Der Tod des Vivek Oji - Akwaeke Emezi - E-Book

Der Tod des Vivek Oji E-Book

Akwaeke Emezi

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eines Nachmittags öffnet eine Mutter in einer Stadt im Südosten Nigerias ihre Haustür und entdeckt den Körper ihres toten Sohnes, eingewickelt in bunten Stoff. Ihren Sohn, den die eigenen Eltern nie so recht verstanden haben.

Vivek Oji ist schon früh anders als die anderen Kinder und leidet unter Ohnmachtsanfällen. Während der Vater den Militärdienst herbeisehnt, überschüttet die Mutter den Sohn mit Fürsorge. Viveks engste Bezugsperson ist sein Cousin Osita. Kann er Vivek helfen, sein Innerstes zu offenbaren?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmung123 - Osita4 - Vivek56 - Vivek7 - Osita89 - Osita10 - Vivek1112 - Vivek13 - Osita14 - Vivek151617 - Vivek1819 - Osita20 - Vivek212223 - Osita24 - NnemdiDanksagungGlossar

Über das Buch

Eines Nachmittags öffnet eine Mutter in einer Stadt im Südosten Nigerias ihre Haustür und entdeckt den Körper ihres toten Sohnes, eingewickelt in bunten Stoff. Ihren Sohn, den die eigenen Eltern nie so recht verstanden haben.

Vivek Oji ist schon früh anders als die anderen Kinder und leidet unter Ohnmachtsanfällen. Während der Vater den Militärdienst herbeisehnt, überschüttet die Mutter den Sohn mit Fürsorge. Viveks engste Bezugsperson ist sein Cousin Osita. Kann er Vivek helfen, sein Innerstes zu offenbaren?

Über die Autorin

Akwaeke Emezi wuchs in Nigeria auf und studierte an der New York University. Im Jahr 2017 gewann Akwaeke Emezi den Commonwealth Short Story Prize für Afrika. Der Tod des Vivek Oji erschien 2020 in den USA, wo es auf den Bestsellerlisten stand und vielfach zum Buch des Jahres gewählt wurde. Emezis Debütroman Süßwasser erschien 2018 bei Eichborn.

AKWAEKE EMEZI

DER TODDESVIVEK OJI

Roman

Übersetzung aus demamerikanischen Englisch von Anabelle Assaf

EICHBORN

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

  

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Death of Vivek Oji«

  

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by Akwaeke Emezi

  

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Friederike Arnold, Berlin

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde nach einem Design von Grace Han

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0409-0

www.eichborn.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für Franca, meine erste und

beste Geschichten erzählende Freundin.

Vergiss niemals Kurts Nachnamen.

Hab dich unglaublich lieb.

Lebe frei.

1

Am Tag von Vivek Ojis Tod brannten sie den Markt nieder.

2

Wenn diese Geschichte ein Stapel Fotos wäre – solche wie früher, mit den runden Ecken, eingeklebt in Alben und aufbewahrt auf spitzenbedeckten Wohnzimmertischen im ganzen Land –, sie finge mit Chika, Viveks Vater, an. Auf dem ersten Bild sitzt er im Bus zum Dorf, wo er seine Mutter besucht; einen Arm lässig aus dem Fenster gehängt, spürt er den Luftwiderstand im Gesicht, und eine Brise mischt sich in sein Lächeln.

Da war Chika zwanzig und groß gewachsen wie seine Mutter, ein Meter achtzig, rote Haut und Haare wie sonnengeküsster Ton, Zähne wie polierte Knochen. Jede Frau im Bus sah ihn unverwandt an, und als sich sein weißes Hemd im Nacken bauschte, lächelten und tuschelten sie, weil er so schön war. Eine Schönheit, die für immer hätte sein sollen, aus Eigenschaften, die er an Vivek weitergab – die Zähne, die mandelförmigen Augen, die geschmeidige Haut. Eigenschaften, die mit Vivek starben.

Das nächste Foto würde Chikas Mutter, Ahunna, zeigen, die beim Eintreffen ihres Sohnes, neben sich eine Schüssel Udara, auf der Veranda sitzt. Ihr Wickeltuch um die Hüften gebunden, blieben ihre Brüste unbedeckt, und ihre Haut war röter als Chikas, dunkler und älter, wie ein unter tropfendem Blut gebrannter Krug. Um die Augen hatte sie feine Falten, das Haar war zu Cornrows geflochten, und auf einem Hocker ruhte ihr verbundener linker Fuß.

»Mama! Gịnị mere?!«, rief Chika und rannte die Veranda hinauf. »Ist alles in Ordnung? Warum hast du niemanden geschickt?«

»Gab keinen Grund, dich zu beunruhigen«, antwortete Ahunna, zerteilte eine Udara und saugte das Fruchtfleisch aus. Um sie herum erstreckte sich das riesige Grundstück des Dorfhauses – alter Familienbesitz, ein Vermächtnis aus Erde, an dem Ahunna seit dem Tod von Chikas Vater einige Jahre zuvor festhielt. »Bin auf der Farm auf einen Stock getreten«, erklärte sie, als ihr Sohn neben ihr Platz nahm. »Mary hat mich ins Krankenhaus gebracht. Jetzt ist alles gut.« Darauf spuckte sie Udarakörner aus wie kleine schwarze Schrotkugeln.

Mary war die Frau seines Bruders Ekene, ein dralles, sanftes Mädchen mit Wangen wie Wölkchen. Erst vor wenigen Monaten hatte Chika bei ihrer Hochzeit zugesehen, wie Mary in der Kirche den Mittelgang hinuntergeschwebt war, ihr Körper in weiße Spitze gehüllt, ihr hübscher Mund verborgen unter einem Schleier. Vor dem Altar hatte Ekene gewartet, aufrecht und stolz in einem tiefschwarzen Anzug, der seine Haut schimmern ließ wie feuchten Lehm. Noch nie hatte Chikas Bruder einen so zärtlichen Eindruck gemacht; seine langen Finger hatten gezittert und seine Augen vor Liebe und Stolz geleuchtet. Um Ekene während ihrer Gelübde anschauen zu können, hatte Mary den Kopf in den Nacken gelegt – die Männer der Familie waren schon immer groß gewesen –, und als sein Bruder den Tüllschleier hob und sie küsste, hatte Chika ihren geschwungenen Hals und ihr strahlendes Gesicht bewundert. Nach der Hochzeit hatte Ekene beschlossen, vom Dorf in die Stadt zu ziehen, ins wuselige, laute Owerri, und solang er mit den Vorbereitungen für ihr neues Leben beschäftigt war, wohnte Mary bei Ahunna. Chika warf ihr von der Veranda aus einen verstohlenen Blick zu. Sie goss gerade den Hibiskusgarten. Das Haar hatte sie zu einem losen Knoten hochgesteckt, und sie trug ein weites Baumwollkleid mit verblichenem Blumenmuster. Sie hatte etwas Anheimelndes an sich, etwas, in das er sich fallen lassen könnte wie durch einen Wirbel aus Hüften, Schenkeln und Brüsten.

Seine Mutter beobachtete ihn stirnrunzelnd. »Reiß dich zusammen«, warnte sie ihn, als könnte sie seine Gedanken lesen. »Sie ist die Frau deines Bruders.«

Chikas Gesicht glühte. »Keine Ahnung, wovon du sprichst, Mama.«

Ahunna verzog keine Miene. »Such dir eine eigene Frau. Dass du mir in diesem Haus ja kein Wahala mit dem Mädel anfängst. Dein Bruder kommt sie bald holen.«

Chika griff nach ihrer Hand. »Ich fange überhaupt nichts an, Mama.« Sie schnaufte, zog ihre Hand aber nicht weg. So saßen sie da, ein weiteres Foto, während der Abend über Himmel und Veranda hereinbrach und in Chika etwas brodelte, etwas langsam und heiß in seinem Rachen pochte. Das war vor Vivek, vor dem Feuer, bevor Chika herausfinden würde, wie schwer es war, sich mit den Knochen seines Sohnes das eigene Grab zu schaufeln.

Ahunnas Wunde hinterließ, nachdem sie verheilt war, eine Narbe auf dem Fußrücken. Einen dunkelbraunen Fleck von der Form eines schlaffen Seesterns. Ahunnas Sohn Ekene holte seine Frau ab und brachte sie in das neue Haus in Owerri, einen weißen Bungalow mit einem Flammenbaum vor dem Tor und echten Guaven entlang des Zauns. Chika kam sie oft besuchen. Dies wären die glücklichen Bilder: Eine lächelnde Mary in ihrer Küche; Mary, die sich neue Extensions einflicht oder aus voller Kehle im Kirchenchor singt; Mary und Chika plaudernd in der Küche, während Mary kocht. Da Ekene weder Geduld für Tratsch noch einen Hang zu Eifersucht hatte, machte ihm die Freundschaft zwischen seinem jüngeren Bruder und seiner Frau nichts aus.

Was Chika anging, verströmte das Etwas, das in ihm brodelte, wann immer er in Marys Nähe war, eine ganz neue Hitze. Es pfiff und blubberte und versengte ihn an unsichtbaren Stellen. Im Beisein seiner Familie scherzte er, dass er sich eben lieber in einem Haus mit einer Frau aufhalte als in seiner leeren Junggesellenwohnung, und Mary glaubte ihm – bis er eines Nachmittags, als sie gerade am Herd stand, hinter sie trat und seine Lippen auf ihren Nacken presste. Sie fuhr herum und drosch mit dem langen Holzlöffel auf ihn ein, den sie fürs Gari benutzte.

»Bist du verrückt geworden?«, schrie sie, und das heiße, vom Löffel spritzende Gari verbrannte ihm die zum Schutz erhobenen Unterarme. »Sag mal, spinnst du?«

»Tut mir leid! Tut mir leid!« Er fiel auf die Knie und verschränkte die Arme über dem gesenkten Kopf. »Biko, Mary, hör auf! Es kommt nicht wieder vor, ich schwöre es!«

Keuchend, sichtlich verwirrt und verletzt hielt sie inne.

»Was ist eigentlich dein Problem? Warum musst du alles kaputtmachen? Ekene und ich sind glücklich, hörst du? Wir sind glücklich.«

»Ich weiß, ich weiß.« Langsam, ein Bein nach dem anderen, stand er mit erhobenen Händen auf und sah ihr in die Augen. »Ich weiß. Ich will nichts kaputtmachen. Bitte, vergib mir.«

Mary schüttelte den Kopf. »Wenn du deshalb hier bist, brauchst du nicht wiederzukommen.« Chika wollte nach ihrer Hand greifen, doch ihre Finger umschlossen weiter den Löffel.

»Ich weiß«, sagte er betont leise.

»Das meine ich ernst«, sagte sie. »Komm mir nicht noch mal mit diesem Unsinn.«

Chika sah Tränen in ihren Augen schimmern und ließ die Hände sinken.

»Ich hab’s verstanden. Ich schwöre dir, ab jetzt bist du nur meine Schwester.« Er spürte ihren Blick auf sich, als er seine Schlüssel nahm. »Ich mach mich auf den Weg. Wir sehen uns nächste Woche. Das heute vergessen wir einfach, ja?«

Mary sagte nichts. Sie sah nur zu, wie er ging, und lockerte ihren Griff um den geschwungenen Holzlöffel erst, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.

Die nächsten Monate blieb Chika Owerri fern. Er hatte das Dorf verlassen und war in die Markstadt Ngwa gezogen, wo er als Buchhalter in einer Glasfabrik arbeitete. Der dortige Firmenarzt, Dr. Khatri, war ein blasser Inder mit grauen Schläfen, der manchmal seine Nichte, Kavita, mitbrachte, damit sie ihm bei Verwaltungssachen half. Als sie sich das erste Mal begegneten, wollte Chika eigentlich wegen eines Hustens zum Doktor, dann aber saß, umgeben von Aktenstapeln, in denen sie stirnrunzelnd blätterte, Kavita am Empfangstisch. Sie war klein, ihre Haut dunkelbraun und ihr dickes schwarzes Haar zu einem Zopf geflochten, der ihr bis über die Hüften ging. An jenem Morgen trug sie ein orangefarbenes Baumwollkleid; sie sah aus wie ein flammender Sonnenuntergang, und Chika wusste im selben Moment, dass seine Geschichte mit ihr enden, dass er in ihren großen strahlenden Augen ertrinken würde und es keine bessere Art zu sterben gäbe. Diesmal brodelte nichts in ihm, diesmal war da nur ein lautes, unverkennbares Aufatmen, eine friedliche Schwere, die sich um sein Herz legte. Kavita sah hoch, lächelte ihm zu, und irgendwie brachte Chika eine Einladung zum Mittagessen heraus. Dass sie einwilligte, überraschte beide genauso wie die Zuneigung, die sich in den folgenden Wochen zwischen ihnen entwickelte.

Als ihre Turtelei offensichtlich ernst wurde, lud der Doktor Chika zu sich nach Hause ein, wo Kavita ihnen Tee und kleine Schüsseln Murukku servierte. Sie hatte schmale Handgelenke, und das dunkle Haar fiel ihr über die Schultern. Dr. Khatri erzählte Chika, wie er Kavita nach dem Tod ihrer Eltern in seine Obhut genommen hatte und sie später gemeinsam von Indien ins weit entfernte Nigeria gezogen waren. »In Delhi hatten wir einige … familiäre Probleme«, sagte er. »Wegen der Kaste ihres Vaters. Da war ein Neuanfang die beste Lösung.« Chika nickte. Aus demselben Grund lebte er auch in einer anderen Stadt als seine Familie. Neuanfänge waren gut; im Getrenntsein spürte man sich selbst und lernte, wer man ohne die anderen war.

Ein Bild: Das junge Paar spaziert nach dem Abendessen im Garten hinterm Haus an einer Reihe kahler Rosensträucher entlang, und Kavita streicht mit den Fingern über die Zweige.

»Ich kann’s kaum erwarten, dass sie endlich blühen«, sagte sie. »Damals in Delhi habe ich den Geruch von Rosen gehasst. Aber mein Onkel liebt sie, und jetzt denke ich bei Rosen seltsamerweise immer an zu Hause.«

Ein Bild: Chikas Hand auf ihrer, unter ihren Händen zerdrückte gezackte Blätter, ein stiller Kuss, bei dem sich ihr Atem mischt.

Kurz darauf fuhr Chika ins Dorf, um seiner Mutter von Kavita zu erzählen. »Ich möchte, dass du sie kennenlernst«, sagte er und wich ihrem Blick aus. Ahunna betrachtete seine hängenden Schultern, beobachtete, wie er die Hände immer wieder aus den Taschen nahm und zurückschob. Kinder bleiben doch immer gleich, dachte sie, egal, wie groß sie werden.

»Bring das Mädchen her«, sagte Ahunna. »Nsogbu adịghị.« Dann schälte sie weiter Yamswurzeln. Sie saß auf einem Hocker, vor sich eine Schüssel mit den Knollen, und warf die Rinde in den Hof für ihre Ziegen. Chika sah auf sie herab, und ein verwundertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Okay, Ma«, sagte er nach einer Weile. »Daalụ.«

Erst da fühlte er sich endlich bereit, nach Owerri zu fahren und Mary und Ekene von den Neuigkeiten zu berichten. Jetzt, wo er reinen Gewissens ihr Haus betreten konnte. Über das, was in einem Moment verbotenen Begehrens in ihrer brütend heißen Küche geschehen war, verloren Mary und er nie wieder ein Wort.

Drei Monate später hielt Chika im Rosengarten ihres Onkels um Kavitas Hand an. Inzwischen hingen die Zweige voll roter und rosafarbener Blüten, deren schweres Aroma die Luft erfüllte. Kavita lächelte und blinzelte die Tränen weg, bevor sie die Arme um Chikas Hals schlang und unter Küssen Ja sagte. Nur wenige Tage später entbrannte zwischen den Familien der Streit um die Mitgift. Chika erklärte Dr. Khatri zwar, dass die Familie des Bräutigams den Brautpreis entrichten müsse, doch allein die Vorstellung brachte den alten Doktor in Rage. »Wir haben Kavitas Mitgift von Indien bis hierhergeschafft! Das ist ihr Erbe. Ich kann sie doch nicht ohne gehen lassen, als wäre sie uns nichts wert!«

»Und ich kann nichts vom Vater meiner Braut annehmen!«

Bei dem Wort Vater stiegen Dr. Khatri Tränen in die Augen, und der Streit geriet ins Stocken. »Sie ist wirklich wie eine Tochter für mich«, sagte er mit belegter Stimme.

Ahunna verdrehte die Augen. »Ihr Männer brüllt einfach zu gern. Die beiden Mitgiften können sich doch gegenseitig aufheben, dann zahlt niemand was.« Dr. Khatri wollte protestieren, aber sie hob die Hand. »Sie sollen Kavitas Mitgift für ihre Kinder aufbewahren. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.«

Damit war die Sache erledigt. Kavitas Mitgift bestand aus einer kleinen Sammlung schweren Goldschmucks, den schon ihre Mutter wie Generationen von Frauen vor ihr in die Ehe eingebracht hatte.

Ein Bild: Chika und Kavita frisch vermählt in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Seine Hände übervoll mit Ketten und Armreifen. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das ist ja der reinste Märchenschatz.«

Kavita nahm den Schmuck und legte ihn zurück in die Schatulle. »Der ist für unsere Kinder«, ermahnte sie Chika, nicht ahnend, dass sie nur eines haben würden. »Vergessen wir ihn einfach.«

Die nächsten zwanzig Jahre blieb der Großteil des Schmucks in der Schatulle; auf purpurroten Samt gebettet glänzten Edelsteine und Goldketten im Dunkeln. Nur in schweren Zeiten verkauften Chika und Kavita eines der Stücke. Die meisten aber behielten sie, um ihren Sohn, Vivek, damit später nach Amerika zu schicken. Seine Hände waren es auch, die den Schmuck schließlich aus der Schatulle nahmen.

Ein Bild: Auf seinem freien Oberkörper drapiert der Junge Halsketten über dem Silberanhänger auf seiner Brust und steckt sich goldene Ohrringe an. Sein Haar fällt ihm über die Schultern, er sieht aus wie eine halb nackte, fast gänzlich entkleidete Braut.

Aber auf diesem Bild ist noch ein weiterer Junge. Sein Name ist Osita. Er ist genauso groß wie Vivek, aber breitschultriger und hat eine Haut wie dunkler Lehm. Er ist Ekenes und Marys Sohn, hat schmale Augen und unfassbar volle Lippen. Auf diesem Bild macht Osita ein versteinertes, sorgenvoll finsteres Gesicht. Die Arme verschränkt und das Kinn gereckt wappnet er sich für das Unvorhersehbare.

Vivek lächelt seinem Cousin zu. Auf seinen Augenbrauen hängen Goldtropfen. »Wie sehe ich aus, bhai?«, fragt er mit Glockenstimme.

Viel später wünschte sich Osita, er hätte Vivek damals die Wahrheit gesagt, dass neben seiner Schönheit alles stumpf wurde und er selber hart vor Verlangen. Stattdessen fauchte er: »Nimm das ab. Und leg’s zurück, bevor uns jemand erwischt.«

Vivek ignorierte ihn und wirbelte herum. Sein Gesicht barg so viel Licht, dass es Osita in den Augen wehtat.

Nach Viveks Beerdigung sagte er: »Ich würde alles tun, alles geben, um ihn noch ein einziges Mal so zu sehen, lebendig und überschüttet mit Reichtum.«

Der Markt, den sie niederbrannten, befand sich gleich nach dem zweiten Kreisverkehr, wenn man die Chief Michael Road runterfuhr, vorbei an den leer stehenden Bürogebäuden und der Kreuzung mit dem Reifenmechaniker, dem kleinen Mann mit der riesigen Narbe auf der Wange. Sein Name war Ebenezer, und er arbeitete angeblich schon immer an dieser Kreuzung. Wenn die Reifen eine Reparatur benötigten, brachte auch Kavita ihren Familienwagen zu ihm. Einen silbergrauen Peugeot 504, den Chika nach Jahren in der Glasfabrik als Ersatz für seinen schrottreifen alten gekauft hatte. Dann legte der kleine Vivek oft die Hand aufs heiße Autoblech und sah Ebenezer, unruhig auf der Stelle tretend, bei der Arbeit zu. Die Narbe hob sich von der Wange ab, stach dunkelrot glänzend aus seinem braunen Gesicht hervor. Wenn Ebenezer Vivek zulächelte, kämpfte die Narbe gegen die Hautfalten, und nur ein Mundwinkel regte sich.

»Na, kleiner oga«, scherzte Ebenezer beim Hantieren mit Schraubenschlüssel, Schläuchen und Luftdruck. Kichernd drückte Vivek das Gesicht in Kavitas Röcke. Damals war er jung, lebendig. Ließ Kavita die Hand sinken, landete sie auf seinem runden Kinderkopf, dem weichen Haar und der warmen Haut darunter, dem gewölbten Knochen, der ihm seine Form verlieh. Jahre später, als sie Viveks Körper auf der Veranda vor ihrem Haus fand, verhüllt von dreieinhalb Metern Akwete-Stoff, dessen rot-schwarzes Muster sie nie mehr vergessen würde, war dieser Knochen zertrümmert, und Viveks Schädelinhalt sickerte auf ihre Fußmatte. Trotzdem hob sie seinen Kopf an und presste schreiend ihre Wange an seine. Dabei fiel sein Haar, feucht und lang und dick, über ihre Arme, und sie jaulte auf.

»Beta!«, zerschnitt ihr Schrei die Luft. »Beta, wach auf!«

Einer von Viveks Füßen lag verdreht neben einem umgekippten Blumentopf, um seinen Knöchel war alles voller Erde. Es stank nach Rauch. Da er keine Schuhe trug, war die Narbe auf seinem linken Spann zu sehen: ein welker dunkelbrauner Seestern.

Am Tag von Viveks Geburt hatte Chika mit dem Baby im Arm auf diese Narbe gestarrt. Er sah sie nicht zum ersten Mal – Kavita ließ sich jedes Mal über ihre Form aus, wenn sie Ahunna die Füße massierte. Sie war so lang ohne Mutter gewesen, dass sie Ahunna auf eine greifbare, kindliche Art liebte und berührte, wann immer sie konnte. Sie saßen stundenlang zusammen, lasen, spazierten über die Farm, und Ahunna war dankbar, dass sie zwei Söhne geboren hatte und ihr zwei Töchter geschenkt worden waren. Nach der Geburt von Ekenes und Marys Sohn Osita brach Ahunna beim Anblick seines kleinen Gesichts in Tränen aus und sang ihm leise Igbo-Lieder vor. Sie konnte kaum erwarten, dass auch Chika und Kavita ein Kind bekamen.

Das war genau ein Jahr her, als Chika mit seinem neugeborenen Sohn im Arm spürte, dass etwas in ihm anwuchs – wie gegossener Zement, der sich zu einer Übelkeit erregenden Angst verhärtete –, doch er ignorierte es. Das waren doch bloß Märchen; konnte unmöglich wahr sein. Erst am nächsten Tag kam ein Botenjunge aus dem Dorf nach Ngwa und überbrachte Chika die Nachricht von Ahunnas Tod. Ihr Herz hatte am Vortag auf der Schwelle ihres Hauses aufgehört zu schlagen. Ihr Körper war auf ihrem Land zusammengesackt, und die Erde hatte ihr lebloses Gesicht empfangen.

Er hätte es wissen müssen, sagte sich Chika, während Kavita Vivek an ihre Brust drückte und vor Kummer schrie. Er hatte es gewusst. Wie hätte die Narbe auf Haut in die Welt kommen sollen, ohne diese zuvor verlassen zu haben? Nichts kann an zwei Orten gleichzeitig sein. Trotzdem leugnete er es noch jahrelang, solang er konnte. Aberglauben nannte er es. Die Narben auf ihren Füßen seien reiner Zufall – außerdem war Vivek ein Junge und kein Mädchen, wie sollte das also gehen? Und doch. Seine Mutter war tot, ihrer Familie entrissen, und mittendrin ein neugeborenes Baby.

So kam Vivek zur Welt, nach einem Tod und hinein in Trauer. Das zeichnete ihn. Fällte ihn wie einen Baum. Sie brachten ihn heim in ein Haus, erfüllt von ohnmächtigem Kummer; sein ganzes Leben ein einziges Klagen. Kavita bekam kein Kind mehr. »Er reicht«, sagte sie. »Das hat gereicht.«

Ein Bild: Ein trauerndes Haus, das mit seinem Verlassen zurückkehrt in den Zustand, als er es betrat.

Ein Bild: Sein verhüllter Körper.

Ein Bild: Sein gebrochener Vater, seine wahnsinnige Mutter. Ein toter Fuß, auf dessen Wölbung sich ein eingefallener Seestern erstreckt, Anfang und Ende von allem.

3

Osita

Als ich elf war, brach mir Vivek einen Zahn ab. Stehe ich heute mit offenem Mund vor dem Spiegel, muss ich sofort an ihn denken, und eine kriechende Traurigkeit breitet sich in mir aus. Aber als er noch lebte, als es gerade erst passiert war, machte mich der Anblick fuchsteufelswild. Genauso fühlte ich mich nach seinem Tod, erfüllt von einer beißenden Wut, als käme mir Chili hoch.

Als Kinder stritten wir ständig. Nie besonders heftig, ein paar Raufereien hier und da. Aber einmal waren wir beide wegen irgendwas sauer und schubsten uns, hinter seinem Haus unter dem Frangipanibaum, wo unsere Füße im Sand wegrutschten. Vivek stieß mich zurück, ich fiel auf die Betonkante der Sickergrube, meine Lippe platzte auf, und ich brach mir ein Stück Zahn ab. Ich weinte, dann schämte ich mich, weil ich weinte, und sprach ein paar Tage kein Wort mehr mit ihm. Kurz darauf sollte er auf ein Internat im Norden wechseln – irgendeine Militärschule, auf der De Chika bestand, obwohl Aunty Kavita ihn monatelang angefleht hatte, Vivek nicht wegzuschicken. Aber mein Onkel war der Meinung, Vivek müsse abgehärtet werden, dass er zu weich sei und zu sensibel. Ich wollte auch nicht, dass er ging, war aber beleidigt und schwieg deshalb. Er reiste ab, ich blieb allein zurück mit meinem verletzten Stolz und fing jedes Mal, wenn jemand meinen abgebrochenen Zahn erwähnte, eine Prügelei an. In dem Semester prügelte ich mich ziemlich oft.

Gegen Ende des Schuljahrs vermisste ich Vivek so sehr, dass ich es kaum erwarten konnte, bis er endlich zur Regenzeit heim nach Ngwa kam. Während einer dieser langen Sommerferien überredete Aunty Kavita meine Mutter, uns für SAT-Kurse anzumelden.

»Damit die Kinder auf amerikanische Universitäten gehen können«, sagte Aunty Kavita. »Damit sie Stipendien und F1-Visa bekommen. Wir planen sozusagen vor.«

De Chika und sie gingen mit einer Gewissheit davon aus, dass Vivek im Ausland studieren würde, die sich auf ihn übertrug – eine Gewissheit, dass er nur noch eine begrenzte Zeit zu Hause sein und sich für ihn, sobald er seine WAEC-Prüfungen bestanden hätte, eine Tür öffnen würde. Erst später begriff ich, dass diese Überzeugung von dem funkelnden Gold der Mitgift herrührte. Damals aber hielt ich sie einfach alle für sehr optimistisch, was mich ziemlich erstaunte, da meine eigene Mutter, die immerhin an die Macht des Gebets glaubte, ein Auslandsstudium nie auch nur erwähnte. Das Gold war eine Geheimtür, ein Sparkonto, das Amerika für Vivek kaufen konnte.

Ich hatte keine Lust auf die Vorbereitungskurse, aber Aunty Kavita flehte mich an. »Ohne dich geht Vivek nicht hin«, sagte sie. »Er sieht zu dir auf. Du bist für ihn wie ein großer Bruder. Er muss diesen Unterricht ernst nehmen.« Sie tätschelte meine Wange, nickte, als hätte ich bereits zugestimmt, ging lächelnd davon. Ich konnte ihr nichts abschlagen, und das wusste sie. Also fuhren Vivek und ich in den Ferien jeden Freitag und Samstag mit dem Bus zum Testzentrum in der Chief Michael Road. Ich gewöhnte mich daran, die Wochenenden bei Vivek zu verbringen, ans samstägliche Frühstück, wenn De Chika uns die Comicseite aus der Zeitung reichte und Aunty Kavita Eier mit Yams machte, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan.

Nigerianisch kochen hatte sie von ihren Freundinnen gelernt – einer Gruppe Frauen, Ausländerinnen wie sie, die mit nigerianischen Männern verheiratet und für ihre jeweiligen Kinder wie Tanten waren. Die Organisation, der sie angehörten, nannte sich Nigerwives und half ihnen, sich ans neue Leben fern der eigenen Heimat zu gewöhnen. Sie waren keine reichen Expats, zumindest nicht unsere Bekannten. Diese Frauen waren nicht hergekommen, um für die Ölfirmen zu arbeiten, sondern wegen ihrer Ehemänner, ihrer Familien. Manche kannten Nigeria bestens, hatten sogar schon vor Jahrzehnten während des Krieges hier gelebt; einige sprachen fließend Igbo. Gemeinsam brachten sie Kavita bei, Ohasuppe, Jollofreis und Ugba zu kochen. Sie veranstalteten Oster- und Geburtstagsfeiern, und als wir klein waren, begleitete ich Vivek oft dorthin. Fürs Gruppenbild stellten wir uns hinter dem Geburtstagskuchen auf, verkleideten uns auf Kostümpartys als Ninjas und verbrachten die Wochenenden mit den Kindern der anderen Nigerwives im Pool des örtlichen Sportklubs.

Als wir etwa dreizehn, vierzehn waren, veranstaltete Aunty Rhatha einmal eine Mitbringparty. Sie stammte aus Thailand und hatte zwei Töchter, Somto und Olunne, mondgesichtige Mädchen, die lachten wie zwei identische Windspiele und schwammen wie flinke Fische. Aunty Rhathas Ehemann arbeitete im Ausland, sie schien aber bestens ohne ihn zurechtzukommen. Sie buk pinke und gelbe Cupcakes, luftig und süß, verziert mit perfekter Zuckerdeko: Vögel und Schmetterlinge in den tollsten Farben. Obwohl Vivek eigentlich alles Süße liebte, hasste er diese Cupcakes und nahm immer nur einen, den er mir sofort weiterreichte. Während Flügel in meinem Mund schmolzen, liefen wir mit nackten Füßen auf den kühlen Marmorplatten ums Haus. Im Hinterzimmer ging Aunty Eloise auf und ab und telefonierte vermutlich mit einem ihrer bereits erwachsenen Söhne, die in Großbritannien studierten. Eloise war klein und pummelig, hatte rotblondes Haar und immer ein Lächeln im Gesicht. Sie und ihr Mann, ein Arzt aus Abiriba, arbeiteten beide im Lehrkrankenhaus, und Aunty Eloise schmiss gern große Abendessen und Partys, damit nach dem Auszug der Kinder wieder etwas Leben ins Haus kam.

»Warum zieht sie nicht einfach zu ihnen?«, überlegte Vivek laut.

Ich zuckte die Schultern und befreite meinen Cupcake aus dem Papier. »Vielleicht lebt sie gern hier? Oder sie mag ihren Mann?«

»Ach bitte. Der Typ ist so dröge.« Vivek sah sich um, blickte zu den anderen Nigerwives, die im Esszimmer am Tisch standen und Pfannen mit Curry, Hühnchen und Reis anrichteten. »Die meisten von denen sind doch nur wegen ihrer Kinder hier. Ohne die wären sie längst weg, zack.« Zur Veranschaulichung schnipste er mit den Fingern.

»Und was ist mit deiner Mutter?«

»Mba, bei ihr war’s anders. Sie hat schon vor der Hochzeit hier gelebt.«

Wir hörten die Haustür aufgehen und wie sich Aunty Rhathas hohe Stimme beim Begrüßen des Neuankömmlings fast überschlug. Vivek neigte den Kopf, um zu horchen, wer da gekommen war, und lächelte mir verschmitzt zu. »Ich glaub, es ist Aunty Ruby«, sagte er und wackelte bedeutungsvoll mit den Augenbrauen. »Du weißt, was das heißt – dein Schwarm ist da.« Zwar verriet meine Haut zum Glück nicht, dass ich errötete, aber in Viveks Blick lag Spott. Aunty Ruby war eine große Texanerin, die eine Kindertagesstätte leitete; ihrem Mann gehörte ein Teppichladen, und ihre Tochter Elizabeth war eines der schönsten Mädchen, die ich in meinem kurzen Leben bisher gesehen hatte. Sie war Läuferin, schlank und hochgewachsen, mit einem elegant geschwungenen Hals. Einmal hatte ich sie zum Wettrennen herausgefordert, aber es war sinnlos, sie bewegte sich, als bräche der Boden unter ihren Füßen weg, als rase die Zukunft auf sie zu. Also blieb ich stehen und sah mit an, wie sie sämtliche Jungs aus der Gegend schlug, die gedacht hatten, sie könnten es mit ihr aufnehmen. Elizabeth gewann jedes verflixte Rennen. Sie streckte die Brust raus und hinterließ Staubwolken. Die meisten Jungs trauten sich nicht mal, mit ihr zu sprechen; mit einem Mädchen, das schneller war als sie, konnten sie nichts anfangen, während ich immer versuchte, ein bisschen mit ihr zu plaudern. Das überraschte sie, glaube ich, aber sie schien mich nicht auf dieselbe Art zu mögen wie ich sie. Dennoch war sie in ihrer stillen Art immer nett zu mir.

»Ach, lass mich in Ruhe, jo«, sagte ich zu Vivek. »Bist du so, weil Juju nicht da ist?«

Sofort lief er dunkelrot an. Während ich ihn laut auslachte, bogen Somto und Olunne mit einer Schüssel Süßigkeiten um die Ecke.

»Wollt ihr?«, fragte Somto gelangweilt und hielt uns die Schüssel hin. Sie hasste es, wenn ihre Mutter Gäste einlud, weil sie dann beim Tischdecken, Servieren und Aufräumen helfen mussten. Vivek schüttelte den Kopf, aber ich griff hinein und suchte wühlend meine geliebten Cadbury-Schokoladen-Eclairs.

Neben Somto stand ihre Schwester Olunne und drehte ihren Lutscher im Mund hin und her. »Worüber habt ihr geredet?«, fragte sie.

»Über seine Frau«, sagte ich grinsend. »Juju.«

Somto schnalzte abfällig. »Ts, bitte. Für die ist mir meine Energie zu schade.«

»Ah-Ahn«, antwortete Vivek, »was ist eigentlich euer Problem?«

»Sie kommt nie zu diesen Treffen«, meckerte Somto. »Wir anderen müssen immer hin, aber die begleitet ihre Mutter nie. Wer glaubt sie eigentlich, wer sie ist, abeg?« Somto hatte recht: Jukwase, die wir nur Juju nannten, kam ungern mit zu den Nigerwives-Treffen. Ihre Mutter, Aunty Maja, stammte von den Philippinen, war Krankenschwester und mit einem wesentlich älteren Geschäftsmann verheiratet. Seit Jahren sah ich mit an, wie Vivek Juju hinterherschmachtete, aber das Mädchen war eben irgendwie seltsam.

»Hält uns wohl für zu hinterwäldlerisch, um sich mit uns abzugeben«, sagte Olunne schulterzuckend. Juju war im Ausland geboren und hatte in England ein paar Jahre die Schule besucht, bevor ihre Eltern nach Nigeria zurückkehrten. Auch wenn sie da noch sehr jung gewesen war, sprach sie mit einem britischen Akzent. Über sie zu lästern war leicht, vor allem, wenn sie uns andere mied.

»Kümmre dich nicht um sie. Die hält sich für was Besseres, wegen ihrer Haare«, sagte Somto und zog eine Schnute. Ich biss mir auf die Zunge. Diese Haar-Geschichte war Somtos wunder Punkt, seit sie ihre Haare beim Wechsel auf die weiterführende Schule im Jahr zuvor hatte abschneiden müssen. Juju hingegen war von ihrer Mutter auf einer Privatschule angemeldet worden, auf der Mädchen aus gemischten Ehen ihre langen Haare behalten durften. Also fielen ihre Locken immer noch über ihren Rücken. Vivek zog die Augenbrauen zusammen, war aber schlau genug, Somto nicht zu reizen oder Juju zu sehr zu verteidigen. Erst auf dem Nachhauseweg beschwerte er sich leise bei mir.

»Die Mädchen geben Juju nur keine Chance, weil sie neidisch sind. Das ist nicht fair.«

Ich nickte, wusste ich doch, wie sehr ihm die Lästereien über Juju zusetzten. Vor allem ihm zuliebe sagte ich: »Nein, ist es nicht.« Er mochte sie einfach zu gern. Sie lebte gar nicht weit von De Chikas Bungalow in der Nähe des Anyangwe-Krankenhauses am Ende einer ruhigen Straße, durch die wir ständig mit unseren Rädern fuhren. Immer wenn wir an Jujus Haus vorbeikamen, wurden wir ein bisschen langsamer. Aunty Maja liebte Blumen, und ihr Zaun verschwand fast unter üppigen weißen und rosafarbenen Bougainvilleen.

»Klopf doch an und schau, ob sie da ist«, schlug ich Vivek vor.

»Um was zu sagen?«, fragte er und fuhr in der Straßenmitte Schlangenlinien.

Ich zuckte unschlüssig die Schultern, schließlich hatte ich selbst keine Ahnung, wie man einem Mädchen im Haus seines Vaters den Hof machte. Wir radelten heim und legten unsere Fahrräder neben die Schaukel im Hinterhof. Vorm Dienstbotenhäuschen machten sich mehrere Bitterspinatbüsche und eine Ixorahecke den Platz streitig. Früher hatte in dem Häuschen Aunty Kavitas und De Chikas Haushaltshilfe gelebt, doch die war nach ein oder zwei Jahren in ihr Dorf zurückgekehrt – wegen eines familiären Todesfalls, glaube ich –, und seitdem hatten sie niemanden mehr eingestellt. Das Reinemachen übernahmen Vivek und ich; wir fegten ihr altes Zimmer, als wäre es immer noch bewohnt, schoben den Besen sogar bis unters Metallbettgestell. Hatten wir keine Lust auf Erwachsene, zogen wir uns dorthin zurück, fläzten uns auf die angestaubten rosa Laken, aßen gekochte Erdnüsse und bewarfen uns mit den Schalen. Aunty Kavita ließ uns in Ruhe, öffnete höchstens einmal die Hintertür des Haupthauses und rief, wenn sie etwas brauchte. De Chika betrat unser Reich nie. Das alles erleichterte es mir, Viveks Sache von Anfang an vor ihnen geheim zu halten.

Wie lang das schon so ging, bevor ich was mitbekam, weiß ich nicht. Vielleicht fiel es auch jemand anderem zuerst auf, der nichts sagte, oder es fiel niemandem auf. Das erste Mal sah ich es mit eigenen Augen an einem Sonntag in dem Jahr nach dem abgebrochenen Zahn. Ich war mit ihm und seiner Familie in der Messe gewesen, und am Nachmittag hatten Vivek und ich uns immer noch nicht umgezogen. Wir hatten Mittag gegessen, den Tisch abgeräumt und uns mit einem Stapel Archie-Comics, die uns Aunty Eloise bei ihrem letzten London-Besuch von ihren Neffen mitgebracht hatte, ins Dienstbotenhäuschen verzogen. Ein Comic aufgeschlagen vor mir auf dem Betonboden, einen Arm und den Kopf über der Bettkante, lag ich bäuchlings da und stützte die Füße an der bröckelnden Wand ab. Neben mir auf der Matratze saß Vivek mit gebeugtem Rücken im Schneidersitz, seinen Comic im Schoß, den Kopf dicht über den Seiten. Es war ein heißer, stiller Tag, nichts zu hören außer dem Rascheln des dünnen Papiers und einem ab und zu gackernden Huhn.

Bis Viveks Stimme, heiser und tief, die Stille durchbrach: »Die Wand kommt runter.«

Ich hob den Kopf. »Was?«

»Die Wand kommt runter«, wiederholte er. »Ich wusste doch, wir hätten nach dem letzten Regen das Dach reparieren sollen. Jetzt haben wir gerade erst die Yamsernte eingebracht.«

Ich klappte meinen Comic zu und setzte mich auf. Viveks Kopf hing immer noch vornüber, aber seine Hand lag reglos auf einer halb umgeblätterten Seite. Die ovalen Nägel waren sehr kurz geschnitten. »Wovon redest du?«, fragte ich. »Alles okay mit dir?«

Er hob den Kopf und sah durch mich hindurch. »Hörst du nicht den Regen?«, fragte er. »Er ist so laut.«

Durch die Glasjalousien und alten Baumwollvorhänge drang nichts als Sonnenschein. Ich starrte Vivek an und streckte die Hand nach seiner Schulter aus. »Es regnet nicht«, begann ich, doch als ich seinen Gelenkknochen unter dem Hemdstoff berührte, verdrehte er die Augen, dass nur noch das Weiße zu sehen war, und kippte seitlich auf die Matratze. Bei der Kollision von Wange und Schaumstoff zuckte er zusammen, als wache er auf, schüttelte Arme und Beine und drückte sich keuchend hoch. »Was? Was ist passiert?«

»Sch! Brüll nicht so«, sagte ich, berührte ihn aber nicht, aus Angst, dasselbe könnte noch mal passieren.

Mit aufgerissenen Augen sah er sich hektisch im Zimmer um. Sein Blick huschte an mir vorbei, während sein Atem sich langsam beruhigte. »Oh«, sagte er und ließ die Schultern sinken. Dann, beinahe zu sich selbst: »Das schon wieder.«

Ich runzelte die Stirn. »Wie, schon wieder? Was meinst du?«

Vivek rieb sich den Nacken, fühlte sich offensichtlich unwohl. »Ach nichts. Bloß so kleine Blackouts. Vergiss es.«

Ich sah ihn weiter an, aber er wich meinem Blick aus. »Du hast irgendwas von Regen erzählt«, sagte ich. »Und von Yamswurzeln.«

»Ehn?«, antwortete er, und in dem kurzen Laut lag ein Ach so?. »Ich kann mich nicht erinnern. Biko, ignorier’s einfach.« Er griff nach seinem Comic und legte sich mit dem Rücken zu mir auf die Seite. Ich sagte nichts, denn so war er nun mal: Wenn er über etwas nicht mehr reden wollte, redete er nicht mehr darüber, machte zu, als knallte ein Metallgitter runter. Aber von da an behielt ich ihn im Auge – ich wollte wissen, ob es wieder passierte.

Es gab Momente, in denen er sehr, sehr still wurde und sich nicht mehr bewegte, obwohl die Welt um ihn herum sich ganz normal weiterdrehte. Einmal passierte es abends beim Verlassen des Klassenraums: Vivek blieb stehen, obwohl ihn unsere Mitschüler im Vorbeigehen schubsten und anrempelten. Ich war ein Stück hinter ihm, aber auch, als ich endlich neben ihm stand, hatte er sich immer noch nicht bewegt. Da die anderen sich an ihm vorbeidrücken mussten, starrten sie ihn wütend an und schnalzten genervt. Er stolperte wie betrunken und bewegte langsam und lautlos die Lippen. Ich ergriff seinen Ellbogen und schob ihn weiter, zog ihn an mich, damit er nicht fiel. Während die anderen nach und nach das Gelände verließen – demnächst standen die JAMB-Prüfungen an, und das Testzentrum war voller Schüler –, schaffte ich Vivek irgendwie durchs Tor und aus dem Weg und lehnte ihn neben dem Straßengraben an einen Zaun. Zitternd kam er zu sich.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich und ließ seinen Ellbogen los.

Als er mich ansah, knallten vor seinem Gesicht die Metallgitter runter. »Mir geht’s gut. Lass uns gehen.« Skeptisch, aber schweigend folgte ich ihm zur Bushaltestelle.

Von da an war es immer so, wenn er in den Schulferien nach Hause kam, sogar, wenn wir über die Feiertage ins Dorf fuhren: Ich behielt ihn wachsam im Auge und griff ein, wenn ich konnte, und Vivek erzählte mir eigentlich nie wirklich, was los war. Wenn ich, wie im Vorbereitungszentrum, eingreifen musste, bedankte er sich danach, und wir machten weiter, als wäre nichts geschehen. Ich gewöhnte mich daran.

Unseren Eltern fiel nichts auf, vielleicht weil er in ihrer Gegenwart immer so beherrscht war und nie so entspannt wie im Dienstbotenhäuschen. Für sie sah es jedes Mal aus wie ein leichter Schwindelanfall. Aunty Kavita hielt es für Erschöpfung und empfahl ihm, sich hinzulegen. Meine Mutter riet ihr, ihn auf Anämie untersuchen zu lassen, und eine Weile, nur um sicherzugehen, fütterte Aunty Kavita ihn mit riesigen Portionen Ugu. Wenn ich in der Stadt war, lasen wir immer im Dienstbotenhäuschen unsere Comics und knabberten gekochte Erdnüsse; wir fuhren immer noch mit unseren Rädern die Straße entlang; schlugen immer noch mit einem hohlen Bambusstock Guaven und Mangos von den Bäumen und aßen sie liegend auf der Motorhaube von De Chikas Auto.