Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens - Sebastian Niedlich - E-Book
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Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens E-Book

Sebastian Niedlich

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Beschreibung

„Meine Gabe, den Tod anderer Leute voraussehen zu können, hat schon was. Gibt ein prima Partyspiel. ‚Hey, ich sage euch, wer als Nächstes stirbt!‘ Spaß für die ganze Familie!“ Freunde sind etwas Wunderbares. Und manchmal findet man sie an den ungewöhnlichsten Orten. Martin hätte allerdings darauf verzichten können, am Sterbebett seiner Großmutter die Bekanntschaft des leibhaftigen Todes zu machen. Dieser hat sich eingefunden, um die Seele der alten Dame sicher ins Jenseits zu befördern – und ist begeistert, dass ihn endlich jemand sehen und hören kann. Für ihn steht fest: Martin und er sind dazu bestimmt, beste Freunde zu werden. Schließlich ist er ein echt netter Typ! Und hey: Niemand kann so glaubhaft versichern, dass man weder an Langeweile, noch an einem gebrochenen Herzen sterben kann … Im Laufe der Zeit gewöhnt Martin sich daran, dass der Leibhaftige stets bei ihm auftaucht, wenn er es am wenigsten gebrauchen kann. Doch als er eine ganz besondere Frau kennenlernt, muss er sich eine entscheidende Frage stellen: Macht es überhaupt Sinn zu leben, zu lieben und nach dem Glück zu suchen, wenn am Ende doch immer der Tod wartet? Schmunzeln und lachen, weinen und sich trotzdem wohlfühlen: Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens ist eine schwarze Komödie mit Herz, die man so schnell nicht vergessen wird. Jetzt als eBook: „Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens“ von Sebastian Niedlich. dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 426

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Über dieses Buch:

Freunde sind etwas Wunderbares. Und manchmal findet man sie an den ungewöhnlichsten Orten. Martin hätte allerdings darauf verzichten können, am Sterbebett seiner Großmutter die Bekanntschaft des leibhaftigen Todes zu machen. Dieser hat sich eingefunden, um die Seele der alten Dame sicher ins Jenseits zu befördern – und ist begeistert, dass ihn endlich jemand sehen und hören kann. Für ihn steht fest: Martin und er sind dazu bestimmt, beste Freunde zu werden. Schließlich ist er ein echt netter Typ! Und hey: Niemand kann so glaubhaft versichern, dass man weder an Langeweile noch an einem gebrochenen Herzen sterben kann… Im Laufe der Zeit gewöhnt Martin sich daran, dass der Leibhaftige stets bei ihm auftaucht, wenn er es am wenigsten gebrauchen kann. Doch als er eine ganz besondere Frau kennenlernt, muss er sich eine entscheidende Frage stellen: Macht es überhaupt Sinn zu leben, zu lieben und nach dem Glück zu suchen, wenn am Ende doch immer der Tod wartet?

Schmunzeln und lachen, weinen und sich trotzdem wohlfühlen: DER TOD UND ANDERE HÖHEPUNKTE MEINES LEBENS ist eine schwarze Komödie mit Herz, die man so schnell nicht vergessen wird.

Über den Autor:

Sebastian Niedlich, 1975 in Berlin geboren, war zum Zeitpunkt seiner Geburt schriftstellerisch untätig und nahm diese Profession erst später im Leben auf, nachdem er sich vorher an Drehbüchern versucht hatte. Er lebt in Potsdam und bereut es bisher nicht.

Bei dotbooks veröffentlichte Sebastian Niedlich neben »Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens« bereits die Fortsetzung »Der Tod ist schwer zu überleben« sowie die Romane »Und Gott sprach: Es werde Jonas« und »Dicker Teufel umständehalber in liebevolle Hände abzugeben«, außerdem die Erzählbände »Der Tod, der Hase, die Unsinkbare und ich«, »Ein Gott, drei Könige und zwei Milliarden Verrückte«, »Das Ende der Welt ist auch nicht mehr, was es mal war« (diese drei Titel sind auch als Sammelband erhältlich: »Am Ende der Welt gibt es Kaffee und Kuchen«) und »Mafiosi, Drache, Tod und Teufel«.

Der Autor im Internet:

www.sebastianniedlich.de

www.facebook.com/SebastianNiedlich.Autor

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Originalausgabe Februar 2014

Copyright © 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Christina Seitz

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von Pushkin / shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95520-450-1

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Sebastian Niedlich

Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Roman

dotbooks.

Prolog

Es hat etwas seltsam Beruhigendes zu wissen, dass ich in Kürze sterben werde. Ich muss mir keine Sorgen um Dinge mehr machen, die mir das ganze oder zumindest halbe Leben schon tierisch auf die Nerven gegangen sind. Steuern zum Beispiel. Versicherungen. Die Typen, die an U-Bahnhöfen stehen und einen anblöken, ob man noch alte Fahrscheine hat. Sardellen auf Schnitzeln. So was halt.

Selbstverständlich liegt in der Ruhe auch ein gewisser Anteil Panik. Habe ich alles geregelt? Habe ich den Wasserhahn der Waschmaschine abgedreht? Alle Zeitschriften-Abos gekündigt? Die Pflanzen gegossen? Ich will ja nicht, dass sich meine Familie hinterher um diesen ganzen belanglosen Kram kümmern muss. Überhaupt: Wie wird es meiner Familie ergehen? Nun gut, eventuell ist meine Panik doch größer, als ich mir selbst eingestehen will.

Im Gegensatz zu den meisten, wenn nicht sogar allen anderen Menschen habe ich eine ziemlich gute Vorstellung davon, wann ich ins Gras beißen werde. Mir ist nicht ganz klar, wie es passieren wird, aber den Zeitrahmen, das genaue Datum kenne ich. Ich gehe davon aus, nein, ich weiß bereits, dass ich bei einem Unfall sterbe, was gewissermaßen dem eingangs erwähnten Panikanteil zugutekommt. Aber das ist sicher nicht meine Idealvorstellung. Im Schlaf zu sterben wäre schön, aber die Möglichkeit kann ich ausschließen, denn es ist mitten am Tag, und ich sitze auf einer Bank im Lustgarten vor dem Berliner Dom. Die Wahrscheinlichkeit, bei meiner aktuellen Gemütslage einzuschlafen, noch dazu auf einem frequentierten, öffentlichen Platz, schätze ich eher gering ein. Abgesehen davon, weiß ich aus eigener Erfahrung, dass die Leute, die »im Schlaf« gestorben sind, eigentlich nicht schlafend starben, sondern zuerst wach wurden und dann das Zeitliche segneten. Meistens begleitet von einem unschönen Laut aus ihrer Kehle. Insofern ist meine Idealvorstellung vom Tod, schlafend sterben, also gar nicht so ideal – oder schlicht und einfach nicht machbar. Man könnte also sagen, dass es so etwas wie den idealen Tod nicht gibt. Und unausweichlich ist er auch, also versuche ich erst gar nicht mehr, etwas dagegen zu unternehmen.

Ich verbringe meine letzten Stunden und Minuten also damit, den Leuten beim Leben zuzuschauen. Auf der Bank neben mir stillt eine junge Mutter in Juteklamotten ihr Kind. Spontan schießt mir das Wort »Brustkrebs« durch den Kopf.

Eine Gruppe von Mittzwanzigern wirft sich eine Frisbee-Scheibe zu. Ob sie sich auch noch so amüsieren würden, wenn sie wüssten, dass sie nächstes Jahr zu dieser Jahreszeit nicht mehr vollzählig sind?

Ein Pärchen liegt auf der Wiese und knutscht so heftig an sich herum, dass man sich fragt, ob sie gleich alle Hemmungen fallenlassen. Der Typ wird die Frau mit Aids anstecken und sich in einem halben Jahr vor die U-Bahn werfen. Sie hat noch ein paar Jahre vor sich und wird es ihm gleichtun, was sie im Grunde ihres Herzens als romantisch empfindet.

Ein kleines Mädchen springt nur in Unterwäsche durch den feinen Nebel des Brunnens und lacht dabei, wie nur kleine Kinder es können. Ein älterer Mann, der sich mühsam an einem Stock fortbewegt, ergreift mit seiner freien Hand die seiner Frau, welche sie zärtlich zurückdrückt.

Meine Gabe, den Tod anderer Leute voraussehen zu können, hat schon was. Gibt ein prima Partyspiel. »Hey, ich sage euch, wer als Nächstes stirbt!« Spaß für die ganze Familie!

Während ich hier also so sitze und mich der Weltschmerz packt, versuche ich, mein Mitgefühl zu zügeln. Die Leute sind mir nicht egal, aber ich habe mittlerweile gelernt, dass ich nicht allen helfen kann. Früher, da hätte ich mich wohl in ihr Leben eingemischt. Jetzt? Jetzt freue ich mich einfach nur darüber, dass die Menschen hier das Leben in wenigstens diesem einen Augenblick genießen. Und irgendwie fühle ich mich deswegen besser. Weil die anderen sich wohl fühlen. Es beruhigt mich ein wenig.

Der Freund, auf den ich gewartet habe, taucht plötzlich neben der Bank auf und begrüßt mich. Für einen Moment versucht die Panik, wieder von mir Besitz zu ergreifen, aber ich unterdrücke den Impuls. Im Grunde freue ich mich sogar, ihn zu sehen.

Ein Schmetterling fliegt vorbei. Spontan schauen wir ihm beide hinterher. Ich bemerke, dass die Finger meines Freundes instinktiv nach dem Kescher greifen, den er an die Bank gelehnt hat, aber dann lässt er die Hände wieder in seinen Schoß sinken und lächelt mich an.

»War nur ein Schmetterling«, höre ich ihn sagen.

»Wann ist es so weit?«, höre ich mich sagen.

»Bald.« Er schaut interessiert zu den Menschen hinüber, die ich beobachtete. »Aufgeregt?«

»Kann’s kaum erwarten«, entgegne ich sarkastisch.

»Ernsthaft, bitte.«

»Momentan weiß mein Körper nicht so richtig, was er fühlen soll, glaube ich.«

»Das Problem hast du dann nicht mehr.«

»Ich sag ja... kann’s kaum erwarten.«

Schweigend schauen wir dem Treiben zu, welches sich vor uns abspielt. Mein Freund fängt an, »Ob-La-Di, Ob-La-Da« zu pfeifen, und obwohl ich mich selbst dafür hasse, muss ich anfangen zu kichern.

»Weißt du, es ist irgendwie schön zu wissen, dass ein Freund bei einem ist, wenn man dorthin geht, wohin man eben geht, wenn man das Zeitliche segnet.«

Als er seinen von der Kapuze halb verdeckten Kopf zu mir herüberdreht, hört er auf zu pfeifen und grinst. Ebenso breit, wie er es bei unserer ersten Begegnung vor all diesen Jahren tat, bevor ich wusste, dass er der Tod ist.

Kapitel 1DIE GESTALT MIT DER KUTTE

Ich traf den Tod das erste Mal, als ich sieben Jahre alt war. Bis dahin hatte ich mein Leben einigermaßen normal verbracht, zumindest möchte ich das glauben. Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht an viele Geschehnisse erinnern, die vor diesem Tag passiert sind. Fast kommt es mir vor, als hätte jemand mein Leben an diesem Tag angeknipst, während ein anderes ausgeknipst wurde. Bei Letzterem handelte es sich um das meiner Oma.

Soweit ich mich erinnern kann, war meine Oma eine sehr nette Frau. Zumindest meine ich, mich früher immer gefreut zu haben, wenn wir sie besuchten. Bis auf die Knutscherei. Die verwandtschaftliche Küsserei mochte ich als Kind schon nicht und bleibt mir bis heute ein Rätsel. Später habe ich mich über Besuche bei ihr dann nicht mehr so sehr gefreut, was wahrscheinlich daran lag, dass sie immer merkwürdiger wurde. Sie begann langsam alles zu vergessen, war allgemein ganz schusselig und wurde in der Küche zu einer Gefahr für sich und ihre Umwelt. Ihr Kassler Braten an Whiskey mit Schokolade bleibt unvergessen.

Zum Zeitpunkt ihres Todes hatte sie schon einige Zeit im Krankenhaus verbracht. Sie war abgemagert und sprach mittlerweile praktisch gar nicht mehr. Jeden Sonntag fuhren meine Eltern und ich zu ihr und verbrachten ein paar Stunden dort. Da das Krankenhaus am anderen Ende der Stadt war, gab es eine entsprechende Fahrzeit mit dem Auto. Für den kleinen Jungen von damals bedeutete dies, dass er für eine ganze Weile von seinen heißgeliebten »Star Wars«-Figuren getrennt war. Das klingt rückblickend wie eine arg herzlose Einstellung, aber meinem siebenjährigen Ich kann ich da keine Vorwürfe machen. Ich wollte meine Oma sehen, und ich habe sie auch wirklich gemocht, aber da die Gespräche zwischen meinen Eltern und ihr recht einseitig verliefen, in Anbetracht der Tatsache, dass sie mit Augen zurückstarrte, in denen kein Funke des Erkennens zu finden war, dann empfand ich meine Großmutter bereits als halb im Jenseits. Und verdammt noch mal, ich mochte meine »Star Wars«-Figuren.

Das dunkle Gemäuer des Krankenhauses machte auf mein junges Ich bereits einen etwas jenseitigen Eindruck. Tiefrote Backsteine, die fast schwarz hinter den knochigen Bäumen an der Straße hervorlugten, die Innenräume beherrscht vom Geruch nach Körperflüssigkeiten und Putzmittel, der sich über den kalten Linoleumboden fortzupflanzen schien. Bei einigen Besuchen hatte ich Leichenwagen vor diesem oder jenem der Häuser stehen sehen. Glücklicherweise bemerkten dies wohl relativ wenige Patienten, sonst hätten die Bestatter gleich noch mehr Kunden mitnehmen dürfen. Instinktiv wurde ich als Kind kein Fan von Krankenhäusern, was rückblickend betrachtet eine Ironie des Schicksals ist, wenn man bedenkt, wie viel Zeit ich später in ihnen verbringen sollte.

Die Station, auf der meine Oma lag, befand sich im ersten Stock und schien nur gebrechliche oder verwirrte ältere Menschen zu beherbergen. Die eingefallenen Gesichter, langen Ohrläppchen und überdimensionalen Nasen ließen bei mir im Geist eine Art Horrorversion der »Muppet Show« ablaufen. Für mich waren Krankenhäuser eher Horte des Sterbens statt des Lebens, obwohl sie wahrscheinlich mehr Leben hervorbrachten und -bringen, da die meisten Kinder in Krankenhäusern auf die Welt kommen.

An diesem Tag trottete ich hinter meinen Eltern die Treppe in den ersten Stock hinauf, wie wir es, so empfand ich es damals, schon Hunderte Male getan hatten. Als wir am Schwesternzimmer vorbeikamen, saßen dort die Kaffeevernichter in ihren weißen Kostümen und begingen den täglichen Genozid an Kaffeebohnen und ihren Lungenbläschen in Form von besonders qualmigen Zigaretten. Aus dem Radio drang, wie so oft in diesen Tagen von 1982, »Ein bisschen Frieden«, was mir damals schon irgendwie sehr unecht vorkam. Unecht, weil es selbst mir als Kind, während wir die Übertragung des Grand Prix d’Eurovision de la Chanson im Fernsehen sahen, den Eindruck vermittelte, als wäre das Lied extra dafür gebastelt, zu gewinnen. Wie auch immer … wenn ich heute an diese Melodie in Bezug auf diesen Tag und meine Oma denke, läuft es mir immer noch eiskalt den Rücken herunter. Jedenfalls nickten meine Eltern den Schwestern in ihrem Zimmer zu, und diese nickten durch den Nebel zurück, bevor wir im Zimmer meiner Oma verschwanden.

Wie gewohnt lag sie in ihrem Bett und fokussierte die Decke, als ob sie die Löcher in den Platten dort zählen würde. Meine Eltern gaben ihr einen Kuss, ich drückte ihre Hand. Was die Knutscherei mit meiner Oma anging, hatte ich wirklich genug für ein ganzes Leben. Sie schaute uns an, als wären wir wildfremde Menschen, während mein Vater erzählte, was sich in der letzten Woche so zugetragen hatte. Meine Blicke richteten sich vereinzelt auf die Dame, die in dem anderen Bett des Zimmers vor sich hin siechte. Noch nie hatte sie irgendetwas gesagt. Das einzige Geräusch, das sie von sich gab, war eine Art »Na-Nuff, Na-Nuff«, und sie wiederholte es wie ein Mantra.

Es war alles wie immer. Dann kam einer der Ärzte herein, der sich mit meinen Eltern über meine Oma unterhalten wollte. Sei es aus Pietäts- oder anderen Gründen gewesen, sie gingen vor die Tür und ließen mich mit Oma und der anderen Dame allein.

Waren es fünf Minuten? Zehn Minuten? Ich saß am Bett und streichelte die Hand meiner Oma, als plötzlich eine große Person neben uns stand. Unter dem schwarzen Umhang blickte ein Gesicht, welches definitiv etwas mehr Sonne vertragen konnte, mit durchdringenden Augen meine Großmutter an. Ich weiß noch ganz genau, dass er eine Hand auf das Gestell am Fußende legte, während er sich mit dem anderen Arm auf die große Stange mit dem langen Kescher am Ende stützte.

Man kann mit Sicherheit sagen, dass er eine beängstigende Erscheinung hätte sein können. Aber entgegen der landläufigen Meinung, er wäre ein Skelett, hatte er das Gesicht eines Mannes in seinen späten Zwanzigern oder anfänglichen Dreißigern und so gar nichts Bedrohliches. Im Gegenteil, sein Lächeln strahlte eine vollkommene Ruhe aus. Obwohl ich keine Angst verspürte, kam ich nicht umhin, ihn anzustarren.

»Wer bist denn du?«, fragte ich unschuldig.

Sein Kopf bewegte sich langsam, und sein Erstaunen zeichnete sich deutlich ab. »Hast du mit mir gesprochen?«

Seine Stimme war wie eine Mischung aus Barry White und Peter Lustig. Sie war ungewöhnlich tief für einen Mann seiner Statur. An Peter Lustig erinnerte sie mich, weil es mir vorkam, als könnte man ihm stundenlang zuhören, wie er einem die einfachsten Dinge erklärt. Mein Vater hätte das vermutlich als Gebrauchtwagenverkäuferstimme bezeichnet.

»Ja. Ich wollte wissen, wer du bist.« Mein siebenjähriges Ich hatte tatsächlich nicht die geringste Ahnung.

»Du kannst mich wirklich sehen? Und hören?«

»Klar. Du stehst doch da.«

Ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht. Das Grinsen, das ich in den folgenden Jahren noch oft sehen sollte. Mit einer schnellen Bewegung, die mich dann doch erschreckte, hatte er sich zu mir heruntergebeugt und starrte nun wiederum mich an.

»Du bist ein interessantes kleines Kerlchen.«

»Wieso?«

»Du bist anders.«

»Warum bin ich anders?«

»Weil mich Leute eigentlich nicht sehen können, du aber schon.«

»Aber du stehst doch direkt vor mir, warum sollte ich dich nicht sehen können?«

»Weil ich der Tod bin, Kind.«

Er hatte sich wieder zu seiner vollen Größe aufgerichtet. Rückblickend hätte es für mich nicht so imposant aussehen dürfen, aber für einen Siebenjährigen grenzen 1,80 Meter schon nahezu an einen Riesen.

»Aber der Tod ist doch kein Mensch. Menschen sterben einfach. Und dann sind sie tot. Oder bringst du die Menschen um?«, fragte ich wohl etwas naiv.

»Ich bringe niemanden um«, sagte er und wandte sich wieder meiner Oma zu. »Ich hole nur die Toten.«

Meine Großmutter hatte irgendwann in den letzten Minuten die Augen geschlossen und fing nun an, leicht zu keuchen.

»Machst du das?«, fragte ich, immer noch nicht begreifend.

»Nein.«

Ich drückte die Hand etwas fester. »Aber was tust du hier?«

»Warten.«

Er war damals überraschend kurz angebunden. Immerhin hatte er schon diese mysteriöse Nummer drauf, die mich später zur Weißglut bringen sollte. Zu dem Zeitpunkt aber begriff ich noch gar nicht, was gerade geschah.

Meine Oma fing an, nach Luft zu schnappen. Sie zuckte zwei-, dreimal. Dann war sie still und nur das »Na-Nuff, Na-Nuff« der Bettnachbarin war zu hören. Ich hielt immer noch ihre Hand, die sich jetzt schlaff anfühlte.

So richtig wollte mir nicht in den Kopf, was gerade passierte. Es wurde noch surrealer, als ich beobachtete, wie in ihrem Mundwinkel ein Fühler erschien, dann ein zweiter. Ein Tier zwängte sich aus dem nur leicht geöffneten Mund meiner Oma, um sich dann auf den Lippen zu entfalten und als bunter Schmetterling zu entpuppen. Mit einem Flügelschlag hievte er sich in die Luft und schwebte im Raum zwischen dem Tod und mir. Unwillkürlich streckte ich meine freie Hand aus, und der Schmetterling nahm darauf Platz.

»Wirklich ein interessanter kleiner Kerl«, sagte der Tod, streckte einen Finger aus, und der Schmetterling flog zu ihm hinüber. »Deine Großmutter war eine gute Frau. Möchtest du ihr auf Wiedersehen sagen?«

Noch immer hielt ich die Hand meiner Oma in einer der meinen. Ich blickte zwischen dem Schmetterling, der Hand und dem Gesicht meiner Oma hin und her. Langsam begann ich zu verstehen, und obwohl ich meine Oma mehr oder weniger nur als verwirrten Pflegefall in Erinnerung hatte, schossen mir die Tränen in die Augen.

»Auf Wiedersehen, Oma«, hauchte ich dem Schmetterling zu und wischte mir den Rotz an meinem Ärmel ab.

Tod nahm seinen Kescher und setzte den Schmetterling darin ab, dann drehte er sich wieder zu mir. »Es tut mir leid, Knabe, aber es war an der Zeit für sie.«

Ich schluchzte. So weit dazu, dass ich sie ohnehin schon als halb im Jenseits betrachtet hatte.

»Verrätst du mir deinen Namen, Junge?«

»Martin.«

»Es war schön, dich kennenzulernen, Martin. Ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen werden. Die Frage ist eher, ob wir uns auch schon vorher mal treffen könnten.«

»Wie meinst du das?«

»Könnte ich dich mal besuchen?«

»Stirbt dann wieder jemand?«

Tod dachte einen Moment darüber nach. »Nein, zunächst nicht.«

Ich nickte.

»Du solltest deinen Eltern sagen, dass deine Großmutter gestorben ist.«

Und dann war der Tod so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Die erste von vielen Verschwindenummern, die ich noch erleben sollte. Ich legte die Hand meiner Oma neben ihr aufs Bett, öffnete die Tür und sagte meinen Eltern, dass Oma gerade gestorben war. Mein Gespräch mit dem Tod behielt ich instinktiv aber für mich.

Kapitel 2DER GAST BEI DER BEERDIGUNG

Die Tage nach dem Tod meiner Großmutter waren sonderbar. Meine Mutter war selbstverständlich über den Tod ihrer Mutter erschüttert, und auch meinem Vater ging es nahe. Bei mir allerdings wollte sich nach der anfänglichen Trauer, die ich noch im Krankenhauszimmer empfunden hatte, keine mehr einstellen. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob meine Eltern das nicht sehr merkwürdig fanden. Andererseits waren wir wohl alle der Meinung, dass es für sie das Beste gewesen ist, sofern wir das als »Außenstehende« beurteilen konnten. Wirklich etwas vom Leben hatte sie nicht mehr, und irgendwie frage ich mich bis heute, inwiefern geistig verwirrte Menschen noch die sind, die sie einmal waren.

Ein paar Wochen später, obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorkam, fand schließlich die Beerdigung statt. Ich bekam für diesen Tag von der Schule frei, was mir den Neid meiner Mitschüler einbrachte, von denen aber der größte Teil noch seine Großeltern hatte. Wirklich nachvollziehen konnten sie den Verlust also nicht, bis auf Gerrit, der im Jahr zuvor seinen Opa verloren hatte und mir in der Pause sagte, wie leid es ihm täte und dass es »totale Scheiße« sei.

Es war die erste Beerdigung, die ich bewusst erlebte, und bis dahin war mir nicht klar, dass ich deswegen die guten Klamotten anziehen musste, die wohl jedes Kind verabscheut. Also wurde der Anzug herausgekramt, den ich schon im Jahr zuvor bei irgendeiner Familienfeierlichkeit anhatte und dessen Hosenbeine mir mittlerweile nur noch bis knapp unter die Schienbeine reichten. Außerdem musste ich ein Hemd anziehen, dessen Kragen in der Zwischenzeit auch recht eng geworden war. Mit frischem Scheitel und wie aus dem Ei gepellt, aber mit hochrotem Gesicht aufgrund des engen Kragens fand ich mich dann im Nieselregen auf dem Friedhof wieder. Selbstverständlich regnete es. Wie merkwürdigerweise auf allen Beerdigungen, bei denen ich jemals anwesend sein sollte.

Wir waren allein, meine Eltern und ich, wenn man von dem Urnenträger absieht. Freunde und Verwandte hatte meine Oma kaum noch. Ein paar Verwandte hatte sie noch im »Osten«, aber die durften entweder nicht ausreisen oder hatten jetzt, nachdem sie keine Pakete mehr schicken konnte, herzlich wenig Interesse an ihr. Der Urnenträger fragte, ob er ein paar Worte sagen sollte, und meine Mutter nickte nur. Bei der anschließenden generischen Rede, die auf so ziemlich jeden Menschen auf der Welt hätte zutreffen können, brachte er es tatsächlich fertig, meine Oma statt »Christel« immer »Christa« zu nennen. Meine Eltern schwiegen, aber ich zuckte innerlich bei jeder Nennung des falschen Namens zusammen. Als die Urne endlich versenkt war, drückte mein Vater dem Träger etwas Geld in die Hand, und wir liefen zurück zum Auto.

Als meine Eltern sich bereits umgedreht hatten, blieb ich noch ein paar Sekunden stehen und schaute zu der Gestalt im Umhang hinüber, die zwischen ein paar Büschen aufgetaucht war und mir zunickte. Ich winkte ihm zu, aber da riefen auch schon meine Eltern nach mir, und ich lief hinterher.

Daheim befreite ich mich aus der lästigen Bekleidung. Ich bekam wieder eine normale Gesichtsfarbe und vergrub mich in meinem Zimmer mit meinen Spielsachen. Ohnehin wusste ich nicht wirklich, was ich zu meinen Eltern, besonders zu meiner Mutter, an diesem Tag hätte sagen sollen. Aber auch ich stand etwas neben mir. Bis zu dem Tag war mir der Vorfall im Zimmer meiner Oma irgendwie unwirklich erschienen, aber nun hatte ich den Tod auf dem Friedhof wiedergesehen. Während ich noch vor mich hin grübelte, kam von meinem Bett die bekannte, freundliche Stimme, die mich vollends vom Spielen abhielt.

»Sei gegrüßt.«

Ich schaute auf und blickte unwillkürlich zur Tür, die wie üblich offen stand. Aus diesem Grund flüsterte ich. »Hallo.«

Tod saß auf meinem Bett, hatte ein Bein über das andere geschlagen und den Kescher ans Regal mit meinen Büchern gelehnt. »Ich wollte nur mal schauen, wie es dir geht.«

Ich zuckte nur mit den Schultern.

»Es tut mir sehr leid wegen deiner Großmutter. Vorhin auf dem Friedhof wollte ich dich aber nicht stören.«

»Schon okay«, sagte ich und hantierte an Han Solo, meiner Lieblingsfigur von »Star Wars«, herum. »Wie bist du hier hereingekommen?«

»Oh, ich kann überall sein, wo ich will.«

»Häh? Wie geht das denn?«

»Na ja, ich bin technisch gesehen kein Mensch. Ich bin … übernatürlich. Bei übernatürlichen Wesen geht das.«

»Dann kannst du überall hingehen?«

»Ja.«

»Dann kannst du auch zu meiner Oma gehen?«

»Äh, nun ja … sie ist tot.«

»Ja, schon, aber sie muss ja irgendwo sein. Sie ist doch bestimmt in den Himmel gekommen. Mein Religionslehrer sagt jedenfalls immer, dass gute Menschen in den Himmel kommen und böse Menschen in die Hölle. Und du hast gesagt, dass meine Oma ein guter Mensch gewesen ist.«

»Das stimmt schon, aber ich denke, dein Lehrer ist da nicht unbedingt eine Koryphäe auf seinem Gebiet.«

»Eine was?«

»Ich wollte damit sagen, dass er nicht unbedingt Ahnung von der Materie hat. Was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass die meisten Leute, die sich mit Religion beschäftigen, bigotte Einfaltspinsel sind.«

»Was heißt bigott?«

Tod seufzte. »Ich glaube, wir sollten diese Konversation ein anderes Mal fortführen.«

»Aber wenn Oma nicht im Himmel oder der Hölle ist, wo ist sie dann?«

»Also vorhin wurde sie gerade auf dem Friedhof verscharrt. Ich schätze, dort wird sie immer noch sein.«

»Das meine ich doch nicht.«

Tod kratzte sich an der Kapuze. »Nein, das dachte ich mir schon. Ich weiß zwar, worauf du hinauswillst, ich weiß nur nicht, ob ich dir darauf jetzt eine befriedigende Antwort geben kann.«

»Ich hoffe nur, Oma geht es gut.«

»Darüber, Knabe, brauchst du dir wirklich keine Sorgen machen. Mach dir lieber um die Lebenden Sorgen.«

»Meinst du Mami und Papi?«

Tod zuckte halb mit den Schultern, halb nickte er.

»Mami geht es nicht gut, das weiß ich.«

»Und was willst du dagegen unternehmen?«

»Ich weiß nicht.«

»Also wenn ich einen Vorschlag machen dürfte … manchmal brauchen Mütter einfach eine feste Umarmung. Deine Mutter kann, glaube ich, wirklich gerade eine gebrauchen. Und wenn du gerade dabei bist, dann sag ihr doch, wie lieb du sie hast.«

»Ich hab sie sehr lieb.«

»Sag nicht mir das, sag ihr das. Na los.«

Ich stand auf, ging aus dem Zimmer und rannte meine Mutter fast um. Sie stand gleich neben der Tür und hatte offenbar gehört, was ich gerade eben gesagt hatte. Trotzdem schlang ich meine Arme um sie und sagte ihr, wie lieb ich sie hatte. Dann weinten wir beide.

Kapitel 3SPORT IST MORD

Der Fakt, dass mich meine Mutter belauscht hatte, kam nie zwischen uns zur Sprache, aber ich bemerkte, dass sie ab und an etwas kritisch vom Flur in mein Zimmer lugte, wenn ich spielte und mit meinen Figuren sprach. Oder wenn ich mit dem Tod, der mich gelegentlich besuchte, in eines unserer tiefgründigen Gespräche versunken war, bei denen er versuchte, mit mir hochklassige Konversation zu machen, und ich von »Star Wars« schwärmte. Meine Eltern fragten nie nach, ob ich einen imaginären Freund hatte, aber ich bin mir sicher, dass sie sich entsprechende Gedanken machten. Und weil ich mit Tod ungestört sein wollte, begann ich die Tür erst anzulehnen und ging später dazu über, sie immer zu schließen, wenn ich bei mir im Zimmer war. In gewisser Weise hatte ich damit begonnen, meine Eltern aus meinem Leben zu isolieren. Und ich hatte mich vom Tod das erste Mal zu etwas manipulieren lassen.

Tod merkte bald, dass ich mich weder für seine Analysen des Weltgeschehens interessierte noch dazu in der Lage war, ihm geistig zu folgen. Unsere Freundschaft hatte also einen schwierigen Start. Mal ganz abgesehen davon, dass wir uns in dem Moment kennenlernten, als meine Oma starb. Tod gab trotzdem nicht auf. Als wollte er meine geistige Entwicklung beeinflussen, fing er an, mir über Monate hinweg das Schachspielen beizubringen. Meinen Eltern muss ich wie ein absoluter Sonderling vorgekommen sein. Da saß ich nun in meinem Zimmer und spielte scheinbar mit mir selbst das Spiel der Könige.

Der Vorteil des Schachspiels war, dass wir uns nicht viel zu unterhalten brauchten. Die meiste Zeit verbrachten wir in schweigsamer Konzentration. Viele unserer Gespräche von damals sind mir kaum noch im Gedächtnis, vermutlich weil es größtenteils um Belanglosigkeiten ging. Tod hatte bei mir zwar das Interesse am Schach geweckt, was uns eine Grundlage für die gemeinsame Zeit gab, aber ansonsten interessierte ich mich nicht sehr für das, was er tat, und umgekehrt war es im Grunde auch nicht anders. Das Leben eines Siebenjährigen ist für jemanden, der die Jahrhunderte durchlaufen hat, wahrscheinlich eher langweilig. Außerdem teilte er meine Faszination für alles, was mit »Star Wars« zu tun hatte, nicht. Er schwärmte dagegen von einem Film, der in Kürze herauskommen sollte und sich mit dem Thema Leben und Tod beschäftigte. Als ich den Film wenige Jahre später auf Video sah, fand ich ihn total langweilig, weil Harrison Ford darin nicht so cool war wie in seiner Rolle als Han Solo in den »Star Wars«-Filmen. Später, als ich die Geschichte dann auch tatsächlich verstand, sollte sich meine Haltung ihm gegenüber jedoch grundsätzlich ändern. Der Film hieß »Blade Runner«.

Ein Mann namens Deckard, gespielt von Harrison Ford, wird darin beauftragt, ein paar künstliche Menschen, Replikanten genannt, aufzuspüren und zu töten. Diese hatten sich gegen ihre menschlichen Aufseher gewandt und sie umgebracht. Nun suchten sie ihren Schöpfer und wollten herausfinden, ob sie ihr Leben verlängern können, da ihre eingebaute Lebensspanne nicht mehr als ein paar Jahre beträgt. Deckard gelingt es tatsächlich, die meisten Replikanten unschädlich zu machen, aber Roy Batty, der Anführer der Gruppe, kann vorher noch seinen »Schöpfer« töten, nachdem dieser ihm erklärt hat, dass sein Leben nicht verlängert werden kann. Es kommt zum Showdown zwischen Batty und Deckard, in dem Deckard, mit Verlaub, seinen Arsch versohlt kriegt. Batty hat nun die Möglichkeit, Deckard umzubringen, verschont ihn aber, während er selber im Regen sitzt und stirbt. Das Ende macht einem zwei Dinge klar: Batty akzeptiert seinen Tod und hat das Leben so zu lieben geschätzt, dass er nicht einmal seinen Feind umbringen kann. Und: Kinder unter einer bestimmten Altersgrenze und Leute unter einem bestimmten Intelligenzquotienten finden das sehr, sehr langweilig.

Während ich also von den pelzigen Viechern schwärmte, die im nächsten »Star Wars«-Film vorkommen sollten, versuchte mir der Tod, einen philosophischen Film nahezulegen. Unsere Zeit war, so schien es, einfach noch nicht gekommen. Er kam zwar zu Besuchen, aber diese waren spärlich und meistens kurz. Und in zumindest einem Fall tödlich.

***

Nach dem Tod meiner Oma wurden Gerrit und ich Freunde. Das Fehlen von Großeltern auf beiden Seiten wurde so etwas wie der anfängliche Kitt, um uns zusammenzuhalten, aber bald schon fanden wir genug andere gemeinsame Interessen.

Er lebte allein mit seiner Mutter, deren Mann vor ein paar Jahren zum Zigarettenholen ging und vorsichtshalber nicht mehr nach Hause kam, weil sie ihm beinahe den letzten Nerv geraubt hatte. Gerüchteweise hatte er sich nach Tuvalu oder einer anderen Insel im Südpazifik abgesetzt, was so ziemlich dem Punkt entsprach, der am weitesten von ihr weg war. Seitdem war sie vielleicht etwas zu fixiert auf Gerrit und versuchte, ihn vor allem und jedem zu beschützen. Er durfte nur selten irgendwelche Filme sehen, geschweige denn mit einem Videospiel spielen. Da bei mir zu Hause sowohl ein Videorecorder samt vielen Filmen als auch eine Atari-2600-Spielkonsole stand, war Gerrit öfter bei mir als ich bei ihm. Sehr viel Interesse, zu ihm zu gehen, hatte ich ohnehin nicht, da seine Mutter mich mit ihrer Art irgendwie erschreckte. Damals dachte ich, dass sie gut die Hexe in »Hänsel und Gretel« spielen könnte, wenn die Geschichte verfilmt würde.

In der Schule saßen wir zunächst nicht zusammen, aber im folgenden Schuljahr änderte sich das, als wir einen neuen Klassenraum bekamen. Ohne mich groß anzustrengen, war ich ein sehr guter Schüler, Gerrit hingegen hatte immer irgendwie zu kämpfen. Mehr als einmal half ich ihm bei Klassenarbeiten oder Hausaufgaben. Wenn er irgendwas gefragt wurde und nicht zugehört hatte, weil wir gerade unter dem Tisch Klebekarten von Fußballspielern tauschten, dann murmelte ich ihm die Antwort zu, so dass der Lehrer das nicht mitbekam. Allerdings ist es nicht so, dass sie es nie bemerkt hätten. Das Dumme daran war leider, dass sie offenbar nur Gerrit auf dem Kieker hatten. Zu mir sagten sie höchstens, dass ich nicht noch die »Faulheit von anderen Schülern« unterstützen sollte. So wurden wir bei Klassenarbeiten weit auseinandergesetzt, aber wenn ich sah, dass er Probleme hatte, dann schob ich ihm schon mal Zettel zu. Einmal wurden wir dabei erwischt, das heißt, eigentlich war nur wieder einmal Gerrit dran. Während ich mir die Standardaussage anhören durfte, wurde Gerrits Mutter in die Schule zitiert, was wiederum dazu führte, dass Gerrit daheim eine ordentliche Standpauke und Hausarrest bekam. Ich vermute, dass Gerrit zu diesem Zeitpunkt ebenfalls sehr über Tuvalu nachdachte.

Jedenfalls war Gerrit daraufhin auf mich sauer, und es kam während einer Pause zu einem Streit, bei dem er sich lautstark beschwerte, dass ich ihn immer in Schwierigkeiten bringen würde. Er fing an, mich zu schubsen, ich schubste ihn zurück, der aufsichtführende Lehrer bekam das mit, und am Ende war es wieder Gerrit, der den Ärger abbekam, weil er mit der Schubserei angefangen hatte. Unser Verhältnis war danach nicht mehr ganz so freundschaftlich. Sicher, wir spielten noch miteinander, aber längst nicht mehr so oft. Es war nie mehr so wie früher. Der Nutznießer war Tod, für den ich dann wieder öfter das Schachbrett abstaubte.

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Wie ich bereits erwähnte, war ich in der Grundschule ein sehr guter Schüler. Aber meistens kompensieren gute Schüler ihre Noten dadurch, dass sie im Sport totale Nieten sind. Von dieser Regel stellte ich keine Ausnahme dar. Drei Runden um den Sportplatz zu rennen, empfand ich nicht mal unbedingt als physische Qual. Es langweilte mich einfach nur. Wenn ich die rote Tartanbahn entlangtrabte, dachte ich lediglich: »Ugh, wann ist dieser Mist endlich vorbei!« Bis heute hat sich mir nicht erschlossen, was es im Alltag hilft, wenn ich auf einer bestimmten Strecke über eine bestimmte Anzahl Hindernisse hüpfen kann. Wenn ich irgendwo Hindernisse sehe, springe ich nicht darüber, ich gehe um sie herum. Ein praktischer Verwendungszweck für die Fähigkeit, schwere Kugeln von der Schulter zu stoßen, um einen Rasen zu ruinieren, fällt mir partout auch nicht ein.

Einmal im Jahr wurden die sogenannten Bundesjugendspiele abgehalten. Man musste sprinten, einen Ball möglichst weit werfen, eine Langstrecke laufen und vermutlich noch irgendetwas tun, was ich zu verdrängen versuche. Für alles gab es Punkte und ab einer bestimmten Punktzahl eine Siegerurkunde oder, wenn man wirklich gut war, eine Ehrenurkunde. Beide waren im Grunde ein einfaches Stück Papier, was einem in keinster Weise weiterhalf. In meiner gesamten Schullaufbahn habe ich, soweit ich mich erinnere, eine einzige Siegerurkunde bekommen. Wie ich das geschafft habe, ist mir noch heute ein Rätsel.

Meine Schule hatte nur einen kleinen Sportplatz, der zwar für ein Hockeyspiel oder Ähnliches ausreichte, aber nicht, um dort größere Veranstaltungen durchzuführen oder Dinge wie Speerwurf zu trainieren. Ebenfalls eine der »brauche-ich-täglich«-Sportarten. Dafür gab es einen größeren Sportplatz, zu dem wir allerdings ein paar Minuten laufen mussten. Er war die Heimat des lokalen Fußballvereins, zu dem mich mein Vater eines Tages schleppte, damit ich mich in meiner Freizeit etwas sportlich betätigte, statt nur mit mir selbst Schach zu spielen. Meine Karriere dort beschränkte sich aber auf die eine Stunde des Probetrainings. Der Trainer sprach mich von jeglichem Talent frei, nachdem ich ihm überzeugend darlegen konnte, dass sich mir der Sinn, eine geflickte Kugel aus Leder quer über den Platz zu jagen, nicht wirklich erschloss.

Auf jeden Fall war der Platz recht groß, und die Teenager der angeschlossenen Oberschule hatten dort parallel zu unserem ihren Sportunterricht. Während die einen um den Platz liefen, konnten die anderen Bälle oder eben Speere werfen. Und wer jetzt eine Vermutung hat, was dort hätte schieflaufen können, der liegt wahrscheinlich richtig damit. Kleiner Tipp: Es hatte nichts mit Bällen zu tun.

Das Wetter konnte sich an diesem Spätsommertag nicht entscheiden, ob es regnen oder einfach nur alles grau in grau halten sollte. Unser Sportlehrer, Herr Marwig, ein äußerst unangenehmer Enddreißiger, der aus uns allen Olympiateilnehmer formen wollte, weil er selber es nur zum Lehrer gebracht hatte, ließ uns abwechselnd Runden drehen. Eine Hälfte der Jungen unserer Klasse rannte um den Platz, die andere Hälfte machte, wie er es in einem Anflug von gequälter englischer Sprache ausdrückte, »Dehning und Stretching«. Bei mir bedeutete das meistens, dass ich einfach nur auf dem Boden saß, die Beine von mir streckte und die Leute beobachtete. Gerrit saß ein paar Meter weiter, presste die Füße zusammen und tat so, als würde er seine Beine auf den Boden drücken, aber sein Gähnen deutete an, dass er wieder die ganze Nacht lang »Lustige Taschenbücher« gelesen hatte.

Die andere Gruppe hatte etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als ich am Rand der Rasenfläche plötzlich den Tod stehen sah. Wie immer hatte er sich auf den Stock des Keschers gestützt und schaute sich um. Als er mich sah, winkte er mir freundlich lächelnd zu. Ich stand auf und ging so unauffällig wie möglich zu ihm hinüber, wobei ich weiterhin Streckübungen machte, damit Marwig nicht stutzig wurde.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich, eventuell etwas zu barsch.

»Danke, freut mich auch, dich zu sehen.«

»Im Ernst, ich kann gerade nicht.«

»Ich bin nicht wegen dir hier.«

Ich wurde stutzig. »Du meinst, hier stirbt gleich einer?«

Er nickte. Die anderen Jungs hatten drei Viertel der Strecke zurückgelegt.

»Sag bloß, dass der Marwig gleich abkratzt. Das wäre zu schön, um wahr zu sein.« Sportlehrer waren mir schon immer die liebsten.

»Nein, dein Lehrer ist es nicht. Aber ich vermute, du kennst ihn.« Tod deutete auf die Jungs, die sich noch ausruhten. Ich folgte mit den Augen seinem Finger, und was ich sah, gefiel mir gar nicht.

»Gerrit?« Ein paar Augen meiner Mitschüler, darunter die von Gerrit, schauten in meine Richtung. Ich sah schnell weg und versuchte, mich zu beruhigen.

»Seine Zeit ist gekommen.«

»Was? Das kann doch gar nicht sein. Er ist gerade erst acht!«

»Deswegen kann es ihm trotzdem passieren.«

»Wie?«

Tod schaute in Richtung der Oberschüler. Deren Speere steckten kreuz und quer im Rasen, als hätte jemand talentfrei versucht, einen Haufen Zaunpflöcke aufzurichten. Mittlerweile trudelten die Jungs, die gerannt waren, nacheinander ins Ziel. Marwig hieß uns andere an die Startlinie zu gehen.

»Oh mein Gott!«, sagte ich. »Ich muss ihn irgendwie davon abhalten zu laufen.«

Marwig schaute argwöhnisch zu mir herüber, während ich zur Startposition neben Gerrit ging, der mich ebenso beäugte. Die Warnungen, die Tod mir nachbrüllte, hörte ich nicht. Wollte ich nicht hören.

Marwig pfiff. Wir liefen los. Die Oberschüler sammelten gerade ihre Speere wieder ein. Gerrit war mir etwas voraus, und ich gab Gas, damit ich ihn wieder einholte.

Keuchend zischte ich ihm zu: »Lass dich auf den Boden fallen und tu so, als ob du dir den Fuß gezerrt hast oder so.«

Gerrit runzelte nur die Stirn. »Was, warum?«

»Vertrau mir!«, sagte ich, aber Gerrit lief unbeirrt weiter. Die Oberschüler nahmen nun aufs Neue ihre Positionen ein. Tod gestikulierte, aber ich ignorierte ihn.

»Gerrit, lass dich fallen, oder es wird was Schreckliches passieren!« Ich sprach in Filmklischees und fasste ihn an die Schulter. Er schüttelte meine Hand ab und wurde böse.

»Lass mich in Ruhe. Ich hatte schon genug Ärger wegen dir.« Er legte noch einen Zahn zu. Meine Seiten schmerzten bereits, aber auch ich erhöhte mein Tempo und zog an seiner Linken vorbei, in der Hoffnung, ihn dadurch vom Platz und den Speeren abzulenken. Ich wollte ihn nach rechts drängen, aber er schob mich immer wieder zurück. Er wurde nur noch wütender, und schließlich rempelte er mich so stark, dass ich über die Rasenkante stolperte und er gleich mit.

Der Moment, in dem wir fielen, war der, in dem der Oberschullehrer seinen Schützlingen sagte, dass sie werfen können. Am rechten Rand der Werferreihe stand der unglückliche und untalentierte Hendrik Vogel, an dessen Namen ich mich so gut erinnern kann, weil er an diesem Tag ein Trauma verpasst bekam, von dem er sich nie richtig erholte. Er war einer dieser Schüler, die eigentlich gar nichts richtig können, außer essen vielleicht. Dinge geradeaus zu werfen zählte jedenfalls nicht zu seinen Stärken.

Als Gerrit und ich fielen, sah ich aus den Augenwinkeln den Speer direkt in unsere Richtung fliegen. Überzeugt davon, dass ich von ihm im nächsten Moment getroffen werde, schloss ich meine Augen, glücklich darüber, dass ich Gerrit gerettet hatte. Alle Sorgen fielen in diesem Augenblick von mir ab, obwohl die Sorgen, die ich als Siebenjähriger so hatte, wirklich kaum der Rede wert waren. Die Gewissheit, etwas Gutes getan zu haben und gleichzeitig zu wissen, dass es nun mit mir zu Ende ging … nun, sagen wir, ich hatte Frieden mit mir gemacht.

In meiner Erinnerung spielt sich alles wie in Zeitlupe ab. Wir schlugen auf dem Boden auf, und kurz darauf hörte ich einen zweiten Aufschlag, gefolgt von einem hilflosen Atemgeräusch. Ich öffnete die Augen und sah Hendrik, wie er mit offenem Mund und ausgestreckten Armen auf dem Rasen stand. Ich drehte mich langsam um, meinen eigenen Leib nach dem Fremdkörper absuchend, der irgendwo in mir stecken musste. Aber ich fand nichts. Nachdem ich mich herumgedreht hatte, sah ich den Speer. Die weiße Metallstange ragte aus Gerrits Brust. Die Stelle, an welcher der Speer eingedrungen war, färbte sich rot, und Gerrit lag mit aufgerissenen Augen da. Er japste nach Luft. Zwei-, drei- viermal. Dann war es vorbei. In der Ferne hörte ich jemanden schreien. Leute rannten auf uns zu, aber ich nahm das nur verschwommen wahr.

Aus Gerrits Mund kletterte ein farbenfroher Schmetterling, entfaltete seine Flügel und stieg in die Luft. Es kam mir fast so vor, als hätte er sich noch einmal umgedreht und mich angeschaut, aber ehe ich meine Hand nach ihm ausstrecken konnte, umfing der Kescher des Todes ihn.

»Ich habe dich gewarnt, dass du es nicht verhindern kannst.«

Was ich gezielt überhört hatte, war eingetroffen. Und ehe ich noch irgendetwas entgegnen konnte, war Tod verschwunden, und die anderen umzingelten Gerrit und mich.

Kapitel 4HEXE

Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass nach dem Vorfall auf dem Sportplatz die Hölle hereinbrach. Der Lehrer von der Oberschule und Herr Marwig versuchten, Gerrit wiederzubeleben, was sich aufgrund des Speeres, der in seiner Brust steckte, eher schwierig gestaltete. Für mich war es offensichtlich, dass das nichts bringen würde. Die Feuerwehr kam, und über Gerrit wurde gleich ein Laken ausgebreitet, was Gerrits Leichnam wie ein Zelt aussehen ließ. Es verlieh dem Ganzen eine surreale Note. Selbstverständlich war die Polizei auch bald da, machte Fotos vom »Tatort« und befragte alle, was sich zugetragen hatte. Etliche Kinder brauchten psychologische Betreuung, obwohl sie gar nicht direkt betroffen waren. Hendrik war natürlich mit den Nerven völlig am Ende, und soweit mir bekannt ist, hat er später noch lange Psychopharmaka nehmen müssen.

Ich selbst blieb, nach dem anfänglichen Schock, relativ ruhig. Meine Rolle in dieser Tragödie war mir völlig klar. Ich hatte meinen besten Freund umgebracht, aber die Schuld gab ich nicht mir allein.

Als der Fall von der Polizei abgeschlossen wurde, wurde er eindeutig als Unfall klassifiziert. Die Lehrer bekamen eine Abmahnung wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Von diesem Zeitpunkt an wurde festgelegt, dass Sportarten wie Speerwurf nicht mehr trainiert werden durften, wenn sich parallel dazu noch andere auf dem Platz befanden. Nicht, dass irgendwer überhaupt noch Lust hatte, Speerwurf zu trainieren.

Weder gegen Hendrik noch gegen mich wurden Vorwürfe erhoben. Nicht vonseiten der Justiz zumindest. Bei Schülern, Lehrern und Eltern sah das ganz anders aus. Meine lieben Mitschüler hatten alle bestätigt, dass zwischen Gerrit und mir während des Laufs ein Streit ausgebrochen war, der dann zu dem »Unfall« führte. Man zwang mich, einen Psychiater aufzusuchen, der beurteilen sollte, ob meine Aggressivität gegenüber Gerrit auf dem Sportplatz eine Gefahr für andere wäre. Dumm, wie ich war, erzählte ich, dass ich Gerrit vor dem leibhaftigen Tod hatte bewahren wollen. Das brachte mir ein paar Lacher ein und die Diagnose, dass ich eine rege Phantasie habe. Der Psychiater fand jedenfalls, dass ein imaginärer Freund in meinem Alter vielleicht etwas ungewöhnlich, ich aber ansonsten ein relativ normales Kind für mein Alter wäre. Einige der Eltern sahen das allerdings anders. Etliche wollten ihre Söhne und Töchter nicht mit dem »Killer-Kind« in einer Klasse wissen, und so wurde meinen Eltern nahegelegt, dass ich doch die Schule wechseln sollte.

Ein paar Tage lang dachten meine Eltern darüber nach, ob wir woanders hinziehen sollten, irgendwohin, wo keiner wusste, was vorgefallen war. Aber meine Mutter wollte sich keine neue Arbeit suchen, und mein Vater wollte das ohnehin lieber aussitzen, schließlich fand er nicht, dass ich etwas Falsches getan hätte. Also wurde diese Idee verworfen, und ich kam lediglich an eine neue Schule. Mitten in meinem dritten Schuljahr hatte ich also das zweifelhafte Vergnügen, mich an eine neue Umgebung gewöhnen zu müssen. Lag die alte Schule lediglich fünf Minuten zu Fuß von daheim entfernt, durfte ich jetzt jeden Morgen knappe 30 Minuten laufen. Das war zwar weniger bequem, aber nicht mein Hauptproblem. Da wir nicht umzogen, waren die Schüler und Lehrer an der neuen Schule verständlicherweise nicht völlig darüber im Unklaren, warum ich dort war. Ich musste mir nicht so viele dumme Sprüche wie an meiner alten Schule anhören, es war aber trotzdem schwierig, neue Freunde zu finden.

Noch schlimmer als mein Mangel an sozialer Interaktion war der wütende Sturm, der in Form von Gerrits Mutter über uns hereinbrach. Sie drohte meinen Eltern, dass sie uns verklagen würde, bis wir nur noch am Bahnhof Zoo um Almosen betteln könnten. So ihre blumigen Worte, die immerhin nicht darauf hinausliefen, dass sie mich verhexte, was ich zunächst befürchtet hatte.

Zum Glück für meine Eltern, wenn auch nicht für mich, hatte sie sich nicht unter Kontrolle. In der Zeit zwischen Unfall und Schulwechsel lief ich ihr über den Weg, als sie gerade zur Direktorin wollte, um dort erneut Stimmung gegen mich zu machen. Sofort brüllte sie mich an, dass ich ihren Sohn getötet hätte. Ich entgegnete, dass dies stimme und mir dies auch sehr, sehr leidtue. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlug sie mir derart heftig ins Gesicht, dass ich ein paar Meter durch den Raum segelte, direkt in einen Glasschaukasten. Es war eine derartig imponierende physikalische Leistung dieser recht schmalen Person, dass ich noch Jahre davon überzeugt war, dass es doch mit Hexerei zugegangen sein musste.

Zwei Lehrer, die zufällig auf dem Gang standen und Zeugen ihres Angriffs wurden, hielten sie daraufhin fest, um sie daran zu hindern, mir noch mehr anzutun. Ein Rechtsstreit stand danach nicht mehr zur Debatte und wenn, dann höchstens gegen sie.

Ab und an sah ich sie noch zufällig auf der Straße, allerdings hielten sowohl sie als auch meine Eltern gebührend Abstand. Einige Zeit nach dem Vorfall, bei dem sie mich geschlagen hatte, wurde innerhalb von ein paar Wochen immer wieder mal das Auto meiner Eltern zerkratzt. Jemand hatte offenbar großen Spaß daran, seinen Schlüssel der Länge nach vom Radkasten des Vorderrades bis hinten zum Tankdeckel zu ziehen. Beweisen konnten wir es nie, aber ich bin sicher, dass es dieser Schrecken meiner Alpträume gewesen ist. Jedenfalls stoppten die Kratzer, als sie die Stadt und damit auch mein Leben verließ.

***

Tod ließ mit einem Besuch auf sich warten. Vermutlich ahnte er, dass ich nach der Nummer auf dem Sportplatz nicht gut auf ihn zu sprechen wäre. Sicher, er hatte mich gewarnt, und ich hatte beschlossen, ihn zu ignorieren, aber mein Freund war gestorben, und das in einem Alter, in dem man an den Tod noch nicht einmal denken sollte.

Unsere Wohnung lag im äußersten Westen Berlins in dem beschaulichen Bezirk Spandau. Damals war der Kalte Krieg noch in vollem Gang. Gorbatschow und seine Politik der Perestroika sollten uns erst in ein paar Jahren beglücken. Daher nahm die Berliner Mauer zu diesem Zeitpunkt noch einen nicht unerheblichen Teil unserer Bezirksgrenze ein. Von unserer Wohnung konnte man auf die Grenzanlagen schauen. Zu Fuß war die Mauer nur einige hundert Meter entfernt, und jedes Mal, wenn wir eine Radtour durch den Wald machten, kamen wir früher oder später daran vorbei. In der Nacht konnte man deutlich die orangefarbenen Leuchten des Todesstreifens erkennen, die sich, so weit das Auge reichte, nach Nord und Süd erstreckten, um jedem Republikflüchtling die Illusion zu nehmen, er könne sich in der Dunkelheit davonstehlen. Trotzdem waren auch ab und an Schüsse zu hören. Mein Vater hatte mir schon früh erklärt, dass wir zwar überall hinfahren oder hinfliegen dürften, aber die Menschen in der DDR nicht. Verwandte meiner Oma kamen sie früher ab und an besuchen und durften das, weil sie bereits Rentner waren. Normalen Jugendlichen oder Erwachsenen war es jedoch verboten, hin und her zu reisen. Die, denen das nicht gefiel und die beschlossen hatten zu fliehen, mussten den verminten Todesstreifen durchqueren, während auf sie geschossen wurde. Soweit ich weiß, kam es in dem Grenzabschnitt, dem wir am nächsten waren, nie zu Todesfällen, aber damals nach Gerrits Tod hoffte ich fast, dass irgendwer bei der Flucht sterben würde, damit Tod in der Nähe wäre und mich eventuell besuchen käme. Schließlich wollte ich ihm mal richtig die Meinung geigen. Mein Wunsch ging glücklicherweise nicht in Erfüllung, aber nach zwei Wochen ließ er sich dann doch, auch ohne Grenztote, endlich blicken.

Ich hatte mich, wie oft zu dieser Zeit, in meinem Zimmer vergraben und spielte Schach gegen mich selbst, eine Tätigkeit, die eigentlich nur Superschurken oder totalen Losern zustand. Da ich keine Ambitionen hatte, die Weltherrschaft an mich zu reißen, war relativ klar, zu was ich tendierte. Tod schritt durch das Balkonfenster, als wäre es Luft, und plazierte sich mit einem Schwung seines Umhangs auf meinem Schreibtischstuhl, als wäre es ein Thron.

»Hallo«, sagte er und starrte mich unverwandt an. Ich antwortete lediglich mit einem Grummeln.

»Wie ich sehe, hegst du immer noch einen Groll auf mich, obwohl nicht ich es war, der den Fehler gemacht hat.«

»Gerrit hätte nicht sterben sollen. Er war noch viel zu jung!«

»Er war vielleicht jung, aber trotzdem war seine Zeit gekommen. Du kannst nichts dagegen unternehmen. Der Tod holt sich jeden, früher oder später.«

»Dann hättest du ihn eben nicht holen dürfen.«

Tod seufzte. »So funktioniert das nicht.«

»Warum nicht?«

»Auch ich bin an gewisse Regeln gebunden. Ich kann nicht einfach jemanden am Leben lassen, nur weil ich ihn besonders sympathisch finde. Ich kann auch niemanden mitnehmen, weil er mir besonders unsympathisch ist. Allerdings ist mir das größtenteils ohnehin gleich.«

»Dir ist es egal, dass Gerrits Mutter gemein zu mir ist und die Kinder in der Schule nicht mehr mit mir spielen wollen?«

Er beugte sich nach vorne. »Was genau ärgert dich denn eigentlich? Dass dein Freund tot ist oder dass dich die Leute nicht so mögen, wie du es gerne hättest?«

Ich war in der Defensive. Und er hatte mir etwas zum Nachdenken gegeben. »Ich will Gerrit zurück. Und ich will, dass mich die Leute wieder mögen.«

»Gerrit kommt nicht mehr zurück. Und an deinem anderen Wunsch wirst du wohl arbeiten müssen.«

»Aber warum musste er denn sterben? Er war erst acht! Leute sollten nicht sterben müssen. Hat dir Gott das befohlen?«

Tod lehnte sich wieder zurück und kratzte sich die Stirn. »Hatte ich dir die Sache mit Gott nicht schon einmal erklärt? Wie auch immer, ich habe eine Aufgabe, und die erledige ich, so gut ich kann. Es liegt nicht in meiner Entscheidungsgewalt, wer stirbt oder wann er das tut. Du kannst mir dafür die Schuld geben oder es lassen. Aber ich schätze, du brauchst noch etwas Zeit, um das zu verstehen.«

»Was soll das heißen?«

»Ich werde dich für einige Zeit nicht mehr besuchen. Ein paar Jahre vielleicht. Wir werden sehen.«

»Was?«

»Glaube mir, es ist besser so. Soviel ich mitbekommen habe, hast du diesem Hirndoktor erzählt, dass du Gerrit vor mir retten wolltest.«

»Ja«, sagte ich.

»Das war nicht unbedingt die schlaueste Entscheidung, oder? Er hätte dich deswegen auch als verrückt einstufen können.«

»Aber es war die Wahrheit!«

»Die Wahrheit liegt immer ein wenig im Auge des Betrachters. Wie auch immer, ich denke, dass du noch nicht wirklich bereit bist. Jedenfalls ist es vermutlich besser, wenn du mich vorerst vergisst.«

»Aber das will ich nicht!«

Tod lächelte. »Als ich vorhin durch das Fenster trat, da hättest du doch am liebsten auf mich eingeprügelt, stimmt’s? Woher der Sinneswandel?«

Ich brauchte einen Moment, bis ich antworten konnte. »Ich will nicht noch einen Freund verlieren.«