Der Tod in ihren Händen - Ottessa Moshfegh - E-Book

Der Tod in ihren Händen E-Book

Ottessa Moshfegh

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Beschreibung

Nach „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ erzählt Ottessa Moshfegh in ihrem neuen Roman „Der Tod in ihren Händen“ eine Kriminalgeschichte der anderen Art: spannend, beängstigend, bewegend.

Bei Sonnenaufgang läuft Vesta mit ihrem Hund eine Runde durch den Wald – die tägliche Routine einer einsamen alten Frau –, als sie einen Zettel findet: „Ihr Name war Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie getötet hat. Hier ist ihre Leiche.“
Obwohl von der jede Spur fehlt, lässt Vesta der Gedanke an einen Mord nicht mehr los. Wer war Magda? Und wer könnte ihr Mörder sein? Die Aufklärung dieser Fragen wird zu Vestas Mission. Doch je tiefer sie sich in den Fall verstrickt, desto deutlicher treten ihre eigenen Abgründe hervor.
Ottessa Moshfegh, eine der aufregendsten Autorinnen unsrer Zeit, schreibt in ihrem neuen Roman über Einsamkeit – und darüber, wie einfach es ist, nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst zu belügen.

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Über das Buch

Bei Sonnenaufgang läuft Vesta mit ihrem Hund eine Runde durch den Wald — die tägliche Routine einer einsamen alten Frau —, als sie einen Zettel findet: »Ihr Name war Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie getötet hat. Hier ist ihre Leiche.« Obwohl von der jede Spur fehlt, lässt Vesta der Gedanke an einen Mord nicht mehr los. Wer war Magda? Und wer könnte ihr Mörder sein? Die Aufklärung dieser Fragen wird zu Vestas Mission. Doch je tiefer sie sich in den Fall verstrickt, desto deutlicher treten ihre eigenen Abgründe hervor. Ottessa Moshfegh, eine der aufregendsten Autorinnen unsrer Zeit, schreibt in ihrem neuen Roman über Einsamkeit — und darüber, wie einfach es ist, nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst zu belügen.

Ottessa Moshfegh

Der Tod in ihren Händen

Roman

Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger

Hanser Berlin

Der Tod in ihren Händen

Eins

Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.

Aber da war keine Leiche. Kein Blutfleck. Kein Haarbüschel, das sich in den rauen Ästen am Boden verfangen hatte, kein mit Morgentau benetzter roter Wollschal im Gebüsch. Da war nur ein Blatt Papier auf dem Boden, das vor meinen Füßen in der sanften Maibrise raschelte. Ich stieß frühmorgens darauf, beim täglichen Spaziergang durch den Birkenwald mit meinem Hund Charlie.

Den Waldweg hatte ich im vergangenen Frühjahr entdeckt, kurz nachdem Charlie und ich nach Levant gezogen waren. Den ganzen Frühling, Sommer und Herbst hindurch waren wir auf diesem Pfad unterwegs gewesen, den Winter über allerdings nicht. Die schlanken weißen Bäume waren im Schnee fast unsichtbar gewesen. Im winterlichen Frühnebel verschwanden die Birken im Dunst. Aber seit der Schneeschmelze weckte Charlie mich jeden Morgen vor Sonnenaufgang. Wir überquerten die Schotterpiste, stapften einen allmählich ansteigenden Hügel hinauf und wieder hinunter und bewegten uns in Schlangenlinien durch den Birkenwald. Als ich an jenem Morgen den Brief auf dem Weg liegen sah, waren wir ungefähr anderthalb Kilometer tief im Wald.

Charlie verlangsamte seinen Trott nicht, hielt den Kopf erhoben und schnüffelte nicht einmal am Boden. Mir kam es äußerst seltsam vor, dass er das Blatt Papier einfach ignorierte — mein Charlie, der sich einmal von der Leine losgerissen und eine Autobahn überquert hatte, nur um einen toten Vogel zu apportieren; so stark war sein Instinkt, Totes aufzuspüren. Aber den Brief würdigte er keines Blickes. Er war mit kleinen, schwarzen Steinen beschwert, die sorgfältig auf den oberen und unteren Rand des Blattes gelegt worden waren. Ich kniete mich hin, um den Text noch einmal zu lesen. Die Erde unter meinen Händen war fast warm, blasse Hälmchen drängten hie und da schüchtern durch die lockere, schwarze Erde, während die Sonne allmählich an Kraft gewann und sich von Silber zu Gelb verfärbte.

Sie hieß Magda.

Das ist ein Witz, dachte ich, ein Streich, ein Trick. Jemand will mich reinlegen. Das war meine anfängliche Reaktion. Ist es nicht im Rückblick fast erheiternd, wie mein Verstand die Sache erst einmal als völlig harmlos abtun wollte? Dass ich trotz meines fortgeschrittenen Alters von zweiundsiebzig Jahren immer noch so naiv war? Aus Erfahrung hätte ich eigentlich wissen müssen, dass der erste Eindruck oft täuscht. Ich kniete auf dem Erdboden und sah mir die Sache genauer an: Das Papier war eine sauber aus einem linierten Spiralblock getrennte Seite, ohne lose Schnipsel, beschrieben mit blauem Kugelschreiber in kleinen, ordentlichen Druckbuchstaben. Irgendwelche Rückschlüsse aus der Schrift zu ziehen war schwierig, aber das schien Absicht zu sein. Es waren exakte, unpersönliche Druckbuchstaben, mit denen man ein Hinweisschild für einen Garagenflohmarkt schreiben oder ein Formular beim Zahnarzt ausfüllen würde. Schlau, dachte ich. Raffiniert. Dem Schreiber des Briefes war offensichtlich bewusst, dass es immer Autorität verleiht, wenn man das Individuelle verschleiert. Nichts wirkt so achtunggebietend wie Anonymität. Die Worte an sich kamen mir fast geistreich vor, als ich sie laut vorlas — und geistreiche Menschen gab es in Levant mit seiner ärmlichen Landbevölkerung eher selten. Ich las mir den Brief noch einmal durch und musste über den vorletzten Satz fast schmunzeln: Ich war es nicht. Natürlich nicht.

Wenn es sich nicht um einen dummen Streich handelte, war der Brief vielleicht der Auftakt einer längeren Geschichte, die jemand weggeworfen hatte — ein Fehlstart, ein schlechter erster Absatz. Für eine Geschichte war es allerdings ein düsterer, erdrückender Anfang: die Verkündigung eines Mordfalls, dessen Untersuchung sinnlos ist. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Kaum hat die Geschichte begonnen, ist sie schon wieder vorbei. War Vergeblichkeit ein der Untersuchung würdiges Thema? Nach einem Happy End klang der Brief auf jeden Fall nicht.

Hier ist ihre Leiche. Darüber gab es doch sicherlich mehr zu sagen. Wo war Magda denn nun? War es denn so schwer, ihre sterblichen Überreste zu beschreiben, die im Unterholz unter einem umgestürzten Baum lagen, das Gesicht halb in die weiche, schwarze Erde gesunken, die Hände brutal auf dem Rücken gefesselt, während aus den Stichwunden das Blut in den Boden sickerte? Es konnte doch nicht so schwierig sein, sich ein goldenes Medaillon vorzustellen, das zwischen klatschnassen Birkenblättern blinkte, die zerrissene Kette im zarten, fiedrigen Gras? In dem Medaillon auf einer Seite womöglich das Foto eines kleinen Mädchens mit Zahnlücke — die fünf Jahre alte Magda — und gegenüber ein Mann mit Militärkappe, ihr Vater vermutlich. Vielleicht wären brutal auf dem Rücken gefesselte Hände übertrieben. Vielleicht wären »Stichwunden« an dieser Stelle zu drastisch. Vielleicht hatte ihr der Mörder einfach nur die Arme unter den Rücken geschoben, damit sie nicht aus dem toten Laub ragten und jemandem auffielen. Die bleiche Haut an Magdas Händen würde sich vom dunklen Untergrund abheben, ähnlich wie das weiße Stück Papier auf dem Weg, stellte ich mir zumindest vor. Wahrscheinlich war es besser, mit weniger dramatischen Beschreibungen anzufangen. Mit etwas Disziplin könnte ich das Buch selbst schreiben — wenn ich der Meinung wäre, dass es jemand lesen will.

Als ich mich aufrichtete, machten stechende Schmerzen in meinem Kopf und meinen Augen jeden weiteren Gedanken zunichte; das passierte mir oft, wenn ich zu schnell nach oben kam. Ich hatte immer schon einen schwachen Kreislauf, einen niedrigen Blutdruck, ein »empfindliches Herz«, wie mein Mann es genannt hatte. Vielleicht hatte ich ja auch einfach nur Hunger. Du musst besser aufpassen, schärfte ich mir ein. Eines Tages wirst du an der falschen Stelle ohnmächtig und schlägst dir den Schädel auf oder verursachst einen Autounfall. Das war’s dann. Ich hatte niemanden, der sich um mich kümmern würde, sollte ich mal krank werden. Ich würde in einem heruntergekommenen Provinzkrankenhaus sterben, und Charlie würde im Tierheim verrecken.

Als hätte Charlie gespürt, wie schwindlig mir war, kam er und leckte mir die Hand. Dabei trat er auf den Brief. Ich hörte das Papier rascheln. Schade, jetzt hatte die blütenweiße Seite einen Pfotenabdruck. Aber ich schimpfte nicht mit Charlie, sondern kraulte ihm den seidigen Kopf.

Vielleicht hatte ich einfach zu viel Fantasie, dachte ich, als ich das Schreiben noch einmal überflog. Ich konnte mir einen Schüler vorstellen, der im Wald umherstreifte und sich aus Spaß Horrorszenen ausdachte; er schrieb die ersten paar Zeilen, dann verlor er die Lust daran, gab die Story auf und dachte sich etwas Einfacheres aus: die Geschichte einer verlorenen Socke, eine Schlägerei auf dem Footballplatz, ein Angler am Fluss oder ein Mann, der hinter der Garage ein Mädchen küsst. Was wollte ein Teenager aus Levant schon mit dem Rätsel um Magda? Magda. Es ging hier nicht um eine Jenny oder Sally oder Mary oder Sue. Magda, so hieß eine Figur mit Substanz und mysteriöser Vergangenheit. Vielleicht sogar eine exotische Persönlichkeit. Und wer würde hier in Levant schon so etwas lesen wollen? Beim Secondhandladen gab es nur Bücher über den Zweiten Weltkrieg und übers Stricken.

»Magda. Die ist merkwürdig«, würden die Leute sagen.

»Ich würde nicht wollen, dass Jenny oder Sally ihre Zeit mit einem Mädchen wie Magda verbringt. Wer weiß, wie so jemand aufgewachsen ist.«

»Magda. Was ist das denn für ein Name? Ausländerin? Irgendeine fremde Sprache?«

Kein Wunder, dass er Magda so schnell wieder aufgegeben hatte. Ihre Lebensumstände waren zu kompliziert, als dass ein Kind sie hätte verstehen können. Um Magdas Geschichte wirklich gerecht zu werden, brauchte es einen klugen Kopf. Es war nicht leicht, sich mit dem Tod zu beschäftigen. »Vergiss es«, hatte der Junge wahrscheinlich gesagt und die ersten Zeilen weggeworfen. Und damit verschenkte er Magda und ihr ganzes Potenzial. Andererseits gab es kein Zeichen von Gleichgültigkeit oder Lustlosigkeit, nichts war durchgestrichen oder verbessert. Im Gegenteil — die Zeilen waren sauber und ordentlich geschrieben. Nirgendwo war etwas hingekritzelt. Das Stück Papier war nicht zusammengeknüllt, nicht einmal gefaltet worden. Und die kleinen Steine …

»Magda?«, sagte ich laut, ohne genau zu wissen, warum. Charlie schien das Ganze nicht weiter zu interessieren. Er jagte im Wald Pusteblumen. Einige Minuten lang lief ich den Weg auf und ab und suchte am Boden nach irgendeiner verräterischen Unstimmigkeit, dann durchkämmte ich die nähere Umgebung in einer engen Spirale. Ich hoffte, einen zweiten Brief, den nächsten Hinweis zu finden. Sobald Charlie sich zu weit von mir entfernte, pfiff ich nach ihm. Soweit ich sehen konnte, gab es keinerlei verdächtige neue Pfade zwischen den Bäumen, aber andererseits trampelte ich natürlich gerade selbst alles nieder, was die Situation nicht einfacher machte. Aber da war nichts. Ich fand rein gar nichts. Nicht mal eine Zigarettenkippe oder eine zerdrückte Coladose.

Zu Hause in Monlith hatten wir einen Fernseher gehabt. Ich hatte eine Menge Krimis gesehen. Ich konnte mir gut die zwei parallel in die Erde gefrästen Furchen vorstellen, die von den Hacken einer über den Boden gezerrten Leiche stammten. Oder den Abdruck, wo ein Toter gelegen hatte, das plattgedrückte Gras, die abgeknickten jungen Schösslinge, ein umgeworfener Pilz. Und dann natürlich das lose Erdreich auf einem flachen, frischen Grab. Aber soweit ich sehen konnte, war der Birkenwaldboden unberührt. Alles sah genauso aus wie am vorhergehenden Morgen, zumindest in diesem begrenzten Umkreis. Den gesamten Wald abzusuchen würde Tage dauern, Wochen. Arme Magda, wo sie auch sein mag, dachte ich und drehte mich dabei langsam einmal um die eigene Achse, nur für den Fall, dass ich irgendetwas Ungewöhnliches übersehen hatte — einen Schuh, eine Haarspange aus Plastik. Das Stück Papier auf dem Weg schien doch darauf hinzuweisen, dass sie irgendwo in der Nähe war, oder etwa nicht? War der Brief nicht eher eine Grabinschrift als eine ausgedachte Geschichte? Hier ruht Magda schien er zu sagen. Was sollte diese Botschaft, dieser Hinweis, diese Markierung, wenn das Ding, auf das sie verwies, nirgendwo im Umkreis zu finden war? Oder war sie überhaupt irgendwo? Ich befand mich auf öffentlichem Land, so viel wusste ich, es hatte also jeder das Recht, hier durchzugehen.

Levant war kein besonders hübscher Ort. Es gab keine überdachten Brücken oder Kolonialvillen, kein Museum, kein historisches Rathaus. Aber die Natur in Levant war schön, wodurch sich unsere Ortschaft deutlich von Bethsmane unterschied, dem nächstgelegenen Städtchen. Wir waren zwei Autostunden von der Küste entfernt. Durch Bethsmane floss ein breiter Fluss, und wie ich gehört hatte, kamen im Sommer Leute von Maconsett mit ihren Booten bis hierher. Die Gegend war also nicht vollständig von der Welt abgeschnitten. Aber ein Ausflugsziel war sie nicht. In Bethsmane gab es nichts zu sehen. Die Läden an der Main Street waren zugenagelt. Früher war es mal eine Textilstadt mit rotgepflasterten Bürgersteigen und alten Lagerhäusern gewesen; Bethsmane hätte eine charmante Altstadt haben können, aber keines der Häuser stand noch. Von der Romantik und dem Geist der Vergangenheit war nichts mehr da. Heutzutage bestand es nur aus einer Ladenzeile, einer von einem grellen Neonzeichen beleuchteten Bowlingbahn mit Bar, einer winzigen Post, die jeden Tag um zwölf zumachte, und an der Autobahnabfahrt ein paar Fast-Food-Restaurants. Bei uns in Levant hatten wir nicht mal eine Post, aber ich verschickte oder bekam sowieso nicht viele Briefe. Es gab eine Tankstelle mit einem kleinen Laden, in dem man Angelköder und das Nötigste kaufen konnte: Konservendosen, Süßigkeiten, billiges Bier. Was die wenigen Einwohner von Levant in ihrer Freizeit machten, wusste ich nicht, abgesehen vielleicht von Bier trinken und Bowlen gehen in Bethsmane. Sie schienen mir nicht der Typ für malerische Waldspaziergänge zu sein. Wer also hätte sich in meinen geliebten Birkenwald verirren und den Drang verspüren sollen, mein Leben mit Nachrichten von einer Leiche durcheinanderzubringen?

»Charlie?«, rief ich, als ich wieder auf dem Waldweg stand.

Ich ging zurück zu dem Blatt Papier, das immer noch dalag und in der warmen Brise flatterte. Einen Augenblick lang wirkte es lebendig, wie ein seltsames, zartes Lebewesen, das sich von den schwarzen Steinen zu befreien versuchte, wie ein Schmetterling oder ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel. So wie Magda sich in den Händen des Menschen gefühlt haben musste, der sie getötet hatte. Wer wäre zu so etwas in der Lage? Ich war es nicht, beharrte der Brief. Und zum ersten Mal an diesem Morgen lief mir ein Schauer den Rücken herunter, als wäre mir gerade erst eingefallen, Angst zu haben. Sie hieß Magda. Auf einmal wirkte es bedrohlich. Sehr real.

Wo war nur der Hund? Während ich darauf wartete, dass Charlie zwischen den Birken zu mir zurückgerannt kam, sprang mich ein Gefühl an: besser nicht den Blick heben, da oben könnte jemand sein, der mich aus den Bäumen heraus beobachtete. Ein Wahnsinniger im Geäst. Ein Gespenst. Ein Gott. Oder Magda selbst. Ein hungriger Zombie. Eine Seele aus dem Fegefeuer, die nach einem lebendigen Körper suchte, um von ihm Besitz zu ergreifen. Als ich Charlie durchs Unterholz stürmen hörte, wagte ich den Blick hinauf. Natürlich war da niemand. »Sei vernünftig«, ermahnte ich mich und machte mich auf den Schwindel gefasst, der hoffentlich von meinem Mut in Schach gehalten werden würde, als ich mich hinkniete und die kleinen, schwarzen Steine einsammelte. Ich steckte sie in die Jackentasche und nahm das Stück Papier in die Hand.

Hätte ich so viel Mut aufgebracht, wäre ich allein dort im Wald gewesen, ohne meinen Hund? Vielleicht hätte ich den Brief auf dem Weg liegen lassen, wäre weggerannt, nach Hause geeilt und so schnell wie möglich auf die Polizeiwache in Bethsmane gefahren. »Jemand ist ermordet worden«, hätte ich vielleicht atemlos gemeldet. Was für einen Unfug ich zum Besten gegeben hätte. »Ich habe einen Bekennerbrief im Wald gefunden. Eine Frau namens Magda. Nein, ihren Leichnam habe ich nicht gesehen. Nur den Brief. Den habe ich natürlich liegen lassen. Aber darin steht, dass sie ermordet worden ist. Ich wollte nichts am Tatort anfassen. Magda. Genau, Magda. Den Nachnamen weiß ich nicht. Nein, ich kenne sie nicht. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Magda gekannt. Den Brief habe ich gerade eben gefunden, jetzt gerade. Bitte beeilen Sie sich. Bitte, fahren Sie auf der Stelle hin.« Ich hätte hysterisch gewirkt. Für meine Gesundheit war es gar nicht gut, wenn ich mich so aufregte. Walter hatte immer gesagt, dass ich mein Herz viel zu sehr belastete, wenn ich mich in irgendetwas hineinsteigerte. »Achtung. Gefahrenzone«, sagte er dann immer und bestand darauf, dass ich mich von ihm ins Bett bringen ließ; er machte das Licht aus und zog die Vorhänge zu, wenn es draußen hell war. »Bleib schön liegen, bis der Anfall vorbei ist.« Und damit hatte er ja sogar recht: Wenn ich in Panik geriet, verlor ich leicht den Kopf. Mir fiel alles aus den Händen. Mir wurde schwindlig. Auf dem Rückweg zu meinem Waldhaus hätte ich vor lauter Aufregung stolpern und hinfallen können. Ich hätte den Abhang vom Birkenwald zur Straße herunterrutschen und mir den Arm oder die Hüfte brechen können. Jemand hätte vorbeifahren und mich sehen können, eine schlammverschmierte, alte Frau, die vor Angst zitterte wegen — einem Stück Papier? Ich hätte die Arme geschwenkt. »Halt! Anhalten! Ein Mord! Magda ist tot!« Was hätte ich für einen Wirbel verursacht. Wie peinlich wäre das gewesen.

Aber mit Charlie an meiner Seite blieb ich ruhig. Ich war gelassen. Niemand hätte etwas anderes behaupten können. Ein ganzes Jahr lebte ich nun schon still und zufrieden in Levant und freute mich, dass ich den großen Schritt gewagt und Monlith verlassen hatte und viele tausend Kilometer weit weg in den Osten der Vereinigten Staaten gezogen war. Ich war stolz auf mich, dass ich den Mut aufgebracht hatte, das Haus zu verkaufen, alles zusammenzupacken und wegzugehen. Ehrlich gesagt würde ich wahrscheinlich immer noch in unserem alten Haus wohnen, wäre Charlie nicht gewesen. Allein hätte ich eine so große Veränderung nicht gewagt. Für ein Haustier zu sorgen, das einfach immer da war und einen beständig brauchte, war eine Wohltat. Es munterte mich auf, ein Lebewesen bei mir im Zimmer zu haben, lebendige Energie, um die sich mein Leben drehte. Wie einsam ich gewesen war, hatte ich mir gar nicht bewusst gemacht, und dann war ich mit einem Mal überhaupt nicht mehr einsam. Ich hatte einen Hund. Ich würde nie wieder allein sein, dachte ich. Was für ein Geschenk, so einen treuen Begleiter zu haben, ein Kind und einen Beschützer zugleich, ein Wesen, das in vielerlei Hinsicht weiser war als ich und mich dennoch abgöttisch liebte.

Seit ich Charlie hatte, war es mir nur einmal richtig schlecht gegangen, noch in Monlith, an dem Tag mit dem toten Vogel. Mit Ausnahme des eingezäunten Hundeauslaufs im Lithgate Greens hatte ich Charlie noch nie von der Leine gelassen, und als ich sah, wie er über die Autobahn hinweg davonraste, überwältigte mich das Gefühl, ich könnte ihn für immer verlieren. Damals waren wir erst seit ein paar Monaten zusammen, und ich war noch dabei, mich in meine neue Rolle als Frauchen einzufinden; ich war noch ein wenig zu nachgiebig, zu zögerlich — unsicher, könnte man sagen. Ich stand da und befürchtete, dass die Bindung zwischen uns nicht stark genug war, um ihn davon abzuhalten, neue Jagdgründe zu erforschen, ein besseres Leben zu suchen, wo er mehr Hund sein konnte als bei mir. Ich war immerhin nur ein Mensch. War ich nicht beschränkt? War ich nicht langweilig? Aber dann dachte ich: Was könnte besser sein als das Leben, das ich ihm zu bieten hatte? Ganz ehrlich — was? Frei in den Bergen oberhalb Monliths herumzurennen und Rebhühner zu jagen? Die Kojoten würden ihn fressen. Außerdem gehörte er nicht zu dieser Art Hunde. Er war zur Gehorsamkeit gezüchtet worden, zum Apportieren und Zurückkehren. Als ich ihn über die Autobahn hinweg verschwinden sah, fragte ich mich, was ich hätte tun können, damit er sich wohler fühlte, wichtiger, geschätzter, geliebter. War er unbefriedigt? Verwöhnte ich ihn nicht genug? Ich hätte für ihn kochen können, dachte ich. Ich hatte die Frauen im Hundeauslauf davon sprechen hören, »wie viel Gift Markentrockenfutter« enthielt. Ja, man konnte immer mehr tun, um sein Tierchen glücklich zu machen. Ich hätte ihm saftige Markknochen zubereiten sollen, dachte ich, ich hätte ihm erlauben sollen, bei mir im Bett zu schlafen. In unserem alten zugigen Haus in Monlith war es in der Küche zu kalt gewesen, selbst mit dem Hundebett und der weichen Fleecedecke. In der ersten Nacht hatte ich ihn in diese Decke gewickelt und auf dem Arm gehalten wie ein neugeborenes Baby. Er winselte unaufhörlich, und ich redete beruhigend auf ihn ein: »Dir stößt nie wieder etwas Schlimmes zu, das verspreche ich dir. Ich passe auf dich auf. Ich liebe dich viel zu sehr. Jetzt bist du in Sicherheit, hier, bei mir, für immer.«

Und nur ein paar Monate später — wie schnell war er gewachsen! — ging ich mit ihm spazieren, er zog und zerrte, und dann war er weg. Die Leine riss einfach durch an jenem Morgen in Monlith, und er galoppierte den Berg hinunter, über die dünne Schneedecke und über die Autobahn hinweg.

Es kam mir vor, als sei es gestern gewesen, dachte ich nun, mehr als ein Jahr später, als ich mit klopfendem Herzen, den Brief in der Hand, durch den Levanter Birkenwald nach Hause ging. Was wäre ohne Charlie aus mir geworden? Beinahe hätte ich ihn damals in Monlith verloren. Ich war ihm natürlich hinterhergerannt, brachte aber nicht den Mut auf, über die metallene Leitplanke zu steigen, über die er so furchtlos hinweggesprungen war. Selbst zu dieser frühen Stunde, in der nur ein, zwei Autos langsam über den eisbedeckten Highway fuhren, erschien es mir zu gefährlich, die mehrspurige Fahrbahn zu betreten. Außerdem war es verboten, und das Beachten von Vorschriften war mir wichtig. Nicht, weil ich es für meine Bürgerpflicht hielt oder aus moralischen Gründen daran glaubte, sondern einfach, weil ich so aufgewachsen war. Das einzige Mal, dass ich je einen Tadel bekommen hatte, war im Kindergarten gewesen. Auf dem Weg ins Musikzimmer war ich aus der Reihe der Kinder ausgeschert, und die Erzieherin hatte die Stimme erhoben. »Vesta, wo willst du denn hin? Hältst du dich für was Besseres? Ihre königliche Hoheit haben andere Pläne?« Das verzieh ich mir nie. Meine Mutter achtete ebenfalls auf Disziplin. Ich wurde nie geschlagen oder eingesperrt. Aber es gab feste Regeln, und wenn ich mich mal so benahm, als hätte ich die vergessen, wurde ich bestraft.

Außerdem hätte ich auf dem Eis ausrutschen können. Ich hätte von einem Auto erfasst werden können. Ob es das Risiko wert gewesen wäre? Aber natürlich wäre es das wert gewesen, natürlich, wenn ich sonst meinen lieben, geliebten Hund verloren hätte. Doch ich konnte mich nicht bewegen, stand wie angewurzelt hinter der Leitplanke und sah nur noch Charlies wedelnden Schwanz verschwinden. Und damit war Charlie weg, die Böschung auf der anderen Seite der Autobahn hinunter, hinter der eine gefrorene Marsch lag. Ich hatte viel zu viel Angst, um zu schreien oder die Augen zuzumachen, ich wagte nicht mal zu atmen. Meine Lippen gehorchten mir nicht, als ich nach ihm pfeifen wollte. Es war wie in einem Albtraum, wenn der Sensenmann einen holen kommt und man schreien will, aber nicht kann. In meiner Angst brachte ich nichts weiter zustande, als den wenigen vorbeifahrenden Autos wie eine Verrückte mit meinen albernen roten Handschuhen zuzuwinken, in den Augenwinkeln Tränen vom kalten Wind.

Doch dann kam Charlie zurück. In vollem Galopp rannte er über das Eis und erwischte Gott sei Dank einen Augenblick, in dem die Autobahn völlig leer war. Vorsichtig hielt er einen toten Vogel — einen Lerchenstärling — zwischen den Zähnen, legte ihn mir zu Füßen und machte davor Sitz. »Gut gemacht«, sagte ich und schämte mich vor meinem eigenen Hund für meinen Gefühlsausbruch. Ich wischte mir die Tränen weg, umschlang Charlies Hals und küsste ihm den Kopf. Sein Hecheln sah in der kalten Luft aus wie bei einer Dampflok, sein Herz hämmerte schnell. Ach, wie ich ihn liebte. Ich konnte nicht glauben, wie viel Leben in diesem Fellknäuel brodelte.

Danach brachte ich Charlie das Apportieren von Stöckchen und neongelben Tennisbällen bei, die erst nass von seinem Speichel und dann grau wurden, dann platzten sie auf und verschwanden unter dem Vordersitz des Autos, wo ich sie vergaß. »Er ist ein Retriever, eine Kreuzung zwischen einem Labrador und einem Weimaraner Vorstehhund«, hatte mir der Tierarzt in Monlith erklärt. Der Morgen mit dem Lerchenstärling war möglicherweise ein entscheidender Tag für Charlie. An dem Tag entdeckte er seine angeborene Bestimmung — der Instinkt hatte sich zum ersten Mal bei ihm gemeldet. Aber was sollte ich um Himmels willen mit einem toten Vogel anfangen? Ich hatte ihn nicht geschossen, niemand hatte ihn geschossen. Seltsam, dass Charlie meinte ihn unbedingt apportieren zu müssen. Aber so ist es mit den Instinkten. Sie sind meist nicht sehr vernünftig und führen uns auf gefährliche Abwege.

Ich pfiff, und Charlie kam, einen roten, morschen Ast im weichen Maul. Ich leinte ihn an. »Nur zur Sicherheit«, erklärte ich ihm. Er betrachtete mich vorwurfsvoll, zog aber nicht. Den ganzen Heimweg über hielt ich den Blick auf den Weg gerichtet, in der einen Hand Charlies Leine, in der anderen, tief in meiner Jackentasche, den Brief.

Ich war es nicht.

Wer war dieses Ich?, fragte ich mich. Es kam mir unwahrscheinlich vor, dass eine Frau einen Leichnam im Wald zurücklassen würde, ich konnte also mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass der Verfasser dieses Briefs, dieses Ich, die Hauptfigur der Geschichte, männlich sein musste. Er wirkte sehr selbstsicher. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Woher wollte er das wissen? Und warum meinte er, das so hinschreiben zu müssen? Wollte er mich herausfordern? Ich weiß was, was du nicht weißt … Männer und ihr Imponiergehabe. Aber war ein Mordfall der richtige Augenblick für so viel Überheblichkeit? Magda war tot. Das konnte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Was für eine läppische Idee, den Verdacht mit so einem Satz von sich ablenken zu wollen. Arrogant, wenn er meinte, die Menschheit ließe sich so leicht hinters Licht führen. Ich war jedenfalls nicht so gutgläubig. Wir waren nicht alle Hornochsen. Die Menschheit bestand nicht nur aus Lemmingen, Schafen, Vollidioten, nur Walter hatte das geglaubt. Wenn irgendjemand wusste, wer Magda ermordet hatte, dann war es dieses »Ich«. Wo war Magda jetzt? Ich hatte ihre Leiche auf jeden Fall gesehen, als er diesen Brief schrieb. Und was war bloß aus ihr geworden? Wer hatte sich mit ihrer Leiche aus dem Staub gemacht? Der Mörder selbst? War der Mörder zurückgekommen, nachdem er, ich, egal, den Brief geschrieben und auf den Weg gelegt hatte?

Meinen Brief, genauso empfand ich das. Jetzt gehörte er mir. Er befand sich in meinem Besitz, und ich versuchte, ihn in der Tasche meiner dicken Daunenjacke nicht zu verknittern.

Ich brauchte einen Namen für dieses Ich, den Verfasser des Briefs. Anfangs dachte ich, ich brauchte den Namen nur als Platzhalter, einen eher unpersönlichen Namen, der dieses Ich nicht zu konkret beschrieb, einen Namen, der zu den anonym gehaltenen Druckbuchstaben passte. Unvoreingenommen zu bleiben war wichtig. Wer Ich war, konnte man nicht wissen. Aber aus der ernsthaften, jugendlichen Kugelschreiberschrift, den präzisen Druckbuchstaben, dem seltsam vagen Ich, diesem Niemand, ließ sich etwas ableiten. Ich war eine Leerstelle. Der Name meines Mannes, Walter, war einer meiner Lieblingsnamen. Charlie war ein guter Name für einen Hund, fand ich. Wenn wir uns besonders hochherrschaftlich fühlten, nannte ich ihn Charles. Manchmal sah Mister Charles wie ein echter Royal aus, mit den aufgestellten Ohren, dem zu Boden gerichteten Blick — wie ein König auf dem Thron. Aber er hatte einen zu guten Charakter, um wirklich königlich zu wirken. Er war kein hochnäsiger Hund, kein Pudel oder Setter oder Spaniel. Mir schwebte eine eher maskuline Rasse vor, und dann hatte ich das Tierheim in Monlith betreten, und da war er. »Ausgesetzt«, wurde mir gesagt. »Vor zwei Monaten am Flussufer gefunden, in einer schwarzen Reisetasche. Nicht einmal drei Wochen alt. Der Einzige aus dem Wurf, der überlebt hat.« Ich brauchte eine Minute, um das zu verarbeiten. Wie schrecklich! Und was für ein Wunder! Von da an stellte ich mir immer vor, ich sei diejenige gewesen, die die schwarze Reisetasche im Schlamm entdeckt hatte, unter der Brücke, wo der Fluss schmal wird, und dass ich den Reißverschluss der Tasche aufgezogen und einen ganzen Wurf vorwitziger, rosinenbrauner Welpen vor mir gehabt hätte, nur einer davon noch atmend, und der gehörte jetzt mir. Charlie. Unvorstellbar, solche liebenswerten kleinen Wesen auszusetzen.

»Wer macht so etwas bloß?«

»Es sind harte Zeiten«, antwortete die Frau.

Ich füllte die notwendigen Formulare aus, bezahlte hundert Dollar für die Impfungen und Untersuchungen und unterschrieb, dass ich Charlie kastrieren lassen würde, was ich aber nie tat. Ich verriet der Frau auch nicht, dass ich nur wenige Monate später in den Osten der USA ziehen würde, sieben Staaten weit weg, nach Levant. Natürlich brauchen die Tierheime gewisse Garantien. Sie wollen es schriftlich, dass man sich um das Tier kümmern und es artgerecht aufziehen wird. Ich versprach, dass ich es nicht misshandeln, nicht zu Zuchtzwecken missbrauchen und nicht unbeaufsichtigt auf der Straße herumlaufen lassen würde. Als ob eine Unterschrift, ein paar Krakel auf Papier, etwas am Schicksal verändern könnten. Ich wollte meinen Hund nicht kastrieren lassen. So etwas fand ich grausam. Aber ich unterschrieb den Vertrag mit rotem Kopf und klopfendem Herzen — eins der wenigen Male, die ich in meinem Leben bewusst gelogen habe. Bei dem Gedanken, dass die Lüge auffliegen könnte, zitterte ich. »Was sind das bloß für abartige Leute, die ihren Hund nicht kastrieren lassen? Was für perverse …« Eigentlich naiv zu glauben, dass eine reine Unterschrift über so etwas bestimmen sollte. Es ist nichts als ein bisschen Tinte auf Papier, ein Krakel, mein Name. Sie konnten mir nichts anhaben, konnten mich nicht zurück nach Monlith zerren, nur weil ich einen Stift über Papier bewegt hatte.

Ich kam also noch mal davon. Nach Walters Bestattung packte ich in Monlith alles zusammen und verabschiedete mich von unserem Haus und allem, was mir das Leben da angetan hatte. Was war es für eine Erleichterung, dort rauszukommen — in Levant wartete schon das neue Zuhause auf mich. Den Bildern zufolge war es mein Traumhaus: eine rustikale Waldhütte an einem See. Auf dem Grundstück musste natürlich einiges getan werden. Tote Bäume, wucherndes Gestrüpp und so weiter. Unbesehen hatte ich das Ganze für einen Spottpreis gekauft. Sechs Jahre lang hatte es zum Verkauf gestanden, Zwangsversteigerung. Ja, die Zeiten sind schwer. Und in dieses Häuschen zog ich. Ich versuchte, nicht zu viel an das alte Haus in Monlith zu denken, was die neuen Besitzer wohl damit machten, ob die Veranda den Winter gut überstanden hatte. Und was meine Nachbarn über mich redeten. »Sie hat sich einfach aus dem Staub gemacht, wie ein Dieb in der Nacht.« Dabei stimmte das gar nicht. Ich wusste das. Ich war eine anständige Frau. Ich hatte endlich ein bisschen Frieden verdient.

Ich dachte noch ein wenig über einen Namen für dieses Ich nach. Am Ende entschied ich mich für Blake. Es war ein beliebter Name. Er hatte einen Hauch Überheblichkeit an sich. Blake, so hieß ein Junge mit zotteligen blonden Haaren, der Skateboard fuhr, Eis direkt aus der Packung aß und mit einer Wasserpistole herumfuchtelte. Räum dein Zimmer auf, Blake. Komm nicht zu spät zum Essen nach Hause, Blake. Mit diesen Bildern im Kopf klang Blake irgendwie oberschlau und zugleich ein bisschen einfältig — eben ein Junge, der schreiben würde: Ich war es nicht.

Sehr, sehr seltsam, wozu der Geist in der Lage ist. Mein Geist, Charlies Geist, manchmal fragte ich mich, was der Geist eigentlich genau war. Dass er etwas sein sollte, was in meinem Gehirn saß, leuchtete mir nicht ein. Wenn der Geist auf den Raum in meinem Kopf beschränkt war, wie konnte es dann sein, dass Charlie die Aufforderung verstand, er sollte mir die Schnauze auf die Füße legen, obwohl ich einfach nur dachte, dass meine Füße kalt waren? Aber genau das tat er. Hatten wir in so einem Augenblick nicht ein und denselben Geist? Und wenn es einen Raum im Kopf gab, den Charlie und ich uns teilten, hatte ich dann noch einen separaten Raum nur für mich allein? Wessen Geist beschäftigte sich gerade mit dem Brief, wessen Gedanken ratterten, wägten ab, erinnerten sich, als ich dem Pfad durch den Birkenwald folgte? Manchmal kam es mir vor, als umgäbe mich mein Geist wie eine weiche Luftwolke, die alles aufnahm, was angeflogen kam, es einmal herumwirbelte und dann wieder hinaus in den Äther entließ. Walter hatte immer gesagt, dass ich zu magischem Denken neigte, ich war seine kleine Träumerin, sein Täubchen. Walter und ich hatten uns natürlich den Raum im Kopf geteilt. So ist das bei Ehepaaren. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass man im selben Bett schläft. Nachts, im Schlaf, ist der Geist frei, geht seiner eigenen Wege und tanzt, manchmal tanzt er auch als Paar. Im Traum werden Dinge ausgetauscht. Wenn ich jetzt von Walter träumte, war er wieder jung. In meinem Kopf sah er aus wie früher. Manchmal meinte ich immer noch, er würde mit einem Rosenstrauß in der Hand zur Tür hereinkommen, begleitet vom geliebten Geruch seiner Zigarren, seine starken, zärtlichen Hände am raschelnden Zellophan. »Für dich, mein Täubchen«, sagte er. Und wenn es keine Rosen waren, dann ein Buch, das er für mich ausgesucht hatte. Oder eine neue Schallplatte oder ein perfekter Pfirsich oder eine reife Birne. Seine aufmerksamen Geschenke fehlten mir, die kleinen Überraschungen, die er aus seiner Manteltasche zauberte.

Man könnte sagen, dass mein Waldhaus in Levant Walters letztes Geschenk an mich war. Ich hatte es mit dem Geld aus der Lebensversicherung gekauft, mit dem ich auch den Umzug finanziert hatte. Der Gewinn, der beim Verkauf des Hauses in Monlith abgefallen war, würde mir bis an mein Lebensende reichen. Außerdem hatten wir Ersparnisse. Walter hatte gut vorgesorgt für unseren Lebensabend. Er war immer sehr sparsam gewesen und hatte jeden Penny zweimal umgedreht; deswegen hatte ich mich über seine kleinen Geschenke auch immer besonders gefreut. Rosen waren immerhin teuer. »Die haben ein Vermögen gekostet«, sagte er. »Jetzt bin ich arm wie eine Kirchenmaus.« Er hätte mein Waldhaus klein und armselig gefunden. Er mochte große, offene Räume. Er fühlte sich sehr wohl in Monlith, inmitten der weiten Prärie mit den eisenhaltigen Steinhügeln, dem kalten Fluss. Walter fehlte mir. Ohne ihn erschien das große Haus absurd. Als mir das Häuschen in Levant angeboten wurde, war ich erleichtert. Ich hatte das Gefühl, mich ein bisschen verstecken zu müssen. Mein Geist verlangte nach einer kleineren Welt.

Meine Gedanken kehrten zurück zu dem toten Lerchenstärling in Monlith. Wunderschön war er gewesen mit seinem leuchtend gelben Bauch, wie ein Edelstein hatte er auf dem blassen, frostigen Schotter gelegen. Ein Geschenk für mich. Sehr, sehr seltsam. Ob Charlie wohl dachte, dass er mir damit eine Freude machen würde? Ich ließ den Vogel an Ort und Stelle liegen, wo Charlie ihn fallen gelassen hatte, und führte meinen Hund am Halsband zurück nach Hause; davon bekam ich zwar Schmerzen in der Schulter, aber anders ging es nicht, die Leine war nicht mehr zu gebrauchen. Danach las ich Bücher über Hundeausbildung. Während ich das Haus ausräumte, Verträge unterzeichnete und so weiter, wurde die Bindung zwischen Charlie und mir enger, und er lernte zu gehorchen. Er passte sich an mich an und ich mich an ihn. Dadurch wurde unser Geist immer mehr eins. In den Büchern stand, dass ein Hund nicht bei Herrchen oder Frauchen im Bett schlafen sollte. Anfangs hielten wir uns noch an diese Regel, aber als wir uns auf die lange Fahrt Richtung Osten begaben und unterwegs in Motels am Straßenrand schliefen, kam er zu mir ins Bett gekrochen, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich machte mir Sorgen, dass der Umzug traumatische Folgen für ihn haben könnte. Ein bisschen Nähe tat uns beiden gut. Es ist so einsam auf den endlosen Interstates. In Levant gewöhnten wir uns an, im selben Bett zu schlafen; wenn es kalt war, ringelte sich Charlie sogar bei mir unter der Decke zusammen. Aber im Sommer lag er am Fußende des Betts oder vor dem Bett oder unten im kühlen Schatten des Esstischs. Er ging jetzt gut an der Leine, auch wenn ich sie nicht mehr oft benutzte. Wenn wir spazieren gingen, hatte ich sie nur dabei, falls wir im Wald einem Tier begegneten und Charlie ihm hinterherjagen wollte. Ich wusste, dass er angriffslustig sein konnte, wenn er wollte, falls jemand mich bedrohte oder etwas Schlimmes passierte. Das war ein tröstlicher Gedanke. Charlie war mein Bodyguard. Falls sich hier ein Wahnsinniger herumtrieb, Magdas Mörder, irgendwer, dann würde Charlie sich auf ihn stürzen. Sein Kopf ging mir nur bis zum Oberschenkel, aber er machte trotzdem Eindruck mit seinen breiten Schultern, seinen fünfunddreißig Kilo Muskeln und dem seidigen, hellbraunen Fell. Bisher hatte ich ihn nur ein einziges Mal knurren und die Zähne fletschen sehen, bei einer Klapperschlange in Monlith. Er war wirklich ein sehr ruhiger Hund. Angeblich gab es rund um Levant Bären, aber das glaubte ich nicht. Am Straßenrand hatte ich überfahrene Füchse gesehen. Und Kaninchen, Waschbären, Beutelratten. Bei Sonnenaufgang waren wir die einzigen Lebewesen, abgesehen von Vögeln und kleinen Nagern und den sanften Weißwedelhirschen. Stockstill standen sie hinter den Bäumen, wenn Charlie und ich vorbeigingen. Ich versuchte, ihnen aus Respekt nicht in die Augen zu schauen, und hatte Charlie ebenfalls dazu erzogen, sie in Ruhe zu lassen. Ein schöner Gedanke, dass man unsichtbar wird, nur weil man stillsteht. Die Hirsche waren beeindruckend, manche so groß wie Pferde. Was müssen sie für ein angenehmes Leben haben, dachte ich. Es war so still im Wald, manchmal hörte ich sie sogar atmen.

Blake musste im Lauf der letzten vierundzwanzig Stunden hier durchgekommen sein; am Morgen zuvor waren Charlie und ich denselben Weg gegangen, und da war kein Brief gewesen, nichts. Auf dem Heimweg hatte ich keine unbekannten Fußabdrücke bemerkt, keine weißen Papierschnipsel von der ausgerissenen Seite aus Blakes Spiralblock. Ein ganzes Jahr war ich jetzt schon in Levant, und ich hatte das Gefühl, dieser Wald gehörte mir und Charlie. Vielleicht sogar mehr noch als der Mord an Magda störte mich der Gedanke, dass jemand anderes hier gewesen war, in meinem Wald, meine Felsen berührt hatte, auf dem Trampelpfad gegangen war, den ich durch den Birkenwald gebahnt und verbreitert hatte. Ein Eindringling. Es war, als würde man spätabends nach Hause kommen, zu Bett gehen, mitten in der Nacht aufwachen und feststellen, dass jemand in deiner Küche gewesen ist, dein Essen gegessen, deine Bücher gelesen, sich den Mund mit deiner Stoffserviette abgewischt und sein fremdes Gesicht in deinem Badezimmerspiegel angestarrt hat. Ich konnte mir gut vorstellen, wie viel Zorn und Angst ich verspüren würde, wenn ich sähe, dass er die Butter auf der Anrichte vergessen hatte, und eine Brotkruste, ganz zu schweigen von dem blutigen Messer in der Spüle, oder ein Messer, das benutzt und abgewaschen und aufs Trockengestell gelegt worden war. Niemand wird je erfahren … Das konnte einen in den Wahnsinn treiben, wenn so etwas passierte. Vielleicht würde man nie wieder ein Auge zutun, sich nie wieder in den eigenen vier Wänden sicher fühlen. Allein die vielen Fragen, die sich auftäten und die man nur sich selbst stellen könnte. Der Eindringling könnte immer noch im Haus sein. Mein Gott, er könnte sich hinter der Küchentür verstecken, und da stünde man dann in Socken und Bademantel und würde entsetzt das blitzende Messer auf der Ablage anstarren. Hat man es selbst zum Zwiebelhacken benutzt? Hat man vergessen, dass man für einen nächtlichen Imbiss in die Küche gegangen war und das Messer liegengelassen hatte und so weiter? Träumte man noch? Träumte ich?

Nein, nein. Alles war sehr real. Hier war Charlie, da war die Erde, die Luft, die Bäume, der Himmel, die zarten grünen Blattknospen an den Zweigen, die sich der Sonne entgegenschoben, komme, was wolle. Ich kannte diesen Wald sehr gut. Ich kannte mein Waldhaus, den See, die Kiefern, die Straße. Ich war der einzige Mensch, der regelmäßig durch diesen Birkenwald lief. Die Nachbarn waren weit genug weg, dass sie ihren eigenen Birkenwald, ihre eigenen Wege hatten. Und warum sollte sich jemand die Mühe machen, bis hier heraus zu kommen, nur um auf meinem Weg herumzutrampeln? Warum hätte Blake herkommen sollen, wenn er es nicht auf mich abgesehen hatte? Das war kein Zufall. Das Blatt Papier war ein Brief. An mich. Wer hätte ihn außer mir finden können? Der Brief hätte genauso gut direkt an mich gerichtet sein können: