3,99 €
Tilly Blich beseitigt nicht nur Schmutz – sie deckt auch mörderische Geheimnisse auf!
Tilly Blich könnte eine Pause gebrauchen. Doch als Eigentümerin der Reinigungsfirma »Plitz und Blank« bleibt ihr kaum eine ruhige Minute – und jetzt droht auch noch die Steuerprüfung. Dass ihr Vorgänger so urplötzlich verschwunden ist, macht die Sache nicht einfacher. Tillys nächster Auftrag führt sie zur Schule von Untertannbach. Doch gegen den ermordeten Direktor in der Sporthalle kommt auch das stärkste Putzmittel nicht an. Kriminalhauptkommissar Stubs sieht seine Chance, es Tilly zu zeigen, und ein Wettrennen um Ermittlungsergebnisse beginnt. Schnell wird klar, dass es hinter den Kulissen der Schule gewaltig brodelt: Geheimnisvolle Affären, übermotivierte Eltern und unterbezahlte Lehrer halten Tilly und ihre Helfer Gerdy, Leon und Antonia auf Trab. Werden sie es schaffen, den Täter zu entlarven, bevor er erneut zuschlägt?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eigentlich wollte Tilly Blich bloß ein bisschen Ordnung ins Chaos bringen – in ihrem Reinigungsbetrieb Plitz & Blank wie auch in ihrem stressigen Alltag. Doch statt Steuerunterlagen zu sortieren, stolpert sie bei ihrem nächsten Auftrag an der Schule von Untertannbach über eine Leiche: Der Direktor liegt ermordet in der Sporthalle – und kein Allzweckreiniger der Welt kann hierbei noch helfen. Kriminalhauptkommissar Stubs ist sofort zur Stelle und mindestens so ehrgeizig wie misstrauisch. Doch Tilly, unterstützt von ihrer unerschrockenen Crew aus Gerdy, Leon und Antonia, lässt sich nicht so leicht aus dem Weg drängen. Denn unter der sauberen Oberfläche der Schule brodelt es gewaltig: Heimliche Liebschaften, überfürsorgliche Eltern und Lehrer am Rande des Nervenzusammenbruchs liefern mehr als genug Motive. Jetzt heißt es: putzen, spionieren, kombinieren – bevor der Täter erneut zuschlägt.
Andreas Suchanek (* 1982) verfasste bereits in Jugendjahren seine ersten Geschichten und Romane. Nach dem Studium der Informatik begann er damit, seine Geschichten hauptberuflich zu veröffentlichen. Seinen bisher größten Erfolg hatte Suchanek mit der Urban-Fantasy-Reihe »Das Erbe der Macht«, die mit dem Deutschen Phantastik Preis und dem LovelyBooks Leserpreis ausgezeichnet wurde. Er ist für seine gemeinen Twists bekannt.
Ein blitzsauberer Mord
ANDREAS SUCHANEK
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Originalausgabe 11/2025
Copyright © 2025 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Redaktion: Nina Bellem
Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung von istockphoto / Say-Cheese, FinePic®, München
Satz: Uhl + Massopust, AalenIllustration: Alexander Gröber
ISBN 978-3-641-31066-0V001
www.heyne.de
Peinlicher konnte ein erster Auftritt nicht verlaufen! Tilly ärgerte sich immer noch über Leon, der ihre Putzanweisungen vollkommen ignoriert hatte. Während sie die Bremse des Putzwagens mit einem Tritt einrasten ließ, formulierte sie die Standpauke in ihrem Kopf schon vor. Der blaue Müllsack war gefüllt mit dem Abfall aus dem Büro des Sportlehrers, das direkt an die Turnhalle des Gymnasiums grenzte.
Sie blickte sich erstmals um. Reck und Barren waren noch aufgebaut, hier hatte wohl jemand vergessen, die Sportgeräte wegzuräumen.
In der Halle roch es nach verschwitzten Sportklamotten und Gummimatten, gemischt mit etwas, das sie nicht einordnen konnte. Tilly war froh, dass sie ihren kleinen Basset Muffin nicht mitgebracht hatte. Wahrscheinlich hätte er hier erst einmal überall sein Revier markiert. Ein ganz schlechtes Vorbild für die jüngeren Schüler.
Dummerweise hatte sie jedoch einen Leon dabei, der das gerne übernahm. Nicht das Revier markieren, aber die Sache mit dem schlechten Vorbild. Sie und er würden später eine wirklich ernsthafte Unterhaltung führen müssen.
Tilly griff nach dem Lappen und machte sich an die Arbeit. Wieder stieg ihr der Geruch, den sie nicht recht einordnen konnte, in die Nase. Etwas Vertrautes, doch was? Seitlich der Turnhalle befanden sich Abstellräume. Drei davon waren verschlossen, aber einer stand offen. Sie kannte solche Räume noch aus ihrer eigenen Schulzeit. Man musste sich bücken und einen Hebel am Boden ziehen, dann öffnete sich die Tür und wurde wie bei einer Garage nach oben geschoben. Barren und Reck hätten da wohl hineingepasst. Tilly war bereit, auch die Geräte zu putzen, aber sie würde sie auf keinen Fall wegräumen.
Sie nahm die Sprühflasche und wischte alle Flächen gründlich ab. Da sie heute zum ersten Mal in der Schule arbeitete, musste das Ergebnis perfekt sein. Es hätte sie nicht gewundert, wenn ein paar Eltern hereingeschlichen kämen, um das zu überprüfen.
»Wer wird heute noch freiwillig Lehrer?« Sie blickte nach rechts, in der Erwartung, Muffin vorzufinden, der sie treuherzig ansah und ihr zustimmte, aber der Platz war leer.
Wie schnell man sich doch an einen Hund gewöhnen konnte. Prompt vermisste sie ihn.
Tilly schüttelte den Kopf und wandte sich der offenen Abstellkammer zu. Kam dieser seltsame Geruch von dort? Es roch nach Minze und Zitrusfrüchten mit einem Hauch von Metall. Fast wie der Kirschsaft, den ihre beste Freundin Antonia einmal wegen Eisenmangels hatte trinken müssen. Das Zeug schlug total auf den Magen.
Wieder mit dem Wischmopp ausgerüstet, betrat Tilly den Raum. Heute brauchte sie eine Eins mit Sternchen in Sauberkeit.
Sie wischte, umrundete eine breite blaue Matte …
… und erstarrte in der Bewegung.
Vor ihr lag ein Mann, die Augen im Tod weit aufgerissen.
»Nicht schon wieder.«
Die Eins mit Stern konnte sie vergessen.
Ein Tag zuvor
In Gedanken versunken, erreichte Tilly die Eingangstür ihrer Firma Plitz & Blank. Von außen sah das Büro aus, als wäre es schon in den Sechzigerjahren geschlossen worden. Von innen leider auch.
Tilly ergriff die Klinke, drückte sie nach unten und knallte mit Schwung gegen die Tür. Lautlos fluchend rüttelte und presste sie sie, bis diese weit genug geöffnet war, um sich durch den Spalt zwängen zu können. Ein kleines pelziges Wesen huschte zwischen ihren Beinen hindurch.
Wenigstens roch es hier drinnen nicht mehr muffig. Gemeinsam mit Leon hatte sie einen ganzen Nachmittag lang ihr Reich in Angriff genommen, den Boden gewischt, die Fenster geputzt und mit dem Wischmopp jede Bakterienkolonie vertrieben.
»Guten Morgen«, wurde sie von Gerdy begrüßt.
Wie immer war ihre neue Sekretärin schon da, eine dampfende Tasse Kaffee stand bereit und auf einem Teller lag ein Stück selbst gebackener Kuchen.
»Du weißt doch, dass du nicht so früh hier sein musst, oder?« Tilly lehnte sich gegen die Tür, bis sie sich schloss.
Mit einem Schritt war sie beim Tresen, klappte den Teil mit den Scharnieren hoch und trat aus dem ehemaligen Besucherbereich in den Hauptraum. Die Klappe schloss sie hinter sich wieder.
Muffin kam aus der Küche zurück und setzte sich mit vorwurfsvollem Blick vor Gerdy. Sie begann mit der Kraulroutine. »Es tut mir leid, aber du bekommst keinen Kuchen. Das ist nicht gut für kleine Bassets.« Erst dann wandte sie sich Tilly zu. »Ich bin Frühaufsteherin, ich sitze morgens gerne hier und genieße die Ruhe. Ein wenig Stricken, dann einen Krimi lesen.«
Der Kaffee duftete fantastisch, genau wie der Apfelkuchen. »Du hast recherchiert, gib’s zu.«
Gerdy wurde rot. »Nur ein bisschen.«
»Man sollte meinen, wir hätten nach dem letzten Mord genug zu tun.«
Eine Woche lang hatte die Presse tagtäglich über die Ereignisse berichtet, die direkt nach Tillys Ankunft aus Köln zu mehreren Morden in Untertannberg geführt hatten. Gemeinsam mit Leon, Gerdy und Kriminalkommissarin Sarah Kraft war es Tilly gelungen, den Fall aufzuklären. Dabei hatte sie sich den örtlichen Kriminalhauptkommissar zum Feind gemacht, der sie bis zuletzt für die wahre Täterin hielt.
In dem ganzen Chaos aus Interviews, der Sorge um den angekündigten Steuerprüfer und ihrer emotionalen Achterbahnfahrt wegen Sascha – seines Zeichens Hundezüchter und Dreitagebart tragender Hottie – hatte sie keine Zeit gehabt, dem großen Rätsel mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Wie sonst sollte sie ein Kuvert ihres Vorgängers bezeichnen, das dieser auf der Unterseite eines Schreibtischs hinterlassen hatte? Der Inhalt war höchst mysteriös.
Gerdy grinste verschmitzt. »Komm mit.«
Ohne abzuwarten sprang sie auf und eilte hinaus, Muffin gleich hinterher.
Tilly überlegte, ob sie den Kuchen oder die Tasse Kaffee mitnehmen sollte, und entschied sich schlussendlich für das flüssige Koffein. Montage neigten dazu, eine gewisse Eigendynamik zu entwickeln, die sie nur mit ausreichend Kaffee überstand.
Es gab zwei Ausgänge aus dem Hauptraum. Einer führte in die Küche, der andere auf den Flur.
Gerdy nahm den zweiten und ging an dem Abgang zum Keller vorbei zu einer der besseren Abstellkammern.
Tilly trat hinter ihr ein. »Wow. Was ist hier passiert? Und was ist das?«
Der Raum war einer Generalüberholung unterzogen worden, das Gerümpel verschwunden. Stattdessen stand gegenüber der Tür eine Stehtafel, an die alles Mögliche gepinnt und mit Filzstiften geschrieben worden war. Daneben warteten ein Sofa und zwei Sessel. Es gab ein Hundekörbchen für Muffin und auf einem Beistelltisch eine Senseo-Kaffeemaschine.
»Das ist unser Mörderboard für den offenen Fall.« Gerdy nickte gewichtig. »Ich habe alle Unterlagen zum letzten Ereignis in einen Ordner gelegt.« Sie deutete auf einen schmalen Aktenschrank an der Seite. »Wir können jederzeit Einsicht nehmen. Oder alles an die Zeitung schicken.« Sie zwinkerte verschmitzt.
»Wie hast du das gemacht?«
»Leon hat mir geholfen.«
Tilly spürte eine ungewohnte Wärme, als sie an ihn dachte. Der Neunzehnjährige war ursprünglich von seinen Eltern dazu verdonnert worden, hier zu putzen, als Strafe dafür, dass er ihr Auto gegen die Wand gefahren hatte. Doch es stellte sich heraus, er war es gar nicht gewesen, sondern sein damaliger Freund. Leon hatte die Schuld auf sich genommen. Seine Lieblingsbeschäftigung war aber nicht das Putzen, sondern sich mit anderen attraktiven Jungs zu verabreden. Meistens zum Knutschen.
Inzwischen verbrachte er freiwillig einen Großteil seiner Freizeit hier, um beim Putzen zu helfen und rumzuhängen, wie er es nannte.
Tilly trat näher an das Brett heran, wo Gerdy alles zum aktuellen ungelösten Rätsel angebracht hatte. In der Mitte hing der Briefumschlag, der vor zwei Wochen aufgetaucht war. Den hatte Tillys Vorgänger, der verschwundene Tim Plitz, unter die Schreibtischplatte geklebt. Darin befand sich ein zusammengefalteter Zettel mit einer handschriftlichen Notiz:
Wenn ich verschwinde, benutze den Schlüssel.Vielleicht kannst du mich retten.Timothy.
Außerdem war ein Metallschlüssel aus dem Umschlag herausgefallen. Auch diesen hatte Gerdy mit einer Reißzwecke an der Tafel befestigt.
Tilly sah ein Bild von Tim Plitz, dem Namensgeber ihrer Firma Plitz & Blank. Seine Ex-Frau, Dorothea Pelz, hatte diese nach seinem Verschwinden an sie verkauft.
Herr Plitz war ein Mann in den Vierzigern mit kurzen dunklen Haaren und einem Dreitagebart.
Bevor sie etwas sagen konnte, ertönte der vertraute Rums an der Ladentür.
»Das muss Leon sein«, sagte Tilly.
»Montags knallt er immer gegen die Tür«, kommentierte Gerdy. »Von Dienstag bis Freitag ist er wach genug, um sie zu öffnen. Da seid ihr euch ähnlich.«
Ein Fluchen ertönte, die Tür wurde wieder zugeschlagen, kurz darauf surrte die Kaffeemaschine in der Küche. Teller und Besteck klirrten. Schlurfende Schritte.
Leons brauner Wuschelkopf erschien, natürlich perfekt gestylt. Trotz der Müdigkeit lag ein Lausbubenglanz in seinen Augen. Da die erste Schulstunde kurz bevorstand, trug er ein modisches Hemd, Jeans und Turnschuhe. »Guten Morgen.«
»Wünsche ich dir auch. Tolle Arbeit.« Tilly deutete in den Raum.
Leons Wangen färbten sich dezent rot, er zuckte aber lediglich cool mit den Schultern. »Jo.«
Tilly verdrehte die Augen. »Hatten wir das nicht besprochen?«
Ein Grinsen breitete sich auf Leons Gesicht aus. »Jo.«
»Iss deinen Kuchen.«
»Wie Eure königliche Sauberkeit befiehlt.« Und schon stopfte er sich die Backen voll und erinnerte dabei an einen Hamster.
Muffin umkreiste Leon wie ein mutierter Piranha, bevor er sich auf die Hinterbeine setzte und den Jungen anstarrte.
»Manchmal ist das unheimlich«, kommentierte der.
Vorsichtig wurde der Teller abgestellt und stattdessen die Kaffeetasse wieder aufgenommen. Genüsslich schloss Leon die Augen.
»Hast du inzwischen etwas herausgefunden?«, fragte Tilly an Gerdy gewandt.
Die schüttelte den Kopf. »Tim Plitz ist einfach verschwunden, seine Frau ist davon ausgegangen, dass er sich mit seiner neuen Freundin den Traum von Thailand erfüllt hat. Für weitere Informationen müssten wir Frau Pelz befragen.«
»Können wir sicher sein, dass der Brief an sie adressiert war?«
Gerdy schüttelte den Kopf. »Die beiden haben sich monatelang gestritten. Wenn der Tim Plitz den Brief danach geschrieben hat, hätte ihn jemand anderes bekommen sollen. Ich habe leider weder eine Ahnung, wer diese Person sein, noch wozu der Schlüssel passen könnte.«
Tilly trat direkt vor das Mörderboard, nahm ihn in Augenschein. »Zu groß für ein Schließfach. Möglicherweise eine Tür oder Garage.« Sie betrachtete die kaum leserliche Nummer, die in das Metall gestanzt worden war. »Muss älter sein.«
»Leider kann man nicht mehr alle Zahlen darauf erkennen«, mischte sich Leon ein. »Ich habe sie zur Probe in die Suchmaschine eingegeben, aber nichts.« Er blickte auf seine Finger und ließ die Gelenke knacken.
»War das mit der Tastatur so schwer, dass du jetzt Muskelkater hast?«, neckte Tilly.
»Das kommt vom Sport.« Leon schnaubte. »Wir müssen ab sofort beim Putzen der Turnhalle helfen, weil unsere alte Putzfrau gehen musste. Ihre Putzmittel waren nicht biologisch abbaubar, wie eine der Mütter rausfand.«
Tilly blinzelte.
Gerdy starrte Leon an.
»Was ist denn?«, fragte er und erkannte kurz darauf den Grund des Starrens. »Nein! Auf gar keinen Fall. Das ist oberpeinlich.«
Gerdy stürmte bereits aus dem Zimmer.
»Nein!«, rief Leon ihr hinterher.
»Wir haben demnächst eine Steuerprüfung und wahrscheinlich eine saftige Nachzahlung zu erwarten. Da ist jeder Cent willkommen.«
Außerdem hatte sich herausgestellt, dass vorübergehender Ruhm zwar zu vielen Interviews, aber nicht zu mehr Putzjobs führte.
»Gerdy, wehe!« Leon lief ihr hinterher.
Tilly schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Als sie sie wieder öffnete, war der Kuchenteller auf der Kaffeetafel leer. An Muffins Mundwinkel hing ein einsamer Krümel auf Schlagsahneresten.
»Warum komme ich mir vor, als hätte ich einen Kindergarten eröffnet?« Sie funkelte den Welpen so böse an, wie sie nur konnte. »Teller auf den Tischen sind tabu!«
Der Schwanz wedelte, der ganze Hund fiel in einem plötzlichen Schwächeanfall auf den Rücken und reckte den Bauch in die Höhe.
»Das glaubst du doch selbst nicht.« Tilly verschränkte die Arme und widerstand unter Aufbietung all ihrer Willenskraft dem Drang, Muffin zu kraulen.
Ihr Blick fiel wieder auf das Bild von Tim Plitz auf dem Mörderboard. Über ihren Vorgänger wusste sie nichts. Wer war er gewesen? Vielleicht lag die Antwort auf die Frage nach seinem Verbleib einfach nur in der Flucht vor dem Alltag. Der Umschlag konnte alt sein, längst vergessen. Aber Tilly wollte auf Nummer sicher gehen. Es war höchste Zeit, Sarah einzuweihen. Möglicherweise konnte sie als Polizistin ein paar Kollegen auf dem kleinen Dienstweg fragen, ohne dass Stubs es merkte.
Bei dem Gedanken an den Kriminalhauptkommissar, der ihr das Finanzamt auf den Hals gehetzt hatte, wurde sie sofort wieder wütend. Nur gut, dass sie in Zukunft nichts mehr mit ihm zu tun haben würde!
Tilly ging zurück in den Hauptraum ihrer Firma.
Leon rüttelte gerade wütend an der Tür, verkündete, dass er jetzt zum letzten Mal als angesehener Typ in seiner Clique in die Schule gehen würde, und war auch schon draußen.
»Haben wir den Job?«, fragte Tilly verdutzt.
»Morgen ist Probeputzen«, sagte Gerdy zufrieden. »Außerdem müssen wir einen Zettel mit allen Inhaltsstoffen der Putzmittel, die wir benutzen, einreichen. Weißt du zufällig, ob die vegan sind?«
Tilly erwiderte Gerdys verdutzten Blick. »Wir wollen das Zeug doch nicht zum Trinken am Kiosk verkaufen, das sind Reinigungsmittel.«
»Die Frau Lotz – das ist die Sekretärin – klang auch etwas genervt bei der Frage. Vielleicht bringst du ihr ein Stück von meinem Kuchen mit.«
Tilly seufzte schwer. »Schick ihnen alles, was sie brauchen. Ich werde morgen versuchen, Leon zu besänftigen. Nach der Schule ist sowieso kaum noch jemand da.«
»Der beruhigt sich auch wieder. Er ist doch ein Teamplayer.«
»Und dafür bin ich dankbar.« Tilly ging zurück an ihren Tisch. »Also, irgendwelche Änderungen im Programm für heute?«
»Frau Stoffelich hat dich für zwei Stunden gebucht, wahrscheinlich diesmal wirklich zum Putzen.«
Beim letzten Mal hatte die umtriebige Kioskbesitzerin sie Autogramme schreiben lassen. Da Tilly zu dem Zeitpunkt noch Mordverdächtige war, verkauften die sich auf diese Weise aufgemotzten Zeitungen hervorragend. Es hätte sie nicht gewundert, wenn Frau Stoffelich die Zeitungen kurzerhand zu einem Hardcover-Sammelband verarbeitet und mit Farbschnitt herausgebracht hätte. Das war momentan ein Trend auf dem Buchmarkt.
»Und nachmittags bleibt es beim Bürgerbüro?«, fragte Tilly.
»Ich habe sicherheitshalber nachgefragt. Bis der neue Bürgermeister gewählt ist, bleiben die bestehenden Verträge, wie sie sind. Danach wird alles neu evaluiert.«
»Sie müssen mich nicht lieben, nur bezahlen«, sagte Tilly. »Dann wollen wir uns mal auf den Einsatz vorbereiten, Muffin, einverstanden?«
Eine Stunde später machte sie sich auf den Weg.
Der Tag verlief ereignislos, doch Tilly hing ihren Gedanken nach. Seit sie hier in Untertannberg angekommen war, hatte sich ihr Leben in eine Achterbahnfahrt der Gefühle verwandelt.
Sie schlenderte die Straße entlang, die Dämmerung wurde langsam zur Dunkelheit. Muffin schnüffelte am Bordstein und hob ab und zu das Beinchen.
Die Enttäuschung über die heruntergekommene Firma, die Verdächtige Nummer eins im zurückliegenden Mordfall gewesen zu sein und die tiefen Blicke von Sascha Neumann wirbelten in Tillys Gedanken umher. Leon hatte ihr vor der ersten Begegnung mit dem Inhaber der Welpenzucht und Tierrettungsstation zu verstehen gegeben, dass sie nicht die Einzige war, die ihn »heiß« fand. Breite Schultern, dunkle Haare und ein Dreitagebart, dazu ein authentisches Lächeln, brachten Tillys Herz zum Schmelzen und ihren Magen zum Kribbeln.
Leider musste sie erfahren, dass Sascha durch eine Erbschaft zum Millionär geworden war. Sie dagegen hatte nur eine heruntergewirtschaftete und wahrscheinlich bald bankrotte Firma vorzuweisen. Und was sollte nun werden? Hier in Untertannberg würde sie kaum bleiben können. Vor Gerdy und Leon gab sie sich siegessicher, doch selbst die kleinste Steuernachzahlung würde ihr längst leeres Konto ins Minus befördern. Das wäre das Ende ihrer Selbstständigkeit.
Vor ihr tauchte die Fußgängerzone auf und mit ihr ihre Wohnung, ein ehemaliger Friseursalon.
Sie öffnete die Tür, und Muffin sprang freudig hinein. Draußen war es windig geworden, aber wenigstens blieben sie im Moment vom Regen verschont.
Tilly zog ihre Jacke aus, hängte sie an einen krummen, frei stehenden Kleiderständer und betrat ihr Heim. Der Eingangsbereich war ein großer Raum, in dem ein länglicher Tisch stand. Links führte eine gewundene Treppe nach oben, wo das Sofa und der Fernseher auf sie warteten. Alles direkt im oberen Teil des Schaufensters mit Blick auf die Fußgängerzone.
Am anderen Ende des Raumes führte eine schmale Treppe hinunter in die Küche, und dorthin führten Tillys erste Schritte. Sie schmierte sich ein Brot, machte sich einen Tee dazu, setzte sich aufs Sofa und betrachtete durch das Schaufenster hindurch das Aufflammen der Straßenlaternen. Unweigerlich kam das Gefühl von Einsamkeit auf, gegen das es aber ein hervorragendes Mittel gab: Sie zückte ihr Smartphone und wählte eine ganz bestimmte Nummer aus ihrer Favoritenliste.
Nach einmaligem Klingeln ging die Angerufene ran.
»Lieblings-Blich«, wurde sie freudig begrüßt.
»Mein Tony-Teufel.«
Ihr wurde unweigerlich warm ums Herz. Ihre beste Freundin – Antonia Marschler – wirkte euphorisch wie eh und je. Und das, obwohl sie noch vor wenigen Wochen in Lebensgefahr geschwebt hatte.
»Gibt’s was Neues?«, fragte sie sofort.
»Kein Finanzbeamter weit und breit, Schlüssel ist nicht zuzuordnen und kein Piep von Sascha«, fasste Tilly zusammen.
Bei der Erwähnung des Namens sah sich Muffin neugierig um. Er stammte aus der Zucht der Hunderanch (wie Sascha sie nannte) und konnte den Klang des Namens seines ehemaligen Besitzers eindeutig zuordnen.
»Ach, Blichy.« Antonias Stimme bekam diesen tröstenden Unterton, der Tilly einerseits guttat, andererseits ärgerte es sie, dass sie ihn überhaupt brauchte. »Du bist doch vor Sascha geflohen.«
»Aber nur, weil Kriminalhauptkommissar Stubs mir triumphierend den Steuerfahndungswisch unter die Nase gehalten hat.«
»Wenn Sascha dich mag, wird es kaum daran scheitern, dass du pleite bist. Und zahlungsunfähig. Und …«
»Schon kapiert.« Sie musste grinsen. »Lernt ihr im Studium nicht auch, wie man vernünftige Pep Talks hält?«
Jetzt hatte der Seufzer von Antonia etwas Gequältes. »Weißt du, die Arbeit im Nagelstudio ist mittlerweile fast schon meditativ. Ich kämpfe mit diesen Gesetzestexten und kann die Worte ›Tatbestandsmerkmal‹ und ›Rechtsfolge‹ nicht mehr sehen.«
Ihre beste Freundin hatte große Pläne. Allerdings bestanden die nicht wie Tillys darin, ein Unternehmen zu kaufen. Antonia wollte Anwältin werden. Da sie kaum Geld besaß, hieß das: Fernstudium. Und das hatte es in sich.
»Steht nicht zufällig Steuerrecht auf dem Stundenplan?«
»Polizei- und Ordnungsrecht«, antwortete Tony. »Ich bin froh, dass es das jetzt alles digital gibt, früher musste man diese Wälzer überallhin mitschleppen.«
»Du brauchst Urlaub«, erklärte Tilly. »Am besten in Untertannberg.«
Tony lachte. »Mein letzter ›Urlaub‹ dort endete im Krankenhaus.«
»Man stolpert nicht zweimal im Leben über einen Mord«, antwortete Tilly. »Allerdings gibt es da diesen Schlüssel, den wir gefunden haben. Man weiß nie, was noch so kommt.«
»Ach ja, erzähl mir mehr davon. Was sind die nächsten Schritte?«
Tilly fasste für Tony zusammen, was sie in der Zwischenzeit an dem Mörderboard zusammengetragen hatten, und dass dieses jetzt einen eigenen Raum in der Firma hatte.
»Ich mag Leon.«
Das sagte Tony immer, wenn die Rede auf ihn kam. »Morgen wird er sich wahrscheinlich in ein Teenagermonster verwandeln, weil er seine eigene Schule putzen muss.«
»Das ist aber auch wirklich peinlich.«
»Fang du jetzt nicht auch noch an.« Insgeheim gab sie Tony natürlich recht, doch Arbeit war nun mal Arbeit. »Zu der Zeit ist niemand mehr da. Du wirst sehen, in der Turnhalle herrscht dann Totenstille.«
»Ich drücke dir die Daumen. Und schick mir ein Foto von dem Schlüssel, dann frage ich hier bei unserem Schlüsselking nach. Vielleicht weiß der mehr.«
»Gute Idee.« Tilly schaltete Tony auf Lautsprecher, suchte das Bild in ihrem Fotoalbum auf dem Smartphone und schickte es los.
»Angekommen«, meldete Antonia. »Jetzt muss ich noch eine Stunde Texte wälzen. Tschüss, Lieblings-Blich.«
»Tschüss, Tony-Teufel.«
Sie beendeten das Gespräch. Tilly machte es sich gemütlich, wickelte sich eine Decke um die Beine, betrachtete Muffin, der sich in seinem Körbchen zusammengerollt hatte, und aß in aller Ruhe ihr Brot. Als es Zeit war, schaltete sie den Fernseher ein. Es lief eine neue Serie, die Tilly liebte. Eine Krimiserie über eine Reporterin, die in ein kleines Kaff strafversetzt wurde, weil sie ihren Chef angeschrien hatte. Da Tilly Parallelen zu ihrem eigenen Leben sah, verfolgte sie Mord und Blitzlichtgewitter immer mit Spannung. »Warum sieht sie nicht, dass ihr bester Freund der Mörder ist?« Manchmal wollte sie die Hauptfigur schütteln. »Und wer kommt auf die Idee, ihr eine Katze aufs Auge zu drücken? Jetzt muss sie sich um alles kümmern!« Sie warf Muffin einen Blick zu. »Ich mache dir gleich dein Essen.«
Die Episode endete, und Tilly stieg die Treppe hinunter. Nachdem Muffin sich über sein Fressen hergemacht hatte, als wäre er kurz vorm Verhungern, ging es endlich ins Bett. Ein Wasserbett, über dem eine Discokugel als Zimmerbeleuchtung hing.
Ihr Vorgänger hatte die Siebziger-, Achtziger- und – auf dem Schreibtisch stand eine Lavalampe – die Neunzigerjahre deutlich verklärt.
Tilly gähnte, rollte sich zusammen und schlief sofort ein. Ein Schlaf, der durch ein kreischendes Geräusch über ihr unterbrochen wurde. »Good Morning Sunshine« wurde gespielt. Sie hatte noch nicht herausgefunden, wie man den Wecker in dieser verdammten Discokugel ausschalten konnte. Natürlich gab es auch das passende Discolicht dazu.
Immerhin, dieses Mal weckte sie der Monster-Wecker aus einem Albtraum, in dem ihr der Plitz hinterhergelaufen war. Dabei schwenkte er seinen Brief, der sich aber in einen Steuerbescheid verwandelte.
»Ich sollte den Brief von Herrn Plitz einfach verbrennen«. Fluchend und gähnend stapfte Tilly durch Bad und Küche.
Den Vormittag verbrachte sie damit, Gassi zu gehen, zu frühstücken (in genau dieser unmenschlichen Reihenfolge), Antonia eine Nachricht zu schreiben und schließlich mittags alle Utensilien in ihrem knallrosa Dienstwagen zu verstauen. Die aufgemalten Blumen gaben ihr immer ein Gefühl von Flower-Power.
»Verstehen wir uns?« Gerdy unterhielt sich mit Muffin, der sich den Bauch kraulen ließ und dabei den Kuchen auf dem Tisch ins Visier nahm.
Ihre Sekretärin war eine Powerfrau, die sogar einen Elektroschocker besaß, den sie Mutzi nannte, aber gegen Muffin hatte niemand eine Chance. Seine Schnauze zuckte schon in Richtung Kuchenplatte. Er schaute zu Tilly, merkte, dass sie ihn beobachtete, und stoppte seinen Versuch.
Letztlich würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als sich bei der Hundeschule anzumelden, um ihrem Basset Manieren beizubringen.
»Ich stürze mich ins Getümmel«, verkündete Tilly. »Hältst du die Stellung?«
»Kaffee und Kuchen warten auf euch«, antwortete sie. »Leon kommt bestimmt mit einer furchtbaren Laune, da könnt ihr beides gut gebrauchen.«
Wovon Tilly ebenfalls ausging.
Sie stieg in ihren Bus und brauste los. Die Schule in Untertannberg lag am Stadtrand. Selbst bei gemächlichem Fahrstil – und mehr war mit diesem Ungetüm von einem Gefährt nicht möglich, sonst würde es auseinanderfallen – brauchte sie nur zwanzig Minuten.
Die Schule war in einem grauen Siebzigerjahre-Gebäude untergebracht. Neben dem Eingang befanden sich rechts ein Parkplatz, links ein Sportplatz mit rotem Gummibelag. Die Turnhalle schloss sich direkt an, dahinter wartete das Hauptgebäude. Ein wenig versetzt stand ein altes, heruntergekommenes (und glücklicherweise abgesperrtes) Nebengebäude.
Tilly sollte sich im Sekretariat melden, da noch Unterschriften von ihr benötigt wurden. Danach würde sie eingewiesen werden. Aus den Fenstern blickten viele neugierige Gesichter heraus. Von den Fünfern (die Tilly erstaunlich klein vorkamen) bis zu den Abiturienten war alles dabei.
Die Tür quietschte, als sie diese aufzog und das Gebäude betrat. Drinnen stieg ihr ein muffiger Geruch in die Nase. Die Bodenfliesen glänzten, doch die Wände hatten schon bessere Tage gesehen.
Tilly wandte sich nach rechts und fand das Sekretariat. Vor einem Computer saß eine etwa dreißigjährige Frau mit dunklen, schulterlangen Haaren. Ihr Blick war starr auf den Bildschirm gerichtet, ihre Finger flitzten über die Tastatur. Es war ein Wunder, dass kein Rauch aufstieg.
Als sie eintrat, blickte die Frau auf. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Tilly Blich, ich bin die neue Putzfrau.«
Die fliegenden Finger hielten inne. »Paula Lotz, Sekretärin und gleichzeitig Frau für alles.« Sie stand auf, griff nach einem bereitliegenden Zettel und schob ihn Tilly über den Tresen. »Ich habe mich sehr gefreut, als Gerdy sich gemeldet hat. Wir haben natürlich alle die Schlagzeilen verfolgt, und Sie haben das ganz toll gemacht.«
Tilly lächelte die Sekretärin an, griff nach dem bereitliegenden Kugelschreiber und unterschrieb. »Woher kennen Sie Gerdy?«
»Jeder kennt Gerdy«, war die schlichte Antwort. »Oder besser gesagt: ihre Kuchen. Persönlich kannten wir uns bisher nicht.«
Worauf Tilly nur mit einem wissenden Nicken antwortete. »Ich soll in der Turnhalle anfangen?«, fragte sie.
»Ja, genau. Ich habe Leon schon die Schlüssel gegeben. Er wollte in seiner Freistunde schon mal reingehen und vor der Halle auf Sie warten?«
Tilly schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nicht gesehen.«
»Ich gehe mal schnell mit Ihnen rüber.«
»Das ist sehr nett.«
»Paula.«
»Tilly.« Sie mochte die Sekretärin auf Anhieb.
Durch die Aula verließen sie die Schule. Von Leon war immer noch nichts zu sehen. Ein Umweg über den Parkplatz und schon war sie mit ihrem Putzwagen und allen notwendigen Putzmitteln ausgerüstet.
Bevor sie die Turnhalle wieder erreichten, ertönte ein Ruf aus dem Eingang der Schule: »Frau Lotz. Warten Sie, Frau Lotz.«
»Lassen Sie sich nichts anmerken«, sagte die Sekretärin.
»Hubschrauber?«, fragte Tilly.
»Rasenmäher«, kam es zurück. »Erkläre ich später.«
Beide drehten sich um.
Die Dame, die sich näherte, mochte Anfang vierzig sein und war modisch gekleidet. Zwei blaue Saphire baumelten an ihren Ohren, sie trug enge Jeans, eine weiße Bluse und darüber eine Designerjacke.
Offensichtlich war sie gut situiert.
»Frau von Lampenstell«, grüßte Paula. »Wie schön, Sie wiederzusehen.«
»Gleichfalls, Frau Lotz.« Ein verkrampftes Nicken folgte. »Obwohl ich eigentlich gar nicht so viel Zeit habe, wissen Sie … Aber ein paar Dinge müssen einfach noch rechtzeitig geklärt werden. Wir wollten doch über das Essen in der Mensa reden. Nach diesem Vorfall mit dem Friedrich und meinem Hartmut-Eloi müssen Maßnahmen ergriffen werden. Wir hatten ja über das Gesundheitsamt gesprochen.«
»Frau von Lampenstell.« Paula atmete tief ein und aus. »Sie hatten über das Gesundheitsamt gesprochen. Der Friedrich reagierte lediglich allergisch.«
»Aber auf was?«
»Basilikum.«
Frau von Lampenstell winkte ab. »Niemand hat eine Allergie gegen Basilikum. Ich glaube, die Eltern von Friedrich – also, der Vater, weil er mit dem Alois befreundet ist, der die Mensa betreibt – halten das klein. Da sind Allergene im Essen. Andernfalls hätte mein Hartmut-Eloi nicht so reagiert.«
»Es wurde eine Biene in seiner Nähe gesehen. Ist er nicht gegen die allergisch?«
»Die Biene ist doch eine Erfindung von Alois, da wette ich drauf. Das Problem liegt an einer ganz anderen Stelle«, Frau von Lampenstell senkte schockiert die Stimme: »Zusatzstoffe.«
Schweigen.
»Ich habe eine Liste.« Die Mutter schwenkte selbige.
»Der Direktor ist informiert«, sagte Paula. »Er wollte ein ernstes Wort mit Herrn Alois Koblinski wechseln.«
»Ausgezeichnet, dann kann ich mich direkt an den Direktor wenden«, erklärte Frau von Lampenstell. »Ein paar Dinge müssen sowieso prophylaktisch geklärt werden, damit nichts schiefgeht. Ich habe die Liste bereits abgegeben.«
»Das dreißigseitige Dokument.« Paula nickte. »Das haben wir bekommen. Aber jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss Frau Blich alles zeigen.«
Wie zwei Laserdolche schossen die Blicke der Dame zu Tilly. Sie streckte die Hand aus. »Eleonore von Lampenstell.«
»Blich.« Sie schüttelte die Hand und hatte das Gefühl, ihre Finger seien in einen Schraubstock geraten.
»Sie müssen die neue Reinigungskraft sein. Da habe ich gleich mal ein paar Fragen an Sie, zu den verwendeten Reinigungsmitteln«, fuhr Frau von Lampenstell fort. »Es gab in der Vergangenheit mehr als einen Skandal, bei dem diese zu schlimmen Verätzungen bei Schülern geführt haben.«
»Welchen denn?«
Die Frau winkte ab. »Wir wollen uns nicht im Gestern verlieren.«
»Frau Blich hat bereits eine Liste der Inhaltsstoffe an das Sekretariat geschickt.«
»Ausgezeichnet.« Frau von Lampenstell schien zufrieden. »Dann warte ich dort.«
Sie stapfte in Richtung Aula davon.
»Was war das?« Tilly fühlte sich, als wäre sie gerade überrollt worden. Nur wovon?
»Das ist die neue Generation der Helikopter-Eltern. Sie räumen die Probleme ihres Kindes aus dem Weg, bevor sie überhaupt auftreten. Deshalb die Bezeichnung: Rasenmäher-Eltern.« Paula rieb sich müde die Augen. »Lass uns in die Turnhalle gehen. Danach muss ich den Direktor suchen. Um ein kurzes Gespräch mit der von Lampenstell kommt er sicher nicht herum.«
Paula hielt Tilly die Tür auf, damit sie den Wagen in das Gebäude schieben konnte. »Normalerweise ist hier abgeschlossen. Leon wartet bestimmt schon drinnen auf dich.«
Wahrscheinlich wollte sich der kleine Schlingel nur in Sicherheit bringen. Schließlich würde es gleich klingeln, und dann Scharen von Schülern aus dem Hauptgebäude nach Hause strömen.
Der Boden war mit grauem Linoleum ausgelegt, der typische Turnhallengeruch stieg Tilly in die Nase. Paula führte sie durch den Gang auf eine Tür zu, die zum ersten der drei Sportbereiche ging.
Doch ein Rumpeln ließ sie innehalten.
»Was war das?«, fragte Tilly.
»In der Abstellkammer muss etwas umgefallen sein.« Paula ging hinüber, drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür.
Drinnen standen zwei Jungen, die sich abrupt voneinander entfernten.
»Oh, hallo. Also, Frau Lotz«, rief ein rothaariger, kräftiger Junge mit Sommersprossen. »Wir haben hier gerade …« Er wedelte mit der Hand.
»Geputzt«, sagte Leon.
»Richtig. Und aufgeräumt.« Der Junge nahm einen Eimer und stellte ihn von der linken in die rechte Ecke. »Ja. Genau.«
Paula seufzte wieder schwer.
Es war offensichtlich, dass Leon den Turnhallenschlüssel benutzt hatte, um ungestört mit einem Mitschüler zu knutschen. Da dieser Trainingsklamotten trug, sportlich aussah und im Gegensatz zu Leon wie ein Reh im Scheinwerferlicht wirkte, war er eindeutig weniger cool, wenn es darum ging, erwischt zu werden.
»Emil«, wandte sich Paula an ihn. »Ab auf den Fußballplatz.«
Der Junge sprintete los.
Tilly streckte die Hand aus. »Der Schlüssel.«
Leon übergab den Bund und sah dezent schuldbewusst aus. »Weißt du …«
»Zieh dich um, deine Sachen sind im Auto. Wir reden später darüber.«
Er trottete davon.
Paula zeigte Tilly den Weg zum Eingang. »Geh schon mal vor.«
»Bekommt Leon Ärger?«
Paula zuckte nur mit den Achseln. »Das sind Teenager, ich will gar nicht wissen, was hier sonst noch so los ist. Aber den Schlüssel für die Turnhalle kriegt er nicht mehr. Ich muss ins Sekretariat. Komm nach der Arbeit vorbei, dann besprechen wir alles Weitere. Den Schlüssel müsstest du immer vor der Arbeit dort abholen und am Ende wieder zurückbringen.«
Tilly nickte und schob den Wagen in die Richtung, in der sie anfangen wollte. Innerlich kochte sie vor Wut. Dieser Job war wichtig für den Fortbestand ihrer Firma, und Leon hatte nichts anderes im Sinn, als den ihm anvertrauten Schlüssel zu missbrauchen.
Sie öffnete die Tür.
Um Leon würde sie sich später kümmern. Jetzt galt es, jedes Staubkorn zu entfernen. Sie würde in die Geschichte dieser Schule als die beste Putzfrau aller Zeiten eingehen, die keine Spuren hinterließ, jawohl!
»Nicht schon wieder.«
Im ersten Moment konnte Tilly nur dastehen und starren. Ein hysterisches Kichern wollte sich aus ihrer Kehle lösen, doch sie unterdrückte es. Etwas Derartiges konnte man wohl als Albtraum-Déjà-vu bezeichnen.
Sie stand erneut vor einer Leiche. So was konnte doch unmöglich noch einmal passieren.
Hinter ihr fiel die Eingangshalle ins Schloss. Schritte erklangen, stoppten. »Tilly?«
»Hier«, rief sie.
Leon kam herbeigeeilt. »Hör zu, es tut mir leid. Es war ein Impuls, okay. Emil ist echt cute, und er hat gesehen, dass ich aufgeschlossen habe. Es ist einfach so passiert.« Er kam neben ihr zum Stehen, starrte auf die Leiche. »Nicht schon wieder.«
»Smartphone, ruf Sarah an.« Tilly versuchte, sich zusammenzureißen. »Ist das euer Sportlehrer?«
Leon zog sein Smartphone hervor und wählte bereits die Nummer. »Nein, das ist der Direktor. Hallo, Sarah? Ja, ich bin es. Hast du einen Augenblick Zeit? Ja, nein. Schon. Also, hier ist eine Leiche. Nein, kein Witz. Ehrlich.« Er reichte Tilly das Gerät. »Sie glaubt mir nicht.«
»Hallo, Sarah?«
»Hört mal, ich habe wirklich keine Zeit für diese Scherze«, erklang die Stimme von Kriminalkommissarin Sarah Kraft aus dem Gerät. »Sag Leon, er soll das bitte lassen.«
»Sporthalle, Schule. Der Direktor«, haspelte Tilly.
Es fiel ihr noch immer schwer, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Vermutlich lag es an besagtem Direktor, der offenbar mit dem Band einer Trillerpfeife erwürgt worden war, die silbrig glänzend auf seiner Brust lag. Falls der unbekannte Täter damit ausdrücken wollte, dass Sport eindeutig Mord war, stimmte sie ihm vollkommen zu.
»Das ist kein Witz?«, rief Sarah.
»Glaub mir, darüber mache ich keine Witze.«
»Ich komme. Mit SpuSi und Stubsi im Gepäck.« Ihre Stimme senkte sich zu einem verschwörerischen Tonfall. »Sei besonders freundlich, er hat einen schlechten Tag. Und komm bloß nicht auf die Idee, irgendwas anzufassen. Oder noch schlimmer: zu putzen.«
Damit beendete Sarah das Gespräch. Tillys eigener Tag stand ebenfalls kurz davor, ihr komplett zu entgleiten. Zumindest, sobald allen klar wurde, dass Tilly bereits geputzt hatte.
»Hallöchen«, erklang eine trällernde Stimme vom Eingang her. »Ich war gerade auf dem Weg zurück zum Parkplatz, und da dachte ich mir: Eleonore, dachte ich mir, jetzt besuch doch die gute Frau Blich und lass dir von ihr einfach mal ihre Putzmaterialien zeigen. Eine Liste mit allen problematischen Marken habe ich dabei, wir können die gemeinsam durchgehen.«
Die Tür öffnete sich erneut. »Frau von Lampenstell«, erklang die gehetzte Stimme von Paula. »Lassen Sie die Frau Blich und Leon doch bitte ihre Arbeit machen. Ich verspreche Ihnen, der Direktor wird sich höchstpersönlich um …«
Beide Frauen traten gleichzeitig in den Stauraum und erblickten den Toten. Die Augen von Frau von Lampenstell weiteten sich, ihre Hand presste sich auf ihr Herz. Paula stand nur da, geschockt und schweigend.
»Die Liste müssten Sie dann mit Konrektorin Richter durchgehen«, sagte Leon natürlich prompt.
Tilly warf ihm einen bösen Blick zu. »Nicht hilfreich.« In Richtung von Paula ergänzte sie: »Wir haben den Direktor gerade gefunden, und die Polizei ist bereits verständigt.«
»Er ist tot«, flüsterte Frau von Lampenstell und wirkte vollkommen verzweifelt.
Da Tilly sich angewöhnt hatte, das Offensichtliche nicht extra zu bestätigten, schwieg sie.
»Er ist tot«, bestätigte Leon mit einem Nicken.
»Du bist heute so hilfreich«, merkte Tilly an. »Wir gehen jetzt alle mal hier raus, damit wir keine Spuren verwischen.«
Innerlich stöhnte sie bei diesen Worten auf. Es gab kaum noch etwas zu verwischen. Wenigstens existierte hier keine Spülmaschine mit Hygieneprogramm.
Tilly verstaute ihre Putzutensilien im Wagen und schob ihn zur Tür. Frau von Lampenstell und Paula trotteten wie zwei geschockte Lemminge, die keinen Abgrund zum hinunterstürzen fanden, hinter ihr und Leon her.
»Wann haben Sie den Direktor denn zuletzt gesehen, Frau Lotz?«, fragte Leon.
»Heute Morgen«, erwiderte diese mit erstickter Stimme. »Wir haben den Lehrplan besprochen. Aufgrund des Lehrermangels mussten wir vor einiger Zeit ein paar der älteren Lehrer aus dem Ruhestand holen. Es ist noch etwas chaotisch. Ich verstehe gar nicht, wieso er hier ist. Mit dem Herrn Kurmann stand doch gar kein Gespräch an.«
Tilly linste fragend zu Leon, beeindruckt von seinem Gespür. Frau Lotz hatte eindeutig Redebedürfnis.
»Jan Kurmann, Sportlehrer«, erwiderte er Tillys stumme Frage. »Markus Eberhardt.« Er deutete über die Schulter zum Stauraum. »Direktor.«
Die Tür wurde aufgerissen, und Kriminalhauptkommissar Stubs trat ein. Hinter ihm folgte Sarah zusammen mit einer Traube aus Frauen und Männern der Spurensicherung.
»Sie!«, begrüßte er Tilly.
»Wie immer ist Ihr Spürsinn unübertroffen«, erwiderte diese und verschränkte die Arme.
Sarah warf ihr einen eindeutigen »Das war das Gegenteil von vorsichtig«-Blick zu.
»Wo ist die Leiche?«, bellte er.
»Stauraum.« Eleonore von Lampenstell deutete dorthin. »Es ist so gut, dass Sie hier sind, Herr Kommissar …«
»Kriminalhauptkommissar«, korrigierte Stubs.
»… es ist ganz schrecklich.« Sie schniefte.
Stubs eilte in die angezeigte Richtung, stoppte und schnupperte. »Rieche ich da Zitrusreiniger?« Sein wütend funkelnder Blick traf Tilly. »Sie haben mir nicht schon wieder den Tatort gereinigt, oder?!«
Alle Augen richteten sich auf Tilly, und sie erkannte mehr als eine Person vom letzten Mordfall wieder. »Falls es Sie beruhigt, ich war noch nicht fertig damit. Es gibt ungeputzte Stellen.«
Während die beiden Ordnungshüter zur Leiche huschten, begann die Spurensicherung mit der Absicherung des Bereichs. Sie wurden alle hinausgebeten, sollten aber vor der Tür warten. Schließlich waren sie Zeugen, obgleich es nicht viel zu sagen gab.
»Ob er dich spaßeshalber wieder zur Hauptverdächtigen macht?« Leon zwinkerte in Tillys Richtung.
»Falls du die Stimmung heben willst, machst du einen lausigen Job.«
Bedauerlicherweise traute sie Stubsi das durchaus zu. Die Tatsache, dass Tilly mit ihrem Team und Sarah den vergangenen Fall aufgeklärt hatte, hatte seinem Ego einen erheblichen Dämpfer verpasst.
Es dauerte eine Weile, dann erschien Staatsanwalt Simon Bruch. Zuletzt war Tilly ihm begegnet, als Muffin ihn umgerannt hatte, woraufhin der arme Kerl auf der ersten Leiche gelandet war. Eine überaus unangenehme Situation, die ihm – gemessen an seinem Gesichtsausdruck – lebhaft in Erinnerung geblieben war.
»Halten Sie Ihren Vierbeiner unter Kontrolle«, schnaubte er ihr im Vorbeigehen zu, ohne zu realisieren, dass der gar nicht anwesend war.
Schon war Herr Bruch in der Sporthalle verschwunden. Sie wusste, dass bei einem vermuteten Mord die Ermittlungen durch einen Staatsanwalt eingeleitet werden mussten. Tilly besaß keinen Zweifel daran, dass dies geschehen würde, hier lag eindeutig Fremdverschulden vor. Direktor Eberhardt hatte sich kaum selbst das Band der Trillerpfeife umgelegt und zugezogen.
Ein Ding-Ding-Geräusch ließ Tilly in Richtung von Eleonore von Lampenstell blicken.
»So.« Diese nickte zufrieden. »Die Eltern wissen Bescheid, und ich habe zugesagt, sie über die Mordermittlungen auf dem Laufenden zu halten. Kriminalhauptkommissar Stubs muss mir dafür einen täglichen Ermittlungsbericht zukommen lassen. Ob er sich dazu bereit erklärt?«
Tilly konnte sich die Reaktion auf diesen Vorschlag durchaus vorstellen. »Fragen Sie ihn unbedingt.«
»Ja, ich denke auch.« Frau von Lampenstell nickte gedankenverloren und malte sich ganz eindeutig in bunten Farben aus, wie die Elternschaft an ihren Lippen hing, während sie dabei half, den Mord aufzuklären.
Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür. Staatsanwalt Bruch ging kopfschüttelnd an ihnen vorbei und murmelte etwas von »schon wieder geputzt«. Tilly musste zugeben, ihr war das dezent peinlich. Andererseits hatte ja niemand ahnen können, dass der Direktor im Stauraum lag.
Wieso konnten Mörder das Opfer nicht wenigstens so positionieren, dass sie es nicht immer zu spät fand? Der Gedanke war Tilly aber gleich wieder unangenehm.
Endlich öffnete sich die Tür, und Sarah kam aus dem Raum. Gerade wollte sie dazu ansetzen, etwas zu sagen, als auch schon Stubs an ihr vorbeipreschte.
»Sie kamen hier an, haben geputzt und dann die Leiche gefunden?«, fragte er Tilly.
Die nickte.
»Hervorragend, mehr müssen wir nicht wissen. Sie können gehen. Sofort.«
»Und natürlich ist mir das Monogramm aufgefallen«, sagte Tilly zuckersüß.
»Das was?«, entfuhr es Stubs.
»Die Pfeife ist aus Metall und hat ein Monogramm an der Seite.« Auf Stubs’ ratlosen Blick ergänzte sie: »Das sind die Anfangsbuchstaben des Namens.«
Nun umwölkte sich seine Stirn. »Ich weiß, was ein Monogramm ist, Frau Blich.«
Sie verschränkte die Arme und ließ ihn schmoren.
Sarah blätterte in ihrem Notizblock. »Es sind die Buchstaben AA.«
»Richtig.« Stubs nickte.
Tilly konnte ihm ansehen, dass er keine Ahnung davon gehabt hatte. Sarah war seine Rettung gewesen, was sie ihr durchaus übel nahm. Und natürlich würde Stubs ihr das nicht danken.
