Der tiefe Riss - Susanne Garsoffky - E-Book

Der tiefe Riss E-Book

Susanne Garsoffky

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Beschreibung

Eines der letzten gesellschaftlichen Tabus

Unser Sozialsystem benachteiligt Eltern, weil wir zwar Kinder brauchen, um es zu finanzieren, Kinder groß zu ziehen aber kaum honoriert wird. Arbeitgeber bevorzugen Kinderlose, dadurch ist Kinderlosigkeit gerade für gut ausgebildete Männer und Frauen ein attraktives Lebensmodell geworden. Kinderlose wiederum zahlen in den meisten Unternehmen mit Überstunden für die fehlgeschlagene Vereinbarkeitspolitik der vergangenen Jahre.

So entsteht ein tiefer gesellschaftlicher Riss. Um ihn zu überbrücken, brauchen wir ein gerechtes, völlig umgestaltetes Sozialsystem – weg vom Generationenvertrag – und ein Umdenken in den Unternehmen.

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Zum Buch

Willkommen in der Kampfzone zwischen

Eltern und Kinderlosen

Unser Sozialsystem benachteiligt Eltern, weil wir zwar Kinder brauchen, um es zu finanzieren, Kinder groß zu ziehen aber kaum honoriert wird. Arbeitgeber bevorzugen Mitarbeiter ohne Kinder, weil sie flexibler einsetzbar erscheinen. Dadurch ist Kinderlosigkeit gerade für gut ausgebildete Männer und Frauen ein attraktives Lebensmodell geworden. Kinderlose wiederum zahlen in den meisten Unternehmen mit Überstunden für die fehlgeschlagene Vereinbarkeitspolitik der vergangenen Jahre.

Dieses Buch tritt an, um diesem Zustand ein Ende zu bereiten. Es streitet für ein Umdenken in den Unternehmen und für ein völlig umgestaltetes, gerechteres gesellschaftliches Modell.

Zu den Autorinnen

Susanne Garsoffky, Jahrgang 1968, studierte Geschichte und Politikwissenschaften. Nach der Journalistenschule in Berlin war sie Reporterin bei der Berliner Morgenpost, dann Autorin und Redakteurin beim WDR und hat u. a. das Magazin »frauTV« mitgestaltet. Sie ist Geschäftsführerin der Produktionsfirma Elternhaus Media. Susanne Garsoffky ist Mutter zweier Söhne.

Britta Sembach, Jahrgang 1968, studierte Politikwissenschaft, Geografie und Portugiesisch. Nach einem Volontariat arbeitete sie als Redakteurin, Reporterin und Autorin für die Nachrichtenagentur Reuters, Printmedien und TV-Sender, darunter der WDR und die Deutsche Welle. Sie ist momentan für einige Jahre Korrespondentin in New York für mehrere Zeitungen. Britta Sembach ist verheiratet und Mutter zweier Söhne.

Susanne GarsoffkyBritta Sembach

Der tiefe Riss

Wie Politik und Wirtschaft Eltern und Kinderlose gegeneinander ausspielen

Pantheon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Viele Frauen und Männer haben uns für dieses Buch ihre Geschichten erzählt. Wir haben ihre Namen und Lebensumstände geändert.Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.Erste AuflageSeptember 2017Copyright © 2017 by Pantheon Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Jorge Schmidt, MünchenSatz: Ditta Ahmadi, BerlinISBN 978-3-641-18340-0V001www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Einleitung

1 Engel oder Egoisten Warum Kinder nicht glücklich machen müssen und Kinderlosigkeit nicht frei

Mythos Elternschaft

Nicht kinder-, sondern elternfeindlich

Eltern sein als Leistungsanspruch

Was ist überhaupt noch normal?

Kranke Ansprüche

Kranke Kinder

Mythos Kinderlosigkeit

Jahrzehntelang nur falsche Daten

Kinderlosigkeit ist nicht neu

Kinderlos aus Unentschlossenheit

Auch immer mehr Männer bleiben kinderlos

Die Entscheidung für ein Kind fällt so spät wie möglich

Die Kultur des Bereuens

Die Angst vor der Verantwortung

Fluch und Segen: Das ständige Reden über sich selbst

2 Firma oder Familie? Wer früher geht, ist schneller raus: Warum Kinderhaben ein Wettbewerbsnachteil ist – und Kinderlose ausgenutzt werden

Bei der Vereinbarkeit verliert immer einer

Teilzeit – Ein Problem für Kinderlose

Zu viel Arbeit für zu wenig Mitarbeiter

Von Persil zur Ökoseife

Die Vertreibung aus dem Paradies

Das »atmende« Unternehmen

Rationalisierung, Flexibilisierung – Stress

Familienfreundlichkeit – nur auf Kosten anderer

Warum beschwert sich niemand?

Sage mir, was du fühlst – und ich sage dir, wie du arbeitest

Die Demografen reißen mit

Wir brauchen einen neuen Feminismus!

3 Geld oder Liebe? Warum Kümmern nicht privat und erst recht kein Vergnügen ist

Das politische Private

Von Schweinen und Koteletts

Vollkaskoversicherung für Kinderlose

Kümmern ist Liebe

Das Leid am Ende der Kümmerkette

Markt gegen privat

Wenn Sinn wichtiger wird als Geld

Mehr Geld, weniger Mütter

Das bedingungslose Grundeinkommen: Lösung oder verrückte Idee?

Grundeinkommen: Wer soll das finanzieren, es arbeitet doch keiner mehr

Kinderrente gegen Familienarmut

Endlich Gerechtigkeit!

Apropos Solidarität

Kinder haften für ihre Eltern

4 Heute oder morgen? Warum die alternde Gesellschaft eine Zumutung für unsere Kinder ist

Trist, trister, am tristesten?

Dauerbrenner Rentendebatte

Gerda und Paul allein zu Haus?

Kinder sind Zukunft

Sind weniger mehr?

Alter 4.0

Alt ist nicht gleich alt

Schreckensszenarien aus dem »Land des Lächelns«

Alt werden immer nur die anderen

Kinder gestalten das Morgen – aber wie?

Gebt den Kindern das Kommando!

Wahlrecht für die Jugend

Nicht nur Geld – auch Arbeit umverteilen!

5 Geld und Liebe Was es braucht, um den Riss zu kitten

Das System passt nicht mehr in die Zeit

Niedrige Geburtenraten akzeptieren

Alle Kraft voraus

Kinder stören bei der Arbeit

Mütter und Väter werden in unserem Sozialsystem bestraft

Rumdoktern oder Systemwandel – das ist hier die Frage

Neue Ideen für ein altes System

Dauerthema: Einzahlerbasis verbreitern

Neue Wege für eine neue Gesellschaft: Das bedingungslose Grundeinkommen

Angst vor der Digitalisierung gibt der Diskussion Schwung

Eine zutiefst humanistische, aber auch schillernde Utopie

Macht das Grundeinkommen faul?

Quo vadis?

Dank

Anmerkungen

Einleitung

Wir machen alles falsch. Nicht auf den ersten Blick, denn die meisten von uns laufen anständig gekleidet, gut ausgebildet und berufstätig durch Deutschlands Straßen. Und bilden damit die breite, von Wirtschaft und Politik umgarnte Mittelschicht. Aber spätestens bei der Antwort auf die zunächst harmlos klingende Frage nach unserer Kinderzahl treten wir in den Fettnapf. Und zwar immer. Entweder wir haben Kinder und unterliegen damit sofort dem Verdacht – vor allem in Magazinen und Sonntagszeitungen –, übervorsichtige, überehrgeizige oder überbehütende Mütter und Väter zu sein. Oder wir haben keine Kinder und werden – wiederum in Magazinen und Sonntagszeitungen – als egoistische, karrieregeile und verantwortungslose Männer und Frauen beschimpft, die sich nur um eines kümmern: sich selbst. In Deutschland im gebärfähigen Alter zu sein ist ein Graus.

Wir lassen uns von jeder noch so kleinen Überschrift provozieren und gegeneinander aufbringen – anstatt dass wir uns zusammenschließen, die Menschen mit und die ohne Kinder, um gemeinsam diesen Schimpftiraden ein Ende zu bereiten.

Wir lassen zu, dass permanent unser Lebensentwurf infrage gestellt wird, und schieben uns gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Für die steigende Steuer- und Abgabenlast, die »Können-wir-uns-das-noch-leisten«-Rentendebatte und überhaupt gleich das Scheitern des ganzen Sozialstaates. Wir tragen – jeder auf seiner Seite – zu einem tiefen Riss bei, der sich quer durch unsere Gesellschaft zieht. Und an dessen Rändern sich Eltern und Kinderlose manchmal ratlos, manchmal unversöhnlich gegenüberstehen.

Die Gründe, dass aus diesem Riss mittlerweile ein tiefer Graben geworden ist, haben uns schon vor einigen Jahren die Demografen geliefert. Verstärkt wurde der Konflikt noch durch deren Uneinigkeit über die Interpretation ihrer eigenen Daten und Prognosen. Während die einen die Zukunft düster malen, das Ende unseres Sozialstaates vorhersagen und damit Bestsellern wie Frank Schirrmachers Methusalem-Komplott oder Überschriften wie »Die Deutschen sterben aus« Nahrung gaben, halten die anderen solche Szenarien für Verschwörungstheorien. Hinter ihnen stünden vor allem die neoliberalen Pläne, den Sozialstaat weiter zu reduzieren und Sozialleistungen zu kürzen.1

So uneinig, wie sich die Wissenschaftler sind, so unsicher reagiert die Politik: Ein Minister, eine Ministerin nach der anderen versucht, einigermaßen sinnvolle Handlungsanweisungen abzuleiten aus der Tatsache, dass wir keine Alterspyramide mehr haben, bei der eine breite Schicht der Berufstätigen die kleine Spitze der Alten versorgt. Und aus der Frage, welche Auswirkungen die demografische Urne, die an die Stelle der Pyramide getreten ist, tatsächlich auf uns und unseren Sozialstaat hat. Gelungen ist es niemandem. Die Politiker haben keine überzeugenden Antworten und Lösungen für den Wandel unserer Gesellschaft gefunden, ja noch nicht einmal eine breite Diskussion in Gang gesetzt, die ohne Schaum vor dem Mund mögliche Weichenstellungen skizziert.

Und die Wirtschaft? Die freut sich. Lenken all diese Zahlen und Debatten über den Geburtenrückgang, den drohenden Fachkräftemangel und die leeren Sozialkassen doch seit fast zwei Jahrzehnten davon ab, welche Weichen Konzerne und mittelständische Unternehmen für ihre vermeintlich so wertvollen Belegschaften in den 1990er-Jahren und Anfang der 2000er-Jahre gestellt haben. So wurden und werden – neues Jobwunder hin oder her – Arbeitsplätze abgebaut beziehungsweise ausgelagert in billigere Produktionsstätten nach Polen, Rumänien oder Asien. So gibt es immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Zeitverträge und die deutschen Durchschnittslöhne stagnieren seit fast 15 Jahren. Die Arbeit in den Abteilungen und an den Werkbänken ist dermaßen verdichtet, dass jeder Krankheitstag einer Kollegin zum Chaos in der Abteilung führt.

Unternehmer, Wissenschaftler und Politiker stehen also mit uns an den Rändern dieses Risses durch die Gesellschaft und sehen zu, wie wir uns gegenseitig das Leben schwer machen und der Riss immer tiefer wird. Besonders gut zu beobachten ist der tägliche Kleinkrieg zwischen Menschen mit und Menschen ohne Kindern in Arztpraxen, Abteilungen größerer, mittlerer und kleiner Unternehmen, Serviceteams im Hotel oder in Schulen – also überall dort, wo Eltern und Kinderlose miteinander arbeiten müssen. Rücksichtslosigkeit ist noch das harmloseste, was sich die beiden Seiten vorwerfen. Offen ziehen Kinderlose über die auf halber Stelle und damit vermeintlich mit halber Leistung arbeitende Mutter in ihrem Team her, die beim Meeting um 17 Uhr schon wieder nicht da ist, obwohl man selbst gern auch nach Hause oder ins Kino gehen würde. Und Eltern lästern hemmungslos über den kinderlosen, karrieregeilen Kollegen, der trotz einer 50-Stunden-Woche noch die Zeit hat, ins Fitnessstudio zu gehen – weil er ja sonst kein Leben hat.

Aus der Demografie- ist längst eine Neiddebatte geworden, in der beide Seiten so damit beschäftigt sind, ihr eigenes Lebensmodell zu verteidigen, dass sie blind geworden sind für die Fakten. Dabei lohnt es sich, diese einmal genauer anzuschauen, ohne gleich Luft für die nächste Rechtfertigung zu holen:

– Nur noch weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland leben in einer Familie.2

– Kinder sind ein Armutsrisiko in Deutschland. Wer Kinder bekommt, erlebt einen Bruch in seiner Erwerbs- und damit auch in seiner Rentenbiografie, der oft nicht mehr aufzuholen ist.3

– Kinderlosigkeit ist in Deutschland – vor allem in Westdeutschland – im internationalen Vergleich besonders verbreitet. Laut dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) sind 20 Prozent der zwischen 1963 und 1967 geborenen Frauen kinderlos, bei den Jahrgängen 1968 bis 1972 lag der Wert im Jahr 2012, als diese Frauen 40 bis 44 Jahre alt waren, bereits bei 22 Prozent. Betrachtet man nur den Jahrgang von 1972 blieb hier sogar jede vierte Frau (24,7 Prozent) kinderlos.4

– In gut 20 Jahren werden wir 40 Prozent mehr Rentner in Deutschland haben als heute, während die Zahl der Erwerbstätigen um ein Viertel schrumpft.5

– In zehn bis fünfzehn Jahren, wenn die »Babyboomer« in Rente gehen, werden immer mehr Menschen die selber keine Kinder haben, eine von der dann erwerbstätigen Generation zu bezahlende gesetzliche Altersrente beziehen.6

Mit diesen Nachrichten sind sehr viel mehr existenzielle Fragen verbunden als die nach schnellen Karrierewegen ohne Kinder oder der Nachhaltigkeit von Baby-Windeln. Zum Beispiel: Was passiert mit einem umlagefinanzierten Rentensystem – in dem also die Erwerbstätigen für die Rentner zahlen –, wenn das Gleichgewicht so dermaßen aus den Fugen gerät? Wie erklären wir Eltern, die die nächste Generation von Beitragszahlern großgezogen haben, dass deren eigene Rente nicht zum Leben reichen wird? Dass es ökonomisch vernünftiger ist, keine Kinder zu haben und durch die Kinder anderer abgesichert zu sein, weil wir den Wert von Kindern sozialisiert, die Kosten für sie aber privatisiert haben, wie der Ökonom Martin Werding so treffend formuliert.7

Oder auch: Was passiert, wenn die Alten das Regiment übernehmen, weil sie die Mehrzahl der Wähler stellen? Wer setzt sich noch ein für die Interessen der Jungen, für die Zukunft?

Auf der anderen Seite muss auch die Frage beantwortet werden, ob es überhaupt sinnvoll und notwendig ist, so etwas wie Bevölkerungspolitik zu betreiben? Brauchen wir aufgrund der Produktivitätssteigerung und der Zuwanderung – die ja gerade in den vergangenen Jahren ein enormes Ausmaß erreicht hat8 – vielleicht gar nicht mehr Kinder? Und was würde das für eine Familienpolitik der Zukunft bedeuten?

Natürlich hat auch die Politik die Sprengkraft des Demografie-Themas längst erkannt – und fürchten gelernt. Besser keine ernsthafte und mit allem Nachdruck geführte Diskussion und keine Suche nach umfassenden Lösungen und neuen sozialpolitischen Wegen als ein Absinken in der Beliebtheitsskala. Die Agenda 2010, das radikalste Reformpaket, das eine Regierung jemals durchgesetzt hat und das zu einer der größten Wähler-Ohrfeigen der Nachkriegsgeschichte geführt hat, steckt allen Parteien noch zu sehr in den Knochen. »Wir wollen doch keine Panik verbreiten. Wenn wir wirklich sagen würden, was die Menschen aufgrund des demografischen Wandels in 20 Jahren erwarten wird, würden wir doch nur Angst schüren«, erklärte uns eine Sozialpolitikerin der großen Koalition im Jahr 2016.

Der Bielefelder Demograf Herwig Birg wirft der Regierung deshalb eine »strategische Desinformation« vor. So wurde zwar eine Demografie-Strategie entwickelt, ja sogar das Jahr 2013 zum Wissenschaftsjahr der »demografischen Chance« ausgerufen, die Bundesregierung hält mittlerweile regelmäßig Demografiegipfel ab. Das Einzige, worin sie gipfeln, sind allerdings meistens blumige Absichtserklärungen. Die Ursachen und möglichen Veränderungen würden aber nicht im Ansatz benannt. Herwig Birg, der seit Jahrzehnten vor dem demografischen Wandel warnt, wird fast bitter, wenn er sagt: »Zur Angst der Politiker vor der Wahrheit kommt die Feigheit vor dem Wähler.«9

Und so ist es vielen wahrscheinlich gar nicht so unrecht, dass der Riss zwischen Familien und Kinderlosen immer größer wird angesichts der Verteilungskämpfe in unserer Gesellschaft. Denn solange sich die beiden Gruppen in dem Klein-Klein der gegenseitigen Schuldzuweisungen verheddern, fehlt der Blick für das Wesentliche:

– Verspielen wir unser aller Zukunft, wenn immer mehr Menschen auf Kinder verzichten?

– Welche Last tragen die Kinder, die heute schon geboren sind und als eine Gruppe von wenigen Jungen viele Alte versorgen müssen? Wird die nächste Generation noch überforderter sein als wir?

– Wie fühlt es sich an, das Leben in einer geteilten Welt? Hier die leistungsfähigen und total flexiblen Singles und kinderlosen Paare, dort die abgekämpften Familienarbeiterinnen und -arbeiter?

– Und was bitte schön raten wir unseren Kindern? Können wir ihnen überhaupt noch Mut machen, eine Familie zu gründen? Oder sollten sie ihre Zukunftsplanung lieber durchkalkulieren wie den Businessplan bei der Gründung eines Unternehmens?

– Lösen sich am Rand des Grabens vielleicht sogar Zusammenhalt und Zugehörigkeit unserer Gesellschaft völlig auf? Was tritt dann an ihre Stelle?

– Und abschließend: Wer sind die Gewinner und die Verlierer dieser Entwicklung?

Diese Frage dürfte schon bald zu beantworten sein. Denn ganz egal, wie man den demografischen Wandel auch interpretieren mag. Fest steht: Wir müssen nicht auf ihn warten, er findet längst statt.

Weil die Menschen um uns herum alle genau so alt sind wie wir, halten sich viele von uns tatsächlich noch mit Anfang 40 für jung. Wer eigene Kinder hat, sieht spätestens mit dem Blick auf seine vierzehnjährige Tochter oder seinen zwölfjährigen Sohn, wie lächerlich das ist. Wer Kinder aber nur noch aus der Fernsehwerbung oder als Lärm und Dreck machende Meute vom Schulhof um die Ecke kennt, verwechselt allzu leicht Nicht-erwachsen-werden-Wollen mit tatsächlicher Jugend.

Unsere Gesellschaft ist schon längst alt. Das Durchschnittsalter in Deutschland liegt bei 44,1 Jahren. Damit haben wir die zweitälteste Bevölkerung der Welt.10 Nur die Japaner sind älter. Wer einmal auf dem Marktplatz von Breslau oder Prag steht und dann zurückkehrt nach Düsseldorf oder München, der hat daran keinen Zweifel. Und wird sich plötzlich bewusst, dass Spielplätze und Kinderlachen fast ganz aus unserem Stadtbild verschwunden sind. Es hat keinen Sinn mehr, diese Tatsache jahrein, jahraus lauthals zu beklagen. Wir haben zu wenige Kinder. Punkt. Daran ändern auch im Nachkommabereich steigende Geburtenzahlen nichts. Wir müssen anfangen, dem endlich Rechnung zu tragen, und die Frage beantworten, wie zukunftsfähig unsere Gesellschaft sein will.

Dazu könnte gehören, dass wir jungen Menschen, Familien und Kindern, deren Stimmen neben all den »Babyboomern« und »Silver Agern« immer leiser werden, wieder mehr Gehör verleihen. Und dass wir uns zu einem System bekennen, in dem nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern Menschen füreinander Verantwortung übernehmen: die Gesunden für die Kranken und die Jungen für die Alten. Am besten, ohne dass sich Kinderlose und Eltern an den Rändern des Risses zerfleischen.

Genau das aber zu verhindern wird schwer sein. Weil es ein so zutiefst persönliches und emotional besetztes Thema ist. Wir haben selbst in einer Expertenrunde erlebt, wie sogar Politprofis die Fassung verlieren und sich für die Tatsache, dass sie keine Kinder haben, a) fast entschuldigt, b) vehement gerechtfertigt und am Schluss mit Tränen in den Augen offenbart haben, dass sie eigentlich gern Kinder gehabt hätten. Und das alles in einer an sich sachlichen Diskussion über Kindergeld und Pflegeversicherungsbeiträge.

Bei dieser Veranstaltung wurde uns zum ersten Mal klar, dass es ihn gibt, den tiefen Riss. Dass er eine zersetzende Wirkung hat, und dass wir diese Diskussion unbedingt führen müssen. Dass wir mitten hinein müssen in die Kampfzone – aber eben auf einer anderen Ebene: auf der, die unabhängig von jedem Einzelnen die Strukturen anschaut. Und die guckt, wie wir unser Sozialsystem für die Zukunft tragfähig machen können, ohne uns gegenseitig unsere Lebensentwürfe um die Ohren hauen zu müssen.

Wir haben auch ein bisschen Angst davor. Denn wir haben die Gesichter unserer kinderlosen Freunde gesehen, als wir ihnen von unserem neuen Projekt erzählten. »Wir schreiben über Eltern und Kinderlose«, haben wir gesagt – und plötzlich fühlte es sich an, als ginge ein Licht aus, als würde es ein bisschen kälter im Raum. Menschen, die uns in herzlicher Freundschaft zugetan sind, haben plötzlich Angst bekommen. Angst, dass wir sie verurteilen könnten, ihr Leben abwerten oder uns erhöhen. Dass wir einen Keil zwischen uns treiben und etwas sehr Zerbrechliches kaputtmachen.

Dieser Blick voller Sorge und Unsicherheit hat uns alarmiert: Ist das wirklich so ein heikler Stoff? Dass er jede Menge Anlass für Diskussionen bietet, sieht man auch daran, dass immer mehr kinderlose Frauen das Bedürfnis haben, ihren Lebensentwurf öffentlich zu erklären oder zu rechtfertigen. In den vergangenen paar Jahren sind mehrere Bücher zum Thema erschienen, die wir mit etwas Herzklopfen in die Hand genommen haben – umgekehrt hatten auch wir nämlich Sorge, dass wir darin nicht gut wegkommen würden als erklärte Familienmenschen. Doch zum Glück sind auch hier nicht nur Menschen unterwegs, die auf Krawall aus sind. Im Gegenteil: Eigentlich wissen doch die meisten, dass wir diese Probleme – vor allem die großen strukturellen – nicht allein lösen können.

Aber wir können für Verständnis werben auf beiden Seiten. Wir können den Dialog fördern und gemeinsam nach guten Lösungen für alle suchen. Wir können selbst verhindern, dass wir gegeneinander ausgespielt werden. Im Kleinen ist das ganz einfach. Wir erinnern uns zum Beispiel an eine Situation, als wir mit der gewollt kinderlosen Autorin Sarah Diehl11 gemeinsam in eine Radiosendung eingeladen waren. Wir hatten so eine Ahnung, dass der Moderator eine hitzige Debatte wollte. Noch im Aufzug haben wir verabredet, dass wir dieses Spiel nicht spielen wollen. Auf seine erste Frage: »Gegen wen richtet sich denn Ihr Buch?«, sagte Diehl also entwaffnend ehrlich: »Jedenfalls nicht gegen Mütter!«12

Uns allen ist klar: Wir brauchen für eine funktionierende moderne Gesellschaft beides. Menschen, die Kinder bekommen und damit eine enorme Verantwortung für die Zukunft übernehmen. Und Menschen ohne Kinder, die mit voller Kraft und von Fürsorgeverpflichtungen weitgehend befreit im Hier und Jetzt an der Gestaltung und dem Wohlstand dieser Gesellschaft arbeiten. Etwa indem sie mit ihren relativ hohen Steuern »das System am Laufen halten«, wie es ein alleinstehender Freund treffend sagte. Das stimmt in gewisser Weise sogar, aber dazu später mehr. Allerdings gilt das nur für die Gegenwart, Eltern sorgen hingegen dafür, dass genau dieses System auch in der Zukunft noch funktioniert. Und so hat beides seinen unbedingten Wert: Der hohe Einsatz der meisten Kinderlosen in der Arbeitswelt, aber eben auch der Einsatz der Mütter und Väter in ihren Familien. Diesen Zusammenhang und die Wertschätzung dafür vergessen wir zuweilen. Und so kommt es, dass sich am Ende alle als Verlierer fühlen. Diese Spirale von immer mehr Unmut und Unverständnis wollen und müssen wir aufhalten. Wenn wir das nicht tun, können wir uns von jedwedem Solidaritätsgedanken verabschieden.

Wir wissen, dass man mit diesem Thema die Gefühle von Menschen verletzen kann. Denn es ist fast unmöglich, dieses Thema rein theoretisch zu diskutieren. Ein unerfüllter Kinderwunsch etwa ist nicht abstrakt, sondern oft mit unendlichem Leid verbunden. Wir tun es trotzdem. Was wir jedoch nicht wollen, ist, den Graben noch tiefer, den Riss noch größer zu machen. Wir wollen die Missstände im System klar benennen und gleichzeitig Brücken bauen. Wenn wir das jetzt nicht tun, wird sich unsere Gesellschaft weiter spalten: in diejenigen, die Sorgeverpflichtungen haben, mit allen möglichen persönlichen Belohnungen, die daraus entstehen, aber eben auch allen ökonomischen Belastungen. Und in diejenigen, die diese Verpflichtungen nicht haben – mit allen ökonomischen Belohnungen, die sich daraus ergeben, aber auch allen möglichen persönlichen Belastungen.

1 Engel oder Egoisten Warum Kinder nicht glücklich machen müssen und Kinderlosigkeit nicht frei

Es ist ein strahlender Sommertag, an dem Melanie Zimmer mit ihrer dreijährigen Tochter vom Kinderturnen kommt. Während sie nach Hause laufen, bekommt Sylvie einen Wutanfall: Sie schreit und stampft auf den Boden und bleibt schließlich, von einem unerklärlichen Zorn ergriffen, tobend auf dem Bürgersteig stehen. Eine junge Frau radelt langsam vorbei und äfft das Mädchen nach, schneidet Grimassen und ruft: »Bäh, bäh, ich mag das nicht, ich will das nicht.« Was auch immer sie dazu gebracht haben mag, sich so zu verhalten; sie hat sicher nicht mit der Reaktion von Melanie Zimmer gerechnet: Die 35-Jährige lässt Sylvie in der Obhut ihrer großen Schwester zurück und sprintet der Radfahrerin hinterher: »Was sollte das denn gerade?«, ruft sie und fügt hinzu: »Selber wohl nie Kind gewesen, was?« Die junge Frau ist erst erstaunt und sagt dann ganz ruhig: »Doch, natürlich. Aber nicht so eins!«

Willkommen in der Kampfzone zwischen Eltern und Kinderlosen. Die Begegnung auf der Straße gehört noch zu den harmloseren. Schön sind auch die ätzenden Bemerkungen von kinderlosen Kolleginnen, die nicht müde werden zu betonen, dass sie überhaupt nicht einsehen können, warum von ihren sauer erarbeiteten Steuergeldern ständig neue Spielplätze gebaut werden müssen, die sie nun wirklich nicht brauchen. Was ist hier eigentlich los, haben wir uns gefragt, und uns aufgemacht, ein relativ neues Phänomen zu erkunden: Eine Gesellschaft, in der zutiefst private und intime Entscheidungen mittlerweile relativ ungeniert öffentlich diffamiert und in den Dreck gezogen werden dürfen. Das gilt übrigens für beide Seiten.

Nach ungefähr einem Jahr Recherche wurde uns dann richtig unbehaglich. Wir saßen vor einem Berg von Studien und Büchern, Artikeln, Essays und Kommentaren über Kinderlose und Eltern, Familien und Singles, und je mehr wir lasen, umso unwohler fühlten wir uns. »Asozial«, »bequem«, »Sozialschmarotzer«, »Drückeberger« – in all diesen Veröffentlichungen macht sich eine Stimmung breit, die wir in dieser Schärfe nicht vermutet haben. Klar, wir hätten dieses Buch ja nicht angefangen zu schreiben, wenn wir nicht geahnt hätten, dass etwas schiefläuft zwischen Menschen mit und Menschen ohne Kindern. Aber wie schief, da waren wir doch überrascht.

Es scheint kaum eine Grenze zu geben für gegenseitige Beschuldigungen und Vorwürfe, ausführliche Rechtfertigungen und die permanente Verteidigung des eigenen Lebensentwurfes. Kinder zu haben oder eben nicht scheint nicht mehr eine private Entscheidung, sondern eine Glaubenssache zu sein, eine moralische Haltung. »Kinderlose verhalten sich egoistisch, weil sie ein bequemes Leben führen wollen«, dieser Aussage stimmen laut dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) 61 Prozent der Deutschen »auf gesellschaftlicher Ebene« zu.1 Das heißt, viele vermuten, dass viele andere so denken. Auf der persönlichen Ebene unterschreiben nur 29 Prozent diesen Satz. Interessant. Liest man Kommentare zu Artikeln über Kinderlosigkeit stößt man nicht selten auf Aussagen wie: »Wer sich bewusst gegen Kinder entscheidet, obwohl alle Voraussetzungen gegeben sind (...) handelt in meinen Augen (...) asozial.«2

Wer Kinder bekommt, dem geht es nicht besser. Die taz-Autorin Anja Maier hat vor einigen Jahren mit ihrer Polemik gegen Eltern »Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter« den Ton gesetzt: »Ein Kind ist ja nicht nur ein gesellschaftlich akzeptierter Grund, eine Auszeit vom Alltag zu nehmen. Es macht in unserer demografisch gebeutelten Gesellschaft zugleich aus seiner Mutter und seinem Vater sozial höher stehende Edelwesen, die sich ihres privilegierten Status verdammt sicher sein können.«3 Auch der Ausdruck »Helikopter-Eltern«4 wurde in Deutschland schnell populär – und Mütter und Väter bekamen ein richtiges Problem. Müssen sie sich doch seitdem ständig anhören, wie überbehütend sie sind, wenn sie ihren Kindern zum Fahrradfahren Helme aufsetzen oder sie nachmittags vom Fußballtraining mit dem Auto abholen, anstatt sie nach Hause laufen zu lassen.

Die Häme in der ganzen Debatte ist unüberhörbar und wird auch in zahlreichen Internetforen weiterverbreitet. Man müsse Mütter einfach hassen, weil sie ihr rotz- und sabbelverschmiertes Glück so aufdringlich vor sich hertrügen, schrieb etwa eine Frau bei thenotmom.com, einer Website, die Kinderlose zum Austausch untereinander vernetzt.

Eltern heutzutage hätten jegliches Maß an Zurückhaltung verloren, redeten nur noch über ihre Kinder, hielten diese darüber hinaus auch noch für die einzig wahren Genies und seien sowohl als Gesprächspartner als auch überhaupt als Menschen nicht mehr richtig ernst zu nehmen, heißt es da weiter. Auch der stetige Hinweis von Eltern, sie sorgten schließlich für den Erhalt und die Zukunft der Nation, sei nur schwer zu ertragen, vor allem angesichts weltweiter Überbevölkerung.

Was auffällt: Wir scheinen mittlerweile immer häufiger in voneinander getrennten Welten zu leben. Wir wissen nicht mehr, wie der Alltag der »anderen« aussieht, und verstehen uns auch deshalb nicht mehr. Wir können uns nicht mehr einfühlen, weil wir seit Jahren nicht mehr in einem kleinen kuscheligen Café zum Brunch mit Freunden gesessen haben. Sonntags, so gegen zwei. Genauso wenig können Menschen, die das noch nie getan haben, nachvollziehen, wie es sich anfühlt, im herbstlichen Sprühregen samstagmorgens um acht auf dem Fußballplatz zu stehen. Unsere Pflichten und Aufgaben sind so verschieden, wie es etwa zwei Geschwister nur sein können. Nichts davon ist besser oder schlechter als das andere, das wollen wir hier noch einmal betonen. In diesem Buch wird es kein böses Wort über Kinderlose geben. Warum auch.

Das Einzige, was wir feststellen, ist, dass wir kaum noch Berührungspunkte mit Kinderlosen haben. Schon kurz nach der Geburt – so haben wir das erlebt, aber auch sehr viele Freunde und Freundinnen um uns herum – trennen sich die Welten. Unsere kinderlosen Freunde hatten keine Lust mehr, uns beim Füttern und Wickeln zuzusehen. Und wir hatten keine Zeit mehr, sie ins Kino oder in die Cocktailbar zu begleiten. Begegnet sind wir uns dann meist später wieder, wenn wir zum Beispiel in einem anderen (Arbeits-)Kontext über gegenseitige Zugeständnisse verhandelten.

Was wir gemeinsam haben, sind unbestätigte Annahmen übereinander: Wir vermuten, den einen seien nur noch ihre Kinder wichtig, den anderen ausschließlich der Job – und vielleicht ihre Freizeitvergnügungen. Überprüfen können wir das nur noch selten, denn Eltern bleiben meistens unter sich – Kinderlose auch.

Was alle jedoch eint, ist ein Gefühl von Ungerechtigkeit: Jeder hat in dieser Gemengelage den Eindruck, zu kurz zu kommen. Die Familien, die mit großem Einsatz in der Tat die nächste Generation großziehen, und all diejenigen, die ungebunden in die verschiedenen Sozialkassen einzahlen und reichlich Steuern für das Gemeinwesen entrichten.

Eine Familie mit Kindern, eine Partnerschaft ohne Kinder, alleinerziehend oder einfach single ist kein Schicksal oder keine intime Entscheidung mehr, sondern wird von vielen als Statement verstanden. Ein Statement, für das man in den Medien, in Büchern, aber auch in privaten Gesprächen gern infrage gestellt wird. Frauen zwischen 20 und 50 – und mittlerweile auch immer mehr Männer – scheinen kaum noch einen Schritt aus dem Haus machen zu können, ohne klarzustellen, ob sie Kinder haben oder wollen oder nicht und wenn ja, warum, und wenn nein, warum nicht. Und wenn sie ein oder zwei oder gar drei dieser Lebensstatements an der Hand haben oder im Kinderwagen vor sich herschieben, können sie sicher sein, dass jeder Schritt, jede Entscheidung, jede erzieherische Maßnahme von außen zumindest still bewertet, wenn nicht gleich laut kommentiert wird.5

Kurzum: Familie scheint jede Selbstverständlichkeit verloren und Kinderlosigkeit diese Selbstverständlichkeit – trotz unserer permanent zur Schau getragenen Toleranz – bisher nicht erlangt zu haben.

Die Frage ist: Warum? Jede und jeder kann sich in unserer Gesellschaft doch für den Lebensweg entscheiden, den sie oder er gehen möchte. Offenbar nicht, denn auch die Klage der Kinderlosen wird immer lauter, dass sie mit ihrer Lebensentscheidung zunehmend unter Druck geraten. Sie müssten sich ständig rechtfertigen, warum sie sich nicht fortpflanzten, und was sie denn stattdessen für die Zukunft der Nation zu tun gedächten. So haben wir etwa mit Staunen vernommen, wie eine kinderlose Kollegin sich bei einer Podiumsdiskussion zur Vereinbarkeit mit den Worten »Ich bin Personalchefin bei einer großen Firma und habe leider keine Kinder« vorstellte. Später sagte sie, sie habe sich diese Formulierung angewöhnt, um unerfreulichen Diskussionen aus dem Weg zu gehen – und nicht von Anfang an ihre Glaubwürdigkeit in solchen Runden zu verlieren. So weit ist es gekommen.

Jede Entscheidung für oder gegen Kinder kann heutzutage auf andere wie eine fundamentale Kritik wirken. Einer der beliebtesten Anwürfe ist – übrigens auch dieser gerne von Eltern wie von Kinderlosen vorgebracht –, man sei egoistisch. Es sei also egoistisch, Kinder in die Welt zu setzen (kann stimmen!), wie es egoistisch sei, das nicht zu tun (kann auch stimmen!). So kommen wir also nicht weiter.

Mythos Elternschaft

Eine unbestätigte Annahme über Eltern ist, dass sie allein durch den Umstand des Sich-fortgepflanzt-Habens auf einer ewigen Welle des Glücks reiten müssten. Das Baby gluckst so süß und liebt sie bedingungslos – wenigstens einer, der das tut! Das ist sicher schön. Außerdem haben sie jetzt immer was zu tun, müssen Kinder rumfahren und Ausflüge machen. Sie bekommen Bilder gemalt und verkorkste Kuchen zum Geburtstag. Liebe und Harmonie all überall. Na, zumindest wissen sie jetzt, wo sie hingehören. Sie nehmen die Arbeit nicht mehr so wichtig, sind ja jetzt mit etwas Höherem beschäftigt. Aber meist, auch so eine Annahme, die sogar durch etliche Magazine und Sonntagszeitungen geistert, gehen sie ihre Aufgabe als Eltern nicht professionell genug an, vergöttern ihre Kinder stattdessen und erziehen sie zu kleinen Narzissten.

Ja, Elternsein ist eines der größten und aus unserer Sicht zugegeben schönsten Abenteuer auf dieser Welt. Aber es ist eben auch verdammt harte Arbeit, bei der man immer wieder Fehler macht. Ja, Arbeit – kein privates Vergnügen. Natürlich werden Eltern nicht zu Engeln nur durch die Tatsache, dass sie sich auf dieses – von außen betrachtet vielleicht waghalsige – Unterfangen eingelassen haben. Aber verteufeln sollte man sie bitte auch nicht. Ein Beispiel:

»Ach, das ist ja ein interessantes Thema.« Karin Stelzer lächelt etwas gequält, während sie sich ihre Sportschuhe anzieht. In der Umkleidekabine kurz vor unserem Fitnesskurs hat sie von dem Titel unseres neuen Buches erfahren. Und wie bei allen, mit denen wir während der Recherche und des Schreibens sprechen, merken wir, wie es in ihr arbeitet. »Aber eigentlich ist die Sache doch klar: Kinder geben einem so viel Wärme, das wiegt doch alles auf«, murmelt sie beim Schuhezubinden und starrt dabei angestrengt auf ihre Schnürsenkel.

Karin Stelzer ist Anfang 50 und kinderlos. Warum sie keine Kinder hat, darüber möchte sie nicht sprechen. Aber darüber, dass sie die Eltern von heute wirklich furchtbar anstrengend findet, schon. Sie unterrichtet an einer weiterführenden Schule und sieht täglich, »wie hoch die Ansprüche der Eltern an uns Lehrer, aber auch die eigenen Kinder geworden sind. Das nervt wirklich sehr.« Und das finde nicht nur sie, sondern auch ihre Kollegen und Kolleginnen im Lehrerzimmer. Beim Warmlaufen in der Halle diskutieren wir weiter. Und irgendwann platzt es aus Karin Stelzer heraus: »Eltern sollten froh sein, dass sie Kinder haben, die später im Alter für sie sorgen werden, und uns Lehrer in Ruhe unsere Arbeit machen lassen.«

Eltern haben keinen guten Ruf. Schon gar nicht Eltern aus der Mittelschicht – und schon gar nicht an den Schulen. Es ist kein Zufall, dass ein Lehrer, Josef Kraus, mit seinem Buch »Helikopter-Eltern« 2013 den Begriff endgültig populär gemacht hat. Übergriffig seien sie und überehrgeizig. Seiner Meinung nach übertragen sie ihre eigenen Ambitionen ungebremst auf ihre Kinder und nehmen dabei so gut wie keine Rücksicht.

In der Politik hat sich dieser Begriff schneller etabliert, als man gucken kann. Bei jeder Diskussion, die wir in Fraktionen, Arbeitskreisen oder Stiftungen geführt haben, wurde er benutzt. Und zwar meist als Synonym für diejenigen Eltern, die nicht jeden Tag mindestens acht Stunden einer bezahlten Arbeit nachgehen, sondern lieber ihre Kinder »beglucken«, sie am Nachmittag Vokabeln abfragen oder zum Fußball fahren. »Helikopter«-Mütter benutzen aus Sicht vieler Politikerinnen und Politiker aller Fraktionen, so viel haben wir aus unseren Diskussionen dort gelernt, ihre Kinder sogar als Schutzschild, um nicht die Mühen des Erwerbslebens auf sich nehmen zu müssen. Und kurven ihre Kinder nur deshalb mit dem Sprit schluckenden SUV zum Klavierunterricht, um ihren eigenen Ehrgeiz zu kanalisieren. Dabei variiert der Begriff »Helikopter-Eltern« je nach politischer Stimmungslage auch mal gern zwischen »Latte-Macchiato-Müttern« und »Taunus-Mums«. Letzteres mit so viel Verachtung in der Stimme wie möglich ausgesprochen.

Das nervt! Der Drehbuchautor Malte Welding hat es in seinem Buch Seid fruchtbar und beschwert euch!6 ziemlich gut formuliert: »Man macht entweder zu viel – oder man vernachlässigt das Kind. Denn sobald das Kind zu hören ist, lässt man sich tyrannisieren, ist man jemand, der sein Kind nicht im Griff hat. Vom Helikopter- zum Rabenelter ist es meist nur ein Geräusch.« Seine Analyse: Wir leben nicht in einem kinderfeindlichen, sondern in einem elternfeindlichen Land. Und wer sich in den vergangenen Jahren durch diverse Elternratgeber, Magazin- und Sonntagszeitungsartikel zum Thema Familie und Eltern gelesen hat, kann nur zu dem Schluss kommen: Der Mann hat recht.

Nicht kinder-, sondern elternfeindlich

Schon ein Blick in eine durchschnittliche Buchhandlung reicht, um das Ausmaß des Dilemmas zu erkennen. Gleich an einem der ersten Tische im Eingang türmen sich die Bücher diverser Familientherapeuten, Psychologen, Psychiater und Anthroposophen mit so aufmunternden Titeln wie: 10 schockierende Wahrheiten über Erziehung: Was eine Stunde Schlaf mit ADS zu tun hat, warum Sie Ihr Kind besser nicht loben sollten und warum besonders gut gemeinte Erziehung keine ›Engel‹ produziert, Tyrannen müssen nicht sein: Warum Erziehung allein nicht reicht oder Die zehn größten Erziehungsirrtümer und wie wir es besser machen können.7 Wer dann noch nicht genügend eingeschüchtert ist, der kann in aller Ausführlichkeit in Reportagen, Berichten und Magazinbeiträgen lesen oder sich gleich in einer Reality-Soap auf RTL II oder ähnlichen Kanälen anschauen, wie verwöhnte, motorisch eingeschränkte und narzisstische Kinder in ihren Zimmern wüten. Bestaunt und kaum im Zaum gehalten von überforderten Eltern am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Nichts, aber auch gar nichts scheint mehr alltäglich daran zu sein, wenn Menschen Eltern werden. Weder für sie selbst noch für ihr Umfeld. Und es ist tatsächlich absurd, ja geradezu anmaßend, wer sich wie über diese getroffene Lebensentscheidung äußert. Ein gutes, weil so schön polemisches Beispiel ist Judith Luigs Artikel in der Welt über »Mama-Morphosen. Schluss mit lustig! Wenn Freunde Eltern werden«.8 Die Kurzzusammenfassung prangt über dem Artikel und lautet: »Ein Leidensbericht.« Es folgen schreckliche Szenen, die die kinderlose Autorin mit ihren Freundinnen und Freunden erleben musste, nachdem diese Kinder bekommen haben. Übergriffig seien ihre Eltern-Freunde plötzlich. Sie würden alle Welt wie Kinder behandeln. Außerdem seien sie zwei bis drei Jahre lang müde, hätten Krisen mit Partnern und Kindern und kämen grundsätzlich zu jedem Treffen eine halbe Stunde zu spät, denn, Zitat: »Alles andere kann schließlich warten, wenn Peter Plüschohr noch im Kinderzimmer als vermisst gemeldet ist.« Das Ganze gipfelt in dem Satz: »Wenn Freundinnen zu Müttern werden, dann sind sie keine Freundinnen mehr.« Wow!

Wer sich danach nicht verletzt zurückzieht, sondern tatsächlich noch den Mut und die Muße hat, ein bisschen weiterzulesen, kommt den Gründen für diese Häme und Bitterkeit bei Judith Luig langsam auf die Spur – und sie scheinen symptomatisch zu sein für die Beziehung zwischen Eltern und Kinderlosen: »... sehen sich zeitgenössische Eltern gern als die großen Altruisten, von deren aufopferungsvoller Aufzucht ihrer Kinder die Menschheit profitiert. Im Umkehrschluss betrachten sie ihre kinderlosen Freunde als Hedonisten (...) Wenn Freunde Eltern werden, geben sie denen, die diesen Schritt nicht gemacht haben, gern das Gefühl, unterlegen zu sein.« Menschen ohne Kinder unterstellen Menschen mit Kindern, sich moralisch überlegen zu fühlen. Und so denkt und schreibt nicht nur Judith Luig. »Lieber Tante bleiben als Mutter werden«, lauten Überschriften in diversen Life-Style-Magazinen. Ein Café-Betreiber im Berliner Bezirk Prenzlauer-Berg erhält regen Zuspruch auf seiner Internetseite, als er Eltern mit Kinderwagen durch einen Betonpoller vor der Tür den Zugang verwehrt. Besonders absurd wird die Diskussion, wenn ein anderer Wirt, selbst Vater und Betreiber eines Eltern-Kind-Cafés in einem Nebenraum für Eltern (!) eine kinderfreie Ecke schafft, in der auch sie mal in Ruhe Zeitung lesen oder ungestört ein Sandwich essen können. Vielleicht sind es gerade diese Beispiel, die das Verrückte an der Diskussion besonders deutlich machen.

Auch im Netz verschärft sich der Ton. So eröffnete die Moderatorin und Autorin Sarah Kuttner mit einem Post auf Facebook im Sommer 2016 eine Diskussion zwischen Kinderlosen und Eltern, die ihresgleichen sucht. Kuttner schrieb: »Soll doch jeder seine Gören großziehen, wo er will, und, solange alle Beteiligten glücklich sind, auch wie er will. Aber Mütter, die mitten im Kiez, nahezu eingekesselt von Cafés und somit Klos, ihre Kinder zum Pullern an Bäume halten: Nö! Wirklich gerne nicht! Unnötig, unschön und vor allem: DIE BÄUME DEN HUNDEN!«9

Natürlich hat sie recht. Der Anblick an Bäume pullernder Kinder in der Großstadt ist kein erfreulicher. Ob man dies aber zum Anlass nehmen muss, eine öffentliche Diskussion darüber vom Zaun zu brechen, ist Geschmackssache. Eins muss Kuttner als erfahrener Moderatorin und Buchautorin klar gewesen sein: Bei dem Schlagabtausch, der sich an ihrem Post entzündet hat, konnte keine Seite ungeschoren davonkommen. Denn die Eltern unter ihren »Followern« fühlten sich natürlich sofort provoziert: So schrieb ein Leser unter dem Pseudonym Bin: »Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, liebe Sarah Kuttner, Kinder sind für unsere Gesellschaft wichtiger als Hunde. Außerdem lässt nicht jedes Café oder Restaurant Nicht-Kunden dort mal eben so zum Pinkeln rein!« Und Sascha: »Wie ich Menschen liebe, die keine eigenen Kinder haben, aber trotzdem meinen, alles besser zu wissen und zu machen! Herrlich!«

Mit besonderer Häme sprangen Kuttner aber vor allem andere Männer und Frauen ohne Kinder bei, die offensichtlich ständig ihren Kaffee oder Tee am Nachmittag neben pinkelnden Kindern trinken müssen. Zum Beispiel Dominik: »Danke, danke, danke! Du sprichst mir so sehr aus dem Herzen ... Manche Mütter sind echt kack-dreist.« Oder Jay: »So hat jeder sein Feindbild, bei mir sind es die Mütter mit Lastenrädern, die mit zwei Gören in der ›Kartoffelkiste‹ vorm Lenker sich auf dem Gehweg Platz schaffen.« Zugegeben – das sind extreme Beispiele oft aus gentrifizierten Stadtteilen. Dennoch ermöglichen sie einen Blick in den tiefen Riss zwischen Eltern und Kinderlosen.

Keine Seite geht dabei besonders fein mit der anderen um. Aber es ist tatsächlich bemerkenswert, wie genau Handlungen und Auftreten von Eltern beobachtet und bewertet werden. Und das spüren sie – überall und ständig. Eltern in Deutschland, so eine Studie der Zeitschrift Eltern in Zusammenarbeit mit dem Forsa-Institut, fühlen sich unter Druck gesetzt.10 Sie fühlen die gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen an sich und haben sie sich meist ohnehin schon zu eigen gemacht. Schließlich haben sie sich das Elternsein ja auch selbst ausgesucht. Anders als noch ein bis zwei Generationen zuvor ist die Familiengründung heute eine freie und bewusste Entscheidung, die man auch bewusst hätte verhindern können. Nach dem Motto: selber Schuld, Mund halten.

Diese freie Entscheidung für eine Familie beinhaltet auch die volle Verantwortung für das Gelingen oder Scheitern dieses Projektes. Das kann nur zu falschen Erwartungen und letztlich zur Überforderung führen. Hinzu kommt, dass eine Orientierung an der eigenen oder an anderen Familien immer schwieriger wird. Oft wohnen die eigenen Eltern weit weg, und das Umfeld besteht zu Anfang eher aus Menschen ohne als aus Menschen mit Kindern. Die Isolation von Familien sei größer als allgemein eingeschätzt, weiß auch die Diplompädagogin und Erziehungswissenschaftlerin Sigrid Tschöpe-Scheffler. In ihrem Aufsatz »Erziehungsnotstand – oder eine Schieflage in der öffentlichen Diskussion?« hat sie sich intensiv mit der Rolle und dem Image von Eltern in der Öffentlichkeit beschäftigt. Und sie fasst den Erfolgs- und Erwartungsdruck auf Eltern und die fehlende Selbstverständlichkeit und Toleranz ihnen gegenüber prägnant zusammen: »Verwissenschaftlichung von Erziehung vermittelt Eltern das Leitbild, wie gute Eltern zu sein haben – damit wird Elternschaft zur permanenten ›Informationsarbeit‹.Diskussionen der pädagogischen und psychologischen Experten, die wiederum Gegenexperten auf den Plan rufen, werden ›im Kinderzimmer ausgetragen‹, wo dann die Erziehungsmethoden, je nach Bestsellerliste der Referenzautoren ständig wechseln.«11

Eltern sein als Leistungsanspruch

Kein Wunder also, dass der Respekt davor, Eltern zu werden, unermesslich gewachsen ist. Wir zitieren noch einmal die Studie des BiB: »Gegenwärtig besteht eine erhebliche Vielfalt von Vorstellungen, wie eine gelingende Erziehung und ein gutes Familienleben auszusehen haben. Elternschaft wird häufig zur voraussetzungsreichen und schwer zu bewältigenden (Lebens-)Aufgabe stilisiert. (...) In Deutschland dominiert eine Kultur des Bedenkens, Zweifelns und Sorgens im Hinblick auf Elternschaft. Gepaart mit hohen Leistungsansprüchen und einem überschießenden Streben danach, bei der Erziehung des Kindes alles richtig zu machen.«12

Kinderhaben ist anstrengend. Kinderhaben in einem leistungsorientierten Land, in dem fast alles nach seinem Nutzen und seiner Effizienz beurteilt wird, scheint vielen eine Herkulesaufgabe. Es existiere, so stimmt die Mehrheit der Befragten in dieser Umfrage zu, ein starker sozialer Druck, dass Eltern »perfekt« sein müssen. Dabei ist vor allem interessant, wer den Umgang mit Kindern als besonders kompliziert empfindet und einen hohen Informationsbedarf anmeldet, also besonders unsicher ist: kinderlose Männer (zu 90 Prozent!) und kinderlose Frauen (zu 86 Prozent) und – ebenfalls spannend – Väter (84 Prozent). Auch die meisten Väter in Deutschland scheinen also recht weit weg von ihren Kindern zu sein. Denn ein anderes Ergebnis der Umfrage belegt: Je mehr tatsächliche Erziehungsarbeit geleistet wird, umso klarer erscheint einem die Aufgabe. Drei Viertel aller Mütter brauchen keine zusätzlichen Informationen, um ihre Kinder großzuziehen. Die Schlussfolgerung daraus formulieren die Verfasser der Studie so: »Der fehlende Alltag mit Kindern in unserer Gesellschaft führt dazu, dass überliefertes Wissen über den Umgang mit Kindern verloren gegangen ist und (zukünftige, d. Autorin) Eltern zunehmend verunsichert sind.«13