Eine kleine Mordmusik - Beverley Nichols - E-Book

Eine kleine Mordmusik E-Book

Beverley Nichols

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Beschreibung

Daß ein Erstochener nicht blutet, will den alten Hasen vom Yard nicht in den Kopf ... Privatdetektiv Green tappt zunächst im dunkeln. Feinde mit Motiven hatte das Opfer genug, doch auf wen der Verdacht schließlich fällt, das verschlägt selbst Green den Atem … Ein Krimi der britischen Sonderklasse (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 223

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Beverley Nichols

Eine kleine Mordmusik

Aus dem Englischen von George Martin

FISCHER Digital

Inhalt

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1

Die kleine Silberuhr auf dem Kamin zeigte auf zehn Minuten vor acht. Im gedämpften rosa Licht der Schreibtischlampe sah man den Kalender, der bis aufs letzte Blatt abgerissen war: 31. Dezember. Das alte Jahr dauerte nur noch wenige Stunden. Ein Telefon klingelte. Wieder und wieder. Von allen Geräuschen der Welt ist wohl keines so melancholisch wie das Klingeln eines Telefons, das niemand abhebt. Es ist die Stimme der Verzweiflung. Es ist der Widerhall der Mühsal aller einsamen Menschen, die in die weite, leere Nacht um Trost rufen. Dann hörte das Telefon auf, und wieder herrschte Schweigen, nur von fernen Rufen fröhlicher Menschen unterbrochen, die durch die neblige Straße in Chelsea zogen.

Aber die Freuden eines Mannes waren für immer dahin. Sir Edward Carstairs, dreizehnter Baronet seines Geschlechtes, war über seinem Schreibtisch zusammengesunken. Kalt und ruhig lag er da. Das Licht der Schreibtischlampe ließ die roten Flecke auf seinem Jackett dunkler erscheinen, so daß sie fast schwarz aussahen. Sein rechter Arm war nach vorn gestreckt, die Handfläche zeigte in einer grotesk flehenden Gebärde aufwärts, als wollte er sich hilflos mit einer letzten Bitte an seinen Schöpfer wenden. Das war natürlich eine Illusion. Das Gebet hatte im Leben von Sir Edward Carstairs keine große Rolle gespielt.

 

Die große elektrische Uhr im Büro von Kommissar George Waller in Scotland Yard zeigte fünfundzwanzig Minuten nach acht. Er sah sie mit einem Seufzer der Erleichterung an. In fünf Minuten würde er seine Sachen zusammenpacken und nach Hause gehen. Im Geiste war Mr. Waller nie weit von zu Haus entfernt, wie deprimierend auch seine unmittelbare Umgebung sein mochte. Der Kamin in seinem Büro bewies das. Auf ihm standen Bilder der üppigen, strahlenden Mrs. Waller, die in einem Liegestuhl in ihrem Vorstadtgarten lag, und daneben Fotografien des kleinen Mr. Waller und von Miss Waller, in verschiedenen Stadien ihrer Kindheit. Nur ein Bild stellte kein Familienmitglied dar. Es zeigte einen kleinen Mann von einigen sechzig Lenzen mit einem runden Gesicht, einer hohen Stirn und einem weichen Mund – einen kleinen Mann, der die Welt durch die dicken Gläser einer Hornbrille betrachtete. Ein harmloses, unauffälliges Geschöpf, hätte man gesagt, wenn man nicht gewußt hätte, wer er war. Denn es war kein anderer als der berühmte Mr. Horatio Green, dessen geniale Leistungen als Privatdetektiv ihn trotz seiner Bescheidenheit zu einer Leuchte der modernen Kriminalwissenschaft gemacht hatten. Mr. Green hatte sich seit einigen Jahren von seinem Beruf zurückgezogen, um seiner wahren Leidenschaft zu leben – der Pflege seines Gartens in Surrey. Aber sein Geist lebte in seinem wichtigsten Werk weiter, das Erste Grundsätze der Verbrechensaufklärung hieß und das alle seine Berufskollegen gelesen haben mußten. In den letzten Jahren hatte der Kommissar, wenn er vor einem gar zu verzwickten Problem stand, Mr. Green des öfteren um Hilfe gebeten.

Halb neun. Waller erhob sich, um zu gehen.

Da klingelte das Telefon.

»Verdammt«, murmelte der Kommissar. Einen Augenblick lang sah er den Apparat widerwillig an, wußte nicht recht, ob er antworten sollte. Wahrscheinlich konnte auch ein untergeordneter Beamter den Anruf erledigen. Aber dann machte sein Pflichtgefühl sich geltend. Er hob den Hörer ab.

»Hallo! Hier Kommissar Waller. Was sagen Sie? Mord? Sir Edward Carstairs? Ja, ich höre.«

Sein Gesicht wurde plötzlich ernst und konzentriert. Er nahm einen Schreibblock und kritzelte Bruchstücke der telefonischen Nachricht darauf. Dann nickte er. »Natürlich, ich komme sofort. Sie sagen, daß Dr. Musgrave im Wagen wartet? Gut. Sagen Sie dem jungen Bates, daß ich auch ihn brauche. Ja, er soll gleich zum Wagen gehen. Ich bin in zwei Minuten unten. Hallo! Hallo! Noch etwas. Sie könnten meine Frau anrufen und ihr schonend beibringen, was geschehen ist. Gott weiß, wann ich mit der Sache fertig bin.«

Er legte den Hörer auf und verwünschte leise die Bosheit von Adeligen, die so rücksichtslos waren, sich am Silvesterabend ermorden zu lassen. Dann trat er schnell an den Kamin, öffnete einen Band des Who’s who und las:

CARSTAIRS, Edward Peregrine, 13. Bart., Titel geschaffen 1626. Musikkritiker, geb. 3. Sept. 1888, S. des verst. Edward Hardington Carstairs, 12. Bart., und Irene, T. von Prof. Henry Tomes. Unverheiratet. Schulen Eton, Magdalen College, Cambridge. Werke: Scarlatti, eine Monographie, 1920; Das Leben Bellinis, 1922; Eine Geschichte der Orchestrierung, 1925; Gespräche mit Bach, 1933; Die Konzerte Mozarts, 1934; Der Mensch Schubert, 1935; Die Kunst des Librettos, 1939; Brahms, der Wesentliche, 1941; Musik im Krieg, 1943; Eine Studie über Delius, 1946; Ein Ohr für Musik, 1949 (sechs Bände gesammelte Essays aus verschiedenen Zeitungen der letzten 30 Jahre). Erbe: Neffe Peter Peregrine Carstairs, geb. 18. März 1921. Adresse: Chestnut Street 17, Chelsea, S.W. 3. Club: Reunion.

Er klappte das Buch zu. Es hatte ihm nicht viel gesagt. Er hätte sogar aus seinem unheimlichen Gedächtnis ein paar Einzelheiten hinzufügen können, etwa daß der verstorbene Baronet seinen Bankrott erklärt hatte, oder auch, daß man diskret, doch erfolglos nachgeforscht hatte, woher er das Geld für seine langen Urlaubsreisen nach dem Kontinent nahm. Nun – der Tote würde zweifellos zur Zeit seine Geheimnisse preisgeben. Das taten Tote gewöhnlich.

Waller zog seinen Mantel an und nahm seinen Hut. Dabei fiel sein Blick auf das Bild des kleinen Mannes auf dem Kamin. Er hatte das seltsame Gefühl, daß er ihn bald wieder treffen würde.

 

»Nettes Stelldichein für einen Silvesterabend«, grunzte Dr. Musgrave, als Waller ins Auto stieg.

»Sie haben gut reden. Wenn Sie mit Ihrem Zeug fertig sind, können Sie nach Hause gehen. Ich muß vielleicht die ganze Nacht aufbleiben.«

»Hatten Sie eine Feier geplant?«

»Ja. Aber daraus wird jetzt nichts. Es ist arg für die Kinder.« Er seufzte tief und traurig – den Seufzer eines enttäuschten Familienvaters. »Na, hat keinen Zweck zu murren.« Er wandte sich an Bates, einen riesigen, jungen Polizisten mit einem glänzenden, rundlichen Gesicht, der freundlich, wenn auch unbehaglich auf dem Notsitz ihm gegenüber saß. »Haben Sie alles?«

»Ja, Sir.«

»Seine Schwester hat angerufen, nicht wahr?«

»Ja, Sir.« Bates’ Stimme bebte vor Eifer. Auch er hatte zu einer Gesellschaft gehen wollen, mit einer lebhaften kleinen Blondine namens Vera, deren Lockenkopf nur bis an die untere Grenze seines Brustkastens reichte. Aber er war ein ehrgeiziger junger Mann, und ein toter Baronet hatte für ihn eine Anziehungskraft, die im Augenblick die der temperamentvollsten Blondine übertraf.

»Ja, Sir, seine Schwester«, wiederholte er. »Fünfundfünfzig Jahre alt, unverheiratet, wohnt Ellerfield Close 1, Hampstead, zusammen mit einer gewissen Miss Sheila Crane, vierzig Jahre alt, Komponistin. Auch unverheiratet.«

»Lieber Gott! Wie haben Sie das alles herausbekommen?«

»Ich habe sie gefragt, Sir. Am Telefon.«

»Was? Während ihr toter Bruder neben ihr lag?«

»Nun, Sir, sie schien sich nichts daraus zu machen. Und ich wollte keine Zeit vergeuden.«

»Er hat Mr. Green gelesen«, sagte Dr. Musgrave leise lachend.

»Kapitel eins. Das Zeitelement. Wie heißt es da doch gleich?«

Bates beugte sich vor und wiederholte den berühmten Lehrsatz: »Nach der Entdeckung eines jeden Verbrechens«, deklamierte er triumphierend, »sind die Untersuchungsergebnisse der ersten vierundzwanzig Stunden vermutlich wichtiger für die Aufklärung des Falles als die der nächsten vierundzwanzig Monate.«

»Wenn das so ist«, bemerkte Waller, »dann werden wir wohl versagen. Dieser Fahrer ist geradezu ein Meister darin, zur falschen Zeit die Verkehrsampeln zu erreichen.«

Sie kamen wirklich langsam vorwärts. Der Nebel wurde dichter, und der Verkehr wurde gefährlich. Die Silvesterfeiernden schienen schon in einer selbstmörderischen Stimmung zu sein. Aber selbst die Kings Road in Chelsea windet sich schließlich einmal ihrem Ende zu, und dann bogen sie scharf nach links in eine schwach beleuchtete Straße ein, an deren Rand einige große Kastanienbäume standen.

»Keine besonders vornehme Nachbarschaft für einen Baronet, was?«

»Vielleicht war er selbst nicht sehr vornehm«, knurrte Waller. Der Wagen fuhr langsam die Straße hinab und beleuchtete mit dem Scheinwerfer die Türen der schäbigen Häuser. Schließlich erreichten sie die Nr. 17. Es war das letzte Haus in der Straße, nicht, weil man das ursprünglich so beabsichtigt hatte, sondern weil der Rest des Häuserblocks im Krieg zerbombt worden war. Die Fenster von Nummer siebzehn blickten auf eine weite Fläche grasbewachsener Trümmer.

Das Haustor öffnete sich, als sie aus dem Wagen stiegen. Im gedämpften Licht, das aus der Tür drang, stand eine schwarzgekleidete Frau. Sie war klein und gedrungen und trug ihr eisengraues Haar kurzgeschnitten. Ein goldumrandetes Monokel baumelte von ihrem Hals herab.

»Ich nehme an, daß Sie von der Polizei sind.« Ihre Stimme war tief und heiser, aber leidenschaftslos.

»Ja, Madam.«

»Ich bin Miss Carstairs. Sir Edwards Schwester. Gehen wir hinein?«

Sie trat zur Seite, um sie einzulassen. Dann schloß sie das Tor und schob den Riegel vor.

»Hier, bitte.«

Sie führte sie durch einen engen Korridor und öffnete eine Tür auf der rechten Seite. Sie gingen hinein. Es war ein kleines Zimmer, nackt und unpersönlich, mit weißen Wänden und einem glatten roten Teppich. Der Schreibtisch und sein unseliger Benutzer beherrschten das Zimmer.

»Genauso habe ich ihn gefunden«, sagte die Frau. Sie erschien unnatürlich ruhig, als wäre sie nicht einmal interessiert an dem ganzen Geschehen. »Ich habe nichts verändert und nichts berührt. Bloß das Telefon. Ich habe Handschuhe angezogen, bevor ich den Hörer abnahm.«

Waller nickte und ging zum Schreibtisch. Er wandte sich an Bates. »Haben Sie den Apparat und das Blitzlicht?«

»Ja, Sir.«

»Dann machen Sie am besten die erste Aufnahme von hier aus.«

Er zeigte auf einen Punkt auf dem Teppich und stand einen Augenblick lang da, den Kopf zur Seite geneigt, und betrachtete aufmerksam die Leiche. Die Todesursache war eindeutig ein Stich in den Rücken, der sehr geschickt ausgeführt worden war, gerade oberhalb des fünften Rückenwirbels. Von einer Waffe sah man keine Spur. Vielleicht würde sie auftauchen, vielleicht auch nicht.

»Fertig, Sir?« fragte Bates.

»Einen Augenblick. Ich sage Ihnen, wann Sie knipsen sollen.«

Er starrte weiter auf den Toten. Die ganze Haltung dieser Leiche war falsch. Der Kopf lag auf dem Schreibtisch, als hätte man ihn dorthin geschoben. Die Hand war ausgestreckt, als hätte man sie in einer teuflischen Absicht so hingebogen. Dies war kein gewöhnlicher Mord. Er war nicht unordentlich genug. Er war so verdammt glatt und sauber.

Er bemerkte die Frau. Sie lehnte an der Wand, beobachtete ihn, spielte mit dem Band ihres Monokels.

»Möchten Sie vielleicht lieber in einem anderen Zimmer warten?« fragte er.

Sie zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen.« Aber sie machte keine Anstalten zu gehen.

»Es wird Sie weniger aufregen.«

»Ich neige nicht zu Hysterie. Und ich bin nicht besonders aufgeregt.«

Waller zog seine dicken Brauen hoch.

»Ich habe nicht die Gewohnheit, Gefühle zu heucheln, die ich nicht empfinde.«

»Jawohl«, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.

»Ich habe meinen Bruder nicht geliebt. Im Gegenteil.« Sie sah ihn plötzlich verzerrt lächelnd an. »Und darum bin ich wohl höchst verdächtig.«

Er sagte nichts. Was hätte er einer solchen Frau auch sagen sollen?

»Wenn Sie aber meinen, daß ich Ihnen im Wege bin, werde ich mich ins Schlafzimmer setzen.« Sie ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und betrachtete die Leiche mit einem kalten, berechnenden Blick.

»Ich vermute, Sie werden das erste Stadium der Leichenstarre feststellen.« Sie sah flüchtig auf ihre Armbanduhr und wandte sich an Dr. Musgrave. »Ich glaube, er muß zwischen fünf und sechs Uhr ermordet worden sein. Aber ich bin ja nur ein Amateur.«

Damit ging sie zur Tür und zog sie hinter sich zu.

 

»Komische Frau«, meinte Musgrave, als er dem Toten Jackett und Hemd auszog. »Scheint überhaupt nichts zu empfinden. Aber intelligent ist sie. Wahrscheinlich hat sie mit der Todeszeit recht. Hier, Bates, schauen Sie sich das mal an.«

Er nahm den Toten am Handgelenk. »Sehen Sie das? Biegt sich kaum noch. Dieser Zustand tritt nicht vor Ablauf von drei Stunden ein. Wann hat Miss Carstairs Ihnen mitgeteilt, daß sie die Leiche entdeckt hat?«

»Gegen acht Uhr zwanzig, Sir.«

»Dann ist er seit fünf Uhr zwanzig tot. Kann auch etwas früher gewesen sein, aber bestimmt nicht später. Mit Sicherheit können wir nur sagen, daß er um fünf Uhr zwanzig tot war. Notieren Sie sich das lieber.«

Er gab Waller die blutbefleckten Kleidungsstücke. Dieser leerte die Taschen und tat ihren Inhalt nach einem flüchtigen Blick darauf in seine Aktentasche. Es war nichts Interessantes darunter. Ein zerknitterter Zehnshillingschein, ein schäbiges Seidentaschentuch, eine Füllfeder, ein Schlüsselbund, ein paar Silbermünzen. In der Weste war ein kleiner Notizkalender. Vielleicht würde der bei genauer Durchsicht etwas enthüllen.

Nun lag die rote Wunde frei.

»Sehr hübsch, sehr hübsch«, murmelte Musgrave. »Hätte es selbst nicht besser machen können.«

»Hat nicht viel geblutet, wie?« fragte Waller.

»Nein, wirklich nicht.«

»Kann ein Mensch so wenig bluten?«

»Es ist ungewöhnlich, aber nicht unmöglich.«

Waller blickte auf die Schlafzimmertür. »Was ist dort drin?« Bates trat vor. »Es ist nur ein kleines Zimmer wie dieses, Sir. Ein Schlafzimmer. Alles sehr nett und ordentlich. Kein Zeichen von einem Kampf.«

»Woher, zum Teufel, wissen Sie das?«

»Ich hab hineingeschaut, als Sie mit der Dame sprachen.«

Waller blinzelte ihm wohlwollend zu. »Für einen Burschen Ihrer Größe können Sie aber wirklich leise gehen. Trotzdem, wir schauen’s uns später noch an. Der Mörder kann dort hereingekommen sein. Und jetzt, mein Junge, beschäftigen Sie sich lieber mit den Fingerabdrücken. Sie können mit dem Baronet anfangen, wenn der Doktor nichts dagegen hat.«

»Schon gut«, sagte der Arzt. Er drehte den Toten ein wenig zur Seite. Als er dies tat, flatterte ein Bogen Briefpapier auf den Fußboden. Bates hob ihn auf.

»Geben Sie her«, sagte Waller. Er nahm den Brief und las.

»Etwas Wichtiges, Sir?«

Waller schien ihn nicht zu hören. Er las schnell, und als er fertig war, zeigte sein Gesicht nachdenkliche Falten.

»Etwas Wichtiges, Sir?« wiederholte Bates, der vor Neugier bebte.

»Wie? O ja. Schon möglich. Das lag auf der Schreibunterlage, nicht wahr?«

»Ja, Sir. Er ist gerade draufgefallen.«

»Die Unterlage nehme ich auch mit.«

Bates seufzte.

Die Minuten liefen schnell vorüber. Für Waller waren sie völlig ergebnislos. Außer dem Brief gab der Raum keine Geheimnisse preis. Er war völlig unpersönlich und verschlossen. Selbst die meisten Schubladen waren leer. Nur in einer Schreibtischschublade lag ein Scheckbuch. Es war ein Zimmer, das ein Roboter hätte bewohnen können. Es gab da keine dieser tröstlichen Kleinigkeiten, die Zeugnis von menschlicher Schwäche ablegen – keine Flasche, keine leeren Gläser, keine Fotografien auf den Tischen, nicht einmal einen Aschenbecher.

Als man den Toten weggebracht hatte und der Arzt mit dem Krankenwagen abgefahren war, sah der Raum noch kahler aus als zuvor.

Waller wandte sich an Bates. »Nun«, sagte er, »ich glaube, ich beschäftige mich jetzt einmal mit unserer ersten Zeugin. Während ich mit ihr spreche, können Sie schon mal das andere Zimmer durchsuchen. Sie kennen ja die Routine.«

Er öffnete die Schlafzimmertür.

»Bitte, Miss Carstairs. Darf ich Sie einen Augenblick bemühen?«

 

»Ach, daher all dieses Hin und Her«, sagte sie, während sie auf den leeren Schreibtisch blickte. »Hat man ihn ins Leichenschauhaus gebracht?«

»Ja, Miss.«

»Wie taktvoll von Ihnen, daß Sie erkannt haben, daß ich kein Verlangen nach einem liebevollen Abschied hatte.«

Waller wollte eben antworten, als das Telefon klingelte. Sie trat vor, um den Hörer abzunehmen, aber er kam ihr zuvor.

»Gestatten Sie«, sagte er höflich, aber energisch.

Sie zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen.«

Er nahm den Hörer ab. »Ja, hier ist Flaxman 9877. Was? Ferngespräch? Ich warte.« Er wandte sich an die Frau. »Ein Anruf aus Portsmouth«, erklärte er ihr.

Sie schwieg.

Er hörte, wie Münzen in den Automaten fielen. Die Telefonistin sagte: »Bitte, sprechen Sie.« Dann erklang die vergnügte Stimme eines jungen Mannes. »Hallo, Onkel. Hier ist Peter. Hör mal, es tut mir schrecklich leid, aber …« Eine plötzliche Pause. »Hallo! Bist du dran?«

»Wer spricht?« fragte Waller.

»Hier ist Peter. Peter Carstairs. Wer sind Sie?«

»Ich heiße Waller.«

»Ach. Na, sagen Sie meinem Onkel, daß ich ihn sprechen möchte, bitte.«

»Das ist unmöglich.«

»Was, zum Teufel, wollen Sie damit sagen?«

»Ihr Onkel hat einen Unfall gehabt.«

»Was? Etwas Ernstes?«

»Leider sehr ernst.«

»Lieber Gott, Sie wollen doch nicht …« Die junge Stimme stockte. Dann murmelte sie: »Er ist doch nicht … Er ist doch nicht etwa tot?«

»Doch.«

»Lieber Himmel! Aber wie … wann … Ich meine, das ist aber eine scheußliche Überraschung. Ich hab ihn doch heute nachmittag noch gesehen. Sind Sie der Arzt?«

»Nein.«

»Wer sind Sie denn?«

»Ich bin von der Polizei.«

»Polizei? Aber was hat denn die Polizei damit zu tun? Stimmt da etwas nicht?«

»Ganz entschieden.«

»Hören Sie mal, ich komm wohl besser rüber, nicht wahr?«

»Wenn Sie das könnten, wäre es uns eine große Hilfe.«

»Ich könnte in zwei Stunden dort sein. Und bitte, würden Sie wohl meine Tante anrufen und sie benachrichtigen? Sie steht unter Veronica Carstairs im Telefonbuch.«

»Sie ist schon hier. Möchten Sie mit ihr sprechen?«

»Lieber Gott, nein!« Die Stimme lehnte sehr energisch ab.

»Sagen Sie ihr nur, daß ich komme. Bin gegen Mitternacht da.«

Er hängte ein.

»Das war also Peter«, sagte die Frau.

»Ja. Soweit ich weiß, erbt er den Titel.«

»Ja.« Sie lachte grimmig und ließ sich schwer auf das Sofa sinken. »Peter Peregrine Carstairs, Vierzehnter seines Geschlechts. Hoffen wir, daß der Titel ihm mehr Glück bringt als den meisten anderen. Er kommt noch heute nacht her, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sie werden Peter mögen. Alle mögen ihn.«

»Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen«, sagte Waller ohne die geringste Andeutung eines Lächelns. »Inzwischen könnten wir uns vielleicht mit Ihnen befassen. Ich glaube, Sie haben zuerst von dieser – eh, Tragödie erfahren.«

»Bitte, benützen Sie nicht diesen Ausdruck«, unterbrach sie ihn scharf. »Wenigstens nicht, wenn Sie mit mir sprechen. Es eine Tragödie zu nennen, ist ein Mißbrauch unserer Sprache, vor der ich eine gewisse Hochachtung habe. Wenn Sie nichts dagegen haben, wollen wir es ein ›Ereignis‹ nennen. Das ist ein farbloses Wort, aber dafür gut genug.«

Waller hatte keine Lust, über Wörter zu streiten. »Ich glaube, Sie haben zuerst telefonisch von diesem … Ereignis … gehört, so gegen Viertel vor acht?«

»Da hat das Telefon geklingelt, ja. Ich erinnere mich an die Zeit, weil ich das Fernsehprogramm um acht sehen wollte. Und ich hoffte, es würde kein langes Gespräch werden.«

»Der Mann, der Sie anrief, nannte seinen Namen nicht?«

»Nein. Er sprach von einer Telefonzelle aus. Er hatte einen deutschen Akzent.«

»Haben Sie die Stimme erkannt?«

»Nein. Obwohl ich den unbestimmten Eindruck hatte, sie früher schon einmal gehört zu haben. Aber ich glaube, daß unbestimmte Eindrücke Ihnen in Ihrem Beruf nicht viel nützen.«

»Manchmal schon. Erinnern Sie sich genau an die Worte des Mannes?«

»Ja. Er sagte: ›Ihr Bruder ist sehr schwer krank. Bitte, gehen Sie sofort in die Chestnut Street.‹ Ich war überrascht und bat ihn, den Satz zu wiederholen. Das tat er mit genau denselben Worten. Dann hängte er ein.«

»Was haben Sie dann getan?«

»Ich habe bei meinem Bruder angerufen. Niemand anwortete. So habe ich mir als pflichtgetreue Schwester den Hut aufgesetzt und bin hergekommen.«

»In einem Taxi?«

»Natürlich nicht. Mit der U-Bahn und dem Bus. Das geht vielleicht nicht so schnell, ist aber viel billiger. Die Angelegenheit schien mir keine unnötigen Ausgaben zu rechtfertigen.«

Wirklich, dachte Waller, die scheint entschlossen zu sein, sich ins schlechteste Licht zu setzen.

»Sie sind hier gegen zwanzig Minuten nach acht angekommen?«

»Ja. Als niemand auf mein Klingeln reagierte, habe ich selbst geöffnet. Ich habe nämlich meinen eigenen Hausschlüssel. Mein Bruder hat mir vor ein paar Jahren einen gegeben, als wir noch besser miteinander standen. Ich bin manchmal in seine Wohnung gekommen, um eine seiner Schallplatten zu hören.«

»Und dann?«

»Dann betrat ich dieses Zimmer. Den Rest kennen Sie.«

»Haben Sie uns sofort angerufen?«

»Natürlich.«

»Was haben Sie getan, bevor wir hier waren?«

»Ich habe eine Zigarette geraucht und nachgedacht. Meine Gedanken werde ich mit Ihrer freundlichen Erlaubnis für mich behalten. Danach ging ich ins Schlafzimmer und habe ein bißchen Privatdetektiv gespielt.«

»Mit Erfolg?«

»Nein. Es schien nichts zu entdecken zu geben. Das Schlafzimmer hat ein großes Fenster, und im Badezimmer ist ein ganz kleines. Beide waren fest verschlossen, und niemand hat sich daran zu schaffen gemacht. Es gab nicht das kleinste Anzeichen von einem Kampf. Es gab keine Spur von einer Waffe. Mein Bruder war fast übermäßig ordentlich und lebte mit einem Minimum an persönlichem Besitz. Alles hatte seinen festen Platz.« Sie unterbrach sich einen Augenblick.

»Übrigens, ehe ich’s vergesse: Ich habe mir erlaubt, einen Gegenstand wegzunehmen.« Sie öffnete ihre Handtasche – sie trug immer noch Handschuhe – und nahm eine schwere goldene Zigarettendose heraus, die sie Waller gab. »Ich hielt es für besser, sie zu verwahren, wenn … so viele Fremde hier umherlaufen.«

Waller überhörte die ziemlich beleidigende Anspielung und sah sich die Dose näher an: Ein prächtiges Stück Juwelierarbeit, zart in drei Goldtönen ziseliert, mit einem Saphirverschluß.

»Wo war sie?«

»Sie lag auf seinem Toilettentisch. Sie war wohl das einzige wertvolle Stück, das er besaß, und ich habe mich oft gefragt, warum er sie nicht wie alles andere versetzt hat.«

Waller öffnete die Dose. Eine Inschrift war in lockerer, fließender Schrift eingraviert: Souvenir de Capri. Sonja R.

»Sagt der Name Sonja R. Ihnen etwas?«

»Ja. Das ist Sonja Rubinstein.«

»Die Primadonna?«

»Ja. Sie singt aber schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Mein Bruder war einer ihrer vielen Anbeter. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund scheint sie seine Zuneigung erwidert zu haben – zumindest während einer Saison.«

Waller drehte die Dose in seinen Händen. »Ein wertvolles Stück«, sagte er. »Es zeigt uns, daß, was immer das Motiv für diesen Mord gewesen sein mag, es sich nicht um einen Raubmord handelt.«

»Diesen Schluß habe ich selbst auch schon gezogen«, erwiderte sie trocken.

Bates erschien in der Tür. »Alles in Ordnung, Sir«, meldete er.

»Vielleicht möchten Sie noch selber nachschauen?«

Waller entschuldigte sich und folgte ihm ins Schlafzimmer. Es sah aus, wie Bates es beschrieben hatte: bescheiden und geradezu übertrieben ordentlich. Dann ging er ins Badezimmer. Hier war es genauso. Der verstorbene Baronet besaß anscheinend nur einen Rasierapparat, einen Topf Rasierseife, eine Zahnbürste, eine Dose billiges Zahnpulver und ein Stück Karbolseife.

»Ziemlich unergiebig«, knurrte Waller. »Vielleicht helfen uns die Fingerabdrücke weiter.« Er unterbrach sich, ihm fiel etwas ein. »Ich will eben noch mit der Dame sprechen«, sagte er.

»Dann schicke ich sie nach Hause. Sie warten am besten hier.«

Er ließ den großen, rundlichen Bates auf dem Rand des Bettes sitzen; er hockte da wie ein trauriger Bluthund, dem man seinen Knochen weggenommen hat.

Waller ging ins Wohnzimmer zurück und schloß die Tür hinter sich. Die Frau sah zu ihm auf und lächelte nun. Einen Augenblick lang sah sie beinahe menschlich aus.

»Haben Sie etwas gefunden?«

Er schüttelte den Kopf.

»Da bin ich aber froh.« Sie lachte ganz vergnügt. »Sie brauchen nicht so mißtrauisch dreinzusehen. Ich hätte mich geschämt, wenn meine Findigkeit geringer gewesen wäre als Ihre.«

»Aha.«

»Also, wie geht es weiter? Brauchen Sie mich noch?«

»Im Augenblick nicht. Man wird natürlich verlangen, daß Sie bei der Leichenschau anwesend sind. Können wir Sie jederzeit erreichen?«

»Gewiß. Ich habe nicht die Absicht wegzulaufen.« Sie drehte sich um, um ihre Handschuhe und Handtasche zu nehmen. »Ich möchte Ihnen bloß noch eine Frage stellen, Miss Carstairs.« Er sprach leise, aber etwas in seiner Stimme ließ sie aufhorchen.

»Ja?«

»Warum haßten Sie Ihren Bruder so sehr?«

Sie stand ganz steif da, immer noch mit dem Rücken zu ihm.

»Sie müssen meine Frage natürlich nicht beantworten. Und wenn Sie mir etwas sagen wollen, bleibt das selbstverständlich unter uns. Aber in Ihrem eigenen Interesse …«

»In meinem eigenen Interesse!« rief sie und wandte sich energisch um. »Was kümmert mich mein eigenes Interesse?«

Ihre Augen waren stechend und schmal und verrieten ihre Leidenschaftlichkeit. »Der Schaden ist schon angerichtet.«

Er schwieg. Er stand da und hoffte, ihre Wut würde sie dazu bringen, ihre Maske fallen zu lassen. Aber sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt.

»Ich habe nichts zu sagen«, beschied sie scharf.

Waller machte einen letzten Versuch. »Sie haben manches gesagt, was darauf schließen läßt, daß Sir Edward vielleicht Feinde hatte und daß Sie wissen, wer seine Feinde waren. Wenn die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen soll …«

»Die Gerechtigkeit hat ihren Lauf genommen«, unterbrach sie ihn. Sie lachte bitter auf. »Sie hat ihren Lauf vor ein paar Stunden in diesem Zimmer genommen. Geben Sie sich keinen Illusionen hin! Wenn Sie glauben, daß ich meinen Bruder umgebracht habe, ist das Ihre Angelegenheit, und es wird mich interessieren, wie Sie es beweisen. Ich werde Ihnen sogar dabei helfen und Ihnen sagen, daß ich ein sehr starkes Motiv dafür hatte, vielleicht das stärkste Motiv auf der Welt. Und, verzeihen Sie mir, das ist alles, was ich sagen möchte.«

»Wie Sie wollen.« Er half ihr in den Mantel.

Sie wandte sich ihm zu und hielt ihm die Hand hin. »Gute Nacht. Nein. Bitte, bemühen Sie sich nicht, mich zur Tür zu begleiten. Ich kenne den Weg.«

»Vielleicht rufe ich Sie morgen an.«

»Hoffentlich nicht zu früh.« Sie blickte auf ihre Uhr und lächelte ihn rätselhaft an. »Es fehlt noch eine Stunde bis Mitternacht, und ich möchte das neue Jahr feiern. Wissen Sie, ich habe das Bedürfnis zu feiern.«

Sie ging hinaus und schloß die Tür hinter sich.

Waller starrte ihr nach und kratzte sich den Kopf. Er hatte immer geglaubt, viel von Frauen zu verstehen, aber so eine war ihm noch nie begegnet! Feiern! Da er gerade daran dachte, fiel ihm ein, daß er auch gern ein Glas getrunken hätte. Vielleicht konnte Bates ins Gasthaus an der Ecke laufen … Aber nein. Nicht im Dienst.

Er seufzte schwer und setzte sich aufs Sofa, um die Ankunft von Sir Peter Peregrine Carstairs zu erwarten, des Vierzehnten seines Geschlechts.

2

Mr. Green stand am Eingang seines Gartens und roch an einer Christrose. Für Leute mit weniger feinem Geruchssinn riechen Christrosen gar nicht. Für Mr. Green strömten sie eine Mischung vieler zarter Düfte aus. Sie rochen nach Regen und Frost und der guten dunklen Erde. Ihr Duft schien ihm sogar noch schöner als ihr Aussehen, denn trotz der Decke, mit der er sie so liebevoll geschützt hatte, zeigte das blendende Weiß ihrer Blütenblätter braune Flecken.

Mr. Green hatte eine Vorliebe für Baudelaire, von dem er einmal gelesen hatte, daß »le nez poète ondulait«, wenn sie mit einem besonderen Duft in Berührung kam. Er wußte genau, was das bedeutete. Es wäre lächerlich gewesen zu sagen, daß seine eigene Nase bei solchen Gelegenheiten »wogte«, denn sie war kurz und stumpf und in diesem Augenblick von der Kälte des Januarnachmittags stark gerötet. Aber sie zuckte ganz gewiß, und seine Nasengänge bebten deutlich in einer Schwingung, die sich den innersten Winkeln seines Hirns mitteilte.