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Ein Toter. In einem Krimi zunächst nichts Besonderes. Auf einem feinen englischen Golfplatz dann schon eher. Spektakulär aber ist die Tatsache, dass der Täter das Opfer übel zugerichtet und hiernach wie eine Trophäe eines Großwildjägers an die Wand des Halfway-Hauses gehängt hat. Das aber ist noch lange nicht alles. Die Detectives Cathy Campell und Michael Panther stehen gleich zu Beginn vor einer unerwarteten Wendung, hiernach vor vielen Rätseln, Ungereimtheiten und Widersprüchen. Das Feld der Verdächtigen – allesamt mit handfesten Motiven ausgestattet – wird obendrauf nahezu von Stunde zu Stunde größer. Und damit immer weniger zu durchblicken. Dabei stehen Geld, Habgier und Rache im Mittelpunkt der Ermittlungen.
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Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2025
Stefan G Rohr
Der Tote von Alston Hills
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Tote von Alston Hills
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Nachwort
Kleines Golf-Glossar für Nichtgolfer
Autorenprofil
Impressum neobooks
von
Stefan G. Rohr
Impressum
Text: © Copyright by Stefan G. Rohr
Umschlag: © Copyright by Stefan G. Rohr
Foto Pixabay (lizenzfrei)
Lektorat: Nicola Gavran, Baden-Baden
Verlag: Stefan G. Rohr
www.belletristik.online
Die Sonne war gerade über der Waldkuppe am Horizont der Anhöhe von `North Pennines´ aufgegangen und warf ihr erstes rötliches Licht auf die langen grünen Bahnen des Golfplatzes von Alston Hills. Über allem thronte förmlich das auf der Höhe liegende Landschloss des Clubs, ein alter englischer Herrensitz, gebaut in grauem Granit und gräulichen Sandstein, mit Türmen und Erkern, die an mittelalterliche Burgen erinnerten, alles in einer Pracht, die einem edlen Lord des achtzehnten Jahrhunderts gerecht geworden wäre. Das ganze herrschaftliche Areal zog sich in die Weiten gen Norden bis nah an die schottische Grenze, und dem Betrachter offenbarten sich die schönsten alten Eichen, Ulmen und Linden, mächtige Buchen und hier oder dort auch schlanke Birken, die allesamt die grünen Fairways mit ihren gelben Sandbunkern majestätisch, dennoch sanft säumten.
Noch lag um diese Tageszeit ein zarter Film von Tau auf den gemähten Fairways, doch schon bald würde sich die Feuchte in Dunst auflösen und die Sonne den Golfplatz überall dort erwärmen, wo seine Bäume keine Schatten warfen. In die sanfte Stille dieser Idylle zwitscherten die vielen Vögel der Umgebung ihre Gesänge hinein, und es war mit einem Male so, als erwachte alles nach einer ruhigen Nacht aus tiefem Schlaf.
Das waren die Minuten, die Annie Baker so liebte. Jetzt, in aller Frühe, wenn der Tag gerade begann, machte sie sich immer einmal wieder selbst für ein paar Löcher auf – denn schon spätestens in einer Stunde würden die ersten Golfer im Clubsekretariat, einem hölzernen Pavillon neben dem Schlossgebäude, auftauchen. Mit nur wenigen Schlägern im Bag war sie auch an diesem Tag geradewegs zum Abschlag des neunten Lochs unterwegs, von wo sie wie immer ihre ganz persönliche kleine Runde von ein paar Schlägen spielen wollte. Dort befand sich auch das Halfway-Haus des Clubs, ein kleines Stein-Cottage mit einem moosbedeckten Dach, welches zwischen der neunten und zehnten Bahn, also auf der Hälfte der insgesamt achtzehn Löcher stand.
Die Clubsekretärin, eine sportliche und fröhliche Frau in den Vierzigern, erreichte nach kurzem Wege das Cottage, und sie beschloss, vor ihrem Spielbeginn die dortige Toilette aufzusuchen. Als sie um die Ecke des Häuschens ging, aber durchfuhr es ihren Körper wie ein Blitz. Ein spitzer Schrei entfuhr ihrer Kehle, und sofort darauf musste sie sich übergeben. Dennoch konnte sie ihre Blicke nicht mehr von der Wand neben der Toilettentüre lösen. Es war derart grausam, dass sie wie gelähmt dastand und nicht merkte, wie stark sie am ganzen Körper zu zittern begonnen hatte.
Und dass, was sie sah, war von so großer Grausamkeit, dass sie der Anblick von Kopf bis Fuß mit einem bisher nicht gekannten Ekel durchflutete. Den Tod an sich hatte sie schon ein paar Mal mitansehen können. Aufgebahrt, im offenen Sarg. Aber dieser Tote hier war so fürchterlich anzusehen, dass ihr die Tränen in Strömen die Wangen herunterflossen. Mit beiden Armen an zwei Haken angebunden, bis auf einen Panama auf dem Kopf völlig unbekleidet, hing der in sich gesackte Körper schlapp und ascheweiß wie eine Trophäe eines Großwildjägersan der Hüttenwand. Aus mehreren Wunden war Blut hervorgetreten, jeweils nicht besonders viel, doch hatte sich dieses gespenstisch in mehreren dünnen Rinnsalen über einige Körperpartien verteilt und bildete, zusammen mit den schwarzblauen Adern unter der kreidigen Haut, ein gruseliges Ensemble. Es war wohl genau dieser Umstand, dass die Leiche einen bereits auf den ersten Blick erschaudern ließ und anmutete, als wäre sie soeben aus einem Horrorfilm entflohen.
Die Kabelbinder an den Handgelenken hatten sich unter dem Gewicht des Opfers tief ins Fleisch geschnitten und Muskeln sowie Sehnen bis auf die Knochen freigelegt. Doch das grausamste waren die Augen. Der Kopf war zwar leicht nach vorn und zur Seite geneigt, der Hut über die Stirn nach unten gerutscht, doch waren die Augen des Toten – oder besser das, was von ihnen übrig war – noch sichtbar. Der Mörder hatte diese dem Opfer buchstäblich ausgestochen, und es schien fast so, als starre der arme Kerl mit blutigen Höhlen in die Ferne, dorthin, wo sich der Täter aus dem Staub gemacht haben könnte.
Die völlig schockierte Frau wusste nicht wieviel Zeit gerade vergangen war, aber nun wurde sie etwas klarer im Kopf, der erste Schrecken schien sich zu legen. Sie drehte sich um und ging um die Ecke zurück zu ihrem Bag, worin sich ihr Telefon befand. Mit zitternden Händen wählte sie den Notruf und gab in kurzen, knappen Sätzen zu wissen, was sie gerade gefunden hatte. Dann setzte sie sich auf die Bank vor der Hütte, dort, wo ihr Blick nicht mehr auf den Toten gerichtet werden konnte, lehnte den Kopf nach hinten und schloss langsam durchatmend die Augen.
*
Cathrin Campell war gerade aus der Dusche heraus. Die letzten Abende hatten es in sich. Lange Diskussionen, Streit und immer wieder doch auch noch aufkeimende Hoffnung, es würde sich vielleicht am Ende alles zum Besten wenden. Dann gestern die endgültige Ernüchterung. Trennung und Scheidung. Es war aus mit ihrem Traum einer endlosen Liebe im seligen Hafen der Ehe. Erschöpft und frustriert war sie ins Bett gefallen. Allein, denn sein Auszug war scheinbar vorbereitet. Er war gegangen und hatte sogar die Schlüssel auf der Kommode im Flur liegen gelassen. Ein eindeutiges Zeichen, nicht nur für sie als Detective des `Criminal Investigation Department´ von Carlisle.
Noch tropfend aus der Dusche gekommen hatte sie ihr Handy klingeln hören. Am anderen Ende der Leitung vernahm sie eine monotone Stimme, die sie über einen Mord auf einer naheliegenden Golfanlage informierte. Als sie das Telefonat beendet hatte, musste sie unwillkürlich in sich hineinlachen. Das war jetzt wirklich ein schlechter Scherz des Schicksals. War doch ihre Ehe soeben nicht zuletzt auch wegen des Golffanatismus‘ ihres Mannes gescheitert, der mehr Zeit auf irgendwelchen Golfplätzen als mit ihr verbrachte und sie über lange Zeit genötigt hatte, sich seiner Begeisterung für diesen Sport anzuschließen. Sie hatte es dann sogar ein paar Male versucht, konnte sich aber nicht erwärmen, diese kleinen, Dimple-übersähten Kugeln mit einem aus ihrer Sicht völlig ungeeigneten Gerät über die Weiten grüner Grasbahnen zu schleudern, sich dabei Schulter und Becken zu verrenken und dabei zudem bedeutend mehr Zeit mit dem Suchen verschlagener Bälle zu vergeuden, als mit dem Spiel an sich.
Golf war nichts für sie, und sie hatte längst konstatiert, dass sie selbst wohl viel zu wenig masochistischen Trieb entwickeln könnte, als sich jemals anders zu entscheiden. Und ihre Vermutung war dann auch nicht allzu weit davon entfernt, eben genau das ihrem Angetrauten zu unterstellen. Während es bestimmte Charaktere zu einer Domina hinzog, begnügte er sich offenbar mit einer anderen Art der Selbstkastei: dem Golfen und der niemals enden wollenden Manie zur Verbesserung des Handicaps. Heute, an diesem Morgen, war ihr nochmals klarer geworden, dass eine Beziehung mit einem Golfer per se zum Scheitern verurteilt ist, es sei denn, dass sich beide gleichermaßen dem Masochismus verschrieben haben.
Und nachdem am Abend zuvor die finale Entscheidung für das Eheende getroffen worden war, kam schon am nächsten Morgen ein Toter auf einem Golfplatz oben auf `Alston Hills´, unweit von Carlisle und ihrer eigenen Wohnung, auf ihre Tagesordnung. Und sie lächelte noch einmal bitterer als zuvor. Jetzt würde zur gesamten geschmacklosen Ironie des Ganzen nur noch fehlen, dass es sich bei dem Ermordeten um ihren eigenen Noch-Ehemann handeln würde. Für einen winzigen Moment hatte sie sogar eine verschmitzte Freude an dieser Vorstellung, und sie grinste leicht genüsslich in sich hinein: Sie bräuchte in diesem Fall ja sogar ein Alibi, weswegen sie nun laut kicherte.
Zeit für weitere Gedanken um ihre Ehe oder gar eine ausführliche Morgentoilette hatte sie jetzt nicht mehr. Mit immer noch feuchten Haaren warf Cathrin Campell schnell ein paar Sachen über und verlies ihre Wohnung. Kurz vor dem Zuziehen der Haustüre fiel noch einmal ein kurzer Blick auf die Schlüssel, die unberührt auf der Kommode lagen. Dann aber zog sie mit einem festen Ruck die Türe ins Schloss und nahm die Treppe mit großen Schritten. Sie wusste, dass er nicht mehr zurückkehrte, und sie wusste auch, dass es heute wieder einmal kein normales Frühstück für sie und ihren Kollegen geben würde. Als Detective Inspector war sie daran aber fast schon gewöhnt, und auch auf dem Weg zu diesem Tatort würde es sicher einen Bäcker mit französischen Croissants und tiefschwarzem englischen Kaffee aus dem beliebten Pappbecher geben.
Die sechsunddreißigjährige Polizistin war schon seit einiger Zeit beim CID, und zusammen mit ihrem Kollegen, Detective Constable Michael Panther, hatte sie schon absonderliche Verbrechen sehen und sehr viele von diesen auch aufklären können. Die blonde, gutaussehende Frau wurde so manches Mal auf den ersten Blick für zu schwach angesehen, zu sensibel für eine solche Arbeit. Doch sie war mitnichten leicht umzuwerfen, und nicht selten waren es ihre männlichen Kollegen, denen die Nerven versagten.
Cathrin Campell hatte Panther auf dem Weg zum Tatort noch kurz abgeholt, und beide aßen hastig die auf die Schnelle besorgten Buttercroissants. Das Blaulicht auf dem ansonsten völlig neutralen Fahrzeug blinkte, und sie fuhr so rasant in die Kurven, dass der heiße Kaffee überschwappte und die Hose von ihrem Beifahrer durchnässte.
„Ich hoffe nur, dass die Spuren von der SOCOs vor Ort gesichert werden, sonst zertrampeln uns die dämlichen Golfer noch den Tatort“, schnauzte Panther, ohne seinen nassen Hosenbeinen irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Der große Kerl, der trotz seiner Hünenhaftigkeit einen leicht übergewichtigen und etwas unsportlichen Eindruck vermittelte, hatte sich das Croissant fast komplett in den Mund gesteckt, und seine Kiefer mahlten unaufhörlich. Panther beherrschte eine besondere Kunstform des Multitasking: Er konnte mit vollgestopftem Mund zeitgleich nicht nur die Mahlzeit zerkleinern, zudem war es ihm sogar möglich, dabei zu trinken und zu sprechen. Als Kind einfacher Hafenarbeiter aus Liverpool hatte er früh gelernt, Zeit und Tun so miteinander zu verschmelzen, dass dabei stets das effizienteste Ergebnis herauskam. Essen war für ihn Energieproduktion und es bestand kein Grund dazu, währenddessen nicht auch zu sprechen oder eben noch andere Sachen zu erledigen. Ein Handy, das gerade lädt, kann ja schließlich auch benutzt werden. Trivial, aber für den jungen Detective Constable ein durchaus einleuchtender Vergleich.
Campell und Panther waren eigentlich grundverschieden. Sie war in London aufgewachsen, in einer ruhigen und gutsituierten Gegend, wo in jeder Straße die typisch englischen Stadthäuser aus rotem Klinker standen, deren Eingangstüren von zwei Säulen links und rechts gesäumt wurden und hübsche Treppen zur Halbparterre und den dortigen Eingängen führten. Panther wuchs dagegen in einem Arbeiterviertel im Hafengebiet von Liverpool auf, in einer winzigen Wohnung mit Ofenheizung und nur drei Zimmern für die fünfköpfige Familie und dünnen, holzverstärkten Pappwänden als Trennung von den Nachbarwohnungen. Campell empfand den Beruf der Polizistin als Traumjob, dieses schon seit ihrer Kindheit, was wohl in erster Linie darauf zurückzuführen war, dass ihr Vater als hoher Polizeioffizier beim Scotland Yard arbeitete. Sie neigte stets zur Ruhe, Bedächtigkeit und einer sanften Herangehensweise, während Panther gern einmal aufbrauste und – wie er sagte – den „Harten“ mimte. Das Spiel „Good Cop – bad Cop“ beherrschten die beiden im Schlaf und aus dem Stehgreif ohne vorherige Absprache. Er neigte dabei zu einer eher groben Direktheit, und es war seiner Vorgesetzten immer wieder ein innerliches Vergnügen, als die Vernünftige und Besonnene aufzutreten und sich somit das Vertrauen der Zielperson zu erarbeiten.
Panther, mit seinen dreißig Jahren ein durchaus hübscher Bursche, dessen Zehntagebart ihn nicht unbedingt älter erscheinen ließ, war ledig und hatte auch nicht vor, das in naher Zukunft zu ändern. Dass seine Chefin verheiratet war, konnte er ohnehin nicht verstehen, erst recht nicht, nachdem er ihren Mann kennengelernt hatte. Dass dieser auch noch Golf spielte, machte ihn für Panther nur noch mehr zum Lackaffen, woraus er auch nie ein Geheimnis gemacht hatte. Wäre der Bursche Fan vom FC Liverpool, wenigstens noch vom FC Blackpool, wäre es ja erträglich gewesen. Aber Golf?! Nee, nee, das passte gar nicht ins Weltbild eines handfesten Burschen aus den Hafenvierteln von Liverpool.
Seine Chefin grinste: „Golf ist immer noch nicht deine bevorzugte Sportart …?“
Panther zog die Augenbrauen hoch und grinste. „Wie ich vernommen habe, auch nicht die deine! Und überhaupt: Derlei ernsthaft als Sport zu bezeichnen, ist schon an sich bekloppt“.
„Kann eben nicht jeder Fan der `Reds´ sein.“ Cathrin Campell machte eine kurze Pause. „Haben deine Liverpooler Lieblinge nicht gerade wieder einmal verloren …?“
Panther grunzte kurz etwas in sich hinein, dann aber leuchteten seine Augen auf: „Und? Hat dein Mann endlich mal eines seiner Golfturniere gewinnen können?“ Doch bevor seine Vorgesetzte etwas antworten konnte, waren sie auch schon auf dem Parkplatz der Golfanlage angekommen. Jetzt war keine Zeit mehr für die sonst zwischen den beiden üblichen und liebgewonnenen kleinen Wortgefechte.
Als sie den Wagen verließen, stürmten bereits mehrere Leute auf sie zu, und es flammte ein lautes Stimmengewirr auf. Michael Panther hob den Arm und brüllte ein lautes „Ruhe!“ in die Menge, und das war so eindrücklich, dass alle Anwesenden sofort schwiegen.
„Wer von Ihnen ist so freundlich und führt uns zum Tatort?“, säuselte nun Campell mit engelhafter Stimme.
Ein freundlich lächelnder kleiner Mann trat hervor, hob die Hand und sagte mit einem Blick über seine auf der Nase nach unten gerutschten Lesebrille: „Das mache ich.“ Und ohne gefragt worden zu sein fügte er mit einem interessierten Blick auf den jungen Detective vor ihm hinzu: „Mein Name ist Charly Briggs, ich bin hier der Clubmanager.“ Dabei zupfte er an seinem bunten, in Regenborgenfarben gehaltenen Schal, den er wie ein hypochondrischer Opernsänger um seinen Hals geschlungen hatte.
In diesem Moment kamen zwei Polizeifahrzeuge auf den Parkplatz, man hatte ihre die Sirenen schon einige Zeit zuvor hören können. Die uniformierten Polizisten verließen allesamt in großer Eile die Fahrzeuge. Doch bevor sie irgendetwas fragen konnten, hielten Campell und Panther ihre Dienstausweise in die Luft, und es war Campell, die den Polizisten nun Anweisung gab, dafür Sorge zu tragen, dass niemand mehr auf den Platz gehen sollte, sodann die Spurensicherer der SOCOs sicher auch gleich eintreffen würde. Diese dürften sie zum Tatort durchlassen. Einen der Beamten bat sie allerdings, sie zum Tatort zu begleiten.
„Dann, Mr. Briggs, führen Sie uns bitte zum Ort des Geschehens.“ Cathrin Campell lächelte wieder ganz entzückend, so, als würde sie in einem Modehaus den Kunden zur Garderobe folgen wollen. Mit einem kurzen Seitenblick auf Panther konnte sie dabei noch kurz sehen, wie dieser mit den Augen rollte.
Doch sie hielt noch einmal kurz inne. „Hat nicht eine Dame den Toten entdeckt? Diese möge sich uns ebenfalls anschließen“. Und sie schaute in die Runde, wo sie das weiße Gesicht von Annie Baker entdeckte, die zögerlich einen Zeigefinger in die Höhe streckte.
„Schaffen Sie das noch einmal?“
Das Gesicht nickte unsicher, und Cathrin Campell zeigte sich zufrieden. „Kennen Sie das Opfer?“
Die Angesprochene fing spontan an zu weinen und schnappte nach Luft. „Es ist der Mr. McGee…, sein Hut…“ Und nach einem kurzen Augenblick fügte sie an: „… der Eigentümer von Alston Hills.“ Dann schüttelte sie sich wieder in der nächsten Weinattacke.
Der Weg führte die kleine Gruppe auf einem schmalen Weg an der Driving-Range vorbei hinaus auf den Golfplatz. Die Sonne war inzwischen nochmals höher gestiegen und warf ihre wärmenden Strahlen auf einen breiten Fairway, den die fünf zur Abkürzung ihrer Wegstrecke zu überqueren hatten. Und nun kam auch schon das Halfway-Haus in Sichtweite, welches ein wenig versteckt zwischen hohen Bäumen lag und im rückwärtigen Bereich, dort wo die Toilette lag, von einer großen Rhododendron-Hecke geschützt wurde. Hätte die Clubsekretärin diesen Weg anstelle des gepflasterten zum Halfway-Haus gewählt, wäre der Tote deutlich früher in ihr Blickfeld geraten, denn mit jedem Schritt, den die Polizisten nun näherkamen, zeichnete sich ab, was sie gleich erwarten würde.
Hinter ihnen wurden Schritte laut. Drei Beamte der SOCOs eilten mit ihren Koffern der Gruppe hinterher und schnauften sichtlich angestrengt, als sie die Stehengebliebenen überholten. Campell und Panther waren beruhigt. Der Tatort würde ab sofort gesichert sein.
„Ich denke, wir sollten hier zunächst stehenbleiben.“ Detective Inspector Campell schaute in die Runde ihrer Begleiter. Zum Polizisten gewandt bat sie ihn Sorge zu tragen, dass sich hier niemand Unbefugtes dem Tatort nähern würde. Und zu Panther sagte sie leise: „Lass dir einmal von der Dame hier den Hergang erklären, wie sie ihn gefunden hat.“ Sie schaute ihrem Kollegen fest in die Augen. „Du weißt schon, mit allem Drum und Dran … mach das aber bitte nicht hier, geht alle zurück zum Clubpavillon. Da wird sich sicher ein Plätzchen finden.“.
Sie dankte dem Clubmanager noch für seine Begleitung, machte ihm dann aber unmissverständlich klar, dass er hier zunächst nicht mehr gebraucht werden würde, er sich für weitere Fragen aber noch zur Verfügung stellen sollte. Sie würde später bei ihm vorbeischauen. Sodann ging die junge Kriminalpolizistin festen Schrittes in Richtung des Halfway-Hauses.
Die SOCOs hatte bereits mit Absperrbändern den Bereich markiert, und die drei Beamten zogen gerade ihre weiße Schutzkleidung an. Cathrin Campell hatte einen direkten Blick auf den an der Wand hängenden Toten, und sie schaute sich den Mann sehr genau und lange an, auch wenn das Bild ein mehr als grausamer Anblick war. Sie hatte schon einige Tote gesehen, dieser hier aber war besonders. Sie machte für sich einige Fotos, sorgsam darauf achtend, dass sie den Leuten der SOCOs nicht in die Quere kam. Sie bemerkte dabei auch die beiden Messer, die links und rechts vom Kopf des Opfers in der hölzernen Wand der Hütte steckten, und sie schaute ganz vertieft auf die schier unzähligen Wunden, die offensichtlich mit diesen Messern verursacht wurden.
„Wenn Sie mich fragen, eindeutig ein Ritualmord!“
Campell erschrak und drehte sich zu der Stimme hinter sich um. Diese gehörte dem Gerichtsmediziner, Dr. Alex Canterbury, dessen Herankommen sie gar nicht bemerkt hatte.
„In jedem Fall scheint hier jemand erhebliche Wut gehabt zu haben“, antwortete die Chefermittlerin leise, fast schon als spräche sie nur mit sich selbst. Und Wut war gerade irgendwie etwas, was sie gut nachvollziehen konnte. Und dann, etwas lauter, fügte sie hinzu: „Bin jetzt schon auf Ihren Bericht gespannt wie ein Flitzbogen, Doc!“
Der Mediziner grinste: „Bekommen Sie schnellstmöglich! Wie immer. Und bevor Sie mich – auch wie immer – fragen, ob ich eine Einschätzung der Todeszeit wage, dann würde ich auf die Schnelle jetzt mal minus 12 bis 15 Stunden tippen.“ Beide sahen auf ihre Uhren. „Also irgendwann gestern Abend zwischen 20 und 23 Uhr. Genaueres folgt noch. Ich kann aber jetzt schon mitteilen, dass es ein wenig dauern wird. Die Obduktion der Leiche wird einiges an Zeit beanspruchen.“
„Wenn vierundzwanzig Stunden am Tag nicht reichen, dann hängen Sie einfach die Nacht hintendran“, bemerkte Campell trocken. „So einen Fall hat man nicht alle Tage.“
Zu den Ermittlern der SOCOs gewandt fragte sie, ob die Kleidung des Toten am Tatort gefunden wurde. Doch diese schüttelten den Kopf. Im unmittelbaren Umfeld bisher noch nicht. Man würde aber noch genauer suchen.
Cathrin Campell hatte fürs Erste genug gesehen und beschloss, sich zurück zum Clubhaus zu begeben. Und dann wartete schließlich noch eine stets unschöne Aufgabe auf sie: die Benachrichtigung der Angehörigen und die ersten an diese gerichteten Fragen.
„Was hast du bis jetzt erfahren können?“ Cathrin Campell hatte ihren Kollegen ein wenig zur Seite gezogen, schaute dabei aber auf eine scheinbar immer größer werdende Gruppe von Menschen, die sich vor dem Clubgebäude versammelt hatten. Und auch die Presse traf gerade schon ein.
Detective Constable Panther warf einen kurzen Blick auf seinen Notizblock. „Es handelt sich bei dem Opfer – wie schon vermutet – ganz offensichtlich um den Eigentümer von Alston Hills, einen gewissen Nathan McGee. Der Mann ist nicht nur stinkreich, er ist mit 82 Jahren auch nicht mehr ganz der Jüngste. Hinterlässt Frau und einen in seinem Hause lebenden Neffen, und – wie ich unschwer von unserer Clubsekretärin erfahren konnte – eine stolze Anzahl von Menschen, die bei seinem Ableben den einen oder anderen Champagnerkorken knallen lassen würden. Mit anderen Worten: Er hatte durchaus einige Feinde, womit es uns an Motiven in diesem Fall sicher nicht mangeln wird.“
Die leitende Ermittlerin blickte ihren Mitarbeiter erstaunt an. „Das klingt verheißungsvoll. Bei vielen vorhandenen Mordmotiven blühe ich ja auf. Das kann ja jetzt dann heiter werden.“ Und nach kurzer Pause fügte sie hinzu: „Hast du noch mit anderen gesprochen?“
„Bisher noch nicht, aber ich habe einigen der hier Anwesenden schon mitgeteilt, dass sie sich den Tag über bereithalten sollen.“
„Bleib du hier und halte die Meute zusammen, respektive die Presse am langen Band.“ Campell hatte einen forschen Ton angenommen. „Ich werde mich jetzt um die Anschrift des Toten kümmern und dann seine Familie informieren.“
Panther riss einen kleinen Zettel von seinem Notizblock ab und übergab diesen seiner Chefin. „Adresse steht hier …“, und er grinste seine Chefin unverhohlen an.
Sie nahm den Zettel lächelnd, und als sie wegging, rutschte ihr noch kurz ein „Streber“ heraus.
*
Cathrin Campell hielt vor einer großen Villa, welche nur unweit vom Alston Hills im kleinen Örtchen Garrigill im gleichen County gelegen war. Das Gebäude schien ihr aus den fünfziger Jahren zu stammen, mit runden Fensterbögen und grünen Läden aus Holz, die glänzend lackiert im Sonnenlicht strahlten. Eine mannshohe Buchenhecke umsäumte das vordere Grundstück, auf das man durch ein großes zweiflügliges Tor aus schwarzem Schmiedeeisen, welches schwer zwischen zwei Mauersäulen hing, gelangte und dem Blick auf das Anwesen einen nochmals vornehmeren Ausdruck verlieh.
Nachdem sie geklingelt hatte, öffnete sich eine Torseite automatisch, und sie schritt nun über einen breiten Kiesweg zum Eingangsportal des Hauses. Dort öffnete sich die Türe, und eine freundliche ältere Dame schaute erst der Polizistin direkt ins Gesicht, dann auf den vorgehaltenen Dienstausweis von Campell.
„Das CID habe ich heute gewiss nicht erwartet“, bekundete sie fröhlich. „Wenn Sie mich verhaften wollen, so muss ich zuerst noch ein Köfferchen packen.“ Und sie lachte nun ganz offen, denn es schien ihr dieser Spaß doch trefflich gelungen zu sein.
Cathrin Campell steckte ihren Dienstausweis wieder ein. „Mrs. McGee?“ Und als die Dame des Hauses nickte, „…darf ich bitte zu Ihnen hereinkommen?“
Mit einer galanten Handbewegung bat die Hausherrin ihre Besucherin ins Foyer der Villa und schloss hinter dieser die Haustüre. „Nun bin ich sehr gespannt, junge Frau, was Sie mir vorwerfen werden.“ Sie lächelte dabei immer noch, obwohl Cathrin Campell nun bemerken konnte, dass ein Hauch von Unsicherheit mit im Spiel war.
„Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?“ Campell wollte schnell auf den Punkt kommen.
„Oh, gesehen habe ich ihn am gestrigen Spätnachmittag, als er mit dem Wagen in unsere Jagdhütte, oben in North Pennines, fuhr.“ Helen McGee schaute der CID-Ermittlerin nun unmittelbar und fragend in die Augen. „Warum?“
„Nun, liebe Mrs. McGee, ich fürchte, ich muss Ihnen eine sehr traurige Nachricht übermitteln.“ Sie schluckte kurz. „Wir müssen leider davon ausgehen, dass Ihr Mann am gestrigen Abend einem Mord zum Opfer gefallen ist …“
Die Dame des Hauses lachte laut auf. „Dann habe ich wohl vor fünf Minuten mit dem Jenseits telefoniert …!“
Cathrin Campell verstand nicht sofort. „Wie bitte?“
Frau McGee lachte immer noch ein wenig: „Wie ich sagte. Mit meinem lieben Gatten habe ich noch vor gerade einmal fünf Minuten ganz irdisch telefoniert. Er ist auf dem Weg nach Hause und wird in Kürze auch hier eintreffen.“
Detective Inspector Campell rang ein wenig nach Luft und schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf. „Dann …“
„…dann wird es sich wohl um ein Missverständnis handeln.“ Mrs. McGee schien fast ein wenig Vergnügen an diesem Gespräch zu haben. „Mein Mann jedenfalls erfreut sich immer noch bester Gesundheit. Gottlob!“
Helen McGee war eine kleine, etwas rundliche und stets gut gelaunte Frau. Ihr Lebensalter von 76 sah man ihr nicht an, und ihre lustigen Augen ließen vermuten, dass sie stets zu einem Scherz aufgelegt war. Sie und ihr Mann waren nun bereits seit fast vierzig Jahren verheiratet und da die Ehe kinderlos verlief, entschieden sie sich vor über dreißig Jahren, Jonathan, den damals noch kleinen Sohn von Nathans Bruder, bei sich aufzunehmen, nachdem die Eltern bei einem Autounfall tragisch ums Leben gekommen waren.
Die Hausherrin hatte ihre Besucherin inzwischen in den Salon gebeten, und sie hatten beide Platz genommen. Cathrin Campell erklärte nun der neugierigen alten Dame den Hintergrund ihrer bisherigen Vermutung, dass es sich bei dem Toten um ihren Ehemann handeln würde. Und sie erklärte behutsam, in welchem Zustand das Opfer aufgefunden wurde.
„Nackt!? Nur mit einem Hut auf dem Kopf?!“ Mrs. McGee war sichtlich erschüttert. „Was war das für ein Hut?“ Und diese Frage hatte einen nachdenklichen Unterton.
Cathrin Campell überlegte kurz, dann nahm sie ihr Smartphone, öffnete eines der Fotos vom Tatort und vergrößerte eine Aufnahme so, dass der helle Panama zu erkennen war. Mrs. McGee sah sich das Bild aufmerksam an, dann nickte sie. „Das ist tatsächlich der Hut meines Mannes.“, gab sie bekannt. „Zumindest sieht dieser so aus. Und eine Erklärung habe ich auch dafür.“
Cathrin Campell schaute erwartungsvoll auf ihre Gesprächspartnerin.
Mrs. McGee fuhr fort: „Mein Mann hat seinen Panama vor ein, zwei Wochen auf dem Golfplatz verloren. Der Wind hat ihm diesen einfach vom Kopf geblasen. Das freche Ding segelte hoch in die Lüfte und verschwand irgendwo auf Nimmerwiedersehen in dem kleinen Wäldchen nahe dem Halfway-Haus. Mir blieb nichts anderes übrig, als meinem Mann einfach schnell noch einmal einen gleichen Hut zu kaufen.“
Cathrin Campell hatte aufmerksam zugehört: „Und jetzt taucht das gute Stück – Schwupps – auf dem Kopf eines Mordopfers auf. Ein komischer Zufall, finden Sie nicht auch?“
Bevor Mrs. McGee antworten konnte, öffnete sich mit einem Ruck die Salontüre, und ein Mann schaute ins Zimmer auf die beiden Damen. „Wir haben Besuch?“, fragte er freundlich in den Salon hinein. Und als Cathrin Campell sich umdrehte, durchfuhr sie ein eiskalter Schock, als stünde der Tote vom Halfway-Haus vor ihr.
Sie griff sofort zu ihrem Smartphone und wählte die Nummer ihres Kollegen. „Michael, wir müssen schnellstens herausfinden, wer der Ermordete wirklich ist. Denn eines ist sicher: Nathan McGee ist es nicht. Der steht unzweifelhaft und bei bester Gesundheit gerade vor mir neben seiner Ehefrau in seinem Haus.“ Und nachdem keine Antwort von Panther kam, fügte Campell noch hinzu: „Als Personenbeschreibung für einen Vermissten notiere dir bitte das Folgende: älterer Mann zwischen 70 und 85 Jahren, ca. 1,75 m groß, schlank, längeres weißes und nach hinten gekämmtes Haar, wahrscheinlich auffallend helle, wasserblaue Augen, … und die Hutgröße wirst du ja selbst kennen.“
„Wenn du schon so viel weißt, hast du nicht auch noch ein Foto für mich?“ Die Ironie ihres Mitarbeiters war unüberhörbar.
Seine Chefin nickte: „Klar. Schicke ich dir gleich aufs Handy. Wir treffen uns dann im Golfclub! Und, lieber Michael, informiere schnell die Pressefritzen, dass es sich bei dem Toten nicht um McGee handelt. Das gäbe ansonsten ein dolles Chaos!“ Danach beendete sie das Gespräch und wandte sich zu McGee: „Dürfte ich bitte kurz ein Foto von Ihnen machen? Es wäre hilfreich für unsere weiteren Untersuchungen.“
„Kein Problem“, antwortete McGee freundlich, aber bestimmt, „es wäre nur sehr nett von Ihnen, wenn Sie mich kurz über das hier aufklären würden …“
Campell nickte zustimmend, und nachdem sie ein Foto mit ihrem Smartphone gemacht und dieses an Panther gesendet hatte, zeigte sie dem Hausherrn ebenfalls ihren Dienstausweis und erklärte ihm die Situation, die einerseits ganz offensichtlich einen Irrtum beinhaltete, es andererseits aber dennoch auf den ersten Blick für sie nicht auszuschließen sei, dass eine Verbindung, vielleicht sogar eine tragische Verwechslung vorliegen könnte.
„Das führt mich zu einer naheliegenden Frage.“ Die Ermittlerin schaute dem alten Mann direkt in die Augen. „Haben Sie Feinde, die Ihnen nach dem Leben trachten könnten?“
Nathan McGee lachte amüsiert: „Feinde habe ich mehr als genug, glauben Sie mir das.“ Und verschmitzt fügte er hinzu: „Bei einem so alten Knacker wie mir hoffen die allerdings alle auf die biologische Lösung. Die brauchen nur noch ein klein wenig abwarten. Ein Mord wäre deswegen nicht nur viel zu risikoreich, sondern auch vollkommen unsinnig.“ Und das Lächeln, das sich über sein ganzes Gesicht ausgedehnt hatte, ließ die Kriminalpolizistin nicht einen Moment lang an seiner Überzeugung zweifeln.
„Dann werden Sie wohl auch keinen vorübergehenden Schutz haben wollen? – Ich meine, wir könnten für ein paar Tage einen Constable …“
McGee wurde ein wenig unwirsch und wedelte ablehnend mit der Hand. „Machen Sie sich keine Umstände, junge Dame. Hier wird ein trauriger Zufall vorliegen, mehr nicht.“ Und er fügte mit offensichtlicher Belustigung hinzu: „Sie haben mich vorhin am Telefon wirklich gut beschrieben. Ich bewundere Ihre Beobachtungsgabe!“ Und aus seinen hellblauen Augen blitzte der Schalk hervor.
Als Detective Inspector Campell gerade auf dem Parkplatz des Golfclubs angekommen und aus ihrem Fahrzeug gestiegen war, empfing sie Panther schon wild gestikulierend und mit hochrotem Kopf.
„Fall schon halb gelöst!“, rief er ihr aufgeregt entgegen. „Das Revier unten in Lanehead hat gerade angerufen. Ein Mann wurde als vermisst gemeldet, auf den unser Toter 1:1 passt. Ist seit dem gestrigen frühen Abend aus dem Altenheim heraus, um seinen gewohnten Spaziergang zu machen, kehrte allerdings nicht mehr zurück. Die Heimleitung hat deswegen vorsorglich eine Vermisstenanzeige aufgegeben, und das Foto des Mannes gleicht dem Bild, das du mir geschickt hast, wie ein Ei dem anderen. Der Tote ist demnach John Cushing, 84 Jahre, verwitwet, keine Kinder und alleinlebend im Altersstift `Sunny Hills´ in Leadgate, in fußläufiger Entfernung zum unteren Teil des Golfparks.“
„Schneller als gedacht. Sehr gut!“ Cathrin Campell war ein wenig erleichtert. „Dann fahre du jetzt nach Leadgate. Wir benötigen in jedem Fall jemanden, der den Toten eindeutig identifiziert.“
Michael Panther schickte sich an sofort aufzubrechen. Seine Chefin aber war noch nicht ganz fertig: „Höre dich auch einmal über den Alten, seine Gewohnheiten, Beziehungen und so weiter herum …, du weißt schon. Ich werde mich jetzt hier mit den Leuten aus dem Club beschäftigen. Wenn du fertig bist, hole mich hier bitte wieder ab. Zu Fuß in die Stadt zu laufen ist heute nicht nach meinem Sinn.“
Panther nickte und war auch schon im Nu verschwunden.
Charly Briggs stand inmitten einer Gruppe von Golfern, die sich inzwischen vor dem Clubhaus versammelt hatten. Den Spielbetrieb hatte er vorsorglich für heute schon einmal abgesagt, den Platz durfte – außer der Polizei und den Bestattungsleuten – niemand betreten. Und auch am folgenden Tag wäre es absehbar, dass der Platz in Gänze nicht bespielbar sei. Dass es sich bei dem Toten nicht um den Eigentümer Nathan McGee handelte, schien unter den Anwesenden sofort diverse Spekulationen ausgelöst zu haben. Sie steckte die Köpfe zusammen, flüsterten, gestikulierten und es war unübersehbar, dass die Neugierde scheinbar die Spannung bei allen aufrechterhielt. Und mit nahezu jeder Minute kamen weitere Clubmitglieder, die sich eine Tee-Time gebucht hatten und nun in Kürze starten wollten, hinzu und die Köpfe gingen noch mehr zusammen.
„Mr. Briggs!“ Cathrin Campell wandte sich an den Clubchef. „Wo können wir beide uns in Ruhe unterhalten?“ Und ohne seine Antwort abzuwarten, rief sie den Herumstehenden zu: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sich diejenigen hier bereithalten würden, die uns bei der Aufklärung sachdienliche Hinweise geben könnten.“ Sie schaute in die Menge. „Bitte um Handzeichen, wer etwas beizutragen hat.“ Sie schaute kurz in die Runde, dann nickte sie. „Okay! Sie bitte warten hier oder im Clubrestaurant. Die anderen werden hier heute nichts mehr zu sehen bekommen. Sie dürfen gerne wieder gehen. Vielleicht putzen Sie heute zu Hause einfach nur Ihre Golfschläger, denn mit Spielen wird das jetzt nichts mehr. Danke für Ihr Verständnis!“ Und als sie einen der uniformierten Polizisten erspähte, rief sie laut in seine Richtung: „Kann mir irgendjemand mal einen schönen starken Kaffee besorgen …?“
Campell und Briggs begaben sich in sein Büro im Pavillon neben dem Landschloss und setzten sich an einen kleinen Besprechungstisch. Der Clubmanager hatte ein weißes Gesicht und seine Nervosität war ihm deutlich anzusehen.
„Schrecklich, das Ganze. Es ist so schrecklich!“ Briggs` Stimme war zittrig und schwach. „Wer tut so etwas einem Menschen an …?“ Und er fummelte sofort wieder an seinem Opernschal.
„Das werden wir herausfinden, Mr. Briggs.“ Campell hatte jetzt nicht besonders viel Lust auf einen weinerlichen Gesprächspartner. „Genug Feinde scheint Mr. McGee ja gehabt zu haben, oder? Nicht unwahrscheinlich, dass wir in diesem Kreise dann auch den Täter finden werden.“
Briggs machte große Augen. „Sie denken also, das galt unserem Eigentümer?“ Er schaute die Ermittlerin entsetzt an und rang förmlich nach Luft. „Sie meinen, da hat einer nur den Falschen …?“ Das Gefummel an seinem Schal wurde sofort intensiver.
„Wir stehen am Anfang der Untersuchung. Und ausschließen möchte ich deswegen gar nichts. Zudem liefern bei einem Mord viele Feinde auch immer viele Motive …“
Briggs schüttelte sofort den Kopf. „Nun, Mr. McGee ist ein sehr direkter Mensch. Er weiß was er will, und nicht allen gefällt was er tut, wie er vorgeht und was er vorhat. Aber ihn deswegen umzubringen … auch noch so … nein, dazu fehlt mir jede Fantasie.“
Campell beugte sich leicht nach vorn und legte einen kleinen Notizblock auf den Tisch. „Was tut er denn, was anderen nicht gefällt?“
Briggs schien dieses Thema nicht besonders angenehm zu sein. Er räusperte sich ein paar Mal und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Dann aber begann er konzentriert und ernsthaft die Geschichte der großen Streitigkeiten zwischen dem Club, der die Golfanlange betrieb, und dem Eigentümer Nathan McGee, der den Golfpark an den Club verpachtet hatte, zu erzählen.
Der Streit, der seit Jahren auch schon die Gerichte bemühte, entstand durch die Auffassung des Eigentümers, dass der Club die Pflege und Ausstattung der Golfparkanlage schleifen ließe, das Areal stellenweise verwahrloste, ein großer Teil des alten Baumbestandes eingegangen war und die Qualität der Golfbahnen immer mehr zu wünschen übrigließ. Entwässerungsarbeiten wurden nicht oder nur unzureichend ausgeführt, die Seen der Anlage verkümmerten, und auf dem einst international wettbewerbsfähigen Traditionsplatz, der weit über einhundert Jahre existierte, wurden seit Jahren keine namhaften Turniere mehr ausgeführt.
Nathan McGee hatte über die Zeit immer mehr Druck auf den Club und dessen Präsidium und Geschäftsführung ausgeübt, damit eine Umkehr und Besserung stattfinden sollte. Nachdem man nur noch laut und bissig miteinander gestritten hatte, entschied sich McGee für die Kündigung des Pachtvertrages und den Gerichtsweg, der sich nun dem Ende nähern würde. Nach verschiedenen Gutachten schien sich nun das Gericht der Meinung des Eigentümers anzuschließen und dessen Kündigung anzuerkennen. Sollte das auch so geschehen, würde der Club seinen Spielbetrieb nicht mehr aufrechterhalten können, als Verein damit die Existenz verlieren sowie schlussendlich die Schadensersatzforderungen nicht aufbringen können.
„Es steht demnach eine Vollkatastrophe für den Club und alle Mitglieder an“, konstatierte Campell laut und schaute prüfend ins Gesicht ihres Gegenübers.
„Das können Sie laut sagen“, antwortete Briggs mit sarkastischem Unterton. „Unser Präsidium ist zudem persönlich haftend und die Mitglieder werden das alles nicht lustig finden.“
„Und der Clubmanager, nebst den Trainern, dem Sekretariat und den Gärtnern, ginge in die Arbeitslosigkeit?“
Briggs lächelte süßsäuerlich: „Golftrainer nennt man Pros. Und die Gärtner auf einem Golfplatz nennt man im Übrigen Greenkeeper.“ Er schaute fast beleidigt auf die Ermittlerin. „Und ja, wir alle wären zunächst vor die Tatsache gestellt, uns neue Jobs zu suchen, sofern ein Mr. McGee uns nicht übernehmen sollte.“
„Das ist ja gleich einmal ein stolzer Haufen von Personen mit einem Mordmotiv.“ Dass Campell das nicht nur dachte, sondern auch aussprach, war durchaus beabsichtigt.
Charly Briggs atmete tief durch: „Sie denken doch nicht wirklich, dass hier irgendeiner von uns …?“
„Wo waren Sie, Mr. Briggs, gestern Abend so zwischen 19 Uhr und Mitternacht?“
Der Clubmanager glotzte sein Gegenüber ungläubig an: „Ich …?“ Und als keine Antwort kam, räusperte sich Briggs und sagte: „Ich war zuhause!“
„… was wer bezeugen kann?“
Briggs wurde rot: „… mein Ehemann hatte Dienst in der Nachtapotheke. Er kam erst am Morgen aus dem Geschäft nach Hause.“
„… äähm, Ihr Ehemann! Okay.“ Und als Briggs etwas beleidigt genickt hatte, fuhr Campell fort: „Sie waren also allein und haben kein Alibi für diesen Zeitraum …?“
Briggs hatte sich wieder etwas gefasst: „So kann man es sagen. Bin ich jetzt verdächtig?“
„Verraten Sie mir doch noch bitte, Mr. Briggs, wie steht es mit Ihrer persönlichen Beziehung zu Nathan McGee?“ Campell schaute nun wieder auf ihren Block, gespannt, was er ihr antworten würde.
„Tja, wie soll ich … es ist kompliziert … auch nicht leicht zu verstehen …“
„Versuchen Sie´s einfach mal.“
„Als Clubmanager vertrete ich ja die Interessen des Vereins, wenn Sie verstehen.“ Briggs griff sich an seine Schal und fing an, nervös an diesem herumzufummeln. „Was blieb mir denn bis dato? Ich musste mich ja positionieren. Und dem McGee hat das natürlich gar nicht gefallen, ist doch klar.“
Campell lächelte ihr Gegenüber freundlich an: „Mit anderen Worten – Sie sind nicht die besten Freunde, und Ihren Job werden Sie in Kürze los.“
„Deswegen bringe ich doch niemanden um!“, rief Briggs entsetzt und sichtlich genervt von dem Gespräch, dass inzwischen mehr zu einem Verhör geworden war. „Es findet sich immer was Neues, auch in meinem Alter. Da bin ich ganz zuversichtlich …“
„Da bin ich mir ganz sicher.“ Campell lächelte undurchsichtig.
„Und überhaupt“, fuhr Briggs fort, „hier haben ganz andere Leutchen einen Grund, den Alten um die Ecke zu bringen. Das können Sie mir glauben!“
„Ich bin ganz Ohr…“
Briggs berichtete hastig von den Auseinandersetzungen zwischen McGee und der Bauträgergesellschaft, die in unmittelbarer Nähe zum Golfpark eine Sozialbausiedlung planen würde. Für Nathan McGee war ein solcher Gedanke Gift, und er hatte von Anfang an das gesamte Vorhaben zu verhindern versucht. Mit einem Einspruch nach dem anderen zur Bebauungsplanung, mit Gewässerschutzgutachten, mit Anträgen zur Höhenbeschränkung und mit Versuchen, die Ausweisung der Flächen zu ändern, sodass der Wohnungsbau hier in Alston Hills nicht mehr möglich werden sollte. Das tat er mit bisher gutem Erfolg, denn das komplexe Bauvorhaben war immer noch keinen Schritt vorangekommen, und die Parteien waren längst verfeindet. Hier ging es um Abermillionen und man hörte, dass dem Bauträger in Kürze die finanzielle Luft ausgehen würde.
Aber auch der Schafzüchter nebenan, dessen Stallungen nur unweit des Landschlosses lagen. Während die Golfgäste auf der Terrasse des Restaurants des schönen alten Herrenhauses saßen, stank der Schafmist gen Himmel. Und bei Veranstaltungen mit Sponsoren machte es der Herr Nachbar mit Absicht, die Stallungen extra auszumisten und es kräftig stinken zu lassen. Hintergrund war auch hier ein deftiger Streit um Grundstücksgrenzen und dem Versuch McGees vor einigen Jahren, den Betrieb der Stallungen verbieten zu lassen, nachdem der Stallbesitzer ein Kaufangebot des angrenzenden Areals ausgeschlagen hatte.