Der Todeskandidat / Band 5 & 6 - August Schrader - E-Book

Der Todeskandidat / Band 5 & 6 E-Book

August Schrader

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Beschreibung

Es ist eine trügerische Ruhe, die über der beschaulichen, im schönen Ilmtal gelegenen Residenzstadt Weimar im Jahr 1775 liegt; denn im Verborgenen werden dunkle Intrigen gesponnen und unheilvolle Pläne geschmiedet, die nicht nur von höfischen Machtinteressen motiviert sind, sondern bis ins Reich der Leidenschaft hineinreichen. Abseits dieser hässlichen Machenschaften blüht jedoch auch die Liebe in der Stadt; die Liebe dreier Pärchen, so unterschiedlich von Stand und Rang wie gleich in ihrem Los, diese nur im Geheimen leben zu dürfen. Gesellschaftliche Konventionen, aber auch die Machtgelüste der Intriganten beeinflussen ihre Schicksale auf eine Weise, die kaum auf einen glücklichen Ausgang hoffen lässt. Nur ein Bewohner der Residenzstadt fühlt sich in der Lage, das stetig dichter werdende Netz aus Lügen, Intrigen, Verbrechen und dunklen Geheimnissen zu durchdringen. Doch ist die Zeit nicht auf der Seite desjenigen, der den Liebenden seine Hilfe gewährt … denn er, der für sich selbst nicht auf Liebe hoffen darf, ist … ein Todeskandidat! Die Quality Books-Neufassung dieses so spannenden wie bewegenden sechsteiligen Sensationsromans von August Schrader wird Sie durch die Schicksale der einzelnen Protagonisten und die Tragik der Ereignisse schnell in ihren Bann ziehen. „In Dumas’scher Manier schrieb sensationell, hochromantisch, auf Effekt und Nervenkitzel rechnend, der talentvolle und fruchtbare Romanschriftsteller August Schrader, eigentlich Simmel – geboren 01. Oktober 1815 zu Wegeleben bei Halberstadt und gestorben 16. Juni 1878 in Leipzig.“ (Dr. Adolph Kohut in: „Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 2“)

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DER

TODESKANDIDAT

Modernisierte Neufassung

des sechsteiligen Romans

von

August Schrader

Band 5 & 6

Quality Books

2018

* * * *

Quality Books

Klassiker in neuem Glanz

 

Textgrundlage:

Der Todescandidat (Bd. 5 & 6)

August Schrader

Erstdruck: 1855, Leipzig, Verlag von Christian Ernst Kollmann

 

Neufassung: Marcus Galle

Umschlaggestaltung: Maisa Galle

 

© 2018 by Quality Books, Hameln

1. Auflage: September 2018

 

ISBN 978-3-946469-20-9

 

E-Mail: [email protected]

 

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Anschrift

 

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Herausgebers nicht vervielfältigt, wiederverkauft oder weitergegeben werden.

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Johann Wolfgang Goethe (1775/1776)

 

Der Todeskandidat (Fünfter Band)

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

 

Der Todeskandidat (Sechster Band)

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Epilog

 

Impressum (Anschrift)

DER

TODESKANDIDAT

- Fünfter Band -

Erstes Kapitel

Nicht lange nach diesen Ereignissen wurde der Legationsrat in den Adelsstand erhoben. Während seine Freunde diese Erhebung als eine gerechte Würdigung seines hohen Dichtertalentes betrachteten, wurden seine Feinde, zu denen fast alle höheren Beamteten gehörten, mit bitterem Groll erfüllt. Die Oberhofmeisterin fasste den Beschluss, sobald als möglich ihren letzten Schlag gegen ihn auszuführen. Sie traf ihre Vorbereitungen, und in Werner erkannte sie ein dienstwilliges Werkzeug.

Um diese Zeit erschien Funke, der den Namen Lucas angenommen hatte, bei der Oberhofmeisterin. Unter dem Titel eines Leinwandhändlers verschaffte er sich leicht Zutritt zu ihr. Als er in das Zimmer trat, fand er Nathalie bei ihr.

»Sie sind es!«, sagte die alte Dame. »Es ist gut, dass Sie kommen.«

»Meine Ware ist diesmal ausgezeichnet, gnädige Frau!«, antwortete Lucas. »Wenn Sie befehlen, hole ich einen Ballen herein.«

»Geduld, Freund!«, sagte die Oberhofmeisterin, die sich in einer gereizten Stimmung befand. »Hast du ihn im Verdacht?«, fragte sie ihre Nichte leise.

Nathalie nickte mit dem Kopf. Dann verließ sie auf eine Andeutung ihrer Tante das Zimmer.

Lucas hatte alle diese Bewegungen mit einem listigen Blick verfolgt, obgleich er anscheinend arglos neben der Tür stand.

»Mein Freund«, begann die alte Dame, »als Ihr das letzte Mal in meinem Haus wart, wurde mir, ich meine an demselben Tag, ein Verlust zugefügt, den ich Euch aus dem Grund nicht verschweigen kann, weil Ihr mir vielleicht einige Aufklärung zu geben imstande seid.«

»Ich bin bereit, gnädige Frau!«, antwortete Lucas in einem Ton, der fast trotzig klang.

»Habt Ihr an jenem Tag vielleicht eine Person in meinem Haus gesehen, der Ihr einen Diebstahl zutrauen würdet? Ist Euch nichts aufgefallen?«

»Man hat Sie bestohlen, gnädige Frau?«, fragte Lucas verwundert.

»Ja! Ich habe zwar bereits einen Verdacht, aber da ich ihn nicht auszusprechen wage, bevor ich nicht …«

»Sie meinen, dass ich Ihnen nähere Hinweise geben kann?«

»Ich liebe das große Aufsehen nicht!«, sagte die Oberhofmeisterin ruhig. »Die Kostbarkeiten, die in dem Kästchen waren, gebe ich preis, wenn ich nur auf stillem, friedlichem Wege die Papiere wiedererlange.«

»O gnädige Frau«, sagte Lucas trotzig, »das klingt ja fast, als ob Sie mich in Verdacht hätten!«

»Lieber Mann, seid nicht so töricht; ich meine, dass der, der mir die Wiedererlangung vermittelt, die Kostbarkeiten als Preis erhält. Ist es nicht möglich, dass Ihr sie verdienen könnt? Ihr kommt weit und breit herum, hört und seht so manches.«

»Sprechen Sie es ruhig aus, meine Gnädige, was Sie von mir denken! Jetzt wird mir klar, warum Sie das junge Mädchen fortschickten, und Ihre gegenwärtige Unterhaltung soll zu nichts weiter dienen, als mich ein wenig auszuforschen und bei dieser Gelegenheit so lange aufzuhalten, bis vielleicht die Polizei kommt, um mich festzunehmen. Nicht wahr, das ist Ihre Absicht? Bekennen Sie es nur, gnädige Frau! Sehen Sie, ich laufe nicht davon, ich bleibe ruhig hier. Und wenn Sie das Aufsehen nicht lieben, so rufen Sie den Boten zurück, den Sie losgeschickt haben; rufen Sie ihn Ihrer selbst wegen zurück.«

»Wie, meiner selbst wegen?«

In diesem Augenblick ließen sich die Stimmen der Bedienten im Vorzimmer vernehmen. Die Oberhofmeisterin wollte zur Tür gehen, da ihr der freche Mut des Leinwandhändlers Besorgnis eingeflößt hatte.

»Bleiben Sie«, flüsterte Lucas energisch und mit einem stechenden Blick, wobei er der Hofdame den Weg vertrat.

»Mann, seid Ihr rasend? Ich bin in meinem Haus, und wenn ich es vorziehe, in Beisein von Zeugen mit Euch zu reden … Ihr seid ein Fremder!«, fügte sie in ihrer Bestürzung hinzu. »Hinweg oder ich ziehe die Glocke und lasse Euch wegen Gewalttätigkeit in meinem eigenen Haus verhaften. Was dann noch nötig ist, wird die Polizei schon erfahren!«

»Ah, so habe ich mich nicht getäuscht!«, zischte Lucas, dessen Gesicht vor Aufregung glühte. »Sie sagen, ich bin ein Fremder? Sie wollen der Absicht meines Besuchs Gewalttätigkeit unterschieben, um mich zu verderben? Wagen Sie es, edle Dame, und wir werden sehen, wer vor dem öffentlichen Aufsehen zurückbeben muss.«

»Wahnsinniger!«, rief die bestürzte Hofdame.

Sie wollte nach einer Glocke greifen, die auf dem Tisch stand. Lucas trat keck hinzu und hielt die Hand fest.

»Sehen Sie mich an, Madame; erkennen Sie mich nicht wieder?«, fragte er leise und mit Nachdruck.

Die bestürzte Oberhofmeisterin starrte ihn an.

»Wollen Sie Lucas Funke verhaften lassen, damit er der Behörde die Geschichte von einem Kind erzählt, das er in seinem Dorf von einer vornehmen Dame zur Erziehung empfing?«

Die Oberhofmeisterin erbleichte; sie fühlte den Druck der nervigen Faust des Mannes, aber es fehlte ihr an Mut und Kraft, sich ihm zu entziehen.

»Jetzt rufen Sie Ihre Leute!«, sagte der Leinwandhändler, indem er ihre Hand losließ. »Ich werde keinen Widerstand leisten; man soll mich ruhig aus Ihrem Haus durch die Straßen führen.«

Der erste Schrecken war vorüber, und die Hofdame, die schon in mancher kritischen Lebenslage gewesen war, begriff, dass sie sich nicht so schnell gefangen geben durfte. Bei der Bosheit und Zähigkeit ihres Charakters kann es nicht verwundern, dass sie das Mittel noch weiter anwandte, dessen sie sich gleich zu Beginn bei den Bauersleuten bedient hatte. Nach den getroffenen Maßregeln – der Leser erinnert sich derselben aus der Erzählung des Leinwandhändlers – konnte Lucas weder ihren Namen noch ihren Stand wissen, und dass eine Täuschung in der Person nach einer so langen Reihe von Jahren leicht möglich ist, zumal wenn gute Gründe dafür sprechen, stand für sie außer allem Zweifel. Die List riet ihr, dieses Mittel anzuwenden, bevor sie das Letzte der Unterhandlung ergriff. Sie hatte Lucas Funke, den sie nach Amerika ausgewandert wähnte, jetzt wiedererkannt.

Nachdem sie sich, wie von der Berührung erschreckt, erholt hatte, ließ sie sich in dem nächsten Lehnstuhl nieder.

Das hat gewirkt!, dachte Lucas. Die Frau ist so bösartig, dass man sie mit großer Vorsicht behandeln muss. Wollen sehen, was sie tun wird.

»Ich halte Euch für einen ehrlichen Mann!«, sagte sie mit matter Stimme.

»Das ist mir lieb, gnädige Frau! Und wie können Sie auch anders – habe ich mein Versprechen, das ich Ihnen vor langer Zeit gab, nicht ehrlich erfüllt?«

»Wie«, fragte sie verwundert, »ein Versprechen? Ich erinnere mich nicht.«

»Seltsam!«, lächelte der Leinwandhändler. »Sollten Sie ein so wichtiges Ereignis Ihres Lebens vergessen haben wie das, was unter meinem Dach stattfand?«

»Ich verstehe Euch nicht, guter Freund; hier muss ein Irrtum obwalten. Ihr sprecht von dem Kind einer vornehmen Dame, wenn ich recht gehört habe – ich bin kinderlos. Jenes junge Mädchen, das vorhin das Zimmer verließ, ist meine Nichte.«

»Gnädige Frau, ich täusche mich nicht!«, sagte Lucas fest. »Von einem Irrtum kann nicht mehr die Rede sein. Sie sind die Dame, die vor achtundzwanzig Jahren in meinem Haus von einem Knaben entbunden wurde.«

Wie im höchsten Grade indigniert zuckte die Oberhofmeisterin zusammen.

»Mann, Sie sind toll!«, sagte sie entrüstet. »Wozu eine solche Beschuldigung? Hoffen Sie, irgendetwas zu erlangen – o wie töricht, dass ich mich so lange mit einem Gegenstand beschäftige, der meiner in so hohem Grade unwürdig ist. Sie kennen meine Stellung nicht, sonst würden Sie fürchten …«

»Ich fürchte nichts, Madame, denn ich bin meiner Sache zu gewiss!«

»Mein Gott, diese Hartnäckigkeit! Wenn Ihr Euch nicht überzeugen lasst, so muss ich Euch für einen Betrüger halten!«, rief sie zornig, indem sie ihren Platz verließ.

»Nein, gnädige Frau, Sie halten mich weder für einen Dieb noch für einen Betrüger!«, sagte der Leinwandhändler ruhig lächelnd. »Sie machen die letzte Anstrengung, um mich von sich abzuschütteln. Es hat Mühe gekostet, ehe ich die Dame auskundschaftete, die so gewissenlos ihr Kind verließ. Wer dessen fähig ist, Madame, kann auch die Runzeln seines Gesichts benutzen, die weißen Haare und die Zahnlücken, um sich vor der Welt rein zu erhalten. Ich erinnere mich recht gut, dass Sie damals sehr schön waren, obgleich Sie versuchten, sich unsern Blicken so weit wie möglich zu entziehen. Doch das alles will ich nicht als einen Beweis für meine Behauptung gelten lassen. Warum rufen Sie Ihre Diener nicht? Warum lassen Sie den Betrüger nicht einsperren. Warum fürchten Sie, dass ich vor Zeugen spreche? Sie sehen, gnädige Frau, der Bauer ist nicht dumm genug, um sich einschüchtern zu lassen. Zweimal haben Sie ihn mit einer elenden Summe abgespeist – das dritte Mal fordert er viel, denn er betrachtet sich als den Vater des verleugneten Kindes.«

Die Oberhofmeisterin sah den Mann an, der eine längst vergessene Geschichte, die verhassteste Zeit ihres Lebens, mit so grellen Farben wieder auffrischte. Die Sicherheit des Leinwandhändlers erfüllte sie mit Befürchtungen; aber immer noch konnte sie sich nicht entschließen, sich dem Mann als dem Besitzer ihres wichtigsten Geheimnisses, der offenbar gekommen war, um seinen Einfluss zu Erpressungen zu benutzen, durch ein Eingeständnis unterzuordnen. Mit einem Blick ermaß sie die Folgen, die daraus entstehen konnten. Sie hatte Feinde – wie würden sie eine Handlung aufgreifen, die man ihr zum Verbrechen anrechnen konnte? Und gerade jetzt erschien der fürchterliche Mensch, jetzt, wo zwei große Pläne zur Vollendung gereift waren! Das Kritische der Lage hatte sie mit Kaltblütigkeit und Mut erfüllt; sie war nicht die Frau, die vor einem ersten Hindernis zurückbebte. Aber was sollte sie tun, da Lucas nicht ohne Entscheidung von ihr gehen durfte? Die Sache erforderte reifliche Überlegung, doch dazu fehlte ihr die Zeit.

Lucas war schlau genug, um den Vorteil zu begreifen, den er bereits über die Hofdame erringen konnte. Die verschiedenen Handwerke, die er bisher betrieben hatte, verliehen ihm eine gewisse Gewandtheit, die Menschen und Verhältnisse scharf aufzufassen; er war nicht mehr der einfältige, gedrückte Bauer, der er zu jener Zeit war, als er das erste Geld von der vornehmen Dame empfing.

»Sie antworten mir nicht«, sagte er ironisch lächelnd; »dann freilich muss ich wohl ein Betrüger sein, und mir bleibt nichts übrig, als nach Beweisen zu suchen, welche die Rechtmäßigkeit meiner Forderung erkennen lassen.«

»Was fordert Ihr?«, fragte die Oberhofmeisterin wie zerstreut.

»Dass Sie mir die Sorge für Ihren Sohn abnehmen.«

»Für meinen Sohn?«, rief sie auffahrend. Und zugleich fragte sie sich: Was für ein Subjekt wird mir dieser gemeine Mensch zuführen?

»Ja, gnädige Frau, Ihren Sohn!«, wiederholte Lucas betonend.

»Ich habe keinen Sohn! Ich habe keinen Sohn!«, sagte sie unwillig. »Wozu diese Verhandlungen? Ich begreife mich nicht!«

»Dann geht es Ihnen ebenso wie mir; für mich ist es ebenfalls unbegreiflich, dass Sie bei einem Geschäft dieser Art so viele Schwierigkeiten machen.«

»Mein Gott, warum wendet Ihr Euch an mich? Was für eine Veranlassung könnt Ihr haben, mir zuzumuten … Ihr seid ohne Zweifel an die falsche Person geraten. Womit wollt Ihr beweisen, dass ich die Mutter eines Kindes bin, das Euch eine unbekannte Dame vor achtundzwanzig Jahren übergab, wie Ihr sagt?«

»Ah, Sie wollen auf den Busch klopfen!«, rief Lucas. »Das ist schon etwas. Nicht wahr, gnädige Frau, wenn ich Ihnen jetzt keine Beweise anführe, die Ihnen gefährlich erscheinen, so verharren Sie dabei, dass ich entweder ein Betrüger bin oder mich in der Person irre. Gestehen Sie es nur, Sie haben mich gleich erkannt, und um mich sofort unschädlich zu machen, wollten Sie mir einen Diebstahl anhängen, der vielleicht nicht einmal begangen wurde. Sie wollten mich einschüchtern, dass ich Gott danken sollte, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Nein, so haben wir nicht gewettet!«, fügte er mit boshafter Gemeinheit hinzu. »Muss ich unverrichteter Dinge Ihr Haus verlassen, weigert sich die Mutter, ihr Kind anzuerkennen, so werde ich mich an den Vater wenden.«

»Mensch!«, fuhr die Oberhofmeisterin auf.

»Der Herr Kammerpräsident ist reich, er hat keine Erben; vielleicht ist es ihm lieb, wenn er weiß, dass sein Vermögen nicht in die Hände fremder Leute kommt. Ah, ich bin nicht untätig gewesen, gnädige Frau! Nicht wahr, ich habe meine Pflicht als Pflegevater erfüllt?«

Der Leinwandhändler warf einen höhnenden Blick auf die Hofdame, die bleich und starr vor ihm stand. Es war ihr unbegreiflich, wie das sorgfältig verwahrte Geheimnis ihrer Jugendliebe, das selbst ihren nächsten Kreisen fremd geblieben war, diesem Bauern bekannt geworden sein konnte.

Die Verhältnisse gestalteten sich immer bedrohlicher, und der Oberhofmeisterin drängte sich die Befürchtung auf, dass gerade die, deren Sturz sie vorbereitete, diese Entdeckungen veranlasst hätten, um ihr ein kräftiges Schutzmittel entgegenzustellen. Und wie konnte auch dem Leinwandhändler gestattet gewesen sein, einen Blick in die Sphäre zu werfen, der jenes Geheimnis angehörte. Der Legationsrat gewann dabei eine furchtbare Bedeutung; sie hielt ihn sogar für den Haupturheber dieser Enthüllungen, und dieser Gedanke leitete sie zu dem Schluss, dass er um die Entwendung der Papiere wisse, die den Grund zu weiteren Nachforschungen gegeben haben. Hätte sie gewusst, dass die alte Magd, die nun Werners Wirtin war, noch lebte und dass Lucas von ihr die ersten Andeutungen erhalten hatte, sie würde vielleicht einen anderen Plan ergriffen und ausgeführt haben. Jetzt hielt sie es für nötig, Lucas auszuforschen; sie musste wissen, ob er aus freiem Antrieb gekommen war oder von der ihr feindlichen Partei geschickt wurde. Musste sie das Letztere auch für einen großen Missgriff halten, so kam es ihr dennoch aus den angegebenen Gründen wahrscheinlich vor. Lucas musste also um jeden Preis gewonnen werden, denn nur so konnte sie die Pläne ihres Feindes überschauen. Sowohl ihre Stellung bei Hof als die in der Stadt stand auf dem Spiel.

»Mein Freund«, begann sie völlig gefasst, »Eure Angelegenheit interessiert mich; ich will Euch anhören.«

»Dann werden wir bald ins Reine kommen.«

»Gesetzt nun, ich wäre die Mutter, die Ihr sucht …«

»In diesem Fall würde ich fragen: Wollen Sie Ihren Sohn jetzt anerkennen oder nicht?«

»Wenn ich nun Gründe hätte, ihn Euern Pflegesohn bleiben zu lassen?«

»Das habe ich vorausgesehen.«

»Gut!«

»Und deshalb bin ich in aller Stille zu Ihnen gekommen.«

»Aus eigenem Antrieb?«

»Wer sollte mich wohl veranlassen?«

»Ihr sagt, Ihr habt als ehrlicher Mann Euer Wort gehalten.«

»Ich habe nie vergessen, dass ich einen Eid unterschrieben habe – von mir hat keine Seele etwas erfahren; nicht einmal Ludwig, Ihr Sohn selbst …«

»Genug!«, unterbrach ihn die Oberhofmeisterin, die von dem Sohn nichts weiter hören wollte. »Ihr nanntet mir vorhin den Kammerpräsidenten, wenn ich nicht irre.«

»Ganz recht, der Kammerpräsident ist der Vater«, antwortete Lucas bestimmt.

»Eure Annahme ist sehr kühn.«

»Nichtsdestoweniger aber richtig.«

»Und was veranlasst Euch dazu?«

»Das ist mein Geheimnis, gnädige Frau. Sie werden es aber erfahren, wenn wir unser Geschäft geordnet haben.«

»Ein neues Zwangsmittel!«, murmelte die Hofdame, welche die Verschlagenheit des Leinwandhändlers bewundern musste, mit der er ihre Nachgiebigkeit provozierte.

»Sie haben mich selbst gelehrt, vorsichtig zu sein«, sagte Lucas achselzuckend.

»Zur Sache! Was fordert Ihr?«

»Das Vermögen, das von Gottes und Rechts wegen meinem Pflegesohn gebührt. Bis zu diesem Augenblick ist er der Meinung, ich sei sein richtiger Vater – wollen Sie also, dass dieses Verhältnis bestehen bleibt, so versetzen Sie mich in den Stand, wie ein richtiger Vater zu handeln.«

Die Oberhofmeisterin erschrak vor dieser Forderung, die in einem ruhigen, festen Ton geäußert wurde, als ob es sich um einen unbedeutenden Gegenstand handelte.

»Euch leitet der Eigennutz!«, sagte sie, ihre Bestürzung so gut wie möglich verbergend.

»Mag sein, die Zeiten sind schlecht wie die Menschen; durch fleißige Arbeit bringt man es zu nichts. Ich will nicht leugnen, dass dies eine Spekulation ist wie jede andere – aber sie kommt nicht allein mir und Ihrem Sohn zugute – Sie selbst, gnädige Frau, haben den größten Vorteil davon. Es wird niemandem einfallen, Sie eines jugendlichen Fehltritts zu zeihen; Sie bleiben die hochachtbare Dame, für die man Sie allgemein hält. Da Sie ohne Kinder sind, wird es durchaus nicht auffallen; vielmehr wird man es Ihnen als ein großes Verdienst anrechnen, wenn Sie einen armen Mann zu Ihrem Erben einsetzen. Unter welchem Vorwand dies auszuführen ist, wird Ihnen der Herr Kammerpräsident am besten zu sagen wissen. Ihm können Sie sich anvertrauen, denn er ist ja bei der Angelegenheit nicht minder beteiligt als Sie. Doch wozu setze ich Ihnen das alles auseinander.«

In diesem Augenblick trat Nathalie ein. Sie war verwundert, ihre Tante mit dem Leinwandhändler in einem ruhigen Gespräch zu sehen.

»Wo ist Eure Ware?«, fragte die Hofdame anscheinend gleichgültig.

»Draußen im Vorzimmer, gnädige Frau. Es sind zwei Stücke feinster Leinwand.«

»Nennt mir den Preis.«

Zwanzig Gulden für das Stück.«

»Gut. Nathalie, sieh nach, ob die Ware preiswürdig ist – ich bin geneigt, sie zu kaufen.«

Das junge Mädchen entfernte sich. Als es die Tür öffnete, sah Lucas mehrere Männer im Vorzimmer. Er warf einen fragenden Blick auf die Oberhofmeisterin. Diese verstand ihn, denn sie antwortete:

»Es sind meine Leute – wie ich sehe, bedarf ich ihrer nicht!«

»Zum Glück für uns beide.«

»Geht«, rief sie durch die Tür, »das Missverständnis hat sich aufgeklärt!«

»Jetzt soll Sommer nicht mehr über mich triumphieren!«, flüsterte Lucas vor sich hin. »Mag er immerhin die Quelle seines Reichtums verschweigen – ich werde ihn nicht mehr zu beneiden haben. Mit einer Kleinigkeit lasse ich mich nicht wieder abspeisen.«

Die Oberhofmeisterin schloss die Tür und trat in das Zimmer zurück.

»Wo haben wir uns das letzte Mal gesprochen«, fragte sie.

»Auf der großen Brücke in Dresden.«

»Ich händigte Euch eine Summe zur Auswanderung ein.«

»Ganz recht; aber mein Weib wurde krank, und ich musste meine Reise aufschieben. Als sie nach einem Jahr wieder genas, war mein Geld so weit zusammengeschmolzen, dass ich meinen Auswanderungsplan aufgeben musste. Ich etablierte nun einen Leinwandhandel, der mich kümmerlich ernährte. Später starb meine Frau, und mir lag die Ernährung der Familie ob. Meine Handelsgeschäfte brachten mich in diese Gegend und in Ihr Haus – Sie wiederzuerkennen war nicht schwer, da der Ton Ihrer Stimme sich nicht verändert hat.«

»Sie fordern also ein Vermögen für das Kind?«, fragte sie ruhig.

»Ja, gnädige Frau. Ludwig ist achtundzwanzig Jahre alt; es ist Zeit, dass er etwas beginnt.«

»Wo befindet er sich in diesem Augenblick?«

»Nicht weit von hier, gnädige Frau.«

»Ich möchte ihn sehen.«

»Dann müsste ich ihn zuvor mit dem Geheimnis bekannt machen.«

»Er weiß wirklich nichts davon?«, fragte die Oberhofmeisterin mit einem stechenden Blick.

»Er ist der Meinung, dass seine Mutter gestorben ist.«

Die Oberhofmeisterin sann einen Augenblick nach. Es regte sich kein Muttergefühl bei dem Gedanken an ihr Kind; das Herz schwieg, nur der Verstand sagte ihr: Die Wichtigkeit der Sache erfordert, dass man die Leute kennenlernt, die man zu fürchten hat.

»Kann ich darauf rechnen …«, fragte sie, die forschenden Blicke fest auf Lucas gerichtet, »kann ich darauf rechnen, dass ich Ludwig Funke und keinen andern zu sehen bekomme?«

»Bei meiner Ehre!«, antwortete Lucas beteuernd.

Ich muss Zeit gewinnen, dachte die Oberhofmeisterin. »Gut«, sagte sie laut, »ich will Euch trauen, Funke; stellt mir den jungen Menschen vor, und finde ich, dass er des Glückes wert ist, das Ihr ihm zugedacht habt, so werde ich mich mit Euch verbinden, seine Zukunft zu sichern. Verschweigt ihm, dass Ihr ihn zu einer Dame führt, die das lebhafteste Interesse für ihn hegt.«

»Befürchten Sie nichts, gnädige Frau! Er würde es mir nicht einmal glauben, wenn ich ihm sagte, dass seine Ernährerin nicht seine Mutter gewesen ist. Aber unter welchem Vorwand soll ich ihn zu Ihnen führen? Wo wollen Sie ihn sehen?.«

»Nicht in meinem Haus!«, sagte die Oberhofmeisterin eifrig.

»Sie haben zu bestimmen.«

Die Hofdame sann einige Augenblicke nach. Plötzlich fielen ihre Blicke auf ein Gartenhaus, das sich zwischen den blätterlosen Zweigen der Bäume vor dem Fenster zeigte und dicht an dem Gitter stand.

»Seht Ihr jenes Haus«, fragte sie, mit dem Finger dorthin deutend.

Lucas sah durch das Fenster. Ein breiter Weg führte vom Wohnhaus zu dem zierlichen Gebäude, dessen Tür und Fenster dicht verschlossen waren.

»Ja!«

»Schlag sieben Uhr diesen Abend werde ich dort sein. Sendet Euern Sohn mit der quittierten Rechnung über die gekauften Waren, und ich werde ihm die Summe auszahlen. Die Gittertür wird er angelehnt finden. Alles Übrige überlasst mir.«

»Und wann kann ich mich zu dem Geschäftsabschluss einfinden?

»Euer Sohn wird Euch Antwort bringen. Ich zähle auf Eure Verschwiegenheit, Funke!«

»Wie ich auf Ihre Gerechtigkeit, gnädige Frau!«

Lucas grüßte und verließ das Zimmer. Er war zufrieden mit dem Ausgang der Sache. Im Vorzimmer übergab er Nathalie die Leinwand und entfernte sich, ein lustiges Liedchen zwischen den Zähnen summend. Die Domestiken sahen dem Mann, den man ihnen als verdächtig bezeichnet hatte, verwundert nach.

Zweites Kapitel

Lucas wählte den kürzesten Weg zu Werners Wohnung. Er traf den kleinen verwachsenen Mann in einem leidenden Zustand an. Der Tapezierer trug eine wollene Mütze, die den ganzen Kopf einhüllte, eine wollene Jacke, die fast bis an die Knie reichte, und große Pelzpantoffeln. Es lässt sich denken, dass der verkrüppelte Mensch in diesen Kleidern einen komischen Anblick bot. Verwundert blieb Lucas auf der Schwelle stehen, als er dieses gnomenartige Wesen erblickte.

Himmel, dachte er, wie würde sich die gnädige Frau, die ohne Zweifel einen hübschen, rüstigen Kerl erwartet, über ihren Sohn freuen, wenn sie ihn so erblickte! Mir kann es nur recht sein, wenn sie dieses Monstrum nicht anerkennt.

Werner zog seine Mütze aus den Augen und starrte den Besuch an.

»Was wollen Sie?«, fragte er leise mit seiner heiseren Stimme.

»Sie sind doch Herr Ludwig Werner?«, fragte Lucas, obgleich er ihn auf den ersten Blick erkannt hatte.

»Der bin ich; und Sie sind …?«

»Lucas ist mein Name.«

»Lucas!«, sagte Werner, und sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. »Ich habe Sie lange vergebens erwartet.«

»Man trifft ja den jungen Herrn so selten zu Hause an, dass man sich glücklich preisen muss …«

»Gut, Herr Lucas! Schließen Sie die Tür und nehmen Sie Platz. Aber vor allen Dingen bitte ich, leise zu reden, denn bei den dünnen Wänden sind wir vor Lauschern nicht sicher.«

Lucas warf sich auf einen Stuhl.

»Wir machten Bekanntschaft in der Waldschenke – ich freue mich, dass ich sie fortsetzen kann.«

Werner ließ sich in seinem Lehnstuhl nieder.

»Ich bin krank«, sagte er, »und deshalb ersuche ich Sie, mich zu entschuldigen, wenn ich nicht mehr als eben nötig rede. Der Arzt hat Ruhe anbefohlen, und vorzüglich soll ich jede geistige Aufregung vermeiden.«

»Oho!«, sagte Lucas. »Sie kennen den Gegenstand unserer Unterredung, denn ich habe ihn hinreichend angedeutet, als wir uns in der Waldschenke trennten. Es macht mir nichts aus, auf der Stelle den Weg zurückzugehen, den ich gekommen bin, denn meine Zeit ist sehr gemessen. Ich habe geglaubt, Ihnen eine Gefälligkeit zu erzeigen – wenn Sie aber wollen, komme ich in sechs Monaten oder in einem Jahr wieder, je nachdem wie mich meine Geschäfte in diese Stadt führen. Es tut mir leid, dass ich Sie in Ihrer Ruhe gestört habe, armer Freund!«

Lucas erhob sich und reichte Werner die Hand zum Abschied.

Werner sah mit seinen großen Augen zu ihm empor.

»Sie wollten mir Aufschluss über meine Eltern geben«, sagte er. »Mir liegt nichts daran, sie kennenzulernen, denn ich kann ihnen nicht für ein Leben danken, das mir eine Last ist. Geld und Gut habe ich nicht das Recht von ihnen zu fordern; wohl aber einen gesunden Körper. Die grobe Vernachlässigung, die mich zu einem gebrechlichen Menschen gemacht hat, muss mich mit Gleichgültigkeit gegen die Urheber derselben erfüllen.«

Der Geschäftsmann lächelte verlegen, denn die Wendung der Dinge passte nicht zu seinem Plan. Weigerte sich Werner, irgendetwas zu unternehmen, so war es um den in Aussicht stehenden Gewinn geschehen. Er dachte zwar an einen Stellvertreter; wo aber sollte er einen solchen in der kurzen Zeit des Nachmittags finden?

»Sie haben recht«, sagte er mitleidig; »ich hätte die Person erwürgen können, der ich den hübschen munteren Ludwig anvertraut hatte. Aber was konnte ich tun? Das Unglück war einmal geschehen und keine Macht der Welt hätte es ändern können.«

»Lieber Mann, in welcher Beziehung standen Sie damals zu mir?«, fragte Werner, der ebenfalls Gleichgültigkeit erheuchelte, um dem schlauen Lucas gegenüber, den er im Verdacht einer Spekulation hatte, einen Plan zu verfolgen.

»Ihnen dies mitzuteilen, ist ja eben der Zweck meines Besuchs. In der Waldschenke nannten Sie mir den Namen Ludwig Werner – ich erinnerte mich des ernsten Kindes, das denselben Namen führte. Sie sind Tapezierer – auch jener Knabe ging von mir in das Haus eines Tapezierers über – wie konnte ich nun zweifeln, dass Sie derselbe sind, an den ich so oft gedacht habe.«

»Sie haben an mich gedacht?«, fragte Werner.

»Ah, man vergisst nicht so leicht ein Kind, das so schöne Anlagen zeigte, ein tüchtiger Mann zu werden. Unter meiner Sorge, unter meinen Augen haben Sie Ihre ersten Jahre verlebt, mein Bester! Und wissen Sie auch, dass ich Sie über das Taufbecken gehalten habe, dass Sie nicht Werner, sondern Funke heißen? Ja, ja, mein Name ist Lucas Funke.«

»Der Name tut nichts zur Sache«, sagte der Tapezierer. »Wenigstens wüsste ich nicht, welchem von beiden ich den Vorzug geben sollte. Ich bin elternlos, und wie man mich auch nennen mag, meine Verhältnisse bleiben dieselben.«

»Das kommt noch darauf an!«

»Wie? Steht mir eine Erbschaft in Aussicht?«, fragte Werner, ruhig lächelnd.

»Ich hätte eine andere Frage erwartet.«

Der Tapezierer sah neugierig auf.

»Traurige Verhältnisse«, fuhr Lucas fort, »trennten Sie früh von Ihren Eltern; Sie waren eine Waise, obgleich Vater und Mutter noch lebten. Ludwig«, sagte der Leinwandhändler mit erkünstelter Rührung, »deinem Vater blutete das Herz, dass er so wenig für dich tun konnte; er war selbst ein Bettler, und deshalb sah er es gern, dass dich der wohlhabende Tapezierer zu sich nahm. Ich glaubte, nicht besser für dich sorgen zu können, als meinen Schmerz zu bekämpfen, den mir die Trennung von dir bereitete, und dich dem guten, frommen Mann zu übergeben, von dem du nichts als den Namen Werner geerbt hast. Ich habe lange in traurigen Verhältnissen gelebt – der Zufall führte mich dir entgegen.«

»Ja, das ist seltsam!«, murmelte Werner, der den Besuch verwundert ansah. »Sie sind ja so gerührt, als ob Sie mein eigener Vater wären. Sie sprachen vorhin von einer Erbschaft …«

»Ja!«

»Fordern Sie nicht, dass ich mich Ihnen erkenntlich zeige?«

Lucas änderte den Ausdruck seines Gesichts. Mit einem Anflug von Impertinenz sagte er:

»Wenigstens dafür, dass ich Sie als den rechtmäßigen Erben legitimiere und dass ich Ihnen die Mutter nenne, die Sie zu beerben haben – vielleicht auch den Vater!«

»Also das ist Ihre Absicht. Meine Vermutung hat mich nicht getäuscht. Sie machten ein Geschäft mit meiner Erziehung, und jetzt wollen Sie ein zweites Geschäft mit meiner Anerkennung machen. Sie sehen, ich bin krank und gebrechlich – wahrlich eine schlechte Ware. Lassen Sie hören …«, fügte er wie im Überdruss hinzu, »wer ist mein Vater?«

»Sie sind ein seltsamer Mensch, mein Bester«, rief Lucas lachend, indem er sich wieder auf dem Stuhl niederließ. »Mir scheint, Sie wollen sich meiner Hilfe nicht bedienen, obgleich ich die einzige Person bin, die Ihnen nützlich sein kann. Wenn ich schweige, ist Ihnen die ganze Welt verschlossen; wenn ich rede, bieten sich Ihnen glänzende Aussichten dar. Von mir hängt es ab, ob Sie ein Mensch ohne Namen, ein armer Teufel bleiben, über den man lacht. Aber ich will Sie glücklich machen – und was fordere ich dafür?«

»Nun?«, fragte Werner gespannt.

»Eine kleine, eine winzig kleine Gefälligkeit.«

»Reden Sie.«

»Ich habe heute zwei Stück Leinwand verkauft und soll diesen Abend sieben Uhr die quittierte Rechnung einsenden, damit die Summe von vierzig Gulden ausgezahlt werde. Um dieselbe Zeit habe ich an einem zweiten Ort ein Geschäft, das mir von größerer Wichtigkeit ist.«

»Und nun wollen Sie, dass ich statt Ihrer das Geld erhebe?«

»Sie sind ein zuverlässiger Mann – ja, ich wollte Sie darum bitten.«

Werner saß einen Augenblick zusammengekauert in seinem Sessel und sah sinnend zu Boden. Plötzlich sah er den Leinwandhändler an.

»Herr Funke«, sagte er, »die Sache ist an und für sich so geringfügig, dass sie kaum einer längeren Unterhaltung wert erscheint. Ich bin gern gefällig; Ihr Freund Sommer wird Ihnen dies am besten bestätigen können. Nachdem Sie aber einen so großen Preis auf die Erfüllung Ihrer Bitte gesetzt haben, muss ich annehmen, dass Ihr Auftrag eine geheime Bedeutung hat. Hätten Sie mich ohne Umschweife darum ersucht, so würde ich es einfach und natürlich gefunden haben; so aber müsste ich ja mit Blindheit geschlagen sein, wollte ich anders davon denken. Meine anfängliche Weigerung, überhaupt auf Ihre Eröffnungen einzugehen, hatten keinen andern Zweck, als Sie auszuforschen. Sie sehen, dass Sie einen Fehlgriff getan haben und dass ich mich nicht wie einen einfältigen Tropf fangen lasse. Ich habe jetzt einen neuen Grund, Ihnen zu misstrauen.«

»Oho!«, rief Lucas, der sich ertappt sah, und nun zu seinem gewöhnlichen Mittel, der Unverschämtheit, seine Zuflucht nahm. »Wollen Sie mir nicht auch sagen, dass ich überhaupt an den unrechten Mann gekommen bin? Vielleicht bin ich auch der Lucas Funke nicht, der Sie erzogen hat.«

Werner erhob sich und sah seinen Gast mit durchdringenden Blicken an. Sein fahles, hageres Gesicht erhielt ein fast unheimliches Aussehen.

»Sie sind Funke«, sagte er, »und ich bin jenes unglückliche Geschöpf, dessen sich die herzlose Mutter gleich nach seiner Geburt entäußerte. Darüber kann weder bei mir noch bei Ihnen ein Zweifel bestehen. Aber mir scheint, es ist jetzt die Zeit gekommen, dass Sie endlich einmal von einer Angelegenheit absehen, die Sie bereits zur Ungebühr ausgebeutet haben. Die Mutter können Sie vielleicht nicht mehr unmittelbar erreichen; Sie bedürfen jetzt eines Mittels, und dieses Mittel, glauben Sie, in mir gefunden zu haben. Bekennen Sie es nur, dass ich Sie durchschaue, wenn Sie auch höhnisch lächeln und mich mit mitleidigen Blicken ansehen. Sie streben umsonst danach, mir meine Abhängigkeit von Ihnen zu beweisen. Nicht wahr, diese wollten Sie beweisen, als Ihre List nicht anschlug. Es bedarf Ihrer Mitwirkung nicht, mein Freund, wenn ich mir die Anerkennung verschaffen will, die mir meiner Geburt nach gebührt. Und könnte es nicht anders geschehen, so würde ich selbst Ihre Hilfe verschmähen, da mir meine Mutter, auch wenn sie ihre Pflicht nicht gegen mich erfüllt hat, zu lieb ist, um sie den Ränken eines Abenteurers preiszugeben.«

»O mein Freund, Sie werden grob!«, rief Lucas. »Sie wähnen, Sie seien von mir nicht abhängig? Gut, versuchen Sie Ihr Heil ohne mich. In einer Stunde finden Sie mich bei Ihrer Gegenpartei, und wenn man Sie für einen Verrückten hält, der ins Tollhaus geschickt werden muss, so können Sie von Glück sagen. Oder fürchten Sie das und schweigen lieber still, so werde ich die Dame aufmerksam auf Sie machen, werde ihr sagen: Dort, Madame, jener scheußliche Krüppel ist Ihr Sohn; er geht damit hausieren, um sich Anerkennung zu verschaffen; sehen Sie sich vor, er ist ein gefährlicher, raffinierter Bursche, dem man sich entledigen muss! Glauben Sie, Herr Ludwig Werner, dass diese Andeutung ohne Erfolg bleiben wird. Und glauben Sie, dass die vornehme, mächtige Dame mich dafür nicht gut bezahlen wird? Sie sehen, dass ich Ihrer nicht bedarf, um aus dieser Angelegenheit Geld zu ziehen. Selbst wenn ich nur auf eigene Faust handele, ist mir ein hübsches Kapitel gewiss. Aber ich bin ein guter Kerl und will sie nicht verderben, denn ich erinnere mich des kleinen Ludwigs, den meine verstorbene Frau gesäugt hat, noch immer mit väterlicher Anhänglichkeit. Also wählen Sie jetzt zwischen meiner Freundschaft und meiner Feindschaft. Ist Ihnen die Erstere lieber, so erfüllen Sie ohne zu fragen diesen Abend meinen Auftrag, und morgen sprechen wir weiter.«

»Wo ist die Quittung«, fragte Werner, anscheinend in Furcht gejagt.

»Hier!«

Lucas holte eine Brieftasche hervor, schrieb mit Bleistift einige Zeilen auf ein Papier und überreichte es dem Tapezierer. Dieser las:

»Für zwei Stück feiner Leinwand vierzig Gulden empfangen zu haben, bescheinigt Lucas Funke.«

»Und wem überreiche ich sie?«, fragte er.

Der Leinwandhändler beschrieb das Gartenhaus der Oberhofmeisterin, das dem Tapezierer bekannt war.

»Gartengitter und Haustür«, fügte er hinzu, »werden Sie offen finden. Eine Dame erwartet den Überbringer dieser Quittung, um das Geld auszuzahlen. Und damit Sie im Voraus den Beweis meiner guten Absicht erhalten, mache ich Ihnen die kleine Summe zum Geschenk. Dass Ihnen in dem Haus einer vornehmen Dame keine Unannehmlichkeiten begegnen können, in einem Haus, das mitten in der Stadt liegt, bedarf wohl keiner Erwähnung. Aber darauf muss ich Sie noch aufmerksam machen, dass Sie sich nur als den Boten des Papiers zeigen; Sie kennen weder den Absender, noch wissen Sie eine Silbe von Ihrer Herkunft. Um acht Uhr erwarte ich Sie hier in Ihrer Wohnung, und Sie werden mir Bericht erstatten.«

Werner verbarg das Papier ruhig in einem Schrank.

»Ist das alles, was Sie mir aufzutragen haben?«, fragte er dann.

»Ja!«

»Dann erlauben Sie mir eine Frage, Herr Lucas Funke.«

»Ich höre.«

»Sie glauben nun, dass ich nach Ihrer Pfeife tanze? Sie glauben, dass ich mich aus Furcht einem Unternehmen beigeselle, das ich aus tiefster Seele verabscheue?«

»Sie kennen meine Gewalt!«, flüsterte Lucas drohend und mit vor Zorn glühenden Blicken.

»Ich kenne Ihre Ohnmacht!«, antwortete der Tapezierer ruhig lächelnd.

»Teufel, meine Geduld geht zu Ende!«

»Verlängern Sie sie noch ein wenig, Herr Funke, und hören Sie mich ruhig an; ich meine es gut mit Ihnen, denn ich kann den nicht ins Unglück stürzen, den ich einige Jahre lang Vater genannt habe, wenn er es auch verdient. Sie wollen die Dame auf den scheußlichen Krüppel aufmerksam machen, der die Absicht hat, sich als ihren Sohn zu erkennen zu geben?«

»So wahr ich lebe, wenn Sie nicht ohne Widerrede …«

»Still, Lucas, so weit wird es nicht kommen. Was meinen Sie, wenn der scheußliche Krüppel die Dame auf den Dieb aufmerksam macht, der ihr ein Paket Briefe und ein Kästchen mit wertvollem Geschmeide gestohlen hat?«, sagte Werner ganz leise, wobei er sich dem Ohr des Leinwandhändlers zu nähern suchte. »Ob die Dame dann wohl geneigt sein wird, sich mit Ihnen zum Sturz meiner Person zu vereinigen? Und, frage ich, wer ist jetzt der Abhängige von uns beiden?«

Lucas starrte den Buckligen an. Es war ersichtlich, dass er danach rang, seine Bestürzung zu verbergen.

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte er.

»Ihrem Scharfsinn kann es nicht schwerfallen, mich auch ohne Erklärung zu verstehen. Ich füge nur noch hinzu, dass ich Beweise besitze, den Dieb zu überführen. Jetzt ziehen Sie einen Schluss und richten Sie Ihre Forderungen danach aus.«

»Element«, rief Lucas auffahrend, »das klingt ja fast, als ob Sie mich für …«

»Still, wackerer Mann, still!«, unterbrach ihn Werner, indem er seine große, hagere Hand emporstreckte. »Ich erinnere Sie daran, dass meine Wände sehr dünn sind.«

Der Leinwandhändler kniff zornbebend seine Lippen zusammen.

»Sie wollen mich also als einen Dieb anklagen?«, flüsterte er.

»Sobald Sie sich unterstehen, irgendetwas in meiner Familienangelegenheit zu unternehmen. Sie sind abgefunden, und wenn ich später etwas für Sie tun will, so wird das nur von meinem guten Willen abhängen!«, gab Werner fest und entschieden zur Antwort, wobei seine großen Augen im Feuer der Entrüstung glühten.

»Elender Wurm!«, zischte Lucas, dessen Gesicht bleich geworden war.

Der Tapezierer war hinter seinen Lehnstuhl getreten.

»Spotten Sie meines Körpers, dessen Verkrüppelung Sie auf dem Gewissen haben, wenn Sie noch ein Gewissen besitzen!«, antwortete er in einem ruhigen Ernst. »Aber fürchten Sie das Übergewicht meiner moralischen Stellung, das ich in seinem ganzen Umfang geltend machen werde. Wenn ich als Ihr Ankläger auftrete, sind Sie rettungslos verloren. Ich wollte schweigen, aber Sie selbst haben mich zu reden gezwungen. Leiten Sie aus meinen Jugendverhältnissen keine Schonung für sich ab; mein Entschluss steht unerschütterlich fest. Wagen Sie einen Schritt, und Sie sind dem Arm der Gerechtigkeit verfallen. Mir wird man glauben, aber Ihnen nicht!«

Es ist klar, dachte der wutbebende Lucas, Sommer hat geschwatzt! Ich wüsste nicht, wie er sonst mein Geheimnis erfahren haben könnte. »Der elende Schuft!«, murmelte er zwischen den Zähnen. »Er soll es büßen!«

»Sie scheinen zu zweifeln, dass ich wirklich die angedrohte Gewalt über Sie besitze«, sagte Werner, der über die hohe Lehne des Stuhls hinwegsah, als ob er das Möbel zu seinem Schutz verwenden wollte. »Zweifeln Sie nicht, ich habe für alles vorgesorgt. Sie können mich, den kranken, schwachen Menschen, mit einem Schlag niederschmettern, dass mein Mund für ewig schweigt, aber auch mein Schweigen wird Ihre Anklage sein. Ich habe gewisse Papiere an einem andern Ort niedergelegt – sie werden erbrochen, wenn mir plötzlich ein Unglück geschehen sollte. Unter diesen Papieren befindet sich auch eine Schrift, wonach ein gewisser Lucas Funke eidlich angelobt, einen Knaben ordentlich und christlich zu erziehen, als ob er sein leibliches Kind wäre, und nie solle ein Mensch erfahren, dass Ludwig anderer Abstammung sei als der angegebenen. Diesem Papier habe ich die nötigen Erläuterungen beigefügt. Nicht wahr, Sie erinnern sich doch, dass eine solche Schrift vorhanden ist? Diese Schrift befand sich bei den entwendeten Sachen.«

»Und daraus wollen Sie schließen, dass ich der Dieb bin?«, fragte Lucas mit frecher Stirn, denn er schöpfte neue Hoffnung, den Verdacht von sich dadurch abzuwälzen, dass er den Buckligen irreleitete.

»Es bleibt der Kriminalbehörde überlassen, einen Schluss zu ziehen, wenn sie meine Erläuterungen gelesen hat. Doch wir müssen zu Ende kommen, und darum hören Sie meine Bedingungen.«

»Bedingungen?«, fragte Lucas höhnend. »Kleiner Mann, sind Sie toll geworden, dass Sie mir Bedingungen stellen wollen?«

»Die Erfüllung derselben hängt freilich von Ihnen ab.«

»Gut, ich will doch sehen, wie weit Sie den Spaß treiben. Was haben Sie von mir zu fordern?«

»Sie überlassen mir allein die Verhandlungen mit der bewussten Dame.«

»Vortrefflich! Was weiter?«

»Sie verlassen, aus Rücksicht auf Ihre Sicherheit, auf der Stelle die Stadt und geben mir einen Ort an, wo ich das für Sie einkassierte Geld niederlegen kann, sodass es in die richtigen Hände gelangt. Ist es mir möglich, noch eine Summe beizufügen, so wird es geschehen. Ich denke, Sie schlagen den Weg ein, den ich Ihnen jetzt bezeichne, denn er ist friedlich, gefahrlos, und dass er für Sie zu einem Ziel führt, verbürge ich Ihnen hiermit. Durch mich sollen Sie die Mittel erhalten, ein ordentlicher Mann zu werden, das heißt, Europa zu verlassen, wie Sie längst beabsichtigt haben. Weigern Sie sich, auf diesen Vorschlag einzugehen, so muss ich leider vergessen, dass Sie mein Pflegevater sind.«

»Ist das alles?«

»Nein!«

»Ich höre weiter!«, sagte Lucas, indem er sich auf seinen Stock stützte.

»Antworten Sie mir: Dass Sie die Dame in dieser Angelegenheit bereits gesprochen haben, ist klar?«

»Ja!«

»Inwieweit haben Sie ihr Aufschlüsse über mich gegeben?«

»Über Sie?«

»Oder vielmehr über ihren Sohn?«

»Nun …«, sagte Lucas, dem das Vorteilhafte des vorgeschlagenen Handels einleuchtete, da er als Dieb ertappt zu werden fürchtete, »nun, sie will den sehen, der ihr Sohn ist. Da habe ich ihr denn gesagt, dass ich ihn mit der Rechnung schicken würde.«

»Stellte die Dame keine Bedingungen?«

»O daran ließ sie es nicht fehlen!«

»Nun?«

»Der junge Mann solle nicht wissen, dass er zu seiner Mutter käme. Das habe ich versprochen; aber leider wussten Sie schon …«

»Hier sind Sie ohne Schuld; ich werde mich danach zu benehmen wissen.«

»Also wollen Sie zu ihr gehen?«, fragte Lucas.

»Aus eigenem Antrieb – verstehen Sie? Aus eigenem Antrieb!«, sagte Werner betonend. »Ich bin der Agent, nicht Sie!«

»Nun, dann sind wir ja im Reinen!«, rief Lucas, indem er freudig aufsprang. »Verhandeln Sie statt meiner, und die Sache ist abgemacht.«

»Nicht ganz!«, sagte Werner bedächtig.

»Haben Sie noch Bedenken? Himmel, welch ein Misstrauen! Bedenken Sie doch, dass Vater und Sohn einer gewissenlosen Mutter gegenüberstehen, einer bösen, verschlagenen Frau, die kein Mittel unversucht lassen wird, uns unschädlich zu machen.«

»Eben dieses habe ich bedacht! Um ihr völlig gerüstet entgegentreten zu können, müssen Sie mir alles mitteilen, was Sie von den früheren Verhältnissen wissen.«

Lucas wurde zutraulich und erzählte die ganze Geschichte noch einmal, die der Leser bereits kennt. Der Eintritt der Wirtin unterbrach den Erzähler. Sie war erstaunt, den Fremden zu sehen, dem sie in ihrer Schwatzhaftigkeit so verfängliche Mitteilungen gemacht hatte.

»Sie sind wieder in der Stadt?«, fragte sie.

»Element«, rief Lucas, »ich muss doch meinen kleinen Vetter einmal besuchen.«

»Ihren Vetter?«

»Sie haben mich so oft abgewiesen, dass ich Gott danken muss, ohne Sie die Tür gefunden zu haben.«

Die gute Frau gab dem Leinwandhändler einen verstohlenen Wink zu schweigen.«

»Was wollen Sie zu Abend essen?«, fragte sie ihren Mietsmann.

»Nichts!«, gab Werner kalt zur Antwort. »Ich bin zu Tisch geladen.«

»Vielleicht bei Seiner Durchlaucht, unserm Fürsten selbst?«, fragte die Alte ironisch. »Nein, Sie glauben nicht«, wandte sie sich eifrig zu dem Gast, »was für vornehme Bekanntschaften Ihr Vetter hat. Bald schickt der Kammerjunker, bald die Oberhofmeisterin, bald der Kammerpräsident, bald der Legationsrat, der neulich geadelt wurde – es sollte mich nicht wundern, wenn mein Mietsmann selbst noch geadelt und bei dem Fürsten zur Tafel geladen wird!«

Lucas machte ein ernstes Gesicht. Hätte er noch geschwankt, sich dem Vorschlag Werners zu fügen, diese Worte der Alten würden seinen Entschluss entschieden haben. Der kleine Bucklige schien ihm jetzt ganz der Mann zu sein, der ihm schaden und nützen konnte. Um seine völlige Ergebenheit an den Tag zu legen, erhob er sich, gab dem Tapezierer die Hand und sagte:

»Ich gehe jetzt, Vetter, weil ich vor Abend noch einige Geschäfte zu besorgen habe, die ich nicht aufschieben kann.«

»Wann werden Sie reisen?«, fragte Werner mit einem bedeutungsvollen Blick.

»Sobald Sie den Brief geschrieben haben, den ich mitnehmen soll.«

Der Tapezierer sann einen Augenblick nach. Dann sagte er:

»Besuchen Sie mich morgen Mittag, und Sie werden den Brief erhalten.«

Nach einem kräftigen Händedruck, den nur die beiden Männer verstanden, entfernte sich Lucas. Die Wirtin gab ihm das Geleit bis zur Tür. Sie wollte ein Gespräch anknüpfen; Lucas aber entzog sich ihm unter dem Vorwand, dass er schon zu lange bei dem Vetter geblieben sei.«

»An der Sache stimmt etwas nicht!«, murmelte die Alte, indem sie die Tür schloss. »Mir hat Werner gesagt, er habe keine Verwandten mehr in der Welt, und nun ist plötzlich ein Vetter da, als ob er vom Himmel gefallen wäre. Als er vorigen Herbst hier war, schien er von der Verwandtschaft noch nichts zu wissen. Man will mich betrügen, das ist klar! Aber ich werde mich nicht betrügen lassen. Diese verwünschte Geheimniskrämerei, sie drückt mir noch das Herz ab.«

Mürrisch stieg sie wieder die Treppe hinauf. Werners Tür war verschlossen. Die Frau klopfte und rief.

»Wenn ich angekleidet bin, komme ich zu Ihnen«, rief der Bewohner des Zimmers.

»Gerechter Gott, wollen Sie denn ausgehen? Sie sind ja krank!«

»Ich bin von dem Fürsten zur Tafel geladen!«, antwortete Werner. »Bei solchen Gelegenheiten achtet man eine kleine Krankheit nicht.«

Es dämmerte schon, als Werner im Hausflur erschien. Die Alte starrte ihn überrascht an, denn er trug seine besten Kleider. Werner benutzte das sprachlose Erstaunen der Alten, öffnete ruhig die Tür und trat auf die Straße hinaus. Die Frau eilte in die Stube, um ihm durch das Fenster nachzusehen.

»Bei Gott im Himmel, er schlägt den Weg zum Fürstenhaus ein!«, rief sie aus. »Nun zweifele ich nicht mehr, dass er der Sohn der Oberhofmeisterin ist!«

Drittes Kapitel

Um dieselbe Zeit schlich ein Mann, fest in einen Mantel gehüllt, an der Häuserreihe der Vorstadt hin. Der Schnee kreischte unter seinen Füßen und ein scharfer Nordost sauste ihm ins Gesicht. Vor dem uns bekannten Häuschen blieb er stehen und sah empor. Gretchens Fenster war finster. Der Legationsrat – dieser war der Mann im Mantel – öffnete die Tür und trat in den kleinen dunklen Hausflur. Unbemerkt stieg er die schmale Treppe hinauf, öffnete die ihm wohlbekannte Tür und trat in das Stübchen. Nichts regte sich, außer einem Feuer, das in dem kleinen Ofen brannte und den Raum mit angenehmer Wärme und einem matten Dämmerschein erfüllte.

Wolfgang blieb einen Augenblick neben der Tür stehen. Indem seine Blicke nach der Bewohnerin forschten, stellte er unwillkürlich Vergleiche zwischen dem fürstlichen Schloss und diesem kleinen, fast ärmlichen Häuschen an. Jedes hatte seine eigentümliche Poesie, und der Dichter musste sich eingestehen, dass hier das Herz und dort die Sinne befriedigt wurden. In dem Wechsel fand er einen eigentümlichen Reiz; nach der Unterhaltung mit der geistreichen, blendenden Aurelie sehnte er sich doppelt nach dem einfachen, unschuldigen und anmutigen Gretchen, das mit der Glut der ersten Liebe an ihm hing. Hier empfing ihn kein Diener, kein listiges Kammermädchen, kein seidenes Kleid rauschte ihm auf prachtvollen Teppichen entgegen – und dennoch erwartete ihn ein größeres Glück, als er bei der eleganten Dame gefunden hatte. Er musste ein Gefühl unterdrücken, das der Reue nicht unähnlich war. Der Gedanke, wie Gretchen wohl reagieren würde, wenn sie sein zärtliches Verhältnis zu Aurelie erführe, fiel ihm zum ersten Mal auf das Herz.