auf die Suche nach dem Gral der Qualität. Und ist feinsinnige Reiseliteratur mit Blick auf die enormen sozio-ökonomischen Veränderungen in Fernost.

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Für die Frau,

die mich weiter brachte

als alles Reisen

Hanspeter Reichmuth

Der Teekultivar

Auf der Suche nach

Spitzentee in China und Indien

Die Sprache des Teehandels ist englisch, weshalb im ersten Teil des Buches englische Ausdrücke in die Sätze eingefügt sind. Die Bezeichnungen der geografischen Namen folgen der Schreibweise im Ursprungsort. In Indien wurden sie in den letzten Dekaden indisiert. – Titelbild: Verwendung eines Fotos des Autors von seinem Besuch in Assam 1986. Die Porträts im Buch stammen ebenso aus seinem Bildarchiv, die zwei Teeblatt-Aufnahmen auf den Seiten 242/3 aus dem Photo-Atelier von Felix Streuli in Langnau am Albis.

Impressum

© 2019 KellnerVerlag, Bremen • Boston

St.-Pauli-Deich 3 • D-28199 BremenTel. +49 4 21 - 77 8 66 • Fax +49 4 21 - 70 40 58

[email protected] • www.kellnerverlag.de

Lektorat: Madita Krügler, Nele Cichon

Satz und Umschlag: Jennifer Chowanietz

ISBN 978-3-95651-215-5

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden:

http://dnb.d-nb.de

Inhaltsverzeichnis

Zum Geleit

Tee im indischen Kulturkreis: Die Intelligenz der Technik

Darjeeling, Assam, Calcutta, Nilgiris, Ceylon 1986

Darjeeling, Gayaganga, Calcutta 1991

Darjeeling 1992

Nilgiris Februar 1996

Gayaganga, Darjeeling, Assam Oktober 1996

Nilgiris 1997

London 1998

Gayaganga, Darjeeling, Calcutta 2000

Darjeeling, Assam, Nilgiris 2004

Darjeeling, Gayaganga, Kolkata, Nilgiris 2008

Gayaganga 2014

Intermezzo: Das Grab in Darjeeling

Tee im chinesischen Kulturkreis: Der Geist der Manufaktur

Hongkong 1986

Hongkong, Taiwan, Hongkong, China Festland 1998

Hongkong, China Festland 2004

Hongkong, China Festland, Taiwan, China Festland 2008

Taiwan, Hongkong, China Festland 2014

Die Spannweite von Camellia Sinensis

Bewerber um Queen Camellias Thron

Das Geheimnis des Teeblattes und der Umgang mit ihm

Die Technik der Teeproduktion – Hand und Maschine

Die Finissage von Tee

Was Qualität wirklich bedeutet

Die persönliche Teekultur

Jenseits von Qualität

Dank und Literaturhinweis

Hanspeter Reichmuth, * 1940, Lic.oec.HSG. aufgewachsen am Zürichsee. 1965–76 Mitinhaber des Weinhauses Albert Reichmuth AG in Zürich. Deutscher Bearbeiter aller Bücher von Michael Broadbent M.W. (Direktor von Christie’s Wine Department, London).

1976–79 Koordinator eines NGO-Projektes für Wasserbau, Landwirtschaft und medizinische Grundversorgung in der westafrikanischen Sahelzone. 1980–85 Gründer und Leiter eines KMU in Dakar/Senegal. Ab 1986 Gründer und Leiter einer Firma in Schwyz mit dem Ziel, landwirtschaftliche Erzeugnisse von klar definierter geobotanischer Herkunft und handwerklicher Verarbeitung einer privaten Kundschaft zugänglich zu machen, zusammen mit dem dazugehörenden Sachwissen. 1994 Gründer der Stiftung Gayaganga zugunsten von Frauen und Töchtern von Teearbeitern im Distrikt Darjeeling.

Zum Geleit

Der Vater ist Weinhändler. Sonntags versammelt sich die siebenköpfige Familie am Mittagstisch und die Mutter erfreut mit ihrer Kochkunst. Jeden Sonntag. Es sind die 50er Jahre. Der Vater entkorkt und dekantiert den Wein, zumeist ein reifer Bordeaux, seine bevorzugte Provenienz. Er schenkt den größeren Kindern einen Probierschluck ein, widmet ihm ein paar Worte und schließt mit dem Satz: »Mit Verstand trinken« – der erste mir noch kaum bewusste Schritt zur Bildung des erwachenden Verstandes unter helfender Anleitung der Sinne. Er wird zum Anfang eines Weges, auf dem immer wieder die Maxime auftaucht Wissen erhöhtden Genuss. Sie wird mir vertraut und ihre Bedeutung wächst mit jedem Üben und Vergleichen. Auf diese Weise bilden sich das Vorstellungsvermögen und ein sachlich beschreibender Wortschatz – die Arbeitsinstrumente zum Erfassen und Beurteilen von Qualität.

Weil die Flasche beim Mittagessen nicht leer wird, verkorkt der Vater sie wieder und stellt sie auf die Anrichte. Zum Abendbrot gießt die Mutter eine Kanne Darjeeling auf. Um den heißen Tee trinkbereit zu machen, dürfen wir Kinder einen Gutsch Rotwein vom Mittag in die Tasse geben. Wenn wir sie an den Mund führen, nimmt die Nase Düfte wie im Herbstwald wahr. Fern liegt mir damals der Gedanke, dass diese Gewohnheit eine erste Spur gelegt hatte – hin zu Camellia Sinensis, zu meinem Teeweg.

Unbewusst beginnt er schon in meiner Weinhändlerzeit in Zürich. Nach Abschluss des Ökonomiestudiums übernehme ich im väterlichen Geschäft für zwölf Jahre den Aufbau und die Pflege einer privaten Kundschaft. In diese Zeit fällt die Übersetzung von Wine Tasting, dem ersten Buch von Michael Broadbent MW, Direktor der Weinauktionen bei Christie’s, London. Seine methodische Herangehensweise an die so schwierige Beschreibung von reifen Hochgewächsen wird mir Vorbild für die deutsche Bearbeitung dieser und all seiner späteren Publikationen. Die gleichzeitige Gründung eines europäischen Zirkels von Familienunternehmen ähnlicher Struktur führt zu einer mit Deutschland und Österreich abgeglichenen sachlichen Weinsprache. Das deutsche Mitglied, Hermann Segnitz vom gleichnamigen Bremer Weinhaus, wird – nach meiner Rückkehr von einem achtjährigen Einsatz in Westafrika – zum Brückenbauer zu Arend Vollers, Mitinhaber einer bedeutenden Teehandelsfirma in Bremen und hanseatischer Kaufmann wie er im Buche steht – weltoffen, verlässlich, tüchtig und großzügig. Er vermittelt mir seine Kontakte in Fernost. Als ich ihm beim ersten Treffen in seinem Büro von meiner Absicht erzähle, mich auf die Suche nach der Qualität von Tee zu machen, steht er auf, geht zum Schrank, entnimmt ihm die für seine Kunden verfassten Broschüren und legt sie vor mich hin. Zur freien Verwendung, wie er sagt. Darjeeling, Assam, China und Porzellan sind einige Titel und gleichzeitig Stichwörter, die sich nach der Gründung meiner Firma in der Schweiz mit dem Inhalt zu füllen beginnen, von dem in diesem Buch die Rede ist.

Jahrzehnte später sehe ich: Wem es Beruf ist, Genussmittel zu studieren und zu vermitteln, muss sich eines Problems bewusst werden, das in seinem Gegenstand liegt – eine Schwierigkeit, die nur die seine ist und von anderen seines Faches nicht oder nicht in gleichem Maße geteilt wird. Denn wie aufrichtig man sich auch bemühen mag, sein fachliches Urteil von jeglichem Vorurteil zu befreien, es wird doch stets von der persönlichen Geschmackserfahrung gefärbt sein. Am prägendsten beginnt diese in der Kinderstube. Erweitert wird sie später durch den Augenschein vor Ort, das sachkundige Reden, das sinnliche Vergleichen. Diese Erfahrung kann auf unterschiedliche Ziele ausgerichtet sein, auf Gewinn oder Geschmack. Das Pekuniäre ist der Antrieb im Welt- oder Massenmarkt, das Sensorische ist die Seele in der Nischen- oder Spezialitätenproduktion. Es ist der altbekannte Gegensatz zwischen Quantität und Qualität.

Wie sehr diese zwei Begriffe unvereinbar sind, geht hervor aus diesem Buch; und was für Tee geschrieben steht, gilt für alle Genussmittel. Es ist darum empfehlenswert, zunächst das Kapitel Was Qualität wirklichbedeutet auf Seite 255zu lesen.

Den Weg der persönlichen Erfahrung aufgrund von Aufzeichnungen aus Reisejournalen nochmals abzuschreiten, ihn aus der Distanz ins Auge zu fassen und im Erzählen zu reflektieren, darin liegt der rote Faden des Teekultivars. Ihn aufzugreifen war wie eine Suche nach dem Gral der Qualität. Sie öffnet den Blick auf drei Jahrzehnte unterwegs mit Gefährten, die sich dieser Pflanze und der durch sie begründeten Kultur gewidmet haben. Sie sind am Schluss dieses Buches erwähnt. Drei von ihnen haben mich immer wieder begleitet: Im indischen Kulturkreis ist es John M. Trinick, der englische Freund mit dem Spitznamen Mr. Assam. Im chinesischen Kulturkreis sind es Leo Kwan, der Chinese mit anglo-amerikanischem Hintergrund, und Chen Huangtan aus Taiwan, Teemann mit jeder Faser seines Daseins.

Die Spurensuche beginnt im September 1986, nachdem die Vorbereitungen zur Gründung meiner neuen Firma abgeschlossen sind. Eine dreimonatige Studienreise soll ihr Profil definieren und schärfen.

Kultivar nennt man in der Pflanzenwelt das Resultat der Veränderung einer Urpflanze zwecks Ergänzung mit besonders gesuchten Eigenschaften. Die unendliche Variationsvielfalt der Natur macht diese Kultivierung durch den Menschen zu einer Sache von Geduld, Erfahrung und sachkundiger Auslese. So charakterisiert sich auch dieses erzählende Sachbuch als ein Kultivar.

Indischer Kulturkreis

Die Intelligenz der Technik

Darjeeling, Assam, Gayaganga, Calcutta, Nilgiris, Ceylon

[Darjeeling]

1986, September

Erstmals fliege ich ostwärts. Von Delhi aus nach Bagdogra, eine Art Buschflugplatz im Distrikt Darjeeling, bestehend aus Landepiste und einer bescheidenen Gepäcksempfangshalle. Dahinter ein Polizeiposten, nur wenig größer als eine Telefonzelle, besetzt von zwei Uniformierten auf wackeligen Stühlen. Strenges Prüfen von Pass und Visum von respektheischender Dauer geht über in ein Plaudern bei einer Tasse Tee, bei der man gegenseitig die Ungefährlichkeit feststellt. Danach per Rikscha-Taxi nach Siliguri, um dort zu übernachten.

Anderntags in einem schwarzen Ambassador, eine indische Austin-Kopie aus der Nachkriegszeit, röhrend und rumpelig unterwegs zu dem Höhenort Darjeeling. Kurz nach der Stadtgrenze von Siliguri beginnen die Teefelder. Wir sind noch in der Tiefebene namens Terai. Die Augen wandern über das Grün der Büsche unter hohen Schattenbäumen, mein Herz klopft schneller – wie damals, 1965, als ich im Bordelais erstmals die Rebzeilen und die Châteaux sah, deren Namen ich von den Flaschenetiketten her kannte. Wir aber sind nun im Norden des indischen Subkontinentes, auf der 1869 fertiggebauten Hillcart Road. Die Straße ist begleitet vom Schmalspurgleis der Spielzeugeisenbahn, von ihren Fans zärtlich Toy Train genannt, die gut 2000 Höhenmeter überwindet, etwa 300 Kunstbauten überquert und immer wieder die bedenklich unebene Straße kreuzt. Warum diese erstaunlicherweise auf Bergrücken und nicht in Tälern verläuft, ist im Bericht des englischen Landvermessers Major Herbert nachzulesen, dessen Auftrag nicht im Erkunden von Teeanbauland bestand, sondern im Auffinden geeigneter Orte zur Errichtung von Sanatorien für tropenkranke Europäer aus dem Tiefland. Die Patienten sollten möglichst schnell in die erholsame Höhenluft gelangen.

Überall hängen Transparente – This is Gurkhaland oder We want separation from Bengal – und prompt werden wir unterwegs zwei Mal von Rotten Jugendlicher angehalten und durch die Autofenster angesprochen, ich verstehe kein Wort, versuche nur die Tonlage auszumachen und abzuschätzen, ob es Ärger geben wird, doch mein Fahrer antwortet mit ruhiger Stimme. Er ist Bergler wie sie, nepali-stämmig wie die jungen Leute. Sie geben den Weg frei, nicht ohne uns beiden zum Zeichen des Willkomms eine lila Blüte auf die Stirn und ein paar Erdnüsse in die Hand gedrückt zu haben. Bergan registriere ich die Numerierung der Kurven und die englischen Verkehrshinweise, keine obrigkeitlichen Verbote wie in deutschen Ländern, sondern Appelle ironischer Art wie Arrive in peace, not in pieces oderlakonisch If you are a blood donor, don’t do it here. Dann, nach vierstündiger Fahrt und einer letzten, langgezogenen Rechtskurve nach dem Ort Ghoom, plötzlich freie Sicht entlang unseres Bergrückens hinüber auf ein Städtchen in Hanglage, darunter steil abfallend Teefelder. Rajah, der Fahrer, sieht im Rückspiegel das Lächeln auf meinem Gesicht. »Darjeeling!«, sagt er mit federnder Betonung der ersten Silbe. Aus der Entfernung von wenigen Kilometern sieht mein Ziel aus wie eine terrassenförmig ansteigende Besiedelung auf der Kuppe eines Bergzuges. Dahinter steht das weiße Massiv des Kangchen-junga, einer der Achttausender im Titanenreich der Hima-layas. Doch um diese Tageszeit schützt ihn eine Wolkenwand vor neugierigen Blicken.

Zimmerbezug im Sinclair-Hotel. In der Schublade eines kleinen Schreibtisches liegt Kampfer. Sein Geruch weckt in mir den Eindruck von Ordnung und Sauberkeit. Gleich darauf, einer alten Gewohnheit nach Ankunft an neuen Orten folgend, ausgedehnte Erkundung zu Fuß. Selten habe ich mich so schnell heimisch gefühlt wie hier. Englische Fassaden von Hotels, Schulen und öffentlichen Gebäuden, lückenhaft umzäunte Cottages, bestückt mit Obstbäumen, seinerzeit aus Europa hergebracht und eingepflanzt. Es nagt der Zahn der Zeit und nährt eine kleine Melancholie, die sich einfärbt in meine Gedanken über das Vergängliche. Dafür liegt das Gegenwärtige auf den frischen Gesichtern, besonders von Schülern, sauber gekleidet in den Farben ihrer Schule, mit offenem Blick und rasch einem Lächeln im Gesicht als Antwort auf das meine.

Diese ungekünstelte Form der Begegnung atmet auch bei dem Besuch im Planter’s Club, wo mich der Sekretär Lieutenant-Colonel Nair empfängt. Er zeigt mir die Räumlichkeiten und erzählt dabei Anekdoten wie jene von Chruschtschows Geschenk an den Club in Form einer Jagdtrophäe, einem ausgestopften Bärenkopf, der im Dining Room von der Wand herunteräugt. Im gleichen Gebäude befinden sich auch die beiden Büros der Darjeeling Planters Association, wo er mir seine Assistentin Miss Aban Madan vorstellt. Sie spricht Englisch fast ohne indischen Singsang (»mein Vater hat in London studiert, das hat auf die Alltagssprache bei uns zuhause abgefärbt«), ist so jung und hübsch wie gedankenschnell und wird mir in den nächsten Tagen helfen, meine Plantagenbesuche zu organisieren. Eine Freude!

Sehr schnell schneidet sie ein Problem von Darjeeling an: Fälschungen. Die Jahresproduktion betrage durchschnittlich 12 Millionen Kilo, unter diesem Namen würden aber etwa vier Mal mehr Tee verkauft. Sie erzählt von den Anstrengungen, Darjeeling als Herkunftsbezeichnung zu schützen. Diese Versuche sind weitgehend wirkungslos geblieben, wenn man etwa den Teebroker Vijay Dudeja hört, den ich später in Calcutta kennenlernen werde: »Eine Dame«, erzählte er, »fragte in den Food Halls des Londoner Luxuskaufhauses Harrods nach dem besten Darjeeling-Tee. Man gab ihr eine schöne Packung, worauf unter diesem Namen geschrieben stand: Product of Sri Lanka. ›Aber dieser Tee kommt aus Sri Lanka‹, moniert sie beim Verkäufer. ›Madam, wissen Sie nicht, dass der beste Darjeeling aus Sri Lanka stammt?‹ erwidert dieser mit dem überlegenen Lächeln des Unwissenden.« Als ich das hörte, hätte ich mir dieses kleine Anbaugebiet nach Frankreich gewünscht, dessen Diplomatie den Schutz von Herkunftsbezeichnungen auf Landesprodukten weltweit durchsetzt.

Zu den aufgesuchten Örtlichkeiten der ersten Tage gehören der Gymkhana Club und der Europäer-Friedhof. Beide sind auf beklemmende Weise verfallen. Es fehlen die Menschen, die das hätten aufhalten können und wollen. Eingezäunt und gut erhalten ist nur das Grabmal des ungarischen Weltenwanderers Alexander Csoma de Körös, dessen erstaunliche Lebensgeschichte auf Seite 157nachzulesen ist. Im Gymkhana Club dagegen kann ich mich auf meine Fantasie verlassen. Nachdem ich mich als Reporter ausgegeben habe, öffnet mir sein Sekretär, auch hier ein Oberst im Ruhestand, die Räumlichkeiten – Card Room, Library, Billiard-Room und wie sie alle heissen. Schließlich bekomme ich den völlig verwahrlosten Ball Room in diesem ehemals feinsten Club im Osten zu sehen. Es steigen Bilder in mir hoch aus Lektüren vom gesellschaftlichen Leben der britischen Gemeinschaft, die sich nicht nur aus Pflanzern, sondern auch aus Ärzten, Lehrern, Offizieren, Beamten und ihren Familien zusammensetzte, welche in diesem Höhenort dem heißen Sommer in der Tiefebene entflohen. So schließe ich die Augen, imaginiere Eleganz und Gelächter unter den Lüstern des eichengetäfelten Ballsaals, höre beschwingende Tanzmusik und fühle mich für Minuten versetzt in die alte Zeit. Alte Zeit? Aber kann man denn eine Zeit alt nennen, in die man selber hineingeboren ist?

Ja, man kann. Und dazu notiere ich mir später: Die technologiegestützte Rasanz der Veränderungen innerhalb einer Generation lässt Lebensverhältnisse andernorts, wo sie diesem Wandel nicht ausgesetzt waren, rasch alt erscheinen. In seinem Drang, das scheinbar Rückständige zu verstehen, greift der Westler gern nach Interpretation und Imagination, die naturgemäß einseitig sind, so wie ich im Ball Room nach Nostalgie gegriffen habe, um ihn nochmals zum Leben zu erwecken. Man schafft sich eine Art von persönlicher Vertrautheit. Einäugig können solche Behelfe dort werden, wo sich die Fantasie ideologisch einfärbt und vergangene Epochen – wie etwa die koloniale – ausschließlich negativ interpretiert.

Der tiefe Graben zwischen der Wirklichkeit vor Ort und dem, wie ein Europäer eine völlig andersartige Kultur mit seinen Begriffen glaubt erfassen zu können, ist mir auch bewusst im Gespräch mit Aban Madan, die sich sehr darum bemüht, meine Besuche in den Teegärten zu organisieren. Keine leichte Aufgabe angesichts der eben ausgebrochenen Gurkha-Unruhen, geschürt von ein paar Politikern im Distrikt. Im Westen als Freiheitsbewegung bezeichnet, sind es in Wirklichkeit Kämpfe um Einfluss und Geldtöpfe, die zur Lähmung jeglicher Tätigkeit und zum Tod von Unschuldigen führen. In der Nacht sei eine Nepali-Frau erschossen worden, erzählt Aban, eine zweite schwer verletzt, gestern hätten über 30 Häuser gebrannt. Die Stadt ist abgeriegelt, die Regierung Westbengalens habe gedroht – so das Gerücht –, das Wasser abzustellen, weil es verseucht sei. Viele Teefabriken arbeiten nicht, die Läden sind geschlossen. Wir verschieben die Besuche auf die nächste Woche.

Ich gehe die kurze Strecke zur Hayden Hall hinunter, einem vom kanadischen Jesuiten E.P. Burns gegründeten Hilfswerk zugunsten von Tibetern, die nach dem Einfall der Chinesen 1959 geflohen sind. Er lebt seit 30 Jahren hier. »Die in Calcutta ansässige Provinz-Regierung nennt sich kommunistisch und besetzt alle wichtigen Positionen mit eigenen Leuten, zumeist Bengali aus dem Tiefland«, sagt er. »Die Einheimischen haben ihrer Protestbewegung das politisch brauchbare Gurkha-Image von Wehrhaftigkeit zugelegt, in Anlehnung an das aus Nepal stammende Gurkha-Regiment in englischen Diensten, das sich durch ungewöhnlichen Mut und Kaltblütigkeit auszeichnete.« Durch ein Fenster im ersten Stock sehe und höre ich einen Demonstrationszug auf der Straße, an dessen Spitze Männer den mit gelben und roten Tüchern bedeckten Sarg der erschossenen Frau tragen. Sie skandieren: »Gurkha! Gurkha!« Es tönt wie ein Schlachtruf.

Ich schließe mich einer deutschen Reisegruppe unter der Leitung von Arend Vollers an, die ihr Besuchsprogramm ebenfalls nicht durchführen kann. Wir begeben uns in das Hotel Windamere, in der Oberstadt auf dem Bergrücken unterhalb des Observatory Hill gelegen. Die tibetische Besitzerin Mrs. P.L. Tenduf-La begrüßt uns. Die kleingewachsene, traditionell gekleidete Frau mit dem geflochtenen schwarzen Haarkranz – sie mochte auf die Achtzig zugehen – strahlt eine Aura von Liebenswürdigkeit und Gediegenheit aus, die mich veranlasst, mich für die nächste Woche in ihrem Haus einzuquartieren und in den kommenden Jahren dort zum Stammgast zu werden. Beim Tee auf der der Rezeption vorgelagerten Terrasse mit Sicht ins Tiefland erreicht uns die Aufforderung der Polizei, die Stadt aus Sicherheitsgründen nachts um drei Uhr zu verlassen. Um diese Zeit komme man gut durch, heißt es. So geschieht es dann auch, während ich ein paar Melodien auf meiner Mundharmonika blase zur Lockerung der Anspannung der Passagiere während der nächtlichen Busfahrt.

Auf der langen Fahrt durch Sikkim bis Gangtok und von dort zurück nach Kalimpong, hält der Bus für Klosterbesuche, an denen ich nicht teilnehme. Ohne ein Mindestmaß an Vorwissen empfinde ich als Gafferei, was von der Tourismusindustrie als Sightseeing verkauft wird. Dafür bleibt mir eine hübsche Reminiszenz aus dem Hotel Silver Oak in Kalimpong, dem Schwesterkurort von Darjeeling jenseits des Flusses Teesta. Dort hängt in Zimmer 34 ein Stich mit dem Titel An Alpstubete und darunter From the painting of Emil Rittmeyer in the Art-Gallery of St. Gall: Zentral zu sehen ist eine Figur mit Sennenkäppi in der Pose eines Stehgeigers, der zum Tanz aufspielt. Zu seiner Rechten sitzt ein Mann am Hackbrett, vor ihm zwei Burschen und ein Mädchen. Die Burschen halten sich die Hand hinter dem Rücken der Tänzerin. Drumherum spielendes und lachendes Volk in Sonntagstracht vor der Kulisse steil aufragender Alpen – vermutlich Säntis und Hoher Kasten im schweizerischen Kanton Appenzell. Dieses Zeugnis englischer Reisefreudigkeit im 19. Jahrhundert löst in mir noch heute ein Lächeln aus, wenn ich das Bild vor mein inneres Auge rufe.

In Kalimpong verabschiede ich mich von der Reisegruppe. Shailendra Prakash, Supervising Agent für die Teegärten Ging, Bannockburn, Phoobsering und Tukdah, bringt mich zurück nach Darjeeling. Er wählt den direkten Weg über Tukdah Bazaar – ein leicht halsbrecherisches Unterfangen auf dem steil sich hochwindenden Bergsträßchen. Im Planter’s Club ist die Atmosphäre noch immer angespannt. Der Sekretär fungiert als zentrale Meldestelle für die Probleme der Pflanzer, die unter der politischen Agitation leiden. So kann der Manager von Tea Estate Soom mit den Löhnen für seine Arbeiter die Stadt nicht verlassen. Vom Garten Lingia aus können die Kisten mit dem fertigen Tee nicht abtransportiert werden. Nach Einbruch der Nacht, bei kühlem Nebelregen, fahren wir dann unbehelligt zur naheliegenden Plantage Ging und zu Prakashs geräumig-gemütlichem Bungalow. Die Gespräche während und nach dem schmackhaften Abendessen dauern bis weit in die Nacht hinein. Mein Bett ist mit einer Wärmeflasche bestückt.Ich schmunzle.

Und gleich nochmals am andern Morgen um halb sieben. Es klopft an meiner Zimmertür. Der Boy öffnet, wünscht»Good morning, Sir«, und schiebt auf einem Trolley sanft klirrendes Geschirr an mein Bett. Während ich mich aufrichte und ein Kissen hinter den Rücken schiebe, schenkt er dampfenden Tee ein und rückt den Teller mit den Keksen in Reichweite. Mein erster early morning tea. Ich spüre, wie das Getränk durch die Kehle rinnt, in der Bauchhöhle ankommt und sie wärmt, und lobe die Vorsehung für diese Idee in hohen Tönen. Das ist jedoch nur der leicht verstiegene Gedanke aus dem Wohlbefinden eines Gastes, in Wirklichkeit gehört dieser frühe und so belebende Tee zum Arbeitstag des Plantagenmanagers, der oft schon um fünf Uhr beginnt, um nach dem Rechten in Feld und Fabrik zu sehen. Dorthin kommt das Pflückgut des Tages und dort findet nachtsüber unter Aufsicht des Teamakers die enzymatische Oxidation der Teeblätter statt. (vgl. S. 248)

An diesem Tag erhalte ich erste Einblicke in das Funktionieren eines TeaEstate (T.E.) – in Darjeeling aufgrund seiner relativen Kleinheit auch Teegarten genannt. Das in China übliche, kleinbäuerliche Produzieren von Tee wurde von den Briten neu konzipiert durch einen planvollen Anbau auf Flächen mit Tausenden von Teebüschen in Reihen und die Verarbeitung des Pflückgutes in Fabriken. In der Ebene von Assam, wo diese Arbeit pionierhaft geleistet wurde, sind die Abläufe einfacher zu bewerkstelligen als in Darjeeling mit seiner zerklüfteten Topographie mit Höhenunterschieden von bis zu 1500 Metern (T.E.Soom!) in derselben Plantage. Erstreckt sie sich über Moränenzüge ohne direkte Wegverbindung, dann überbrücken Seilbahnen die Talsenken. Höchstens sechs Stunden dürfen vergehen zwischen dem Abtrennen des Blattes vom Zweig, also von seiner Nährbahn, bis zum Beginn des Feuchtigkeitsentzuges mittels Heißluft in den Welktrögen. Dauert es länger, dann verändern sich durch unkontrollierte Oxidation die Blattinhaltsstoffe und damit die Aromatik in einer Weise, die sich im fertigen Tee als Fehlton bemerkbar macht und mit einem Preisabschlag quittiert wird.

Auf der Fahrt in seinem japanischen Mini-Jeep Maruti Gipsy auf den Erdwegen von T.E. Bannockburn weist Prakash auf die Markierungen der einzelnen divisions und sections hin, die ich später numeriert auf der handgezeichneten Übersichtskarte im Büro wiederfinde. Sie sieht aus wie ein Flickenteppich und ist die Grundlage für den Einsatz der Pflückerinnen. Der Zeitpunkt des Austriebs der Schösslinge hängt in Gärten mit großen Höhenunterschieden vom Mikroklima ihrer divisions ab, besonders bedeutsam für den ersten Austrieb nach der Winterruhe, der als First Flush ins Angebot kommt. Gepflückt wird nach der Regel two leaves and a bud, zwei Blätter und ein Trieb. Das ruft nach spitzfingriger Sorgfalt, weshalb dieses sogenannte fine plucking in Indien traditionell Frauenarbeit ist. Was hier deutlich wird: Kraft und Aroma einer Tasse Tee liegen buchstäblich in den Händen der Pflückerinnen. Ihre Arbeit ist Facharbeit. Das erinnert mich an ein anderes Prinzip selektiven Pflückens auf Château d’Yquem im Sauternes, wo nur von der Edelfäule befallene, überreife Beeren aus der Traube geschnitten und in die Kelter gebracht werden dürfen.

Ob diese Sorgfalt in allen Teegärten angewendet werde, frage ich Prakash. Seine nach indischer Art unentschieden wiegende Kopfbewegung verstehe ich als Relativierung seiner bejahenden Antwort. Eindeutiger fällt sie aus an den Dienstagsauktionen der Darjeeling-Gartentees in Calcutta, wo Bietergefechte um die besten Partien aus der First Flush- (März/April) und aus der Second Flush-Periode (Juni) mit hohen Notierungen enden können. Prakash erläutert: »Nur die Wachstumsbedingungen dieser Monate ergeben ein Blattgut, aus dem jene aromatisch betörenden Darjeelings erzeugt werden können, die unser Renommee begründet haben: Im First Flush sind Duft und Geschmack primelartig, im Second Flush moscatelartig. Wir reden von einer Produktionsmenge pro Saison und mit dieser Charakteristik von zehntausend, wenn alles gutgeht vielleicht von zwanzigtausend Kilo, das bewegt sich im Promillebereich der Jahreserzeugung unseres Distrikts. Dem steht eine starke Nachfrage aus Deutschland, Japan und dem Nahen Osten gegenüber, was die hohen Preise erklärt.«

Ich frage mich, ob hier dasselbe geschehen wird wie in Bordeaux, wo das begrenzte Angebot aus ein paar Rebgütern auf die massiv gewachsene Weltnachfrage gestossen ist. Sie hat eine Preisentwicklung in Gang gesetzt, die eher die Renommiersucht einer finanzkräftigen Kundschaft spiegelt als die Honorierung eines außergewöhnlich gelungenen Zusammenspiels von Mensch und Natur.

Wir halten an einer Sammelstelle, wo das Pflückgut kontrolliert, gewogen, notiert und danach zur Fabrik transportiert wird. Die Bezahlung erfolgt nach Menge. Über die Entlohnung hinaus erhält eine Arbeitskraft auf T.E. Bannockburn jeden Samstag Mehl und Reis zu stark subventionierten Preisen. Den Familien steht unentgeltlich ein Häuschen zur Verfügung, in den Gärten rundum ziehen sie Feldfrüchte und oft halten sie Hühner, Schweine und Ziegen. Der Kleinhandel auf der Plantage verkauft Seife, Streichhölzer, Öl und andere Dinge des täglichen Grundbedarfes. Die Plantagengesellschaft kommt auf für die medizinische Grundversorgung, Unfallversicherung, Kleinkinderhort, Kindergarten und finanziert darüber hinaus die ersten fünf Schuljahre. Diese Leistungen sind gesetzlich vorgeschrieben.

Ich notiere mir später: Bescheidene, aber stabile Lebensverhältnisse, oft über Generationen hinweg. Der Mangel an Arbeitskräften in der dünnbesiedelten Region ist ein Problem, sie müssen in anderen Gebieten für einen sozial nicht sehr angesehenen Beruf angeworben werden, was nur möglich ist mit einer überdurchschnittlichen Bezahlung. Die Abhängigkeit ist gegenseitig: Darjeelingtee überlebt nur mit der Erzeugung seiner in ihrer Charakteristik einmaligen Gewächse aus den beiden Qualitäts-Saisons. Erste Voraussetzung hierfür ist die Pflückung der Blätter von Hand.

Prakash sprach gestern Abend davon und meinte, die schwierigen Anbaubedingungen seien zugleich Segen und Last für die Plantagen: Einerseits brauche es Hanglagen in großer Höhe mit den entsprechenden klimatischen Bedingungen, um überhaupt Spitzenpartien herstellen zu können. Andererseits seien die Gärten deswegen nur sehr mühsam und mit großem personellen Einsatz zu bewirtschaften. Es kommt hinzu, dass der durchschnittliche Ertrag pro Hektar im Vergleich mit Assam nur ein Drittel bis ein Viertel beträgt. »Viele Teegärten in Darjeeling befinden sich darum seit geraumer Zeit in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Schwerer noch wiegt aber die Tatsache, dass es für die qualitativ geringen Tees außerhalb der beiden flush seasons, wir nennen sie hier off season und meinen damit die in den Monsunmonaten Mai und August bis Oktober gepflückten und verarbeiteten rain teas, kaum einen Markt gibt. Die dafür erzielten Preise liegen weit unter den zu deckenden Kosten. Dieser Verlust lässt sich auch nicht durch die teilweise sehr hohen Erlöse für die Spitzenpartien auffangen.«

»Was sind denn die Merkmale solcher Spitzenpartien?«, frage ich ihn.

»Das innerhalb von einem bis maximal drei Tagen – entscheidend sind gleichbleibende Wetterbedingungen! – eingebrachte Pflückgut aus einer bestimmten division hat auch die gleiche Blatt-Beschaffenheit. Sie ist die Voraussetzung für die Bildung der Aromatik, wie ich sie vorhin beschrieb. Es handelt sich jeweils um eine Menge von ein- bis mehreren hundert Kilogramm. Diese Partie bekommt beim Eintrag in das Ernte- und Produktionsbuch eine Invoice-Nummer, die auf allen Transportkisten und -säcken angebracht und in sämtlichen Begleitdokumenten vermerkt wird. Sie figuriert auch auf den Auktionslisten in Calcutta und ist dem Käufer Garantie, die Partie zu bekommen, für die er nach vorangegangener Bemusterung an der Auktion geboten hat. Die Anzahl solcher Invoices pro Garten und Qualitätsperiode bestimmt der Witterungsverlauf. Sie liegt zwischen zwölf und 20.«

»Dann gelangen Muster solcher Invoices also sofort nach Produktion über die Broker in die Probierzimmer der Teefirmen in aller Welt?«

»So ist es. Und wenn die Aromatik überzeugt, dann senden diese ihr Kaufgebot an ihren Broker in Calcutta, dem Vermittler zwischen Produzent und Endkäufer. Der Zuschlag für eine bestimmte Invoice erfolgt auf das höchste Gebot hin.«

»Und was spielt die Invoice-Nummer für eine Rolle, nachdem ein Gebot erfolgreich war und die Kisten beim Käufer angekommen sind?«

Prakash zögert und wiegt erneut den Kopf. »Keine mehr. Invoices werden normalerweise gemischt, im besten Fall mit solchen aus dem gleichen Garten und der gleichen Flush-Periode.«

»Mischen verwischt den Charakter«, wende ich ein.

»Ja, natürlich. Aber so geringe verfügbare Mengen unserer First und Second Flush Invoices kommen nicht in das Angebot an den Konsumenten. Sie sind einmalig und man riskiert, seine Kunden zu verärgern, wenn man eine bestimmte Invoice nicht nachliefern kann.«

Wir diskutieren noch hin und her. Im Stillen beschließe ich, auf das einzugehen, was er ein Risiko genannt hat.

Übervoll mit Eindrücken begebe ich mich zurück in die Stadt, wo ich im Windamere einchecke und ein behaglich eingerichtetes Zimmer beziehe, zu dem man durch eine geschlossene Veranda mit Garderobe, Tischchen und zwei Korbstühlen gelangt. Gegen sechs Uhr wird dort unaufgefordert Tee serviert. In der Stunde darauf kommt die gleiche Tibeterin nochmals mit zwei Bettflaschen, eine für jeden Fuß. Ein Boy erscheint mit einem holzgefüllten Kanister. Sobald ich sein Hantieren mit Spänen und Scheiten und bald darauf das knisternde Feuer im Kamin des Schlafzimmers höre, bemächtigt sich mir ein herrliches Gefühl von Behaglichkeit, denn draußen herrscht herbstlich feuchte Kälte. Nebelschwaden steigen aus den Tälern empor. Der Monsun trommelt aufs Dach. »Mit den Englishmen ist’s mir komisch ergangen«, schrieb Hermann Hesse 1912 in einem Brief an Ludwig Thoma, abgedruckt in seinen Erinnerungen Aus Indien.»Ich fand sie alle etwas gereizt, zum Teil auch ängstlich, aber was sie da draußen im Pfefferland treiben und was sie dort als europäische Kultur servieren, ist halt doch bei aller Einseitigkeit recht schön und wird sonst von niemand serviert.« Das Taschenbuch hat seine Nische in meinem Koffer.

Während des Abendessens im Speisesaal, dessen eine Seite wie ein Schiffsbug ins Gelände hinausragt und bei Tag durch seine mit geblümten Vorhängen gesäumten Fenster die Sicht freigibt auf das dunkle Grün der tiefer liegenden Hügelzüge, notiere ich mir auf der Rückseite der sauber vervielfältigten Menükarte: »Dieses Windamere ist ein Mirakel. Mrs. Tenduf-La hat ihre Augen überall. Sie geht von Tisch zu Tisch und wechselt ein paar Worte mit ihren Gästen, so sorglich und freundlich wie Hulda Zumsteg in der Zürcher Kronenhalle meiner jüngeren Jahre. Die Kellner tragen ein grün-weißes Tuch in der Art eines Turbans um den Kopf geschlungen, leicht schief, über der Stirn zusammengehalten von einer goldenen Spange. Auf jedem Tisch stehen frische Blumen. Das Essen besteht aus schmackhafter Hausmannskost und wird auch so serviert: Die Suppe aus der Schüssel geschöpft, das Kartoffelgratin aus einer heißen Schale, und nach Abschluss der Mahlzeit steht ein dampfender Krug Tee auf dem Tisch.«

It is very English but wholly Tibetan, so könnte man das Windamere charakterisieren und damit auch den Werdegang dieses gastlichen Hauses, in dem bisher kein Fernsehen installiert wurde und erst kürzlich das interne Telefon, durch welches ein externer Anruf von der Rezeption zunächst höflich angemeldet und gefragt wird, ob eine Entgegennahme passend sei. Es ist eine Kultur der Langsamkeit à la mesure de l’homme, wie mir scheint, und auch eine Kultur der Sinnlichkeit, die es vorzieht, äußere Wärme von einem Kaminfeuer zu empfangen statt durch Knopfdrehen an einer Zentralheizung; und innere Wärme durch ein paar Tassen Tee beim Lesen oder Zurückblicken auf den Tag statt durch Knopfdruck an einem elektronischen Erregungsgerät.

Mit diesen Gedanken beginnt eine schlaftiefe Nacht. Beim Erwachen um sechs Uhr sehe ich durch den Spalt zwischen den Vorhängen hellen Himmel. ›Der Kangchenjunga!‹, denke ich und springe auf, ziehe mich an und stürme aus dem Zimmer. Auf dem Vorplatz errät ein Wärter den Grund meiner Eile und bestätigt meine Erwartung mit dem Wort »Kangchenjunga«. Sollte ich nach all den wolkenverhangenen Tagen ihn nun erblicken, den Hausberg von Darjeeling, den dritthöchsten Gipfel der Welt? Mit raschen Schritten steige ich den hinter dem Hotel wegführenden Pfad zum Observatory Hill hinauf. Und dann sehe ich sie, die fünf wolkenfreien Gipfel im fahlen Licht der Morgensonne, Sitz der Götter in den Lepcha-Sagen. Auch in achtzig Kilometer Entfernung noch ein imposanter Kranz von Schneegiganten mit Graten, Schründen und Eisfeldern, ein Bild, das mich einfach stehen, staunen und völlig außer acht lässt, ob mein schneller Puls der dünneren Luft oder diesem Eindruck geschuldet ist. Erst nach einer Weile bemerke ich die riesigen Zedern, Rhododendren und Fichten im Vordergrund, und mein Erinnerungsvermögen aktiviert Bilder und Sätze von Marianne North, der viktorianischen Malerin und Weltreisenden des 19. Jahrhunderts, die drei Tage lang am Gemälde dieses Bergmassives gearbeitet hat. In dem Buch A Vision of Eden merkt sie dazu an, dass ihr Malerglück sie nicht im Stich gelassen habe, denn der Mount Kangchenjunga habe jeden Tag für die ersten drei Stunden nach Sonnenaufgang den Blick auf sich selber freigegeben, bevor er sich wieder hinter Wolken zurückzog. Ihre 832 Bilder von Pflanzen und Landschaften aus aller Welt hängen in der von ihr eigens dafür gebauten North Gallery, in den Kew Gardens, London.

Auf dem Weg zurück ins Hotel tönt Blasmusik aus der tiefer liegenden Stadt. An der Rezeption erkundige ich mich, ob man sich auf ein Fest vorbereite. Nein, die Knabenmusik der Robert’s High School probe jeden Morgen um diese Zeit. Ich höre genauer hin – Märsche, Volkslieder, Walzer, inklusive Trommeln und Paukenwirbel. Wieder dieses Gefühl von Heimat, aber auch von Belustigung bei der Intonierung von Stille Nacht. Nun ja, wiegle ich mein Erstaunen ab, es ist immerhin schon Ende September. Zum Frühstück passiere ich den Tisch eines älteren Paares, welches mich anlacht und fragt, ob ich das auch gehört habe. Er sei hier geboren und zur Schule gegangen, erzählt mir der Mann, bevor seine Familie zurück nach England gezogen sei. Selber habe er die Trompete geblasen im College in North Point. So fügt sich mein Bild einer lebendigen Vergangenheit dieses Teedistrikts und solch scheinbare Nebensächlichkeiten sind mir so bedeutsam wie Kenntnisse in Topographie, Botanik, Klima und Arbeitskultur in den Gärten. Beides gehört zusammen, gehört zum Wissen um das Entstehen feiner Erzeugnisse an diesem Ort mit seiner noch kaum versunkenen Lebenswirklichkeit. Die Darmflora meines Körpers bestätigt dieses ganzheitliche Denken mit einer leichten Errötung. Nicht weiter verwunderlich nach den unzähligen Tassen Tee.

Der Tag steht dann ganz im Zeichen des Besuches auf T.E. Tumsong, besser gesagt: bei Teddy Young, Manager dieses Gartens und letzter englischer Teepflanzer im Distrikt. Sein schöner junger Freund Benedict Singh holt mich ab. In einer anderthalbstündigen Fahrt auf kurvenreichen Umwegen – der massive Regen der vergangenen Nacht hat die kürzere Strecke durch Erdrutsche unpassierbar gemacht – gelangen wir zum fabriknahen Bungalow, wo Teddy uns erwartet. Zunächst, wie immer, ein willkommener cup of tea in der guten Stube. Seine Stimme ist etwas feldwebelhaft hoch, so als wolle der Letzte seiner Art noch einen deutlich hörbaren, wenn auch vom Druck der Einsamkeit nicht ganz freien, Schlusspunkt setzen. Aber was er sagt, kann nur er noch sagen. Er ist der einzige Pflanzer, der aus praktischer Erfahrung weiß, wie man eine Bergplantage anlegt. In Sikkim hat er den Garten Temi konzipiert und gebaut, ein für seine Blattqualität rasch berühmt gewordener Name, der gute Preise erzielt. Teddy erzählt von der Bedeutung der Bodenbeschaffenheit in Aufbau und Wasserhaushalt, der mikroklimatischen Einflüsse auf das Blattwachstum, der Buschpflege und -erneuerung, der unterschiedlichen Bildung der Blattinhaltsstoffe in den Bergen und im Tiefland – kurz: Er bringt die verborgenen, aber qualitätsrelevanten Produktionsfaktoren zur Sprache, und es ist wie ein Dialog zwischen uns, denn all sein Erzählen und mein Fragen erinnert mich in vielem an den mir vertrauten Weinbau.

Sein Großvater gehörte zur ersten Pflanzergeneration im Distrikt, die nach Mitte des 19. Jahrhunderts hier eintraf. Im abgegriffenen Fotoalbum zeigt er mir Bilder seiner Vorfahren, wettergegerbte Gesichter über drahtigen Körpern mit Händen, die die Erde lieben. Es sind Pioniergestalten, über die ich mich bewundernd äußere, woraufhin er weitere Bilder holt, auch von Besuchen in Calcutta, d.h. jenem Teil der Stadt, den die Briten neben der native town errichteten und ihn bezeichneten als a village of palaces – das bemerkenswerteste Understatement, das mir je zu Ohren kam. Mein Herz verjüngt sich auf abenteuerliche Weise beim Anblick aufgereihter Leibgarden, prächtig geschmückter Elefanten und offener Automobile mit breiten Trittbrettern und geschwungenen Kotflügeln. Auch wenn das alte Gepränge versunken ist, so weckt es doch meine Vorfreude auf den Besuch der Hauptstadt Westbengalens. Teddy lernte Hindi durch seine einheimische Nanny, bevor er Englisch sprach. Geboren in Darjeeling möchte er auch dort begraben werden wie seine Mutter, die vergangenes Jahr gestorben ist. Er zeigt mir den Ort ihrer letzten Ruhe im Garten, von wo der Blick frei schweift über den gegenüberliegenden Berghang mit seinen terrassierten, hellgrün aufscheinenden Reisfeldern. Dort liegt Nepal.

Nach der Rückkehr in die Stadt treffe ich imWinda-

mere Mrs. Tendufs Sohn, Sherab Tenduf-La, Geschäftsmann in Toronto. Er verbringt einige Tage bei seiner alten Mutter.Wir sitzen im Musikzimmer bei einer Tasse Tee zusammen und wieder empfinde ich die Atmosphäre als very English but wholly Tibetan, verkörpert in einer Person mit Umgangsformen von leiser, ganz und gar zugewandter Freundlichkeit. Nicht zu viel und nicht zu wenig in Worten und Gesten führen wir ein Gespräch über seinen Geburtsort Darjeeling, dessen Entwicklung und besonders sein Interesse am Toy Train, dieser sensiblen Lebensader zur großen Welt.

Als ob das Füllhorn mit Berichten aus dem Gestern und dem Heute noch nicht voll genug gewesen wäre: Beim Abschied von ihm und seiner Mutter am anderen Morgen stellt mir diese eine ebenso zierliche ältere Dame vor, die Witwe des vor vier Monaten in Darjeeling verstorbenen Tenzing Norgay. Der Name weckt eine Jugenderinnerung, denn in Europa wurde er bekannt als Sherpa Tenzing, dem zusammen mit Edmund Hillary die Erstbesteigung des Mount Everest im Jahr 1953 gelungen war.