Der Tote gibt Indizien - Beverley Nichols - E-Book

Der Tote gibt Indizien E-Book

Beverley Nichols

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Beschreibung

Gräfin Kendall: lebt von ihrem reichen Mann getrennt. Der ehrenwerte Kendall: Muttersöhnchen. Paul Stole: ein aufgeblasener Journalist. Mrs. Florence Dee: Witwe eines Schankwirtes. Kay Dawn: eine vielversprechende, junge Schauspielerin. Susan Frost: altjüngferliche Tierliebhaberin. Maisie Kent: die nicht allzu geliebte Schwester Sir Owens, der diese Liste verdächtiger Personen schrieb, um einen angekündigten Mord zu verhindern. Doch nicht einmal Mr. Green gelingt es, den Tod aufzuhalten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 314

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Beverley Nichols

Der Tote gibt Indizien

Aus dem Englischen

FISCHER Digital

Inhalt

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1

«Eigentlich», sagte Mr. Green, «müßte ich ein sehr glücklicher Mann sein.»

Seine reizende Nichte Charlotte blickte von ihrer Gobelinstickerei auf. «Aber, mein Lieber, das bist du doch!»

«Stimmt – aber gerade jetzt fällt es mir besonders auf.»

«Weshalb?»

Er gab keine Antwort. Erklärungen wären schwierig gewesen, selbst Charlotte gegenüber.

Mr. Green lehnte sich ans Fenster und preßte seine kurze Stupsnase an das kalte Glas. Er schnüffelte ganz diskret. Sein Geruchssinn war besonders stark entwickelt; das hatten während der letzten dreißig Jahre gar viele Verbrecher zu ihrem Leidwesen erkennen müssen. Selbst Glas besaß für ihn einen eigenartigen Duft, wenn es auch nur die Assoziation mit Eis und Nordwind bedeutete.

Aber seine jetzige glückliche Stimmung hatte nichts zu tun mit seinem Geruchssinn, und auch nichts mit Verbrechen. Er blickte in seinen sorgfältig und liebevoll angelegten Garten hinaus, der die schönste Belohnung war für viele Jahre geduldiger Arbeit. Es war einer der kürzesten Tage des Jahres, und das Licht schwand bereits, obwohl es kaum vier Uhr war. Für jeden anderen Menschen – außer für seinen Besitzer – hätte der Garten kahl und leer ausgesehen mit seiner schneebedeckten Rasenfläche und den Bäumen, die ihre nackten Arme zum grauen Himmel emporreckten. Einzig Mr. Green vermochte hinter diesem nüchternen Aussehen das verborgene, erregende Leben zu erfühlen. Einzig er hätte von den ersten grünen Spitzen der Schneeglöckchen erzählen können, die sich bereits in der Erde regten, von dem einsamen Krokussproß, der sich in einer geschützten Ecke zu früh vorgedrängt hatte, und von dem rötlichen Auge einer Japonica, die an diesem selben Morgen etwas erstaunt in die winterliche Welt geblickt hatte.

Mit zufriedenem Lächeln drückte Mr. Green auf einen elektrischen Knopf unter dem Fensterrahmen – und plötzlich gewann der Garten Leben; denn dieser Knopf betätigte den Mechanismus einer Fontäne, die inmitten des kleinen Hofes direkt vor dem Fenster aufsprang. Es war nur ein ganz bescheidener Springbrunnen, das kleine Becken eben groß genug für eine einzige Wasserlilie, aber er stellte die Erfüllung eines jahrelangen Wunschtraumes von Mr. Green dar. Hier sprühte er nun sein Wasser in die Dämmerung und fing ein letztes Glitzern von dem goldenen Fleck am Himmel auf, so daß dann und wann dunkelrote Rubine zwischen den Diamanttropfen aufleuchteten.

Mr. Green stieß einen tiefen Seufzer der Befriedigung aus. Ja, er durfte sich wirklich glücklich heißen. Zugegeben, er war bereits sechzig, aber das brauchte bei einem Manne wie ihm noch keineswegs zu bedeuten, daß er langsam senil wurde. Sein Geist war noch so frisch wie eh und je, und auch der Körper befand sich in verhältnismäßig befriedigendem Zustand. Das bißchen Rundlichkeit wollte gar nichts besagen. Zugegeben auch, daß er kein reicher Mann war, doch seine Einkünfte genügten immerhin, um ihm und seiner Nichte ein behagliches Leben zu ermöglichen. Er hatte keine Schulden, das Häuschen gehörte ihm, Mrs. Marsh war eine Perle von Haushälterin, und seine tyrannische Katze Faversham hätte er um keinen Preis hergegeben. Ihren hochtrabenden Namen verdankte sie einem der größten Erfolge Mr. Greens, der als der Fall «Mondblume» weitumher bekanntgeworden war. Und schließlich besaß er, trotz seiner Vertrautheit mit den häßlichsten Seiten des Lebens, einen tiefverwurzelten Glauben an Gottes Güte.

Er stellte seinen Springbrunnen wieder ab. Der Garten schien seine Augen zu schließen und einzuschlafen.

Ein leises Lachen ertönte hinter ihm. «Das war es also?»

Befriedigt wandte er sich um. «Die Fontäne? Ja, in gewissem Sinne war sie der Grund meiner Zufriedenheit.»

«Als Symbol deiner Erfolge?»

«Das klingt allzu wichtigtuerisch. Wir wollen es lieber das letzte Sträußchen an meinem Hut nennen – wenigstens das letzte, das ich noch pflücken durfte.»

Und in diesem Augenblick klingelte die Türglocke.

 

«Ach du liebe Zeit! Erwartest du jemanden?»

Mr. Green schüttelte den Kopf.

«Mrs. Marsh ist ins Dorf gegangen. Soll ich sagen, du seist nicht zu Hause?»

«Bitte, wenn möglich.»

Charlotte eilte hinaus und schloß die Tür hinter sich. Aus der kleinen Vorhalle ließ sich Stimmengemurmel vernehmen. Der Besucher wollte sich anscheinend nicht abweisen lassen. Mr. Green runzelte die Stirn; er bildete sich immer ein, seine Nichte vor allen schwierigeren Problemen des Lebens beschützen zu müssen. In Tat und Wahrheit verhielt es sich zwar genau umgekehrt.

Charlotte kam ins Zimmer zurück; sie sah bedrückt aus und sprach beinahe im Flüsterton.

«Es tut mir so leid, Onkel. Sir Owen Kent ist da, und – und eine Dame. Anscheinend wissen sie, daß du zu Hause bist. Jedenfalls gelang es mir nicht, sie abzuwimmeln.»

«Sir Owen Kent?» Der Name hing irgendwie mit Geld zusammen. Und plötzlich erinnerte sich Mr. Green: natürlich, es konnte sich nur um den großen Finanzmann handeln, der seit etwa zehn Jahren in den Zeitungen so viel von sich reden machte. «Was will er?»

«Er behauptet, es gehe um Leben oder Tod.» Charlotte seufzte, aber gleichzeitig mußte sie ein leichtes Lachen unterdrücken. Diese Phrase klang so schrecklich abgedroschen. Immer und immer wieder zerrte man ihren Onkel damit aus seiner Abgeschiedenheit, und dann riskierte er Gesundheit und Leben. Und hier war sie nun wieder.

Mr. Green schien die gleichen Gedanken zu haben. «Um Leben oder Tod! Ich glaube, diese Worte sind mir nicht so ganz neu. Tatsächlich …» Ehe er weiterreden konnte, wurde er von einer fremden Stimme unterbrochen.

«Sie haben diese Worte bestimmt schon oftmals vernommen – und bis heute sind Sie ihnen noch immer gefolgt.»

Charlotte fuhr erschrocken zurück. Sir Owen Kent stand unter der Tür und im Schatten hinter ihm eine Frau mit blassem Gesicht.

Er trat einen Schritt vor. «Bitte, erinnern Sie mich nicht daran, daß mein Eindringen hier unverzeihlich ist, Mr. Green. Ich bin mir völlig klar darüber. Aber da es sich wirklich, wie diese junge Dame sagte, um Leben oder Tod handelt, und da Sie der einzige Mensch sind, der mir helfen kann –» Er ließ den Satz unvollendet und streckte seine Hände wie hilfeflehend aus.

Ein kurzes Schweigen entstand. Charlotte gewahrte ärgerlich ein hastiges Blinzeln in den Augen ihres Onkels. Das war immer ein Zeichen intensiven Nachdenkens bei ihm. Wie sollte sie diesmal das Blinzeln deuten? Wenn sie seine Gedanken erkannt hätte, wäre sie noch viel unruhiger gewesen.

Denn Mr. Green – trotz seinem geordneten bürgerlichen Leben, trotz seinem schönen Garten und seinem zufriedenstellenden jährlichen Einkommen, trotz seiner gemütlichen Rundlichkeit und sogar trotz seinem Springbrunnen – besaß immer noch große Ähnlichkeit mit einem alten Schlachtroß, das friedlich auf der Weide grast, aber beim Ertönen einer fernen Trompete sofort die Ohren stellt und zum Gatter galoppiert, um auf die Straße zu starren.

Sir Owen hatte diese Trompete ertönen lassen. «Sie sind der einzige Mensch, der mir helfen kann …»

Mr. Green reckte die Schultern und streckte die Hand aus.

«Danke», sagte Sir Owen rauh und drehte sich zu der Dame um, die hinter ihm stand. «Darf ich Ihnen meine Sekretärin vorstellen, Miss Delamere?»

Wiederum blinzelte Mr. Green, und zwar mit voller Berechtigung, denn Miss Delamere war außerordentlich hübsch. Und dann sprach er zum erstenmal. «Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Katzen?»

Sie lächelte und beugte sich zu Faversham hinunter. «Im Gegenteil, ich liebe sie.» Dann hob sie den Kopf und blickte ihren Arbeitgeber an. «Und wenn ich für Sir Owen sprechen darf: auch er ist ein großer Katzenfreund.»

Im Hintergrund schüttelte Charlotte ihr weises Haupt. Sie hatte das deutliche Empfinden, daß ihr Onkel bereits hoffnungslos verloren war. Aber sie nahm sich vor, für ihn zu kämpfen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Vorläufig ließ sich nichts anderes tun, als abzuwarten und Sir Owens Geschichte zu lauschen.

Sie setzte sich möglichst in den Schatten, so daß sie die Gesichter ruhig betrachten konnte. Sir Owen mochte um die Fünfundfünfzig herum sein, obwohl er mit seinem grauen Haar und den tiefen Furchen in der Stirn eigentlich älter wirkte. Er war groß und hager, seine Haltung die eines Soldaten. Auffallend schön waren seine schlanken gepflegten Hände.

Der Finanzmann begann zu sprechen.

«Ich will mich so kurz wie möglich fassen: ich habe gute Gründe zu glauben, daß jemand mir nach dem Leben trachtet. Doch ich weiß weder, wer es sein könnte und wie es geschehen soll, noch ist mir der Grund dazu bekannt. Aber ich kenne den ungefähren Zeitpunkt.»

Er blickte Mr. Green an, als ob er auf eine Erwiderung warte. Doch der alte Herr nickte bloß.

«Man hat mir Warnungen zukommen lassen, sowohl telefonische wie schriftliche. Die Anrufe begannen vor drei Monaten. Und die Art, wie sie übermittelt wurden, scheint mir besonders wichtig, denn man versuchte dabei, Luise – ich meine Miss Delamere – hineinzuziehen.»

Seine Hand blieb einen Augenblick auf Miss Delameres Fingern liegen. «Luise wird mich entschuldigen, wenn ich Ihnen bekenne, daß sie mir mehr als eine Sekretärin ist. Im übrigen weiß wahrscheinlich jedermann darum Bescheid. Wären nicht besondere Umstände zu berücksichtigen, so hätte ich sie geheiratet. Doch so, wie der Fall liegt, kann ich nur sagen, daß ich ein tiefes Gefühl für sie hege, das meines Wissens von ihr geteilt wird. Und außerdem vertraue ich ihr vollkommen. Ich würde auch mein Leben in ihre Hände legen.»

Mr. Green fühlte, daß eine Reaktion von ihm erwartet wurde. Er wandte sich zu Miss Delamere und machte vor ihr eine leichte Verbeugung. Das zarte Erröten, das ihre Wangen überzog, ließ sie noch schöner erscheinen. Ihr Gesicht war ein vollkommenes Oval, das von weichem dunklem Haar eingerahmt wurde. Sie trug es schlicht gescheitelt in der Art der florentinischen Madonnen. Ihre tiefliegenden Augen waren von langen Wimpern umschattet, und die Natur hatte sie mit schmalen, prächtig geschwungenen Brauen bedacht.

«Ich werde Ihnen sogleich die Art dieser Telefonanrufe erläutern, doch zuerst ein paar wichtige Vorbemerkungen: mein Londoner Haus in Hyde Park Gardens ist so eingerichtet, daß das Erdgeschoß völlig für sich abgeschlossen ist. Dieses bildet eine vollkommen eingerichtete Wohnung für Luise, in der ich mir ein Arbeitszimmer reserviert habe. Außer uns beiden betritt kein Mensch diese Wohnung – nicht einmal eine Aufwartefrau. Niemand besitzt einen Schlüssel, und niemand kennt die Nummer des Geheimtelefons. Ich wiederhole ausdrücklich: niemand!»

Er drehte sich zu Miss Delamere um. «Liebe Luise, wir haben bereits mehrmals über Mr. Greens besonders ausgeprägten Sinn für die Wahrheit gesprochen. Gerade dieser Instinkt ist einer der Hauptgründe, weshalb ich ihn – teilweise auf deine Bitten hin – aufsuchte. Ich habe aber in meinem Leben so viele Lügen vorgebracht, daß ich nicht erwarten kann, er werde meine Worte einfach auf Treu und Glauben hinnehmen. Darf ich dich daher bitten, an meiner Stelle fortzufahren?»

«Natürlich.» – Mr. Green bemerkte, daß sie Sir Owens Lächeln nicht zurückgab. – Sie sprach mit einer warmen, fast sinnlichen Altstimme, aber in dem beherrschten Ton einer perfekten Sekretärin. «Sie sehen: der springende Punkt liegt darin, daß ich außer Sir Owen der einzige Mensch bin, der seine Telefonnummer kennt. Er hat sie bestimmt niemandem mitgeteilt, denn er besitzt eine geradezu fanatische Abneigung dagegen, sein Privatleben der Öffentlichkeit preiszugeben. Ich respektiere diese Abneigung, und ich kann Ihnen nur versichern, daß auch ich seine Geheimnisse keiner lebenden Seele verraten habe – es müßte denn im Schlafe geschehen sein, oder ich wäre wahnsinnig geworden. Glauben Sie mir das?»

Hinter all ihrer geschulten Korrektheit lag eine ehrliche Bekümmernis in ihrer Stimme. Ihre Augen blickten Mr. Green offen an.

«Ich glaube Ihnen», bemerkte er ruhig. «Nur eine kleine Frage: Wurde diese Telefonnummer niemals niedergeschrieben?»

«Ganz bestimmt nicht. Wir behielten sie beide im Kopf.»

«Dürfte ich Sie bitten, mir diese Nummer zu sagen?»

Sir Owen fuhr auf. «Weshalb wollen Sie sie wissen?»

«Ich habe nicht die leiseste Ahnung.»

Sir Owen furchte die Stirn, aber sein scharfer Blick wurde von Mr. Green mit einem unschuldsvollen Lächeln beantwortet.

«Ein Detektiv kommt mir oft vor wie ein Trödelkrämer. Kleine Fetzen von Tatsachen, Fragmente von zerbrochenem Glas, vergilbte Schriften … selbst private Telefonnummern. Man weiß nie, wann sich einmal ein Stückchen dieses Sammelsuriums als brauchbar erweist.»

Sir Owen starrte ihn an mit der Miene eines Mannes, der seinen ebenbürtigen Gegner gefunden hat. «Die Nummer ist Ambassador 3639.»

«Danke. Und nun die Meldungen?»

«Alles in allem sechs Anrufe. Drei von einer Frau und drei von einem Mann.»

«Die Stimmen kamen Ihnen nicht bekannt vor?»

«Nein. Sie hätten Hunderten von Menschen gehören können.»

«Handelte es sich um kultivierte Stimmen?»

«Die Stimme der Frau war gebildet, die des Mannes jedoch nicht. Aber ich hatte den Eindruck, daß er bewußt übertrieb. Ich möchte sagen, es klang gewollt ordinär.»

Mr. Green wandte sich an Miss Delamere. «Hatten Sie den gleichen Eindruck?»

«Ich war nie anwesend, wenn diese Anrufe kamen. Sir Owen ist der einzige Mensch, der sie gehört hat.»

«Ich verstehe. Und wie lauteten diese Mitteilungen, Sir Owen?»

«Sie waren jedesmal gleich: ich würde zwischen dem 21. und 29. Dezember sterben.»

«Können Sie sich nicht etwas genauer ausdrücken?»

«Das ist schwierig, denn es wurden eigentlich keine Einzelheiten genannt. Der genauen Worte erinnere ich mich nicht, aber sie besagten ungefähr folgendes: ,Sir Owen Kent, dies ist meine dritte Warnung – oder was es gerade war – Sie werden zwischen dem 21. und 29. Dezember sterben. Dies ist eine Tatsache, und Sie müssen unbedingt daran glauben. Sie haben noch vieles zu erledigen.‘ Jeder Anruf enthielt die Worte: ,Dies ist eine Tatsache, und Sie müssen unbedingt daran glauben.‘ Nur der letzte Satz wechselte. Ich erinnere mich, daß es einmal hieß: ,Sie haben noch viele Verpflichtungen zu regeln und manche Rechnung zu begleichen.‘»

«Stimmt das?»

«Heute nicht mehr als an jedem anderen Tag. Ein Mann in meiner Stellung hat immer irgendwelche Verpflichtungen zu regeln und Rechnungen zu begleichen.»

«Sie haben den Gedanken ausgeschaltet, es könnte sich um einen üblen Scherz handeln?»

«Ich kenne keinen Menschen mit einem derart makabren Humor.»

«Kurz gesagt: sowohl als Geschäftsmann wie als Mann von Welt haben Sie die Drohungen ernst genommen?»

«Ja.» Sir Owens Stimme wurde drängend. «Sehen Sie, Mr. Green, ich schmeichle mir, auch etwas von Ihrer besonderen Fähigkeit zu besitzen – den Instinkt für die Wahrheit. Ich bin überzeugt, daß diese Leute, wer sie auch immer sind, einfach eine Tatsache feststellten – oder wenigstens das, was sie dafür hielten. Die Stimmen klangen ganz sachlich und ruhig, es lag weder Haß noch Mitleid darin. Es war einfach die gleichgültige Weiterleitung einer Meldung.»

«Ich verstehe. Wenn Sie aber so überzeugt sind davon, weshalb haben Sie sich dann nicht an die Polizei gewandt?»

«Weil ich es vorzog, zu Ihnen zu kommen.»

Mr. Green rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. «Aber Sie wissen doch sicher, Sir Owen, daß ich mich gänzlich vom Beruf zurückgezogen habe. Ich erhebe keine Ermittlungen mehr … obwohl … in gewissen Fällen –» Er beendete den Satz nicht, denn er hatte einen Blick von Charlotte aufgefangen, und dieser war keineswegs ermutigend. «Ich halte es immer noch für das einzig richtige, wenn Sie sich an die Polizei wenden.»

«Verlassen Sie sich darauf: das werde ich unter keinen Umständen tun.»

Mr. Green stieß einen tiefen Seufzer aus. Er wagte es nicht, Charlotte noch einmal anzusehen, aber er setzte seine Fragen fort.

«Sie erwähnten einen Brief», bemerkte er. «Gab auch dieser gar keine näheren Aufschlüsse?»

«Nicht mehr als die Anrufe.»

«Darf ich Sie bitten, ihn mir zu zeigen?»

Miss Delamere lehnte sich vor. «Ich glaube, diese Frage muß ich beantworten. Der Brief ist verschwunden. Und ich bin die einzige Person, die ihn genommen haben kann.» Sie schlang ihre Finger nervös ineinander.

Sir Owen lächelte. «Aber da du ihn nicht genommen hast, meine Liebe, besteht für dich nicht der geringste Grund zur Erregung.»

«Wie ist er denn abhanden gekommen?» fragte Mr. Green.

«Bitte, laß mich die Geschichte erzählen», beharrte Miss Delamere. «Ich kam eines Abends nach Hause und fand Sir Owen außergewöhnlich niedergedrückt vor. Er zeigte mir den Brief sofort. Wenn ich nur eine Abschrift davon gemacht hätte!»

«Erinnern Sie sich noch ungefähr an den Inhalt?»

«O ja! Und mindestens drei Sätze davon kenne ich auswendig.»

«Wie kommt das?»

«Sie waren so merkwürdig, daß ich sie mehrmals gelesen habe. Der Brief begann wieder mit der Mitteilung, Sir Owen werde zwischen dem 21. und 29. Dezember sterben. Dann hieß es weiter, es werden keine weiteren Warnungen mehr kommen, die Zeit dränge und er habe immer noch Schulden zu bezahlen … was immer das auch bedeuten mochte.»

«Und diese drei Sätze, die Sie wörtlich wissen?»

Sie schloß die Augen, wie um sich besser zu konzentrieren. «,Dies ist eine Tatsache, und Sie müssen unbedingt daran glauben. Versuchen Sie nicht, sich an das Leben zu klammern. Sie haben den letzten Ihrer glitzernden Preise kassiert.‘»

Mr. Green runzelte die Stirn. «Das ist wirklich ein äußerst merkwürdiger Satz. ,Sie haben den letzten Ihrer glitzernden Preise kassiert.‘ Hat das irgendeine Bedeutung für Sie?»

«Gar keine. Ich finde nur, es erweckt den Eindruck eines gewissen Triumphes, fast als ob der Schreiber über das Kommende frohlocke.»

«So sieht es aus. Und wie ist nun der Brief verschwunden?»

Wieder übernahm es Miss Delamere, zu antworten. «Owen faltete ihn zusammen und steckte ihn zwischen die Blätter eines Buches, das er gerade las. Dann stellte erden Band wieder in das Regal.»

«Wie lautete der Titel des Werkes?»

«Ich weiß es nicht – irgendeine Detektivgeschichte. Ist das wichtig?»

Sir Owen mischte sich ein. «Es war ,Tod bei Sternenlicht‘. Als ein Kenner und Liebhaber dieser Art Bücher kann ich es nicht empfehlen. Die Hinweise sind kindisch einfach, der Mord unglaubwürdig und die Charaktere äußerst langweilig.»

«,Tod bei Sternenlicht‘», murmelte Mr. Green und machte sich eine kurze Notiz. «Was weiter?»

«Am nächsten Vormittag ging ich zum Regal, um das Buch wieder hervorzuholen. Selbst bei einem drittklassigen Schmöker reizt es einen, den Schluß zu erfahren. – Der Brief war weg.»

Mr. Green nagte am Ende seines Bleistiftes herum. Er lächelte vor sich hin und schien mit dem Löschpapier auf seinem Schreibtisch zu sprechen. «Sehr interessant», sagte er, «die Sache scheint vielversprechend.» Er warf einen Blick auf seinen Kalender. «Und heute haben wir den 18. Dezember. Viel Zeit ist nicht mehr zu verlieren.»

«Sie sind also bereit, die Sache zu übernehmen?»

Jetzt konnte sich Charlotte nicht länger zurückhalten. Sie sprang auf und trat auf ihren Onkel zu. Sehr hübsch sah sie aus in ihrer Erregung, mit geröteten Wangen und glänzenden Augen.

«Onkel», rief sie. «Das darfst du nicht! Ich will es nicht haben – ich lasse es einfach nicht zu!»

Ehe Mr. Green noch antworten konnte, fuhr sie zu Sir Owen herum. «Es tut mir sehr leid, Sie unterbrechen zu müssen, Sir Owen, aber sehen Sie: er darf wirklich nicht! Sein Gesundheitszustand ist gar nicht gut – er ist nicht direkt krank, aber –» Sie schwang wieder herum. «Onkel, du weißt, was der Arzt gesagt hat.»

Mr. Green wurde von verschiedenen Empfindungen hin- und hergerissen. Als altes Schlachtroß hatte er die Trompetenstöße vernommen, doch als zärtlicher Onkel hörte er auch das Flehen seiner besorgten Nichte, und als älterer Herr mit reichlichem Umfang entging ihm nicht, daß sein Herz bereits heftig pochte. Er versuchte, seiner Unruhe Herr zu werden, indem er die Füße kreuzte, sein Gesicht in Falten legte, mit den Fingern auf dem Pult herumhämmerte und zur Decke starrte.

«Eigentlich liegt mir viel mehr daran, Ihres Onkels Geisteskräfte zu beschäftigen als seinen Körper.»

«Was Sie nicht sagen!» Charlotte versuchte gar nicht, ihre Empörung zu verbergen. «Das scheint mir keine besonders witzige Bemerkung. Verstehen Sie denn nicht, daß sein Geist völlig den Körper beherrscht? Er zermürbt ihn, frißt ihn auf, ruiniert ihn vollkommen. Sie müssen doch …» Die Worte zerflatterten, und Charlotte schwieg, hoffnungslos von einem zum andern blickend.

«Ich begreife dies sehr gut, mein Fräulein. Doch ich glaube, Ihre Befürchtungen zerstreuen zu können, wenn Sie mir einen Augenblick zuhören wollen.»

Charlottes Zorn kochte weiter, die Ironie von Sir Owen verstärkte ihn noch. Aber was vermochte sie zu tun?

Er fuhr gelassen fort: «Ich bin selbst eine Art Amateurdetektiv, Miss Green. Das mag Sie bei einem Manne in meiner Stellung überraschen; aber es ist so, und eines Tages – falls Ihr Onkel sich bereit erklärt, mich zu unterstützen – werde ich ihm an ein paar Beispielen erklären, wieso das Talent für logische Ermittlungen auch einem Finanzmann von großem Nutzen sein kann. Doch das gehört im Augenblick nicht hierher. Ich habe nur davon gesprochen, um Ihrem Onkel zu erklären, warum ich vielleicht etwas mehr von ihm weiß, als er annimmt.»

Er wandte sich in seinem Stuhle um und blickte Mr. Green scharf an. Seine Stimme klang hart, trocken und unpersönlich. «Gewicht ungefähr 175 Pfund; stimmt das?» Er wartete die Antwort nicht ab. «Es dürfte aber eigentlich 150 nicht übersteigen. – Blutdruck? Nun, der wechselt; aber jedenfalls ist ein Durchschnitt von 200 zuviel bei Ihrem Alter, Mr. Green. 160 wäre angebrachter. Und dann kommt natürlich noch Ihr kleiner Zusammenbruch letztes Jahr in der Oper dazu.»

«Woher wissen Sie das alles?» unterbrach Charlotte verblüfft.

«Meine verehrte Miss Green, man braucht wirklich kein Genie zu sein, um diese einfachsten physischen Symptome zu erkennen. Und was den Zusammenbruch während der Oper betrifft – nun, das stand in allen Zeitungen.»

«Gut; dann müssen Sie auch um so eher einsehen, daß er diesen Fall unter keinen Umständen übernehmen darf.»

«Ganz im Gegenteil; gerade diese Umstände sollten ihn dazu veranlassen, die Sache durchzuführen.»

«Das verstehe ich nicht.»

«Sie werden es sofort begreifen, wenn ich Ihnen verrate, daß ich mich zwischen dem 21. und 29. Dezember in Harmony Hall aufhalte.»

«Harmony Hall!» Charlotte blickte ihren Onkel an. «Das … das ist geradezu unheimlich!»

Mr. Green löste seinen unschuldsvollen Blick von der Zimmerdecke. «Wirklich ein merkwürdiger Zufall.» Sanft erkundigte er sich: «Sollte dies ein weiteres Beispiel Ihrer detektivischen Fähigkeiten sein?»

«Keineswegs. Seit zehn Jahren verbringe ich die Weihnachtszeit dort. Zufällig bin ich an dem Unternehmen finanziell interessiert.»

Miss Delamere warf lächelnd ein: «Weshalb sagst du nicht einfach, daß dir Harmony Hall voll und ganz gehört?»

«Weil das nicht stimmt, meine Liebe. Es ist für mich nur eine – wie soll ich sagen – eine Art Lebensrente. Nach meinem Tode fällt das Ganze an meine Schwester Katharina.»

«Vielleicht würde Mr. Green gern etwas mehr darüber erfahren?»

«Schön; aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß die Sache etwas kompliziert ist. Vor zehn Jahren verliebte sich meine Zwillingsschwester Katharina leidenschaftlich in einen Mann namens Harold Eastwood. Er hatte sie völlig behext mit seinen Theorien von einem ,natürlichen Leben‘, wie er es nannte. Nun, mir gefiel die Sache gar nicht; Eastwood war zwar ein gebildeter Mensch, aber ohne jegliche Geldmittel, und er schien mir ein Sklave seiner Überzeugungen zu sein. Ich befürchtete tatsächlich, er könnte Katharina auf irgendeine weltabgeschiedene Insel verschleppen und sie zwingen, ihr Leben lang nur noch rohe Früchte zu essen und Kokosmilch zu trinken. Und ich kannte meine Schwester zu genau, um eine solche Entwicklung der Dinge gutzuheißen. Sie ist nicht umsonst meine Zwillingsschwester. Wir Kents wissen im allgemeinen die Annehmlichkeiten des Lebens und die fleischlichen Genüsse nur allzusehr zu schätzen. Das werden Sie bestätigt finden, wenn Sie meine zweite Schwester Maisie kennenlernen. Sie macht zur Zeit ebenfalls eine Kur in Harmony Hall.»

Miss Delamere versuchte zu sprechen, doch Sir Owen unterbrach sie mit einer leichten Handbewegung. «Weiter ist nichts darüber zu sagen. Ich wollte Mr. Green nur erklären, wie es dazu kam, daß Harmony Hall überhaupt ins Leben gerufen wurde. Mir lag daran, daß die Gefahr einer ,Abkehr von der Zivilisation‘, wie Eastwood es nannte, für meine Schwester gebannt wurde. Ich hoffte, das Unternehmen würde ein unterhaltendes Spielzeug für sie werden, wo die beiden ihre Theorien in einiger Bequemlichkeit ausprobieren könnten. Doch davon abgesehen …» Er zögerte, und diesmal gestattete er Miss Delamere, ihn zu unterbrechen.

«Damit will er sagen, daß sich Harmony Hall als ein außerordentlich gutes Geschäft erwies.»

«Ja, solange es auf meine Art geführt wird. Wenn Harold Eastwood das Verfügungsrecht darüber besäße, wäre das Haus wohl bald voll mit Dichterlingen, Heiligen und anderen exzentrischen Käuzen. Deshalb allein halte ich die Zügel fest in der Hand.»

Mr. Green blickte auf. «Demnach darf ich wohl annehmen, daß zwischen Ihnen und Ihrem Schwager gewisse Konflikte bestehen?»

«Stimmt auffallend. Wir haben ununterbrochen Streit. Nicht über seine grundlegenden Theorien; denn er ist wirklich so etwas wie ein Genie, und gewisse Heilkräfte sind ihm nicht abzusprechen. Es handelt sich ganz einfach darum, daß der Mann zu gut ist für meinen Bedarf. Ich gebe mich nicht gern mit Heiligen ab.»

«Und Ihre Schwester Katharina?»

Sir Owen zuckte die Achseln. «Sie ist ihm immer noch sehr ergeben, aber ich glaube doch, manchmal sehnt sie sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens.»

«Eine sehr interessante Lage. Sie sagen, daß nach Ihrem Tod die gesamte Liegenschaft an Ihre Schwester fällt?»

«Unweigerlich. Und das wird die Lage noch bedeutend interessanter gestalten.»

Mr. Green nickte. Er drehte sich zu seiner Nichte um. «Nun, Charlotte, dies gibt der Sache ein anderes Gesicht, nicht wahr?»

Seit Monaten bereits hatte der Arzt versucht, Mr. Green zu einer Kur in Harmony Hall zu überreden, der bekanntesten Naturheilstätte von ganz England. Und Charlotte hatte das ihrige beigetragen, ihn zu unterstützen, bis jetzt aber erfolglos. «Wir werden sehen». «Es ist wohl zu teuer für mich» und «Ich will es nochmals überlegen», das waren Mr. Greens ständige Ausreden gewesen, der sich im Grunde nur vor einer radikalen Entfettungskur fürchtete. Und nun war mit einem Schlage nicht nur die Möglichkeit dazu gegeben, sondern Mr. Green hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als nach Harmony Hall zu gelangen – allerdings aus ganz anderen Gründen als denjenigen seines Arztes.

Vorsichtig tastete sich Mr. Green weiter vor. «Du würdest dich doch freuen, wenn ich diese Kur durchführte, nicht wahr?»

«Sicher, aber …»

«Nun, siehst du, ich hätte ja dort nur gewisse Beobachtungen anzustellen und …»

«Onkelchen, ich kenne dich! Du gehst irgendwo hin, nur um ,Beobachtungen anzustellen‘, und ehe du dich’s versiehst, steckst du mitten drin in einer großen Sache, rennst Treppen auf und ab, läufst ohne Schal und Mantel in die Winterkälte hinaus und bleibst nächtelang wach. Ich kenne dich und dein Temperament.»

«Gestatten Sie mir eine Bemerkung», meinte Sir Owen sarkastisch. «Draußen in der Halle habe ich zufällig ein großes Paket gesehen, und wenn mich meine Erfahrung auf diesem Gebiet nicht völlig täuscht, dürfte es getrüffelte Gänseleberpastete enthalten; ich kenne die Form und den Absender. Und wenn Mr. Green über Weihnachten zu Hause bleibt, wird er nicht nur diese verzehren, sondern noch eine ganze Menge anderer Leckerbissen, die seiner Gesundheit keineswegs zuträglich sind. Er wird seinen guten Portwein trinken und die schweren Zigarren rauchen, die er bestimmt alljährlich von dankbaren Freunden erhält. Kommt er jedoch mit mir – und ich hoffe, Sie werden ihn begleiten – dann ruht sein Körper vollständig aus. Er schläft wie ein Kind, läßt sich behaglich massieren, und nach zehn Tagen kehrt er als völlig neuer Mensch zurück.»

«Doch seine Arbeit für Sie …?»

«Ich wiederhole seine eigenen Worte: er braucht nur ,gewisse Beobachtungen‘ anzustellen. Und es wird mir die letzten Tage meines Lebens erleichtern, wenn ich ihn beim Beobachten beobachten kann.»

Charlotte warf einen Blick auf ihren Onkel. Er blinzelte unschuldsvoll und schrieb ein paar Worte auf seinen Notizblock. Ach du liebe Zeit! Er war der Sache bereits völlig verfallen. Was blieb ihr noch zu tun?

Sie seufzte tief. «Ich gebe es auf!»

Und so geschah es, daß Mr. Green am folgenden Vormittag in einen pompösen Rolls Royce verpackt wurde und ein vornehmer Chauffeur einen warmen Nerzpelz um seine Knie legte. Charlotte saß neben ihm, denn obwohl sie sich entschlossen hatte, Weihnachten zu Hause zu verbringen – hauptsächlich Favershams wegen, der in Bezug auf seine Mahlzeiten sehr eigen war – wollte sie doch erst sehen, wie ihr Onkel untergebracht wurde.

2

Charlotte hätte sich um das Wohlbefinden ihres Onkels nicht zu sorgen brauchen. Als sie ihn verließ, hatte sie sich überzeugen können, daß er aller Annehmlichkeiten eines Erstklaßhotels teilhaftig wurde, zusätzlich einer Behandlung durch Ärzte und Masseure, die ihn oder wenigstens seine physische Konstitution verstanden.

Mr. Green selbst war allerdings nicht so zuversichtlich. Auf den Ratschlag von Sir Owen hin hatte sein letztes Abendbrot zu Hause aus einem Glas warmen Wassers mit ungesüßtem Zitronensaft bestanden, das er mit Märtyrermiene und einem scheelen Seitenblick auf Faversham geschluckt hatte, der zufrieden schnurrend einen großen Teller voll gekochtem Weißfisch vertilgte. Am Morgen hatte ihm Charlotte eine Tasse schwachen Tee und eine halbe Orange gebracht. Er sah also dem Kommenden mit tiefstem Mißtrauen entgegen.

Immerhin war es ein vollauf beschäftigter Mr. Green, dem sie in seinem Wohnzimmer in Harmony Hall auf Wiedersehen gesagt hatte. Sein Mittagsmahl hatte aus einem Glas kalten Wassers bestanden, dem eine Stunde später eine Heiß- und Kaltwasserbehandlung gefolgt war. Dies Vorgehen erschien ihm unnötig grausam, und er behauptete nachher, nicht zu wissen, ob er eigentlich auf Händen oder Füßen gehe.

Aber jetzt saß er wohlgeborgen im großen Gesellschaftsraum, eingehüllt in seinen neuen Hausrock. Ein Glück, daß Charlotte dieses Weihnachtsgeschenk für ihn bereits besorgt hatte, denn jedermann verbrachte seine Zeit in Harmony Hall in einem solchen Kleidungsstück. In der Hand hielt er einen Brief von Sir Owen, den er bei der Ankunft in seinem Zimmer vorgefunden hatte. Der Inhalt war ihm noch nicht ganz klargeworden, und seufzend entschloß er sich zu nochmaligem Lesen.

Montag, 19. Dezember.

Lieber Mister Green,

ich hoffe, Sie sind mit Ihrer Unterkunft zufrieden. Ihr Wohnzimmer ist leider nicht sehr groß, ich habe es aber trotzdem ausgewählt, weil die Fenster nach dem Park hinausgehen. Und wenn man sich hier langweilt, was kaum zu umgehen ist, dann findet man eine gewisse Unterhaltung darin, auf dem Fenstersims zu sitzen und die Rehe zu beobachten.

Meine Zimmer liegen am Ende Ihres Korridors; die Nummern 1, 1A und 1B. Miss Delamere ist im Ostflügel untergebracht, Zimmer 26. Wir suchen das Dekorum nach Möglichkeit zu wahren.

Ich werde mich freuen, Sie morgen nachmittag zu sehen, wann immer es Ihnen paßt. Dieser kurze zeitliche Aufschub liegt im beiderseitigen Interesse, denn wenn man fastet – und ich nehme die Kur genauso ernst, wie Sie es wohl tun werden – dann weigert sich der Geist gewöhnlich am ersten Tage, irgend etwas zu leisten.

Inzwischen ein paar Worte, die Ihnen helfen sollen, sich in Harmony Hall zurechtzufinden. Sie werden bereits bemerkt haben, daß das Haus so etwas wie ein Kaninchenbau ist. Der Mittelpunkt des ,geselligen Lebens‘ ist das kleine Rauchzimmer neben der Halle, direkt gegenüber dem Büro von Mr. Eastwood, dem Leiter. Einzig und allein in diesem Raume ist das Rauchen gestattet. Es ist dunkel dort, ungemütlich und eng, aber mein verehrter Schwager hat absichtlich dieses Zimmer dazu ausersehen, weil er das Rauchen verabscheut und den Gästen diesen Genuß verekeln will.

Die Verwaltungsbüros befinden sich in der Halle neben dem Haupteingang. Die verschiedenen Aufenthalts- und Schreibzimmer sprechen für sich selbst. Der angenehmste Raum ist wohl die ,Frucht-Bar‘ mit ihren breiten Fenstern, die gleichzeitig eine Art Sonnenterrasse darstellt. Zwischen halb eins und zwei Uhr ist es dort am belebtesten, wenn die dienstbaren Geister in ihren weißen Uniformen den Lunch servieren, der entweder aus einem Glas Orangensaft besteht oder, wenn man Glück hat, aus einer Traube und einem Joghurt. Mir macht es immer ein hämisches Vergnügen, den dicken Damen zuzusehen, die sich krampfhaft bemühen, aus einem einsamen Apfel eine üppige Mahlzeit zu gestalten.

Die übrigen Räume sind für die verschiedenen Kuren, Untersuchungen und Behandlungen bestimmt. Die Bade- und Duschräume sowie die Massagezimmer, in denen Sie Ihre größten Qualen erleiden müssen, befinden sich im Untergeschoß. Dort liegt aus unerforschlichen Gründen auch der Fernsehraum, der von sieben bis zehn Uhr geöffnet ist. Um zehn aber gehen sämtliche Lichter aus, und wir ziehen uns in unsere Kemenaten zurück.

Ich hoffe, mein lieber Mr. Green, Sie werden sich nicht allzusehr langweilen!

Mit den besten Grüßen

Ihr Owen Kent

PS. Ich füge eine Gästeliste bei. Zu jeder anderen Jahreszeit wären ungefähr fünfzig Leute hier, doch um Weihnachten herum ist die Anzahl sehr beschränkt. Das dürfte Ihre Nachforschungen erleichtern. Immerhin finde ich trotz sorgfältigen Überlegens keinen Namen dabei, den ich als verdächtig bezeichnen möchte.

Und noch etwas: wenn Sie eine Massagebehandlung wünschen, dann empfehle ich Ihnen Mr. Button. Er sieht nach nichts aus, aber seine Finger wirken Wunder. Ich gebe allerdings zu, daß ich etwas voreingenommen bin, denn er war während des Krieges mein Offiziersbursche und hat eine erstaunliche Verehrung für mich. Er behauptet, ich hätte ihm das Leben gerettet, was natürlich nicht stimmt. Aber ich hoffe, Sie werden mir meinen Glorienschein nicht zerstören; es ist schön, einmal um seiner selbst willen geliebt zu werden – und es ist so selten.

Mr. Green ließ den Brief in seinen Schoß fallen. Bezeichnenderweise hatte er während des Lesens weder geschnüffelt noch geblinzelt – die beiden äußeren Anzeichen angespannter Gehirntätigkeit. In seinem gegenwärtigen Zustand der Leere fand er es unmöglich, sich zu konzentrieren. Irgendein Satz in diesem Schreiben hätte ihm fast ein Blinzeln entlockt, aber er war bereits wieder in Vergessenheit geraten.

Mit großer Anstrengung zwang er sich, die Gästeliste zu studieren, der Sir Owen seine eigenen Bemerkungen hinzugefügt hatte.

Zimmer 2: Gräfin Kendall.

Ich nenne sie als erste, weil sie die einzige ist, die ich wirklich kenne. Sie dürfte fünfundvierzig sein, sieht aber nicht danach aus. Protzig und aufgeblasen; lebt von ihrem Mann – der sein Vermögen während des Krieges erwarb – getrennt. Man munkelt, sie sei früher Bardame gewesen. Davon abgesehen ist sie fürchterlich eingebildet und mannstoll.

Sie werden aus meiner Beschreibung erkennen, daß ich keine Vorliebe für die Dame habe. Das beruht übrigens auf Gegenseitigkeit, und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, daß sie mich genügend haßt, um mich beseitigen zu wollen. Der einzige gute Zug an ihr ist die Liebe zu ihrem Sohn Vernon.

Zimmer 3: Der Ehrenwerte Vernon Kendall.

Verspielter Junge, Muttersöhnchen – mehr läßt sich über den Burschen nicht sagen. Seine einzigen Interessen sind: Fotomodelle, Jazzplatten, Trinken.

Zimmer 6: Paul Stole.

Der Herzensbrecher unter den Jazzsängern, außerdem Journalist. Fünfundzwanzig Jahre. Da er allwöchentlich seine Seele im Evening Clarion und am Rundfunk ausgießt, brauche ich ihn nicht weiter zu beschreiben. Er sang einmal eine Ballade über ein Reinigungsmittel, an dem ich finanziell interessiert bin – ich fand damals, sein Gemüt ähnle selbst einer Seifenlauge.

Zimmer 9 und 9 A: Mr. und Mrs. Johnson.

Ein reiches dickes Ehepaar aus Leeds. Sie kommen jedes Jahr um diese Zeit hierher. Nichts bekannt über sie.

Zimmer 11: Mrs. Florence Dee.

Witwe eines reichen Schankwirtes, lebt in Harrogate. Scheint eine harmlose nette Person zu sein. Nichts Nachteiliges über sie bekannt.

Zimmer 14: Kay Dawn.

Eine vielversprechende junge Schauspielerin, für meinen Geschmack etwas zu überspannt. Nichts Besonderes bekannt.

Zimmer 15: Susan Frost.

Alter ungefähr fünfundfünfzig, sehr altjüngferlich. Zwei Leidenschaften: Tiere und Fernsehen. Ich könnte mir vorstellen, daß sie einen Menschen ermordet, der einen Hund geschlagen oder das Fernsehen in einem interessanten Moment abgedreht hat; aber ich kann mir nicht vorstellen, weshalb sie es auf mich abgesehen hätte.

Zimmer 18: Maisie Kent.

Meine verehrte Schwester, die Sie ja kennenlernen werden. Ich ziehe es vor, das Urteil Ihnen zu überlassen.

 

Die Liste scheint mir nicht vielversprechend zu sein, aber wir müssen uns vor Augen halten, daß mein Mörder ja nicht unbedingt ein Insasse des Hauses zu sein braucht.

Zur Ergänzung erhalten Sie hier noch die Liste der Angestellten.

Mr. Green brachte es nicht über sich, auch diese Aufstellung noch zu lesen. Seine Gedanken wollten sich nicht festhalten lassen. Außerdem begehrte er keine Kommentare von Sir Owen, weder über seine Mitgäste noch über das Personal. Er zog es vor, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Ärgerlich trommelte er mit den Fingern auf einer Tischplatte herum und fragte sich dabei, ob das Geräusch wohl das laute Knurren seines Magens übertöne.

Plötzlich vernahm er eine Stimme neben sich.

«Mr. Green, kann ich einen Moment mit Ihnen sprechen?»

Im ersten Augenblick erkannte er die Dame nicht, die so leise aus dem Schatten getreten war. Wie alle übrigen Gäste trug auch sie ein loses Hauskleid, aber ein hoher Kragen verdeckte das halbe Gesicht. Doch dann begriff er, daß dies Miss Delamere war.

Er versuchte sich zu erheben, allein ihre Hand hinderte ihn daran. «Bitte bleiben Sie sitzen. Man fühlt sich am ersten Tag hier abscheulich schwach, ich weiß es. Morgen wird es Ihnen bereits besser gehen.»

Sie nahm auf dem nächsten Sessel Platz und fuhr in leichtem Plauderton fort: «Ich sehe, Sie haben Sir Owens Gästeliste studiert. Was halten Sie davon?»

«Ehrlich gesagt: ich habe bis jetzt nichts Besonderes daran entdecken können.»

«Ich habe mich beim Schreiben nur über einen einzigen Punkt gewundert –»

«Ja?»

«Daß er sich nicht näher über seine Schwester Maisie ausläßt. Er haßt diese Schwester nämlich aus tiefstem Herzen. Ein Gefühl übrigens, das sie meiner Überzeugung nach voll und ganz erwidert.»

Als ob ein heftiger Windstoß seine ganze Gleichgültigkeit weggeweht hätte, war Mr. Green mit einem Male hellwach. Sein Geist schweifte nicht mehr im Leeren umher, er sah wieder klare Tatsachen vor sich. Hastig setzte er sich im Sessel auf.

«Darf ich Sie bitten, das näher zu erklären?»

Sie blickte sich um, wie um sich zu vergewissern, daß niemand ihrem Gespräch zuhörte.

«Sir Owen ist überzeugt, daß Miss Kent am Tode seiner Tochter schuld war. Und Joy – so hieß das Mädchen – bedeutete alles für ihn. Man hat nie etwas von ihr gehört, nie in den Zeitungen über sie gelesen – aus einem sehr traurigen Grunde. Sie war verkrüppelt, und sie war … nun, nicht sehr klug. Ich möchte nicht unfreundlich erscheinen, aber ich kann es nicht milder ausdrücken. Sie war nicht direkt schwachsinnig, aber ihre Drüsen funktionierten nicht richtig. Bei ihrem Tode war sie zwölf Jahre alt, doch ihr Geist war der eines kleinen Kindes geblieben. Sie war sehr lieb und auch recht hübsch, trotz ihres Klumpfußes, und ihren Vater hat sie vergöttert. Für ihn selbst war sie alles, was ihm das Leben wert machte. Für sie hat er gearbeitet und sein Vermögen erworben, und ihretwegen ließ er sich nicht von seiner Frau scheiden, um mich zu heiraten. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß man ihm vielleicht die väterliche Gewalt entziehen könnte.

Das Unglück ist vor genau sechs Monaten geschehen – am 20. Juni. Einige Tage zuvor hatte er Maisie einen kleinen Sportwagen gekauft, vielmehr, er hatte ihren ewigen Quengeleien nachgegeben – wie gewöhnlich. Er machte ihr öfters solche großen Geschenke, nur, um sie loszuwerden. Doch bis zu diesem Tage hatte er sie nicht gehaßt; sie langweilte ihn bloß, und ihre Trunksucht widerte ihn an. Als er damals den Scheck für den Wagen unterschrieb, sagte er zu mir: ,Es würde mich nicht wundern, wenn sie sich den Hals damit bräche – und ich kann nicht behaupten, daß es mir allzusehr leid täte.‘