Die Kümmerfalle - Susanne Garsoffky - E-Book

Die Kümmerfalle E-Book

Susanne Garsoffky

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Beschreibung

Warum Frauen in der Lebensmitte meist den Kürzeren ziehen - ein Buch voller Wut, Kampfgeist und Zuversicht

Frauen halten seit Jahrhunderten den Laden am Laufen, kümmern sich um Kinder und Angehörige. Sie investieren viel in Beziehungen und versuchen zudem, ihren beruflichen Anforderungen gerecht zu werden. Sie kämpfen an allen Fronten und verlieren dennoch. Vor allem in der Lebensmitte gehen immer mehr Ehen und Partnerschaften auseinander. Im Regen stehen diejenigen, die für die Fürsorgearbeit beruflich zurückgesteckt haben: Frauen. Die Politik verweist nur schulterzuckend auf die Gesetzeslage – und die ist aus frauenpolitischer Sicht ein Skandal. Wir sagen: Damit muss Schluss sein. Die Lebensleistung von Frauen – und damit meinen wir Fürsorglichkeit und die Übernahme von Verantwortung für andere – muss endlich anerkannt und sozial abgesichert werden. Frauen sind nun mal anders als Männer, und es ist das weibliche Prinzip, das unsere Gesellschaft zusammenhält.

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Seitenzahl: 428

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Buch

Warum Frauen in der Lebensmitte meist den Kürzeren ziehen – ein Buch voller Wut, Kampfgeist und Zuversicht

Frauen halten seit Jahrhunderten den Laden am Laufen, kümmern sich um Kinder und Angehörige. Sie investieren viel in Beziehungen und versuchen zudem, ihren beruflichen Anforderungen gerecht zu werden. Sie kämpfen an allen Fronten und verlieren dennoch. Vor allem in der Lebensmitte gehen immer mehr Ehen und Partnerschaften auseinander. Im Regen stehen diejenigen, die für die Fürsorgearbeit beruflich zurückgesteckt haben: Frauen. Die Politik verweist nur schulterzuckend auf die Gesetzeslage – und die ist aus frauenpolitischer Sicht ein Skandal. Wir sagen: Damit muss Schluss sein. Die Lebensleistung von Frauen – und damit meinen wir Fürsorglichkeit und die Übernahme von Verantwortung für andere – muss endlich anerkannt und sozial abgesichert werden. Frauen sind nun mal anders als Männer, und es ist das weibliche Prinzip, das unsere Gesellschaft zusammenhält.

Autorinnen

Britta Sembach, Jahrgang 1968, studierte Politikwissenschaften, Geografie und Portugiesisch. Sie arbeitete als Reporterin, Redakteurin und Kolumnistin bei mehreren namhaften Medien, darunter die Nachrichtenagentur Reuters und der WDR. Nach fünf Jahren in New York schreibt sie nun wieder Bücher in und über Deutschland. Außerdem hat sie eine Mediations- und Coachingpraxis, die sie mit Leidenschaft betreibt. Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne, von denen einer schon erwachsen ist und der andere fast.

Susanne Garsoffky, Jahrgang 1968, studierte Geschichte und Politikwissenschaften. Sie arbeitete als Reporterin, Redakteurin und Chefin vom Dienst bei verschiedenen Tageszeitungen und dem WDR und gestaltete unter anderem das frauenpolitische Magazin frauTV. Seit ihrem Umzug nach Schleswig-Holstein schreibt sie gesellschaftspolitische Bücher, arbeitet als Podcasterin und ist Referentin in der Unternehmenskommunikation eines mittelständischen Unternehmens. Sie lebt mit ihren beiden Söhnen einen Steinwurf von der Nordsee entfernt.

Besuchen Sie uns auf www.dva.de

SUSANNE GARSOFFKY

BRITTA SEMBACH

DIE

KÜMMER-

FALLE

KINDER, EHE,

PFLEGE, RENTE –

WIE DIE POLITIK

FRAUEN SEIT

JAHRZEHNTEN

VERRÄT

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Viele Frauen und Männer haben uns für dieses Buch ihre Geschichten erzählt. Wir haben ihre Namen und Lebensumstände geändert. Ihre Geschichten sind jedoch wahr und die Zitate authentisch. Wir haben bewusst auf Gendersternchen oder Ähnliches verzichtet, verwenden aber immer wieder zusätzlich zu den männlichen Formen das generische Femininum.

Copyright © 2022 by Deutsche Verlags-Anstalt, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: total italic/Thierry Wijnberg

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-26779-7V002

www.dva.de

INHALT

EINLEITUNG

1 DIESCHEIDUNGSFALLE

WERSICHSPÄTERTRENNT, WIRDFRÜHERARM

Späte Trennung: Ein Trend • Der Preis ist hoch • Ego schlägt Ehe • Ab 50 tut’s richtig weh • Alles neu macht der Mai – nur nicht beim Sex • Das »Frauen-Wegwerf-Gesetz« • Frauen gern allein zu Haus • Monogamie – der Todesstoß? • Mit anderen Menschen schlafen • Männer allein zu Haus • Reden wir über Geld • Für wie doof haltet ihr uns eigentlich? • Scheiden tut weh, vor allem im Portemonnaie • Reden wir über Gefühle • Und jetzt der Rosenkrieg

2 DIEGLEICHMACHFALLE

DERKLEINEUNTERSCHIEDISTDOCHGANZGROSS

Männer sind anders, Frauen auch • Kuscheln verboten • Mama wird’s schon richten • Hypnotisieren wir uns selbst? • Reden wir über Geschlecht • Wer die Macht hat, hat das Geld • Der kleine Unterschied – ein Blick zurück • Der kleine Unterschied ist riesengroß • Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit? • Die langen Schatten von Darwin und Freud • Der Morast, durch den wir waten mussten • Ein Tisch ist ein Tisch • Die Gretchenfrage des Feminismus • Wie alles begann • Exkurs: Eifersucht • Die Umerziehungsmaschinerie • Wollen Männer wirklich wie Frauen sein? • Unterschiedliche Weisen, zu sein • Die Freiheit der Einzelnen, die Missachtung der Vielen

3 DIEKÜMMERFALLE

FÜRSORGEISTDERBLINDEFLECKDERPOLITIK

Auch ein Kaffeeklatsch ist Care-Arbeit • Von Musik und anderen Nebengeräuschen • Die Rechnung kommt in der Mitte • Sehenden Auges in den Abgrund • Zeit für Neues • Wir stehen im Regen • Her mit den Billionen! • Jede sorgt für sich allein • Plötzlich sind sie alle arm • Zugewinn – was ist das eigentlich? • Von allem die Hälfte • Auf eigenen Füßen stehen • Sorgen für heißt auch sorgen um • Gefühlsarbeit macht glücklich • Der Dreck muss weg • Einmal Kümmern rund um die Welt • Ausbeutung ist nicht modern • Hausarbeit ist unsichtbarer denn je • Ist das Arbeit oder kann das weg? • Weiber-Wirtschaft • Eine Abgabe fürs Kümmern • Der Fehler liegt im System • Auf die Barrikaden! • Alle denken nur an das Eine • Ein Leben in Wellen

4 DIEROLLENFALLE

ESWIRDZEITFÜRDASWEIBLICHEPRINZIP!

Warum Frauen nicht die besseren Männer sein müssen • Anders ist besser als gleich • Achtung Backlash • Eine Rolle rückwärts im Netz • Der Fluch des männlichen Prinzips • Der gemachte Mann • Hausmann verzweifelt gesucht • Wir dachten, wir seien schon weiter • Die Zukunft ist weiblich • Aus Minus wird Plus und umgekehrt • Zeit für das weibliche Prinzip • Es lebe der Unterschied

5 RAUSAUSDERKÜMMERFALLE

Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner • Kümmern – ein Milliardenmarkt • Mehr Mütter an die Macht • Eine Utopie? • Gleicher Lohn für unterschiedliche Arbeit • Hilfe im Haushalt • Eine Zukunftsrente für Kinder • Weg mit dem Frauen-Wegwerf-Gesetz • Das große Rad • Endlich ein Leben in Wellen

ANMERKUNGEN

EINLEITUNG

Um es gleich vorwegzuschicken: Wir haben die Nase voll. Gestrichen voll, um genau zu sein. Damit jetzt kein Zweifel aufkommt: Wir sind deshalb nicht verzagt oder kleinlaut, wir sind wütend. Wir fühlen uns im Stich gelassen, verraten und verkauft. Und wir haben jeden Grund dazu. Warum das so ist? Weil wir alles geleistet haben, was Frauen im 21. Jahrhundert aus Sicht der politisch Verantwortlichen zu leisten haben. Wir haben sämtliche uns angebotene Chancen ergriffen, gewissenhaft Ausbildungen absolviert und Studiengänge abgeschlossen. Wir arbeiten in aufreibenden Berufen und zahlen dafür in einem nicht unerheblichen Maße Steuern und Sozialbeiträge. Damit nicht genug, haben wir auch noch die durchschnittliche Geburtenrate unseres Jahrgangs übererfüllt und je zwei Kinder geboren, die wir mit vollem Einsatz zu halbwegs zufriedenen Menschen zu erziehen versuchen. Und zwischendurch führen (oder führten) wir mehr oder weniger glückliche Ehen, füllen Kühlschränke, denken an Arzttermine, kochen Mittagessen und/oder Abendbrot und kümmern uns um unsere Eltern. Dafür hätten wir und alle anderen Frauen, die ihre Leben Tag für Tag, Jahr für Jahr so oder so ähnlich leben, mindestens die Zusicherung einer auskömmlichen Rente, wenn nicht gleich einen Lebensleistungsbonus in sechsstelliger Höhe verdient.

Frauen wie wir, Mitte vierzig bis Ende fünfzig, lachen schon an dieser Stelle laut auf. Wir müssen nicht erst unsere Rentenbescheide öffnen, um zu wissen, wo wir stehen. Die Quadratur des Kreises ist den meisten von uns nicht gelungen. Wir haben Familie und Beruf nur in einer Teilzeitstelle miteinander vereinbaren können, dafür auf Gehalt und Karrierechancen verzichtet und damit natürlich auch auf einen auskömmlichen Rentenanspruch im Alter. Dieser Spagat hat uns oft ans Ende unserer Kräfte und unsere Ehen an den Rand der Belastbarkeit getrieben, bei vielen ist nur noch ein Trümmerfeld übrig. Wer sich in der Lebensmitte trennte, dem brach auch noch der letzte Rest partnerschaftlicher Unterstützung weg, und vielen, auch uns, wird erst jetzt bewusst, dass das aktuelle neue Unterhaltsrecht uns keinerlei Schutz bietet. Willkommen in der Kümmerfalle.

Dies ist vielleicht unser persönlichstes Buch. Eine von uns hat eine schwierige und schmerzhafte Scheidung nach einer langen Ehe hinter sich, immerhin aber hat sie die meiste Zeit ihres Berufslebens fest angestellt und fast immer in Vollzeit gearbeitet. Die andere hat als Zuverdienerin und Freiberuflerin einen, zumindest was die eigenständige finanzielle Absicherung angeht, unsicheren Platz in ihrer langjährigen Beziehung. Allerdings hat sie einen Partner an ihrer Seite, der Ehe ganz selbstverständlich als eine Wirtschaftsgemeinschaft sieht, sein verdientes Geld als gemeinsames Einkommen betrachtet und sich ihrer enormen Leistungen als die Kümmernde bewusst ist.

Wären wir Soziologinnen, würden wir wahrscheinlich sagen: Jede Einzelne von uns wird zu einem Symbol für das Ganze. Und das bei aller Einzigartigkeit jeder individuellen Geschichte. Wir werden in diesem Buch einige solcher Geschichten erzählen, und es ist sicher kein Zufall, wenn Ihnen das ein oder andere Detail vertraut vorkommt. Leider ähneln sich die Geschichten trotz der persönlichen Besonderheiten oft. Vor allem dann, wenn es unschön wird.

Das hat viel mit der ungleichen Verteilung von Sorgearbeit in Partnerschaften zu tun. Denn es sind immer noch wir Frauen, die den Löwenanteil an unbezahlter Arbeit in der Familie leisten. Wir wissen ganz genau, dass wir das eigentlich nicht tun sollten. Die politischen Signale, sogar die entsprechenden Gesetze, sind eindeutig. Seit Jahrzehnten wird uns um die Ohren gehauen, dass wir auf keinen Fall Zeit in Haus- und Sorgearbeit, dafür aber viel Zeit in Ausbildung, Beruf und Erfolg stecken sollen. Wir wissen das – und tun dennoch Letzteres viel mehr als Ersteres.

In diesem Buch wollen wir hinschauen, warum das trotz des wachsenden politischen Drucks und des Wissens um die drohende Altersarmut immer noch so ist. Eine Erklärung ist: Weil es diese Arbeit nun einmal gibt. Weil Kinder großgezogen, alte Menschen gepflegt und Haushalte geführt werden müssen. Und zwar 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Da kommt kein Dienstleister mit. Väter oder Söhne schon eher, aber bei ihnen ist trotz anderslautender Bekundungen kein messbarer Verhaltensunterschied zu sehen, wir werden später darauf zurückkommen. Die Arbeit ist da, wir machen sie und werden dabei alleingelassen.

Von unseren Liebsten, von unseren Arbeitgebern, und ja, leider auch von diesem Staat. Eines muss dabei klar sein: Wir übernehmen diese Sorgearbeit nicht nur aus Nachgiebigkeit oder mangelndem Kampfgeist, sondern auch, weil wir es wollen. Weil die Menschen, um die es dabei geht, uns am Herzen liegen. Wir übernehmen Verantwortung für Aufgaben, ohne die ein Miteinander undenkbar ist. Wir geben zu: Auch wir haben über 20 Jahre, zwei Kinder und zwei Bücher dafür gebraucht, um zu erkennen, in welche Falle wir getappt sind. Denn das ist ja das tückische an Fallen: Sie sind gut getarnt, im Unterholz versteckt, sie schnappen erst zu, wenn es zu spät ist.

Wir haben zu gerne dem Märchen geglaubt, dass diese Arbeit, die wir plötzlich mit der Familiengründung im Übermaß tun mussten, nicht wichtig und mit Leichtigkeit zu bewältigen oder abzugeben sei. Wir sind dem Ruf nach unserer eigenen Emanzipation gerne gefolgt, wir wollten in unseren Berufen bestehen und erfolgreich sein, irgendwann auch Familie haben, und haben erst sehr spät gemerkt, dass wir plötzlich zwei Jobs hatten: Unseren eigentlichen und den einer Hauswirtschafterin. Auf Letzteren hatte uns aber niemand vorbereitet, es hatte uns niemand gewarnt. Wie sollte man auch: Denn diese Arbeit gibt es als Arbeit bis heute offiziell nicht. Sie wurde mit der Industrialisierung ins Private verschoben, als Zeitvertreib geringgeschätzt – und damit dem Individuum überlassen. Sie verschwand so aus der öffentlichen Sichtbarkeit und dem Diskurs. Einziges Problem: Sie musste immer noch erledigt werden, denn sie war ja de facto noch da. Das war so lange zu bewältigen, solange Partnerschaften so funktionierten, dass einer (fast immer der Mann) das Geld verdiente und eine (fast immer die Frau) sich um den Rest kümmerte.

Spätestens seitdem der Anspruch an Frauen, am besten immerzu und ununterbrochen vollerwerbstätig zu sein, eindeutig formuliert wurde, brach dieses Konstrukt zusammen. Noch einmal: Die Arbeit war immer noch da. Was dann passierte, haben wir in der Alles ist möglich-Lüge schon detailliert beschrieben:

Wir haben als junge Mütter verzweifelt versucht, es irgendwie hinzukriegen. Jede neu gegründete Familie nach uns steht seither vor demselben Problem. Und alle denken, wie wir damals auch, sie seien ganz allein dafür verantwortlich, wenn es nicht klappt. Auch deshalb sind wir entsetzt: Weil sich, wenn überhaupt, Grundlegendes nur im Zeitlupentempo verändert, Verbesserungen – vor allem für Frauen und Kinder – nur in homöopathischer Dosis verabreicht werden. Die Einführung einer Kindergrundsicherung, einer finanziellen Unterstützung haushaltsnaher Dienstleistungen, wie sie die neue Bundesregierung jetzt plant, sind begrüßenswert, aber waren eigentlich schon vor mindestens einem Jahrzehnt fällig.

Und es ist noch lange nicht genug. Denn nach wie vor ist vor allem die Existenz von Müttern bedroht, wenn Ehen scheitern und sie im Beruf schlecht bezahlt mit verringerter Stundenzahl arbeiten.

Jede Häme an dieser Stelle ist unangebracht, ja eine Frechheit. Und wahnsinnig ungerecht. Denn: Wir sind nicht feige. Wir sind nicht dumm oder unbegabt, nicht bequem und auch keine Schattenfrauen. Wir sind Mütter und Töchter und Ehefrauen. Wir lieben unsere Kinder und haben sie trotz aller Schwierigkeiten großgezogen. Egal, welches Verhältnis wir zu unseren Eltern haben – wir kümmern uns jetzt im Alter um sie.

Wir alle haben viel in unsere Beziehungen gesteckt. Viel Kraft, viel Zeit, viel Liebe und viel Aufmerksamkeit. Das haben wir gerne getan und meist ohne darüber nachzudenken, was wir am Ende dafür bekommen. Jetzt aber, in der Mitte unseres Lebens, kommt etwas auf uns zu, womit wir nicht gerechnet haben: Wir erhalten die Quittung dafür, wie wir unser Leben und unsere Beziehungen führen. In der Mitte unseres Lebens wird abgerechnet. Unsere Kinder gehen aus dem Haus, ohne sich umzudrehen, viele unserer Männer haben uns betrogen, verlassen und feilschen mit uns seit Jahren um Kindesunterhalt und die Aufteilung unserer Ersparnisse, oft genug ziehen sie uns dabei gnadenlos über den Tisch – und der Gedanke an unser Leben im Alter erfüllt uns mit Furcht.

Aber statt Unterstützung ernten wir Spott. Wir lesen, dass wir uns besser um unsere Altersvorsorge statt um unsere Kinder hätten kümmern sollen. Dass wir selbst schuld seien, wenn uns die Vereinbarkeit nicht gelungen ist und unsere Männer uns als erschöpfte Teilzeitarbeiterinnen nicht mehr sonderlich attraktiv und spannend finden.

Dies ist ein Buch von und für Frauen in der Lebensmitte. Und für junge Frauen, die alle diese Erfahrungen noch machen müssen. Die ihre Partnerschaften mit Streitereien belasten müssen, wer wann das Klo putzt und das Erbrochene der lieben Kleinen aufwischt. Es ist ein Buch für Frauen, die sich allen Anforderungen gestellt, mit den damit verbundenen Schwierigkeiten gekämpft und viele davon souverän gemeistert haben. Frauen, die dachten, sie hätten es endlich geschafft. Nun müssen sie und wir erkennen: Wir haben viel geleistet, auf allen Ebenen, beruflich wie privat – und stehen trotzdem im Regen.

Unsere Renten sind halb so hoch wie die der Männer, das Gesetz schützt uns im Falle einer Scheidung seit der Reform des Unterhaltsrechts 2008 bewusst nicht mehr, und wir erleben um uns herum eine Altersdiskriminierung, gerade in der Wirtschaft, die wir nie für möglich gehalten hätten. Zu einem Zeitpunkt, an dem wir genau das Gegenteil davon bräuchten: Anerkennung und Unterstützung für einen Neustart; Möglichkeiten, noch einmal richtig loszulegen. Vom Ideal einer On-Off-Biografie, das wir in unserem Buch Die Alles ist möglich-Lüge beschrieben haben, einem sozial abgesicherten Wechsel zwischen Phasen intensiver Berufstätigkeit und intensiver Sorgearbeit, sind wir weit entfernt.

Dass umfassende Berufstätigkeit für Frauen heute selbstverständlich ist, müssen wir hier nicht erwähnen. Keinesfalls selbstverständlich ist aber, dass Frauen immer noch einen Großteil der Beziehungs- und Care-Arbeit1 leisten. Obwohl klar ist, dass diese Arbeit weder bezahlt noch wertgeschätzt noch unterstützt wird. Warum, um Himmels willen, tun sie das? Wo bleibt der landesweite Aufstand von Frauen? Warum hören wir nicht einfach auf, uns zu kümmern, und überlassen die Kinder, Alten und Kranken sich selbst?

Die Beantwortung dieser Fragen ist komplexer, als man auf den ersten Blick meinen mag. Natürlich können wir historische und soziokulturelle Gründe dafür anführen. Gängige Argumente sind, wir seien halt so erzogen worden, wir übernähmen mehr oder weniger unreflektiert tradierte Rollen, wir folgten einem übersteigerten Frauen- und Mütterbild. Besonders interessant daran ist: Selbst Frauen, die anders erzogen wurden, die bewusst tradierte Rollenbilder ablehnen, die in vermeintlich gleichberechtigten Partnerschaften leben, finden sich irgendwann in der Kümmerfalle wieder.

Mittlerweile müsste aber allen klar sein, welches Risiko das Sorgen für andere birgt. Sich um andere zu kümmern, ist in einer Gesellschaft, in der die Existenz fast ausschließlich vom eigenen Erwerb abhängt, nahezu lebensgefährlich. Also noch einmal: Warum übernehmen Frauen immer noch neben der Erwerbsarbeit den Löwenanteil der Fürsorgearbeit, was läuft da schief?

Es gibt gute Gründe dafür. Sie liegen jenseits von Konventionen, Erziehung und historischen Rollenbildern. Wir werden sie in diesem Buch vorstellen und diskutieren. Eines vorweg: Uns haben diese Erkenntnisse entlastet und neue Perspektiven eröffnet. Wir müssen uns nicht schuldig oder falsch fühlen, wenn wir Hausaufgabenbetreuung für sinnvoll erachten, drei Mal in der Woche den Haushalt der Schwiegermutter schmeißen oder im Lockdown plötzlich jeden Mittag wie selbstverständlich für alle das Essen auf den Tisch stellen. Im Gegenteil: Es ist unsere Stärke, dass wir das tun, und es ist eine Qualität, die allen zugutekommt. Und für die wir uns nie mehr rechtfertigen wollen.

Gleichzeitig aber macht Kümmern enorm verletzlich. Weil es abhängig macht. Der Umkehrschluss kann aber nicht sein, dass wir uns deshalb nicht mehr kümmern. Stattdessen müssen wir das Kümmern aufwerten. Initiativen dafür gibt es genug und seit Jahren – passiert ist nichts. Und wir müssen Erwerb neu denken. Wie kann es sein, dass Erwerbsarbeit immer noch nach männlichen Spielregeln abläuft? Höher, schneller, weiter statt weniger, intensiver und nachhaltiger? Die Rufe nach einer Familienarbeitszeit von 30 Stunden schallen seit Jahren ungehört durch die Republik. Wie kann es sein, dass der Druck auf Wirtschaft und Politik offenbar immer noch nicht hoch genug ist, um Arbeit und vor allem Arbeitszeit, Zeitregime überhaupt, anders zu denken und zu strukturieren?

Wir haben unsere Leben genug optimiert und angepasst. Dass wir jetzt trotzdem in der Kümmerfalle sitzen, ist nicht unsere individuelle Schuld, es ist strukturelles Versagen. Auch deshalb greift allein der Ruf nach mehr Beteiligung der Männer an der Sorgearbeit viel zu kurz. Das kann keine Lösung sein für den Konflikt zwischen Sorge- und Erwerbsarbeit. Warum das so ist, werden wir in den folgenden Kapiteln ausführlich erläutern.

Dieses Buch ist ein Plädoyer für mehr Zusammenhalt und für einen Blick auf Frauenleben aus allen Generationen, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Und eine politische Aufforderung zum Aufruhr. Denn wir können etwas ändern. Wir sind viele. Wir sind die Frauen der Babyboomer-Generation, eine Generation Frauen, für die es selbstverständlich ist, den Mund aufzumachen. Wir können sicher sein: Wenn wir zusammenhalten, wenn wir Gerechtigkeit fordern, wenn wir laut sind, wird man uns hören. Vielleicht haben wir gerade jetzt – weil die Pandemie ein Schlaglicht auf vieles vorher Unsichtbares geworfen hat – die Chance zu einer Veränderung, von der nicht nur wir, sondern auch unsere Söhne und Töchter profitieren können.

Frauen werden noch immer nicht genug gehört und gesehen. Dabei ist jedes Frauenleben immer zutiefst politisch. Weil ihre Entscheidungen unsere Gesellschaft gestalten, prägen und verändern. Frauen wirken durch ihre Art, Beziehungen zu führen, ihre Möglichkeit, Kinder zu bekommen und sie von Anfang an zu prägen, tief in die Gesellschaft hinein.

Wie tief, das zeigt exemplarisch die Situation in den neuen Bundesländern. Dort hat schon vor Jahrzehnten, gleich nach dem Mauerfall, eine Entwicklung eingesetzt, deren Folgen vollkommen unterschätzt wurden: Frauen verließen ländliche Regionen und suchten ihr Glück woanders. Gut ausgebildete, junge Frauen, die ihr Leben in die Hand nehmen und nicht in strukturschwachen Räumen versauern wollten. Das hatte gravierende Folgen. Frauen, die nicht mehr da sind, feiern keine Kindergeburtstage, backen keine Muffins für Schulfeste, pflegen keine Mütter oder Schwiegereltern und spülen kein Geschirr nach dem Grillabend im Verein. Männer haben diese Rollen nicht übernommen. Im Gegenteil, wie eine Studie des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung zeigt: Sie trauten sich nicht, etwas Neues zu wagen, waren unbeweglich, vereinsamten und wurden entweder depressiv oder aggressiv.2

Frauen sind für den Zusammenhalt unerlässlich. Unsere Art, Beziehungen zu pflegen und in Bindungen zu investieren, ist ein konstituierendes Moment unserer Gesellschaft. Das liegt auf der Hand und ist erforscht. Trotzdem werden diese Qualitäten nicht wertgeschätzt, geschweige denn abgesichert. Wie kann das sein?

Dieses Buch ist eine Fortschreibung unserer Kampfschrift Die Alles ist möglich-Lüge. Und weil wir immer wieder junge Frauen treffen, die uns auch heute noch sagen – übrigens genau wie wir damals in unseren Zwanzigern – »Frauenbewegung brauchen wir nicht mehr. Wir sind emanzipiert und gleichberechtigt genug«, ist es auch ein Buch, das auf den Nachttischen der Töchter, Schwiegertöchter und Enkelinnen landen sollte. Weil wir doch irgendwann mal anfangen müssen, aus der Geschichte, ja aus dem, was gerade vor unserer Nase passiert, zu lernen und nicht immer dieselben Fehler zu machen.

Die aktuelle gesellschaftliche Debatte um die drohende Altersarmut von Frauen macht deutlich, wie brisant dieses Thema ist. Alle Frauen, die wir dazu interviewt haben, vor allem diejenigen, deren Ehen relativ spät im Leben gescheitert sind – im Übrigen ein eher neuer und politisch nicht zu vernachlässigender Trend –, haben davor Angst. Aus guten Gründen. Es bedarf einer gesellschaftlichen Diskussion darüber, wie es so weit kommen konnte, wie man gegensteuern kann und wie die Verantwortung wieder bei den Richtigen ankommt. Denn Frauen sind mitnichten selbst schuld an dieser Situation. Wir sind auch nicht zu blöd, die negativen Folgen unserer privaten Entscheidungen einzuschätzen. Wir treffen sie aber dennoch. Aus zutiefst menschlichen Gründen.

Aus dieser Beziehungsarbeit entstehen vor allem für Frauen existenzielle Probleme – das darf in einer Gesellschaft, die sich Gleichstellung und Gleichberechtigung auf die Fahnen geschrieben hat, nicht sein. Die einzige Antwort, die man darauf derzeit hört, lautet sinngemäß: Lebe halt wie ein Mann, dann bist du sicher. Aber das ist zu wenig und zu kurz gedacht. Fakt bleibt: Wir zahlen jetzt, ab 50, die Zeche für die Fehler der Politik vor allem im Bereich Fürsorgearbeit und Familienpolitik der vergangenen 25 Jahre.

Zur kaum entrinnbaren Falle wird das Ganze, wenn die Ehe scheitert und der Partner, auf den man sich verlassen hatte, nichts anderes im Sinn hat, als schnell viel Geld zur Seite zu schaffen. Bitter wird es, wenn man merkt, dass es keinerlei Solidarität mehr gibt mit der Mutter seiner Kinder. Der Unwille zur nachehelichen Solidarität ist in Deutschland, so Experten im Zweiten Gleichstellungsbericht für die Bundesregierung, besonders groß (siehe Kapitel 3). Und nicht einmal mehr das Gesetz schützt Frauen vor dem Sturz ins Bodenlose. Frauen, die einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht haben, dem Mann eine gute Berufstätigkeit zu ermöglichen, indem sie neben ihren eigenen Jobs weitgehend hauptverantwortlich waren für die Kinder, den Haushalt und die sozialen Kontakte.

Wenn man sich die gesellschaftliche Realität in Deutschland ansieht, erkennt man sehr schnell, dass unser sozialpolitischer Rahmen nicht in der Gegenwart angekommen ist. Wir schleppen einen Regel- und Werteballast mit uns herum, der aus einer anderen Zeit stammt. Wir stülpen ihn jungen Familien über, die anders leben wollen, und wundern uns, dass das nicht zusammenpasst. Dennoch versuchen alle, sich durchzuwurschteln und individuelle Lösungen für die strukturellen Probleme zu finden.3 Der Vollständigkeit halber zählen wir hier die schlimmsten Stolpersteine auf dem Weg in eine moderne, gleichberechtigte Gesellschaft noch einmal kurz auf:

• Altersarmut ist weiblich. Im Durchschnitt erhalten Frauen in Deutschland 45 Prozent weniger Rente als Männer. Damit belegt Deutschland neben Luxemburg den unrühmlichen Spitzenplatz in Europa.

• Das Steuerrecht unterstützt immer noch Alleinverdiener-Ehen. Es setzt starke Anreize, damit die sich kümmernde Person beruflich enorm zurücksteckt, dabei aber keine eigene Altersvorsorge aufbaut. Bleibt abzuwarten, wie die geplante Reform des Ehegattensplittings der Ampelkoalition ausformuliert und angewandt wird. Das Grundproblem bleibt aber: Die Sorgearbeit und ihre Absicherung werden nicht thematisiert.

• Wenn die Ehen scheitern, bestraft das Scheidungsrecht Fürsorge sogar regelrecht. Wie diese gravierende Ungerechtigkeit beseitigt werden kann, dafür gibt es zurzeit noch gar keine Ideen. Altersarmut bleibt ein Schreckgespenst, weil Care-Arbeit nirgends anerkannt wird. Nicht mal vom eigenen Mann und Vater der Kinder, der davon enorm profitiert hat. Und im Fall einer Trennung relativ unbeschadet vom Hof reitet, während Frauen existenziell bedroht sind.

• Die Vereinbarkeit ist eine Lüge. Der Spagat zwischen Familie und Beruf war und ist nicht zu schaffen. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, wird uns klar, welchen Preis wir für eine falsche Arbeits- und Sozialpolitik zahlen, weil es immer noch keine Wiedereinstiegsprogramme und keine späten Karrieren gibt.

• Der »neue« Mann ist ein Mythos oder zumindest ein relativ seltenes Exemplar. Zur Lösung sämtlicher Probleme wird er gerne herbeigewünscht oder auch mal herbeigeredet, allein: Es stimmt nicht, dass Männer nur darauf warten, endlich regelmäßig den Wasserkocher entkalken zu dürfen. Es ist ein Märchen, dass er nur von schlechten politischen Rahmenbedingungen, der fehlenden Toleranz in Unternehmen oder der eigenen Partnerin davon abgehalten wird. Selbstverständlich gibt es fürsorgliche Männer, die – wie die meisten Frauen zusätzlich zu ihrem Job – ihre Kinder gerne erziehen, den Haushalt schmeißen, alle Arzttermine im Blick haben und die Geschenke für den nächsten Kindergeburtstag kaufen. Aber ihre Anzahl ist immer noch beschämend gering. Männer verbringen durchschnittlich nur halb so viel Zeit mit Fürsorgearbeit wie Frauen. Noch skandalöser ist der Anteil bei Familien mit betreuungspflichtigen Kindern. Da liegt der Unterschied aktuell bei 83,3 Prozent!4

• Pflege ist immer noch meistens Privatsache, sie wird zu Hause geleistet und vor allem von Frauen. Fast 75 Prozent aller alten Menschen werden zu Hause gepflegt.5Davon mehr als zwei Drittel von ihren Angehörigen, in der Mehrzahl von Töchtern und Schwiegertöchtern zwischen 45 und 60, also von uns. Kaum sind die Kinder aus dem Haus, droht uns also das nächste Vereinbarkeitsproblem. Wieder keine Zeit und Kraft für eine Vollzeitstelle, wieder ein Ausfall in der Rentenkasse. Wir zahlen die Zeche für eine verfehlte Pflege- und Gesundheitspolitik.

• Wir sind die erste Frauengeneration, die mit dem Gedanken aufgewachsen ist, wir könnten alles genauso gut wie Männer, uns stehe die Hälfte von allem zu und Gleichberechtigung sei selbstverständlich. Wir haben den Feminismus der dritten Welle nicht für notwendig gehalten, weil wir davon ausgegangen waren, dass wir längst auf Augenhöhe mit Männern sind. Wir hatten das Selbstbewusstsein der gut ausgebildeten jungen Frauen, die auch heute wieder sagen: »So etwas kann und wird mir nicht passieren«, wenn uns erfahrenere Frauen vor den Fallstricken gewarnt haben. Was wir uns – auch schon vor über 20 Jahren! – überhaupt nicht vorstellen konnten: Haben wir Beziehungen und übernehmen Verantwortung für andere, werden etwa Mutter, ist es schneller mit der Gleichberechtigung vorbei, als wir gucken können. Und das nicht, weil wir nicht wollen oder nicht leistungsbereit sind. Wir haben versucht, unsere Leben individuell zu optimieren. Aber niemand hat sich bisher erfolgreich politisch dafür eingesetzt, die Weichen für ein gleichberechtigtes Leben auch in den Familien und am Arbeitsplatz zu stellen. Elterngeld hin und Kitaausbau her. Fürsorgearbeit ist nach wie vor nicht abgesichert und führt im schlimmsten Fall zu einem prekären Leben.

Alle diese Zumutungen wollen wir nicht länger hinnehmen. Wir wollen auch, dass die Generationen nach uns nicht immer wieder dasselbe erleben und erfahren und letztlich an den Strukturen scheitern müssen. Und: Wir haben keine Lust mehr, für das bestraft zu werden, was eine Gesellschaft dringend braucht und was viele von uns tatsächlich verantwortungsbewusst und mit Leidenschaft tun. Wir fordern eine echte Gleichstellungspolitik, in der alle Rahmenbedingungen auf ihre Konsequenzen für Frauen hin überprüft werden. Und eine Sozialpolitik, die Fürsorge für andere endlich anerkennt und absichert!

1 DIE SCHEIDUNGSFALLE

WER SICH SPÄTER TRENNT, WIRD FRÜHER ARM

Ausgerechnet an Ostern. Warum musste es ausgerechnet an den Feiertagen sein? Andreas hatte noch vor ein paar Tagen mit ihr und den Kindern Eier gefärbt und am Vorabend bei einem Glas Wein die Geschenke für die Kinder eingepackt. Sicher, die Spannungen zwischen ihnen beiden waren schon länger spürbar gewesen. Eine gewisse Lieblosigkeit hatte sich eingeschlichen, und auch nachdem sie das Schlafzimmer blutrot gestrichen hatte, war die Intensität ihrer Liebe nicht proportional zur Wandfarbe gestiegen. Und ja, sie hatten schon länger nebeneinanderher gelebt, er voll absorbiert in seinem Führungsjob und sie beschäftigt mit den Kindern und ihrer Teilzeitstelle in einem Kindergarten. Trotzdem war es ein Schock, als er am Ostermontag verkündete: »Ich ziehe aus. Ich bin schon seit letztem Sommer in Sabine verliebt. Ich dachte, wir könnten hier noch etwas retten, aber ich habe mich entschieden. Ich will mit ihr zusammenleben.«

Ausgerechnet Ostern also und ausgerechnet Sabine! Eine ihrer besten Freundinnen, wie sie bis vor wenigen Minuten noch dachte. Brigitte blieb die Luft weg. Plötzlich fühlte sich alles sinnlos an. Der ewige Kampf, dieser Beziehung mehr Leben einzuhauchen. Mit dem Mann, der nur ungern über Gefühle sprach, geschweige denn zeigte. Der unwirsch mit den Kindern war und oft hart gegen sich und andere. Der irgendwie abgetrennt wirkte von seinen Gefühlen. Und der nun plötzlich in einem emotionalen Aufruhr zu sein schien, den sie all die Jahre nie zu sehen und zu spüren bekommen hatte.

Brigitte, die in Wirklichkeit anders heißt, ist Mitte 40, als Andreas geht – und mittendrin in der Kümmerfalle. Ihr wird schlagartig klar, dass sie einen hohen Preis bezahlen wird dafür, dass sie gut 15 Jahre lang wesentlich mehr Zeit für die Familie aufgewendet hat als er. Sie ist eine von unzähligen Frauen in der Lebensmitte, die in diesem Alter vor die Aufgabe gestellt werden, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Und die neben dem emotionalen Chaos und all den praktischen Problemen, die so eine Trennung in der Lebensmitte mit sich bringt, auch vor großen finanziellen Schwierigkeiten steht. Denn während sie in ihrem sozialen Beruf – zwar immer in Teilzeit – weitergearbeitet hat, bekommt sie ein lächerlich kleines Gehalt im Vergleich zu ihm, der in einer großen Institution eine klassische Karriere gemacht hat.

SPÄTE TRENNUNG: EIN TREND

Mit ihrer Trennung im mittleren Alter ist sie Teil eines Phänomens, das längst auch wissenschaftlich erforscht wird. Allerdings begreift man hierzulande erst langsam, was da auf uns zukommt mit dem Trend zur späten Trennung. Denn während die Scheidungszahlen in Deutschland insgesamt sogar rückläufig sind, stieg das Alter, in dem Menschen sich scheiden lassen, in den vergangenen Jahren stetig.

Waren Frauen etwa im Jahr 2007 noch durchschnittliche 40,9 Jahre alt, wenn ihre Ehe auseinanderging, lag das Alter 2019 schon bei 44,4 Jahren. Und das liegt nicht nur daran, dass im selben Zeitraum die Ehen später geschlossen wurden. Mit Erstaunen hat die Schweizer Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello festgestellt, dass sowohl die öffentliche Diskussion als auch die Forschung sich hierzulande immer noch hauptsächlich mit Scheidungen jüngerer Paare mit oft kleinen Kindern beschäftigen. Dabei betreffen die meisten Scheidungen die Altersgruppe der 45- bis 50-Jährigen. Weil auch sie Antworten auf die drängenden Fragen suchte, die in der Lebensmitte oft ganz anders aussehen als in jüngeren Jahren, machte sie eine Studie dazu.1

Auch Jocelyn Elise Crowley beschreibt in ihrem Buch zu späten Trennungen die massiven Auswirkungen dieses Phänomens. Mehrere Fragen drängen sich in diesem Zusammenhang auf:

• Was bedeuten die späten Trennungen für eine alternde Gesellschaft?

• Sind die Auswirkungen für Männer und Frauen die gleichen? Wenn nein: Wie unterscheiden sie sich? Und:

• Haben Männer und Frauen ähnliche Nach-Scheidungs-Leben im mittleren Alter? Haben sie die gleichen Herausforderungen und Möglichkeiten, während sie diese familiären Veränderungen durchlaufen?

Um eine Antwort auf die letzte Frage gleich vorwegzunehmen: Natürlich nicht. Die Auswirkungen sind für Männer und Frauen extrem unterschiedlich. Das sollte uns nicht erstaunen, da ja auch ihre Leben ganz anders verlaufen. Vor allem, wenn Kinder im Spiel sind.

Grundsätzlich gilt: Die Antworten auf diese Fragen haben weitreichende Auswirkungen nicht nur auf jede und jeden Einzelnen, sondern auf unsere Gesellschaft als Ganzes. Sie bestimmen, wie wir in der Lebensmitte leben, wie wir später unseren Lebensabend gestalten können, wie viel Teilhabe für jede und jeden möglich ist, wie unsere sozialen Beziehungen aussehen.

Eine spannende Erkenntnis liefern die Forscher der Binghamton University und des University College London:2 Sie fanden in Befragungen von knapp 6000 Personen in 96 Ländern heraus: Frauen neigen dazu, unter einer Trennung stärker und intensiver zu leiden als Männer. Sie spüren größeren emotionalen, ja sogar körperlichen Schmerz. Aber: Sie erholen sich auch vollständiger und gehen aus der Trennung emotional gestärkt hervor. Männer, so die Forschenden, erholen sich nie ganz, sie machen einfach weiter.

Der Grund dafür, so Craig Morris, der die Studie leitete, sei, dass Frauen mehr in eine Beziehung investieren als Männer (siehe dazu auch Kapitel 2). Aus der einfachen biologischen Tatsache heraus, dass eine kurze romantische Begegnung zu Schwangerschaft und damit Mutterschaft und somit einer lebenslangen Verantwortung führen kann. Diese »Gefahr« besteht für Männer nicht. Deshalb seien Frauen wählerischer und auf der Suche nach einem, wie er schreibt, »high-quality mate«. Geht die Beziehung zu diesem »Qualitäts«-Mann in die Brüche, schmerzt das mehr.

Generelle Unterschiede der Geschlechter im Umgang mit Trennung, auch wenn vieles natürlich grob verallgemeinernd ist, haben auch die Macher der Website beyondbreakup.de ausgemacht: Sie kommen zu dem Schluss, dass Männer sich eher ablenken, nicht so tief in die Trauer, in Vergangenheitsbewältigung und Aufarbeitung einsteigen – und deshalb länger und immer wieder von Wellen von Liebeskummer überrollt werden. Frauen dagegen trauern heftig, intensiv, sprechen mit anderen über ihre starken Gefühle und sind irgendwann bereit für einen Neuanfang. Groll und Wut dagegen können sich bei Männern länger festsetzen. Diese Wut, so die beiden Coaches hinter der Website, sei Ausdruck der enormen Kränkung, die Männer empfinden, wenn sie verlassen werden.

Grundsätzlich seien sie leidensfähiger, zufrieden mit dem, was sie haben, und hielten es deshalb auch länger in einer schon unbefriedigend gewordenen Beziehung aus. Deshalb würden sie oft völlig überrascht, wenn die Partnerin die Trennung will. Und bei vielen Männern schmerze der Verlust ihres weiblichen »high-quality mate«, so die Forscher der Binghamton University, anfangs nicht so sehr, da sie ständig in Konkurrenz um romantische Aufmerksamkeit stünden, frei nach dem Motto »Auch andere Mütter haben schöne Töchter.« Es dauere länger, bis sie begriffen, dass sie nun ein wirklich gutes Exemplar verloren haben und wieder in den Konkurrenzkampf einsteigen müssen. Einige merken irgendwann, dass ihr Verlust unersetzlich ist. Und kommen gar nicht darüber hinweg.

Doch nicht nur unsere emotionale Verfasstheit ist je nach Geschlecht nach einer Trennung offenbar eine andere: Leider sieht auch unser Lebensstandard nach dem Ende einer Beziehung in der Regel anders aus. Während Männer oft ohne große Einbußen einfach so weiterleben können wie bisher, müssen sich Frauen häufig total umorientieren. Und einschränken.

Beim Thema Finanzen kann auch Anja nur müde lachen. Bis zur Trennung von ihrem Mann hatte sie – durch ihn und seine Selbstständigkeit – ein gutes Einkommen und einen klar definierten Platz in der Dorfgemeinschaft. Er war als selbstständiger Handwerker in der ländlichen Gemeinde sehr angesehen, sie hat ihm mit der Buchhaltung geholfen und die gemeinsame Tochter betreut. Sie lebten in dem schmucken Fachwerkhaus, das er von seinen Eltern geerbt hatte. Sie hat in den vergangenen zehn Jahren aus dem Garten ein verwunschenes Paradies gemacht, in das Freunde gern zum Feierabendgläschen kamen. Vor der grün gestrichenen alten Eingangstür begrüßen rosafarbene Stockrosen die Gäste – ein Idyll wie aus dem Bilderbuch.

Bis Jens eines Tages erklärt, dass ihn das alles anödet, er keine Lust mehr hat auf dieses Puppenhausleben – und längst eine neue Freundin. Nach dem ersten Schock fühlt sich Anja noch sicher, sie hat ebenfalls ein Haus geerbt und denkt, sie wird schon zurechtkommen. Doch in den folgenden Monaten spielt sich ein Drama ab, mit dem sie beim besten Willen nicht gerechnet hat:

Jens rechnet sich als Selbstständiger vor Gericht arm, verweigert ihr jede Unterstützung. Dann stellt sich heraus, dass er bei ihrem Haus im Grundbuch steht und nicht sie. Es gehört also offiziell ihm, und er macht in dieser Situation keinerlei Anstalten, den offensichtlichen Fehler richtigzustellen. Zu guter Letzt verliert sie sogar noch die Tochter, an der sie sehr hängt. Weil sie mittlerweile in eine kleine Mietwohnung gezogen ist und das Mädchen sich dort überhaupt nicht wohlfühlt. An einem wolkenverhangenen Februartag erfährt sie völlig unvorbereitet bei einem Termin im Jugendamt, dass das Mädchen sich entschieden hat, fortan beim Vater zu leben. »Weißt du Mama, das schöne Haus ist einfach mein Zuhause«, sagt sie entschuldigend und kann ihr in diesem Moment kaum in die Augen schauen.

Als ob das alles nicht genug wäre, nutzt Jens diese Situation noch dafür aus, sich von ihr Unterhalt für das Kind zahlen zu lassen, da es ja mehr als die Hälfte der Zeit bei ihm lebt. Sein Unternehmen hat er natürlich immer noch, offiziell macht es nach wie vor Verluste – und Anja verdient das Geld für sich und den Unterhalt für die Tochter nun als Schuh-Verkäuferin. Sie arbeitet Vollzeit, ist jeden Abend vom vielen Stehen total k.o. und ihr Konto ist am Monatsende leer.

DER PREIS IST HOCH

Trennungsforscherin Crowley hat in ihrer Forschungsarbeit belegt, dass es eine – wie sie es nennt – »Gray-divorce-Penalty«, also eine besondere Strafe für die späte Trennung gibt. Und zwar für Männer wie für Frauen. Sie sieht nur anders aus: Während Männer durch die späte Trennung eher sozial »bestraft« werden, ist die Strafe der Frauen meist monetär.4 Diese »Strafe« hat Anja schmerzlich am eigenen Leib erfahren. Denn nun ist sie über 50, der Zug für eine richtige Karriere längst abgefahren, um ihr Erbe ist sie betrogen worden. Und es tröstet Anja überhaupt nicht, dass sie mit ihrer Geschichte Teil eines sehr speziellen Phänomens ist. Crowley und Perrig-Chiello haben sich die späten Trennungen genauer angeschaut und versucht, die Gründe dafür wissenschaftlich zu erfassen.

1. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine Scheidungskultur in der Gesellschaft ausgebreitet.

Individuen in einer solchen Gesellschaft haben bestimmte Erwartungen an eine Ehe. Wenn diese nicht erfüllt werden, ist eine Scheidung möglich, zulässig und statthaft. Eigentlich leben wir längst mehr in einer Trennungs- als in einer Zusammenbleib-Kultur. Trennung ist nicht mehr so stigmatisiert wie früher. Man muss sich nur in deutschen Klassenzimmern umsehen und stellt dabei schnell fest, dass mittlerweile die Kinder, deren Eltern noch zusammen sind, oft in der Minderheit sind. In Amerika kommt noch dazu, auch das ist ganz interessant, obwohl es uns mit unserem ausgebauten Sozialstaat nicht so sehr betrifft, dass Ehen am Anfang des 20. Jahrhunderts auch geschlossen wurden, um Ressourcen zusammenzulegen. Um Kindern und anderen Angehörigen die nötigen Mittel zu geben, um die Leiter der Möglichkeiten hochzusteigen. Außerdem war die Ehe als Institution der Fels im gemeinschaftlichen Leben, in der Nachbarschaft, weil Familien sich umeinander und andere gekümmert haben.

Die Familie hat hierzulande eine nicht ganz so starke Absicherungsfunktion wie in den USA, wo das Individuum mehr auf sich allein gestellt ist. Dennoch war die Ehe früher – hier wie dort – ein geschützter Ort, der einen vor der feindlichen Welt draußen ein wenig schützte, der Sicherheit gab und durch die Exklusivität, die ihre Mitglieder sich versprachen, andere auf eine gute Art ausgrenzte und die Ehepartner zu etwas Besonderem machte.

EGO SCHLÄGT EHE

Hier wie dort änderten sich allerdings in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlagartig die individuellen Prioritäten: Hatten die Menschen bis hierhin noch gedacht, ein erfülltes Leben sei eines, in dem man sich gegenseitig hilft und zusammenarbeitet, wurde plötzlich die eigene Lebenszufriedenheit wichtiger als der Dienst an der Gemeinschaft. Das heißt nicht, dass sich Individuen nicht länger um die Gemeinschaft geschert hätten – vor allem in den USA, wo community ein wichtiger Teil jedes Lebens ist –, aber es heißt durchaus, dass fortan beide Geschlechter viel mehr darauf achteten, dass es ihnen persönlich gut ging, während sie Sinn suchten in ihrem Leben.

Diese Bewegung hin zum Erreichen persönlicher Ziele hatte wichtige Auswirkungen im Kontext der Ehe. Es war geradezu eine Revolution, dass auf einmal Selbstzufriedenheit so stark betont wurde. Nun wurde die Ehe als etwas betrachtet, worin man selber innerlich wachsen konnte.

Crowley schreibt: »Das Ergebnis ist, dass die formale Verbindlichkeit einer Ehe zu einem Versprechen wurde, dass beide Partner sich gegenseitig helfen, individuelle Ziele zu erreichen. In diesem neuen Arrangement wurde der Erfolg einer Ehe daran gemessen, wie zufrieden jeder Einzelne als Teil des Paares war.« Soll heißen, wenn ein bestimmtes Level an Glück nicht erreicht wurde, konnten beide – sozial akzeptiert – die Ehe durch Scheidung verlassen. Scheidung, so Crowley weiter, wurde zu einem anerkannten Mittel, einen Vertrag zwischen zwei Leuten aufzukündigen, die zusammen nicht mehr glücklich waren.5

Auch dass Romantik als Grundlage einer lebenslangen Verbindung die Idee einer Interessen- und Zweckgemeinschaft abgelöst hat, war der Dauerhaftigkeit von Ehen nicht gerade zuträglich. Denn diesen glückseligen Zustand über Jahrzehnte aufrechtzuerhalten – das ist schon eine herausfordernde Aufgabe.

»… wie man diese romantische Liebe über die Jahre frisch erhalten kann und ob man die unweigerlichen Veränderungen des anfänglichen Zustandes auch akzeptieren, beziehungsweise bewusst gestalten will, hängt in einem nicht zu unterschätzenden Maß von gesellschaftlichen Kontextbedingungen ab. Denn wenn individuelles Glück und eine möglichst hohe Autonomie und Selbstrealisierung angesagte primäre Lebensziele sind, dann haben wir hier sehr bald ein Problem«, schreibt auch Perrig-Chiello.6

Während Scheidung früher, weil eher die Ausnahme, durchaus mit Stigma einherging, ist sie heute – weil schon fast die Regel – nur ein Lebensereignis von vielen.

2. Anstieg der Lebenserwartung

Wir leben alle länger, und oft bedeutet das, dass auch Ehen immer länger dauern. Da ist eine Menge Zeit sinnvoll miteinander zu gestalten. Nicht jedes Paar schafft und will das. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland lag 1950 noch bei 64,6 (Männer), beziehungsweise 68,5 (Frauen) Jahren. 2015 hatte sie sich auf 78,4 (Männer) und 83,4 (Frauen)7 erhöht. Schon allein diese Zahlen sprechen für sich und machen das Dilemma, wenn man so will, deutlich. Wie soll man als Paar all diese gewonnenen Jahre gemeinsam in Liebe und Spannung und Freundschaft und Leidenschaft – dazu später mehr – verbringen?

Kein Wunder, dass einem da zwischendurch die Luft ausgeht und man sich spätestens ab Mitte 40 fragt, ob und wenn ja, wie es mit diesem Partner weitergehen soll.

Statistiker sagen dazu nüchtern: Wenn die Lebenserwartung steigt, sinkt das Risiko, einen Lebenspartner durch Tod zu verlieren. Das Risiko aber, ihn durch Scheidung loszuwerden, wird größer. Das Positive daran ist allerdings: Wenn man länger lebt, steigt auch die Möglichkeit, erneut zu heiraten oder zumindest einen neuen Lebenspartner zu finden.

3. Abkehr vom Schuldprinzip bei Scheidungen

In Deutschland galt früher das Schuldprinzip bei Scheidungen. Mit dessen Abschaffung im Juli 1977 wurde im Grunde die Idee der Unauflöslichkeit einer Ehe ad acta gelegt. Nunmehr galt, dass eine Ehe beendet werden konnte, wenn sie gescheitert ist. Das hat Scheidungen enorm vereinfacht, denn bis dahin hatte das Schuldprinzip für noch mehr Leid gesorgt, als eine Scheidung ohnehin oft mit sich bringt. Wer schuldhaft geschieden wurde, bekam etwa kein Sorgerecht für die Kinder und auch keinen Unterhalt. Wer sich schon damals gütlich trennen wollte, musste aushandeln, wer dennoch die Schuld auf sich nimmt. All das führte dazu, dass vor Gericht sehr viel schmutzige Wäsche gewaschen wurde und Menschen logen, um etwa das Sorgerecht zu bekommen. Ziel der ersten Eherechtsreform war es also, Ehen schneller, einfacher und fairer beenden zu können.

Während so eine Reform einerseits eine Anpassung an eine neue gesellschaftliche Realität ist, kann sie gleichzeitig die gesellschaftliche Realität für die Zukunft prägen. Wir sagen damit nicht, dass das Schuldprinzip eine tolle Sache gewesen wäre – im Gegenteil! Aber die Vereinfachung von Scheidungen führte dazu, dass sie akzeptiert und damit gesellschaftsfähig wurden. Auch das ist im Prinzip nichts Schlimmes. Wenn es in der deutschen Realität nicht bedeuten würde, dass in den meisten Fällen Frauen wegen all der anderen strukturellen Ungerechtigkeiten die ökonomischen Verliererinnen davon sind.

Wenn nun eine Ehe nach, sagen wir, 25 oder 30 Jahren scheitert, kommt noch ein weiterer, schmerzlicher, Aspekt hinzu: Es heißt, dass eine ziemlich große Menge gemeinsamen Lebens beendet wird. Die Auswirkungen, auch emotionaler Art, sind um ein Vielfaches größer, je länger man mit nur einem Menschen zusammengelebt, gewirtschaftet, gelacht und geweint hat. Wie sagt doch Emma Thompson so schaurig-schön zu ihrem Mann in dem Weihnachtsklassiker Tatsächlich Liebe, als sie von dessen Schwärmerei für eine wesentlich jüngere Kollegin erfährt: Du hast eine Närrin aus mir gemacht und verspottest das Leben, das ich führe.

Nicht selten fühlen sich vor allem Frauen, die verlassen werden, genau so: Als wäre all ihre Arbeit, ihr Einsatz, ja, auch ihr Verzicht auf Eigenes zugunsten der Familie, des Partners, als wäre all das auf einmal nichts mehr wert. Als hätten sie ihr Leben vergeudet. Und seien womöglich ganz allein und selbst dafür verantwortlich. Die physiologischen Gegebenheiten in den mittleren Jahren machen die Sache nicht einfacher.

AB 50 TUT’S RICHTIG WEH

Es sind ja nicht nur die Schweißausbrüche und Stimmungsschwankungen, die Frauen in der Lebensmitte mit aller Gewalt darauf hinweisen, dass – wieder einmal – massive Veränderungen anstehen. Jenseits aller körperlichen Beschwerden, die die eine stärker, die andere schwächer wahrnimmt, spüren wir, dass sich in uns und um uns herum die Welt verändert. Wie wir sie wahrnehmen – und wie wir in ihr wahrgenommen werden. Gleichzeitig müssen wir uns oft mit pubertierenden Kindern auseinandersetzen. Das Hormonlevel aller Mitglieder eines Haushaltes wäre nach medizinischen Standards wahrscheinlich hochgradig gesundheitsschädlich.

Das ist schon anstrengend genug. Wenn in dieser Lebensphase eine Trennung über uns hereinbricht, gleicht das einer zerstörerischen Naturgewalt. Nun bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Wenn wir in den Spiegel sehen, der uns kurz zuvor noch Gedanken wie: »Ein bisschen angestaubt, aber immer noch ganz nett« entlockte, denken wir nun in maximalem Selbsthass: »Mein Gott, sind da viele Falten. Und dass der Ansatz schon so grau ist, hatte ich gar nicht bemerkt.«

Wenn der selbstverständlich liebevolle Blick eines langjährigen Partners plötzlich wegfällt, bleibt manchmal nicht mehr viel Selbstliebe übrig. Zumindest am Anfang. Nicht selten berichten Frauen von einem ganz neuen Lebens- und Liebesgefühl, wenn das erste Gefühlschaos überstanden ist – bis sie so weit sind, dauert es aber eine Weile. Generell haben sich viele Frauen mit ihrem Lebensentwurf – Zurückstecken für die Familie, in welchem Ausmaß auch immer –, der ja normalerweise mit dem Partner abgestimmt war, maximal angreifbar und abhängig gemacht.

Uns ist wichtig zu betonen, dass sie das nicht aus Blauäugigkeit, Naivität oder schierer Dummheit tun. Sie tun das, weil sie so leben wollen! Zumindest eine Zeitlang. Und es gibt überhaupt keinen Grund, ihnen das vorzuwerfen. Im Gegenteil: Einen roten Teppich sollte man ihnen ausrollen, auf dass sie darauf wandeln können. Aber das Gegenteil ist der Fall: Sie werden verhöhnt und verlacht, im besten Fall ein bisschen bedauert. Hätten sie doch ihre vielversprechenden Karrieren oder zumindest ihre Berufstätigkeit nahtlos fortgesetzt, mit ein bisschen Organisationstalent wäre das schon gegangen. Es gibt sie doch, die erfolgreichen Supermütter mit zwei bis sieben Kindern, die alles problemlos wuppen.

Ja, wenn das nur keine Geschichten aus dem Alles-ist-möglich-Märchenland wären, die nur auf einen sehr kleinen Teil von Frauen zutreffen. Frauen, die schlicht und einfach die Ausnahme und nicht die Regel sind. Solange wir Leistung nur in finanziellem Erfolg, in Kategorien von Einkommen und zu erwartenden Rentenpunkten bemessen und nicht in einer Lebensleistung, die auch das Aufziehen von Kindern oder das Pflegen alter Eltern substanziell miteinbezieht, so lange wird es keine gleichwertige Anerkennung geben. Dadurch fallen Frauen, die sich um andere kümmern, immer noch und immer wieder durchs Raster. Wir haben immerhin zwei Bücher darüber geschrieben, welch ein Skandal das ist. Und wir haben auch allerhand Zustimmung erfahren für unsere Vorschläge, wie sich dieses Dilemma auflösen lässt. Den Trend hat das allerdings nicht umkehren können. Der geht immer weiter in eine andere Richtung: Mit all den Einschnitten im sozialen Sicherungssystem schützt einen im Moment nur die ununterbrochene Vollerwerbstätigkeit vor dem finanziellen Ruin.

ALLES NEU MACHT DER MAI – NUR NICHT BEIM SEX

Gefühle, Beziehungen, Sex – alles ändert sich in der Lebensmitte. Und was vielleicht noch schlimmer ist: Irgendwann merkt man, dass einem die Voraussetzungen, auf denen diese Beziehung aufgebaut war, abhandengekommen sind. Körperliche Attraktivität und Anziehung? Sicher in vielen Fällen ein Grund, sich zusammenzutun. Nach über 20 gemeinsamen Jahren? Eher Fehlanzeige. Sie ist ein bisschen aus dem Leim gegangen, oder so mager wie nie zuvor, jedenfalls mitnichten das aufregende Wesen, in das er sich einst verliebt hatte. Und er geht lieber ins Fußballstadion, als mit ihr Gedichtbände am Kamin zu lesen. Das war früher auch anders.

Der spannende, intellektuelle Austausch, all diese anregenden und faszinierenden Gespräche? Sind längst einem kargen verbalen Miteinander gewichen, wo man schon froh ist, wenn eine falsche Bemerkung nicht in einem handfesten Streit endet. Wer als gemeinsame Basis durchzechte Nächte und rauschende Partys hatte, ist auch längst ernüchtert. Er war der Richtige, sie die Traumfrau, um eine Familie zu gründen. Nun, das ist erfolgreich erledigt, Haken dran. Was jetzt? Egal, was es war: All diese Gründe haben sich in den meisten Fällen in den vergangenen Jahren in Luft aufgelöst – und nun ist es schwierig bis fast unmöglich, eine neue Grundlage zu finden, auf der die Beziehung weiterwachsen und gedeihen kann.

Eine, die auf Vertrauen und Respekt statt atemloser Leidenschaft beruht. Eine, die Fehler und Macken verzeiht, die mit dem Unperfekten gut leben und umgehen kann. Wer das nicht findet, fragt sich immer häufiger: Warum nur habe ich mir genau diesen Partner, diese Partnerin ausgesucht? Viele wissen immer seltener eine Antwort darauf.

Lesen Sie manchmal in Frauenzeitschriften oder im Internet Statistiken darüber, wie oft Paare Sex haben? Wir tun das auch – und pendeln zwischen Verwunderung und Scham. Erst unlängst gab es wieder eine Studie, die die zunehmende Sexlosigkeit in Ehen und langjährigen Partnerschaften beklagte. Als Durchschnitt war ein erschreckender Koitus-Rückgang auf durchschnittlich 52 Mal im Jahr festgestellt worden! Wirklich? Das wäre ja jede Woche! Wir möchten die Ehen sehen, die zehn Jahre oder länger bestehen, am besten noch mit zwei oder mehr Kindern, wo sich die Ehepartner noch einmal die Woche dazu aufraffen können, übereinander herzufallen. Seriöse Wissenschaftlerinnen weisen immerhin ab und zu darauf hin, dass fast alle Umfragen zu solch intimen Fragen auf Selbstauskünften beruhen. Was naheliegt. Die meisten möchten vielleicht nicht mit Fremden darüber sprechen, wie es wirklich in ihren Schlafzimmern aussieht.

Perrig-Chiello liefert in ihrer Studie glücklicherweise ganz andere Informationen: So werde zwar häufig die Möglichkeit, ja gar die Notwendigkeit einer lebendigen Sexualität bis ins hohe Alter beschworen. Andererseits werde aber gerade Sexualität in unserer Gesellschaft generell oft überschätzt – vor allem in Langzeitbeziehungen.

»Mit all der Vorsicht, mit der empirische Untersuchungsergebnisse zur Sexualität generell und im Alter insbesondere interpretiert werden müssen (hohe Verweigerungsquoten und Befragungseffekte wie Verschleierungstendenzen oder aber Übertreibungen), gilt als sicher, dass es mit zunehmendem Alter zu einer Abnahme an sexueller Aktivität kommt – auch heute noch.«8

Ein Beleg also für unsere gefühlte Wahrheit? Die da heißt: Flaute allerorten, Frust und Unlust überall. Nun, man muss wohl eher feststellen: Nichts Genaues weiß man nicht. Außer, dass Druck und Selbstanklagen fehl am Platze sind. Was wir aber oft beobachten, ist: Erst kommen ein paar Jahre stillschweigendes Leiden, dann erste Flirts – in einem Alter, in dem man noch die Gelegenheit dazu hat – und irgendwann handfeste Affären. Am Ende entweder zerknirschtes und/oder resigniertes Zusammenraufen oder die Trennung/Scheidung mit den ebenfalls bekannten Folgen für alle Beteiligten.

DAS »FRAUEN-WEGWERF-GESETZ«

Und weil das so ist, hat unser Staat mit der Reform des Unterhaltsrechts 2008 dieses – zumindest für viele Männer – praktische Frauen-Wegwerf-Gesetz geschaffen, das den gehenden Partner weitgehend von Unterhaltspflichten befreit – und vor allem Frauen, die sich um andere gekümmert haben, in die Armut stürzt. Die Unterhaltsverpflichtungen dem sorgenden Partner gegenüber wurden deshalb vereinfacht, nein, wir sollten lieber sagen, zusammengestrichen, damit man noch einmal von vorne anfangen kann. Warum schreiben wir hier eigentlich Mann nicht groß und richtig – denn: Wie viele Frauen in ihren Fünfzigern wollen familiär noch einmal durchstarten? In einem Alter, wo sie froh sind, dass die Kinder endlich weitgehend flügge, ja vielleicht sogar schon aus dem Haus sind?

Der Neustart mit jüngerer Frau und oft eben auch neuem Baby ist ein Männerphänomen. Frauen haben die Familiengründungsphase zu diesem Zeitpunkt biologisch hinter sich und sind froh, dass sie endlich wieder mehr Zeit haben, sich um sich und nicht mehr um andere zu kümmern. Stattdessen müssen sie, wenn sie das Schicksal der späten Trennung ereilt, oft hinter Wursttheken für einen Hungerlohn arbeiten, um sich über Wasser zu halten, und sehen einem freudlosen, armen und einsamen Lebensabend entgegen. Zugegeben, das ist jetzt ein bisschen überspitzt. Aber ganz ehrlich: Wir kennen diese Fälle. Sie sind bitter. Natürlich ist es auch für Frauen schön, nicht mehr für alle Ewigkeit in unglücklichen Beziehungen verharren zu müssen. Aber wer nicht gerade Groß-Erbin, Immobilienhai-in oder Spitzenbeamtin ist, geht ein fast unkalkulierbares finanzielles Risiko ein, wenn die Trennung relativ spät im Leben kommt.