Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ludwig Maler begleitet seinen sterbenden Vater, der immer wirrer und unzugänglicher wird, in eine Spezialklinik in einer bekannten Kurstadt. Diese Wochen sind für ihn geprägt von den letzten Stunden des Todkranken, dessen Gedanken und Ängste. Parallel aber erlebt er in der quirligen Casino-Metropole Skurriles, Amüsantes und teils Prickelndes. Das alles will gar nicht zu seiner eigentlichen Situation passen. Eine Erzählung mit viel Tiefgang, aber eben auch mit satirischem Flair, einem kritischen Blick auf Menschen und Gesellschaft, die den Leser nicht nur fesselt, sondern auch großartig amüsiert.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 339
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Stefan G. Rohr
Der Funke eines Augenblicks
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Funke eines Augenblicks
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
Impressum neobooks
In der Klinik hatte ich meinen Vater schlafend angetroffen. Die Betreuer baten mich, ihn möglichst nicht zu wecken, er hätte eine sehr unruhige Phase durchlebt und es täte ihm sicher gut, wenn er nun zunächst ungestört bliebe. Das wollte ich natürlich akzeptieren, öffnete aber noch kurz die Türe zu seinem Zimmer einen kleinen Spalt, um wenigstens einen Blick auf ihn werfen zu können. Er lag auf dem Rücken mit leicht nach hinten gestrecktem Kopf und halb geöffnetem Mund. Ich vernahm ein wiederkehrendes kurzes Röcheln, abgehackt, nichts Gutes verheißend. Seine Haut war aschgrau, seine Wangen eingefallen, die Augen tief in den Höhlen eingesunken.
Obwohl ich diesen Anblick nun schon einige Zeit kannte, erschrak ich erneut. So sah der Tod aus, schon im Raume stehend, wenn er sich nach und nach des Menschen bemächtigte. Und im Diesseits gewöhnte man sich nur sehr schwer an diese Bilder. Eine Hoffnung gab es keine mehr. Es ging vielmehr um die Frage des Wann und Wie, und es zerbrach mir auch an diesem Tage das Herz, ihn so zu sehen. Hier gab es keine Sanftmut, keine schmeichelnd bettenden Daunenkissen eines sanften Entschwindens. Das Ringen um die letzten Augenblicke war nicht romantisch, nicht wiegend, nicht luftig leicht. Das Tier stand im Raum, sein Opfer umlauernd, es zerrte und fletschte mit den Zähnen, riss immer häufiger an ihm, ließ nicht mehr ab, kannte keine Gnade, keine Niederlage. Es würde das Geschöpf besiegen und sich seiner bemächtigen. Und erst dann durfte es Hoffnung geben, dass sich die nun freie Seele zu den Wolken gesellte, mit ihnen tanzen und ziehen konnte, entlastet von allen dunklen Tüchern, die sie zuvor so schwer bedeckten.
Vor der Kliniktür schnappte ich unwillkürlich nach Luft. In meiner Nasenschleimhaut hatte sich der Geruch von Desinfektionsmittel, feuchten Linoleumböden und kaltem Kantinenessen festgesetzt. Es war immer so. Man trug das Leid noch länger in den eigenen Atemwegen mit hinaus, im Gewebe der Kleidung, so als wollte es sich an einem festklammern, seine Schatten dehnen, das Vergessen mit lästiger Anhänglichkeit noch in die Länge ziehen.
Von einer der vielen Kirchen der Innenstadt vernahm ich das Schlagen der Glocke einer Turmuhr. Dumpf hallten die Töne durch die Gassen, sangen monoton ihr Lied der Zeit, dann plötzlich mehrstimmig, als folgte der Trauer um die verlorene Stunde die Freude über die nun folgende, gerade neu geborene. Eine Gemeinde, die sich ein solches Spielwerk leisten kann, muss wohlhabend sein und verdorben obendrein. Denn die reichsten Kirchen haben nicht selten die meisten Sünder. Gespendete Glocken, Altare, Orgeln, Monstranzen, Statuen und natürlich auch Turmuhren dienen der Reinwaschung. Und je prächtiger die Gabe, desto schuldbeladener der edle Spender. Gottes Gnade musste somit käuflich sein. Ein Geschäftsmann also, der, mit der Verdammnis drohend, gute Kasse zu machen verstand. In armen Gemeinden wird man ihn demnach wohl missen. Da gibt es nichts zu holen. Und wer mittellos bleibt, kann getrost der Konkurrenz überlassen werden. Eine klare Verteilung des Marktes, ein Kartell zwischen Gott und seinem Antagonisten. Ich kam zu dem Schluss, unter diesen Umständen das Paradies gar nicht mehr als so erstrebenswert anzusehen. Der bessere Teil der Gesellschaft ließe sich wahrscheinlich viel eher irgendwo zwischen Fegefeuer und dem Untergeschoss antreffen.
Unbemerkt, ganz in meinen Gedanken vertieft, war ich in die Innenstadt gegangen. Links von mir das pompöse Kurhaus mit seinem bekannten Casino, der Trinkhalle und dem Odeon, in dem sich das Flötenorchester einer hiesigen Schule gerade auf eine Darbietung vorbereitete. Eine Mädchenschar mit Zöpfchen, weißen Blusen, blauen Röckchen, Kniestrümpfen und Lackschuhen stellte Notenständer auf, andere bliesen ihre Instrumente warm und verursachten dabei ein heilloses Durcheinander von schrillen Lauten, die nur schwerlich die harmonische Umformung in etwas hörbares versprachen.
Mir war ohnehin nicht nach Flötentönen zumute, und so ging ich an den Kolonnaden vorbei, schaute in die Auslagen der kleinen Boutiquen, den Lädchen mit sündhaft teuren Uhren und funkelnden Brillantgeschmeiden, deren Preise nicht ausgewiesen waren. Die Frage, ob das eine milde Geste gegenüber Menschen wie mir gemeint war, ihnen nicht an den Kopf werfen zu wollen, wie ärmlich doch die Reichweite ihrer Kaufkraft ausgefallen sei, oder es sich nur um einen billigen Trick handelte, den arglosen Bewunderer über die Schwelle zu locken, ließ ich unbeantwortet. Ich hatte nicht vor, diesem per Selbstversuch auf den Grund zu gehen.
Wieviele von den hier Spazierenden aber wirklich in der Lage waren, sich ein Einfamilienhaus an den Arm oder um den Hals zu binden, war auch nicht zu erkennen. Die Fülle an Juwelieren und Boutiquen auf engstem Raume ließ jedoch die Vermutung zu, dass die Zahlen von Schaulustigen und Abverkäufen lukrativ korrelierten. Der Ausschank von Champagner und Chablis an einem halben Dutzend gut positionierter Stände war sicher auch nicht ohne Hinterlist gedacht. So manche zarte Kauflaune entwickelte sich nach ein, zwei Gläschen zu einem mächtigen Verlangen. Und die Kreditkarte erledigte dann den Rest.
Viele trugen große Hüte als kämen sie direkt vom Golfplatz. Wer ein Polohemd trug, hatte meist den Kragen hochgeschlagen, was aussah, als hätte man sich übereilt angezogen und keine Zeit mehr gehabt, noch einmal in den Spiegel zu gucken. Auch die vielen bunten Wattewesten, deren Designursprung aus dem Konstruktionsbüro einer Schwimmwestenfabrik stammen musste, oder knallgelbe Cordhosen sowie schottisch-karierte Beinkleider erzählten von eigenwilligen Modevorlieben der an mir vorbeischlendernden Herrenwelt.
Die Damen hatten sich kleine Einkaufstüten über den Arm gehängt, auf denen die Namen der umliegenden Boutiquen oder eines sündhaft teuren Designerlabels zu lesen waren. Sie trugen sie wie Trophäen, und ich fragte mich, ob es diese auch einfach nur so, ohne Inhalt, irgendwo zu kaufen gab. Mehr aber faszinierte mich die große Geschicklichkeit, mit der die meist eleganten Grazien ihre prächtigen Hüte trugen. Das war nicht allein dem Umstand geschuldet, dass schon das einzelne Stück so manches Mal eine Artistin als Trägerin verlangte, auch stießen die stolzen Besitzerinnen offensichtlich nie mit ihren Kopfbedeckungen zusammen, was ich als große Leistung empfand, denn der Radius mancher Hüte konnte mit dem eines Hula-Hoop-Reifens problemlos mithalten.
Ich hatte die Fußgängerzone erreicht. Unzählige Cafés hatten Tischchen und Stühle vor die Türen gestellt, Sonnenschirme aufgespannt, und es herrschte emsiges Treiben. Trotz des noch nicht allzu weit fortgeschrittenen Aprils war es warm, sonnig und das Klima versprühte das Flair einer Stadt in der Toskana. Das Sprachgewirr hatte babylonische Ausmaße. Ich hörte Russisch, arabische Dialekte, viel Französisch, Japanisch und Chinesisch, immer wieder Englisch und manchmal auch ein wenig Deutsch, dann meist in der für die Region so typischen Mundart.
Eine alte Leierkastenfrau hatte sich zwischen zwei Bistros platziert und dudelte alte Weisen aus den 40er Jahren. Es schien, als ob sie die Kleiderkammer des Stadttheaters geplündert hatte. Sie trug ein wallendes schwarzes Bühnenkleid, hatte sich bunte Schals umgehängt und einen kecken Strohhut aufgesetzt. Ein kleines Sträußchen bunter getrockneter Feldblumen steckte in der Bordüre und wippte bei jeder ihrer Bewegungen rhythmisch von links nach rechts. Das sah lustig aus und half ein wenig, die vielen schiefen Töne aus ihrer Quetschkommode zu überhören.
Ich vernahm nun das Klappern von Pferdehufen. Gleich darauf kam langsam eine Pferdekutsche um die Kurve gefahren, auf dessen Bock ein dicker Mann mit Livree und Zylinder saß. Gelangweilt wedelte er von Zeit zu Zeit mit seiner Peitsche in Richtung der kräftigen Hintern der vor ihm stampfenden Gäule. Er beförderte gerade eine Gruppe orientalischer Frauen, die allesamt schwarz verhüllt, mit Niqabs über ihren Köpfen, Platz genommen hatten und sich im deutlich gebrochenen Englisch des Fuhrwerkchauffeurs die Sehenswürdigkeiten erklären ließen. Hinter dem Gefährt schlenderte ein Jüngling, der einen Zinkeimer und eine Handschaufel mit sich führte. Ab und zu beugte er sich nach unten und sammelte die Pferdeäpfel auf, die von den vorauslaufenden Vierbeinern achtlos fallen gelassen worden waren.
Ich überlegte kurz, wieviel Pferdescheiße er wohl sammeln müsste, um ein ähnlich gefülltes Bankkonto erwirtschaftet zu haben, wie es seine vor ihm sitzenden Touristinnen zu besitzen schienen. Aber das Schicksal ist ja mitunter schlitzohrig. Vielleicht würde er ja demnächst mit der Erfindung von Pferdewindeln Millionen machen.
Ich erspähte einen gerade freiwerdenden Tisch in einem Bistro und beschloss, diesen für mich einzunehmen. Mit einem katzenhaften Dreisprung schaffte ich es sogar vor zwei Pärchen, die sich ebenfalls entschlossen hatten, dort Platz zu nehmen, einen Tick schneller zu sein. Es war wie ein kleiner Sieg, denn ich stellte sofort fest, dass dieser Tisch wie ein Premiumplatz am Catwalk einer Haute-Couture-Show war.
Das Café, das in einer schmalen Fußgängerzone lag, hatte seine Tische so aufgestellt, dass der Strom der Spazierenden über eine vielleicht vier Meter breite Gasse mitten durch die sitzenden Gäste gelenkt wurde. So bildeten die Tischreihen ein regelrechtes Spalier, das Ganze auf einer Länge von dreißig Metern. Saß man frontal zum Geschehen, und ich tat das intuitiv sofort, konnte man herrlich auf die vorbeistolzierenden Menschen schauen, sich dabei die interessantesten, lustigsten, merkwürdigsten, modisch auffälligsten oder einfach die schönsten dieser Exemplare heraussuchen und näher inspizieren.
Als ich saß, bemerkte ich sofort, dass ich in einer deutlich besseren Lage war als all diejenigen, die sich durch dieses Nadelöhr zu zwängen hatten. Es glich einem Spießrutenlauf, denn die hier Sitzenden machten keinen Hehl aus ihren unverhohlenen Beobachtungen, und an mein Ohr gelangten schnell so manche lästernden Bewertungen, die an den Tischen um mich herum mal mehr oder weniger laut abgegeben wurden. Es hätte eigentlich nur noch gefehlt, dass Wertungsnoten hochgehalten worden wären. Direkt hinter mir saßen zwei Herren mittleren Alters an einem hohen Bistrotisch, um den einige Barhocker platziert waren. Sie hatten sozusagen einen Logenplatz und konnten über die Köpfe der vor ihnen angereihten Tische das Geschehen hindernisfrei beobachten. Sie hatten sichtliches Vergnügen dabei, ihre kecken, manchmal aber auch zynischen Kommentare herauszuposaunen, zogen indes genüsslich an ihren großen Zigarren, um sodann weiße Wolken über die Köpfe der vor ihnen Sitzenden zu pusten.
Ich kam nicht umhin, ihren Bemerkungen zu folgen, zumal die beiden einen zwar manchmal etwas derben, aber doch insgesamt recht amüsanten Humor bewiesen und sie mich das eine oder andere Mal zum Schmunzeln brachten.
Sie schienen bemerkt zu haben, dass ich ihnen mit einem Ohr folgte. Offensichtlich störte sie das nicht im Geringsten. Vielmehr hatte ich nun sogar den Eindruck, dass sie sich deswegen sogleich in größere Höhen aufschwingen wollten. Sie gaben sich redliche Mühe, ihren neuen Gastzuhörer nicht zu langweilen. Aber bereits nach wenigen Minuten rückte ich selbst ins Visier der beiden. Sie hatten die Farbe meiner Socken zum Anlass für eine Wertung genommen.
„Sag mir, Rontrop“, fragte der eine, „welche Gesinnung will uns ein Träger pinkfarbener Socken mitteilen?“
Rontrop konstatierte schnell: „Dass er farbenblind ist, mein lieber Bodo.“
„Das ist ein Gebrechen, keine Gesinnung!“, erwiderte Bodo trocken.
„So manche Gesinnung ist zugleich ein Gebrechen, Du erbärmlicher Oberlehrer“, antwortete Rontrop gelassen.
„Dann kann er nur bekennender Sozi sein“, befand Bodo prompt. „Einer von den Ultras.“
„Ein Mitglied des Politbüros!“, krähte der Mann namens Rontrop.
„Nach Perestroika und Mauerfall arbeitslos und nach Orientierung suchend?", ergänzte der andere fragend.
„Wenn arbeitslos, dann nur vorübergehend“, konstatierte Rontrop trocken. „Sozialisten exerzieren in diesen Fällen einfach ein paar Enteignungen, singen die Internationale und sind prompt Generaldirektor. Und die tragen dann wahrscheinlich diese Socken.“
„Aber vielleicht hat er ja nur einen Sehfehler und glaubt, dass er schwarze Socken trägt“, warf Bodo ein, zog an seiner Zigarre und pustete den Rauch in meine Richtung. „Vielleicht sollten wir ihn aufklären…“
„Das wäre dann tatsächlich nur ein Gebrechen. Wenn auch ein recht skurriles. Aber fragen wir ihn doch einfach“, beschloss Rontrop zur Vereinfachung.
Es war nun an mir, den Ball aufzunehmen. Die beiden Herren schienen sich nicht nur zu langweilen, sondern strebten zudem den Kontakt zu mir an. Ich wollte sie nicht enttäuschen.
„Es ist viel tiefgründiger als Sie glauben, meine Herren“, Ich drehte mich zu den beiden hinter mir Sitzenden um. Dabei gestattete ich mir einen kurzen aber offensichtlichen Blick hinunter zu ihren Fußgelenken. „Die Farbe meiner Socken hat sogar eine Art lebensstrategischen Aspekt.“ Der Blick der beiden machte mir spontanes Vergnügen. „Ich möchte allerdings vorausschicken, dass das Erlebnis mit Ihnen dabei nicht repräsentativ ist. Es zeigt lediglich vergleichbare Parallelen.“ Jetzt beugten beide ihre Köpfe etwas näher zu mir. „In aller Regel werde ich nämlich von Damen auf meine Socken angesprochen. Ja, lassen Sie es mich so ausdrücken, es ist sogar fast ein Automatismus damit verbunden. Und ich möchte betonen, dass die sich hieraus entwickelnden Kontakte häufig von hohem Reiz sind.“
Rontrop war der erste, der nach einer kurzen, aber durchaus wahrnehmbaren Denkpause die Fassung zurückgewann. Er begann krähend zu lachen, und er hielt sich den Bauch, als hätte er gerade einen Medizinball verschluckt. Sein Freund Bodo stimmte nach einigen Sekunden mit ein, und grinsend deuteten sie mir an, ich solle mich doch zu ihnen setzen.
Rontrop sah mich interessiert von oben bis unten an. „Sie sehen nicht wie ein Casino-Ritter aus. Auch nicht wie der hier übliche Fünf-Sterne-Gast.“ Sein Blick geriet noch einmal hoch und runter. „Da bleiben nur zwei Möglichkeiten: Fernsehmann oder Handelsvertreter.“ Er hielt kurz den Atem an. „Ich tippe aufs Fernsehen!“
„Ich auf Sockenvertreter!“, grinste Bodo.
Es begann Spaß zu bringen. Ich wurde etwas leiser. „Ich bewundere diesen Herrn hier…“, und zeigte auf Rontrop. „Ein feines Gespür haben Sie, mein Guter!“ Und ich begann zu flüstern, wobei die Köpfe der beiden so nahe an meinen herankamen, dass wir uns fast mit den Stirnen berührt hätten. „Fernsehen ist zwar nicht ganz korrekt, aber beim Schießen würde man von einer `angekratzten 9´ sprechen. Denn das Fernsehen schöpft zu weiten Teilen aus dem mir zugehörigen Metier.“ Und ich schaute beide gelangweilt an.
Bodo schien sich meine Sätze innerlich noch einmal selbst vorzusprechen. Dann guckte er wie eine Straßenbahn, weil er noch nicht zu einem Ergebnis gekommen zu sein schien. „Ja und was ist das…?“
Ich begann sehr leise: „Ich bin beim Film.“
Rontrop grinste skeptisch: „Sollten wir Sie kennen…?“
Nun wurde ich wieder lauter: „Wenn ich Sie beide so sehe, dann möchte ich davon ausgehen, ja!“
Die zwei schauten mich von oben bis unten an und prüften mein Gesicht, ob sie vielleicht nicht doch einen Leinwandstar entdecken konnten. Doch sie hoben bereits nach wenigen Sekunden die Schultern und schüttelten den Kopf. Nein, ich war ihnen völlig unbekannt.
Ich blieb freundlich. „Es ist auch nicht mein Gesicht! Meine Stimme werden Sie kennen. Ganz gewiss.“ Und ich machte eine kurze Pause. „Donald Duck!“, rief ich ihnen freudestrahlend entgegen. „Ich bin die Stimme von Donald Duck, sein deutscher Synchronsprecher, verstehen Sie?“ Ich setzte mich nun wieder gerade hin. Der Abstand zu den anderen war wieder hergestellt.
Beide glotzten mich an. Rontrop ein wenig skeptischer als der andere. „Los, machen Sie mal vor!“, befahl er mit provokantem Unterton.
Ich schüttelte den Kopf. „Das darf ich leider aus lizenzrechtlichen Gründen in der Öffentlichkeit nicht tun.“ Ich lehnte mich nach hinten. „Aber wenn wir gemeinsam nach hinten…“
Rontrop machte eine ablehnende Geste. Das wollte er ganz offensichtlich nicht.
Bodo hatte nachgedacht. „Wie kommt man bloß zu einem solchen Beruf?“
„Früher habe ich gestottert“, gab ich beiden zu wissen. „Mein Logopäde hat mich entdeckt.“
Es folgte bei meinen Zuhörern eine erneute Phase des Schweigens. Der Mann namens Bodo kratzte sich an seinem Hinterkopf. Dann kamen erste Zweifel bei ihm auf: „Davon kann man doch gar nicht leben!“, konstatierte er, noch immer etwas nachdenklich.
Rontrop vermutete das Gegenteil: „Oh, mein lieber Bodo, da kann man sich täuschen. Es wird, Du wirst es nicht glauben, immer noch sehr viel Deutsch auf der Welt gesprochen, nicht nur bei unseren Alpennachbarn. Auch in den USA, Australien, Neuseeland, Südafrika, Südamerika…“
„… und mit einer heißen Kartoffel im Mund funktioniert das auch in Holland und Dänemark, nicht zu vergessen: Grönland!“, ergänzte ich seine Aufführung. „Sehr lukratives Geschäft, sage ich Ihnen. Wirklich sehr, sehr lukrativ.“
Rontrop grinste diebisch. „Der Bursche hier verarscht uns, Bodo! Und zwar ganz gewaltig.“
Bodo wagte noch einen prüfenden Blick in meine Richtung, dann begann er zu nicken. Dabei murmelte er: „Ja, Rontrop, das tut er wohl.“ Sein Gesicht erhellte sich zu einem freundlichen Grinsen. „Hat er aber sauber hingekriegt!“
Beide begannen laut und krähend zu lachen. Und auch ich konnte mich dem nun nicht mehr entziehen und stimmte, ein wenig leiser, aber dennoch herzlich mit ein.
„Ich bin übrigens Ludwig Maler, aber ich denke, Ludwig sollte reichen.“, unterbrach ich selbst mein Lachen.
„Und Du darfst mich Rontrop nennen. Rontrop von Welfenbein, um genau zu sein. Und der Bursche neben mir hier ist mein Knappe Bodo. Er verfügt über keinen Nachnamen, das macht die Sache einfacher. Und seinen Grabstein irgendwann billiger.“ Rontrop reichte mir seine Hand entgegen, und wir begrüßten uns in einer ungewohnt herzlichen und anhaltenden Weise. Ich merkte sofort, dass dieser Mann mit mir eine dieser Wellenlängen aufwies, die man nicht ohne weiteres erklären konnte. Seine hellen Augen blitzten mich freundlich an, sein Blick war dennoch gefasst und neugierig zugleich.
Wie ich im weiteren Verlaufe erfuhr, hieß er in Wirklichkeit Kurt Kaiser. Doch ihm gefiel der Name Rontrop von Welfenbein einfach besser, und zudem passte dieser ideal in die hiesige Gesellschaft. Er war ein kleiner untersetzter Mann von etwas über sechzig Jahren, mit einer wehenden grauen Löwenmähne auf dem Kopf, die ihm das Aussehen eines verarmten Karajans verlieh. Sein eigentliches Markenzeichen allerdings waren die Zigarren, von denen fast durchgehend eine zwischen seinen Fingern glühte und deren Genuss für ihn nicht zu enden scheinen wollte. Ab und zu nahm er einen großen Schluck aus dem vor ihm stehenden Weizenbierglas. Dann schmatzte er ein wenig und mir fiel schnell auf, dass er sich danach mit dem Handrücken so über den Mund wischte, als trüge er einen Kaiser-Wilhelm-Bart.
Sein Begleiter Bodo war vielleicht zwanzig Jahre jünger. Er war groß, schlank und schien einem Kleidungsstil zu frönen, den ich eher bei Rappern vermutet hätte. Eine große Sonnenbrille mit orangefarbenen Gläsern saß weit vorgeschoben auf seiner Nase, an seinem Arm prangte eine sündhaft teuer aussehende und zudem riesengroße Armbanduhr. Auch er rauchte gerade eine Zigarre, und ich sollte noch lernen, dass es genau dieses Tabakprodukt war, das die beiden besonders miteinander verband.
Bodo hatte sich die Banderole seiner Zigarre wie einen Ring auf den kleinen Finger gesteckt. Ich konnte zwar keinen Markennamen erkennen, doch meine Vermutung sollte sich in der Folge und vielen weiteren Begegnungen bestätigen, dass diese braunen Stängel einzeln den Wert eines feudalen Abendessens in einem Nobelrestaurant ausmachten.
Ich klärte meine neuen Bekannten über meinen wirklichen Beruf als Journalist auf, sowie den leider unerfreulichen Grund meiner vorübergehenden Anwesenheit in diesem Städtchen. Sie registrierten alles ohne weitere Kommentare, so als klinge der Schlag einer entfernten Turmuhr um halb drei.
Auf meine Frage, was denn sie beruflich beschäftigen würde, antworteten beide synchron im Chor: „Nichts!“ So kurz und bündig es war, so selbstverständlich kam es bei mir an.
„Das wahre Leben, die eigentliche Entfaltung des freien Geistes, ist nur im Müßiggang zu erzielen.“ Rontrop grinste nicht einmal bei seiner These. Er schien es vollkommen ernst zu meinen. „Viele der Großen dieser Welt haben nur auf diese Weise das vollbringen können, was ihnen den Ruhm über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende einbrachte.“ Und er schaute mich fordernd an. „Denk an Diogenes, an Sokrates, an Goethe.“
„Und was ist mit Sauerbruch, Schweitzer oder Einstein?“, konterte ich, denn seine These war mir deutlich zu einseitig.
„Dieses Argument ist unzulässig“, antwortete Rontrop scharf. „Es bleibt uns im Verborgenen, was sie noch viel Größeres hätten leisten können, wenn sie sich ihrer proletarischen Mühlen, ihrer Jochs entledigt, und sich allein dem Müßiggang hingegeben hätten.“
„Für mich klingt das wie ein Paradoxon“, befand ich ehrlich. „Denn Müßiggang bedeutet nichts anderes als Nichtstun. Und wer nichts tut, der kann auch nichts schaffen. Auch Diogenes hat in seiner Tonne gearbeitet. Er hat gedacht. Und er ist hierüber zu Ergebnissen gekommen, die man durchaus als Produkte eines Schaffens und eben nicht eines Unterlassens, versteht.“
„Was Du als Paradoxon verstehst, ist nach meiner Lesart vielmehr wie ein Oxymoron zu verstehen“, dozierte Rontrop nun, und es schien mir, dass er in seinem Element angekommen war. „Wir können es mit `Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke´ vergleichen. Das hat übrigens George Orwell in seinem Roman 1984 geschrieben, ist also leider nicht von mir. Dennoch richtig. Müßiggang ist Schaffenskraft. Es sind die Gegensätze, die zur allergrößten Leistung führen. Oder hast Du schon einmal gehört, dass man in einem kleinen viereckigen Büro von acht Uhr morgens bis sechzehn Uhr abends zum Nobelpreis gelangt sei?“
„Ich glaube, dass die weit überwiegende Mehrheit der Nobelpreisträger ihre Verdienste und Meriten in eckigen Arbeitszimmern, weiß gekachelten Labors, an sterilen Operationstischen oder in muffig riechenden Hörsälen errungen haben“, erwiderte ich, und ich merkte, dass ich mich tatsächlich zu echauffieren begonnen hatte. „Welchen kennst Du, lieber Rontrop, der es liegend, säuselnd in einer Hängematte, mit einem Glas Champagner dazu, vielleicht auch einem Joint oder eben mit einer kapitalen Cohiba geschafft hat?“
„Tschechov hat in seinem `Onkel Wanja´ den Müßiggang wunderbar in Szene gesetzt…“, warf mir Rontrop entgegen.
„… und sein Ergebnis spricht für sich: Müßiggang führt zur Dekadenz und zum Verderben.“ Ich hatte einen roten Kopf bekommen.
Bodo war hellwach geworden. „Champagner!“, rief er. „Das ist das Stichwort.“ Er drehte sich zu einem Ober des Bistros um. „Fantomas“, rief er laut, „eine Flasche Dom Pérignon Rosé, bitte nur mit einem Glas!“ Dabei betonte er `mit einem´ in unüberhörbarer Deutlichkeit.
„Wie hast Du den Ober gerade genannt?“ Ich glaubte nicht richtig verstanden zu haben, musste aber schon wieder ein wenig schmunzeln.
„Fantomas!“, antwortete Bodo etwas gelangweilt. „Eigentlich heißt er nur `Thomas´, aber Rontrop und ich finden das deutlich zu langweilig.“
„Ihr scheint Eure Namen ohnehin nicht besonders zu schätzen“, bemerkte ich freundlich. Ich war nämlich ein wenig froh, dass wir gerade das Thema wechseln konnten.
„Ich, für meinen Teil, halte es mit Goethe“, antwortete Rontrop ruhig.
„Nenn es dann, wie du willst,Nenn´s Glück! Herz! Liebe! Gott!Ich habe keinen NamenDafür! Gefühl ist alles;Name ist Schall und Rauch,Umnebelnd Himmelsglut.“
Er zog an seiner Zigarre, die mittlerweile so kurz war, dass diese nur noch wenige Millimeter vor seinen Fingern glühte. „Faust I!“, fügte er hinzu. „Dir werde ich das wohl nicht erklären müssen. Meinem ungebildeten und manierlosen Kumpan an unserer Seite hingegen schon. Er ist in gleicher Weise als bildungsfern zu bezeichnen, wie er es an Anstand und Höflichkeit missen lässt. Er kennt zudem nur sich, und solch Leute interessieren sich weder für Goethe noch für Knigge. Er genießt seinen Wohlstand, gleichsam als Absolution für fehlenden Kulturantrieb, was ihm, ich muss es leider zugeben, auch noch ein mehr als sanftes Ruhekissen darbietet. Er konsumiert in vollen Zügen wie ein Proletarier, ohne dabei einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, dass ein guter Champagner einen noch viel größeren Genuss bereitet, wenn er in geeigneter Gesellschaft, kameradschaftlich geteilt, verkostet wird.“
Bodo nahm es gelassen und grinste provokativ in die Richtung seines Anklägers. „Als ich ihm das letzte Mal ein Gläschen aus einer sechshundertfünfzig Euro teuren Flasche anbot, hat dieser Flegel mich tatsächlich gefragt, ob ich ihm nicht lieber ein Weizenbier spendieren würde. Man stelle fest: Ein so derbes Getränk für ein Glas edlen Champagners eintauschen zu wollen, das entlarvt doch den wahren Proleten.“
„Ich hatte einfach nur Durst!“, krächzte Rontrop.
„Und ich habe Verantwortung!“, erwiderte sein Freund gelassen. „Es käme einer Erniedrigung all derer gleich, die sich mit Hingabe, unter Anwendung jahrhundertealter Rezepturen, einem mühevollen und akribischen Herstellungsprozess unterwerfen, feinste Nasen- und Gaumenkünste entwickeln, um schließlich Getränke zu offenbaren, deren Konsum nur Genießern obliegen darf, deren Hang zum Edlen größer ist als profaner Durst, der in der Not auf jedem Pissoir gestillt werden könnte.“
Mir gefiel dieser Schlagabtausch durchaus, und so wollte ich meinen Teil dazu beitragen: „Die Tatsache, Bodo, dass Du dennoch nur ein Glas geordert hast, lässt mich vermuten, dass Du mich in die gleiche Kategorie der Unwerten sortierst wie Du es mit Deinem Freund tust. Da es für Dich hierzu keinen Anlass geben kann, neige ich zu der Vermutung, dass es bei Dir nichts anderes ist als purer Egoismus oder trivialer Geiz.“
Bodo schüttelte leicht den Kopf. „Du verehrter Herr Ludwig Maler musst Dich der Ehre erst erweisen. Nur das ist der Grund. Ich kenne Dich kaum, sehe aber, dass Du dem Mineralwasser zuneigst. Und wer an einem solchen Tag, in dieser Stadt, an diesem Ort, ein Glas Wasser zum Munde führt, ist meinethalben per se suspekt. Don´t drink it, fish fuck in it! Du hast Dich damit verdächtig gemacht, ein kulinarischer Betonklotz zu sein. Beweise das Gegenteil, und ich werde Dich stets zu einem kleinen Gläschen einladen. Aber höchstwahrscheinlich bist Du obendrauf auch noch Veganer, gehst dreimal wöchentlich zum Yoga, und auf Deinem Auto klebt ein Aufkleber: Ich bremse auch für Katzen!“
„Bedenke“, riet ich meinem Gesprächspartner, „dass Dein Champagner ein ganz und gar veganes Produkt ist, welches zudem fast in Gänze aus Wasser besteht. Du solltest also nicht so unflätig urteilen…“
Bodos Augen begannen zu funkeln. „Na siehst Du, dann lag ich ja gar nicht so verkehrt.“ Und er schnalzte mit der Zunge, denn Fantomas brachte den Kühler mit der Flasche. „Und bestimmt auch Nichtraucher! Da lass ich einen drauf!“
„So ist er, unser Bodo!“, rief Rontrop fröhlich. „Merkt er doch stets und sofort, wem er intellektuell unterlegen ist, um ihn sodann mit Tritten in den Unterleib zu bekämpfen. Wenn er nicht so reich wäre, würde er einen perfekten Marxisten abgeben.“ Er lachte mich offen an. „Ludwig, ich freue mich über unser Kennenlernen. Lass uns Weizenbier und Wasser in Hülle und Fülle bestellen, dass unserem Neureichen die Galle explodiert.“
„So soll es sein. Wenngleich auch kein schöner Tod“, stimmte ich Rontrop zu. „Allerdings bevorzuge ich zum Wasser die Beigabe eines guten Rieslings. Nicht zu jung, der Säure wegen. Und ich werde dann, vor den Augen unseres `La-noble-vie-Fetischisten´ das Wasser mit dem Wein in einem Glas zusammenmixen. Ein Frevel in seinen Augen, zugegeben, aber mit einem Stückchen Zitrone und zwei, drei Eiswürfeln herrlich erfrischend. Und Champagner behalte ich mir für Gelegenheiten vor, die sich mit französischen Spitzendessous, kirschfarbenen Lippenstiften und pfirsichzarter Haut zu erkennen geben.“
„Das, Ludwig, macht Dich nun wieder salonfähig.“ Bodo probierte jetzt den Champagner, nickte, nachdem er einen kleinen Schluck verkostet hatte, und sah mit sichtbarer Ehrfurcht zu, als ihm das dünne Glas halbgefüllt überreicht wurde.
An diesem Nachmittag, zugegeben, es war sicher bereits Abend, rauchte ich nach langer Zeit einmal wieder eine Zigarre. Mir fehlte zwar jedwede Hingabe dazu, obwohl das prachtvolle und aromavolle Stück gewiss zu einer ebensolchen Luxuskategorie gehörte, wie der Champagner im Kühler neben Bodo, dennoch gab ich recht glaubwürdig den äußeren Anschein eines Semi-Verständigen ab. Gottlob hatte ich schon einmal von `Montecristo´, `Bolivar´oder `Partagas´ gehört und verfiel somit nicht der Gefahr, diese mit etwaigen Bossen südamerikanischer Drogenkartelle zu verwechseln. Auch wusste ich, dass es einem Frevel gleichkam, die Asche zu früh fallen zu lassen oder an dem Stängel zu saugen als säße dort ein Schnuller. Rundum, ich tat mein Bestes, und es gelang mir wohl in ausreichender Weise, meine beiden Beobachter zufriedenzustellen.
Wie ich im Laufe des fortschreitenden Miteinanders erfuhr, würde ich Bodo nur ab und zu an diesem Ort wiedersehen. Er verbrachte seine Zeit auf Reisen, tingelte von Cannes nach Monaco, frönte dem Müßiggang in der elterlichen Villa in Saint Tropez, jettete zum Frühstück nach Ibiza oder besuchte Freunde auf ihren Motoryachten in Port Andratx.
Kurt Kaiser, alias Rontrop von Welfenbein hingegen, war seit über vierzig Jahren mit diesem Städtchen verbunden und behauptete von sich selbst, ein lokales Unikum mit `Inventarcharakter´ zu sein. Ihn würde ich fast ausnahmslos in den einschlägigen Cafés und Bistros sowie den anliegenden Hotelbars treffen, sollte ich es denn wünschen.
Vorsorglich tauschten wir unsere Telefonnummern aus und versprachen, ein wenig trug der Alkohol dazu bei, uns recht bald wiederzusehen. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht, wie sehr sich dieses Vorhaben tatsächlich verwirklichen sollte.
Die Bäckerallee war gar keine Allee. Es fehlten dazu die Bäume, die links und rechts in einer solchen Straße zu stehen haben. Mir erschien diese kleine Straße auch viel eher als Gasse, wenngleich sich mir nicht der Eindruck aufdrängte, dass die Gegend hier etwa ärmlich erschien. Denn Gassen beherbergen gewöhnlich keine Patrizier. Und die Bäckerallee war, so die Dame, die ich gleich treffen sollte, eine ausgezeichnete Adresse mit erlesenen Anwohnern. Ein Schauspieler des städtischen Theaters, zum Beispiel. Mehrere Rundfunk- und Fernsehgrößen der naheliegenden Sendeanstalt. Auch ein Stadtabgeordneter gab sich hier die Ehre. Und, sie sagte es voller Stolz in der Stimme: sogar eine Millionärin. Obwohl eine derartige Tatsache für dieses Städtchen nur wirklich keine Besonderheit bedeutete.
Mir war das alles ziemlich egal. Nach vielen Wochen als Gast in einem der billigen Hotels dieses ansonsten so mondänen Ortes sehnte ich mich nur nach einer Bleibe, die mir wenigstens ein klein wenig das Gefühl geben sollte, eine Art Zuhause, ein Deut an Privatsphäre zu besitzen. Und was lag da in meiner Situation näher als ein kleines möbliertes Appartement, welches exakt auf solche Menschen wie mich zugeschnitten zu sein schien. Es sollte nach der Anzeige auch alles vorhanden sein, was zum Übergangs- oder Zwischenleben in einer neuen Stadt notwendig war. Zudem würden Wäsche und ein wöchentlicher Hausputz im Preis inbegriffen sein, TV, Geschirrspüler, Waschmaschine und Bügelgerätschaften ebenso. Und was die Dame am Telefon mir vorgeschwärmt hatte, sollte mich zufriedenstellen, selbst wenn sie ein wenig übertrieben haben würde.
Der Bäckerallee fehlte es aber nicht nur an Bäumen. Auch an horizontaler Ausgewogenheit. Von Anfang bis Ende erwies sie sich als Straße mit Extremgefälle sowie Zuwegung hinauf zu einem noch steileren Hang, der zu den sich angrenzenden Wäldern führte, zu einer der vielen Bergkuppen, die das Städtchen umschlossen. Die Steigung war enorm, und mir kam sofort der Gedanke in den Sinn, dass es den Anwohnern sicher ein besonderes Anliegen war, die Handbremsen ihrer Autos regelmäßig auf Funktion prüfen zu lassen.
Mein Grund in dieser Stadt zu verweilen war kein angenehmer. So konnte ich die Freude, die so viele Neubürger und Gäste des noblen Kurortes empfanden, selbst leider nicht teilen. Meine Freude darüber, für eine unbestimmte Zeit hierhin verschlagen worden zu sein, hielt sich in Grenzen, denn mein alter Vater lag sterbenskrank seit einigen Wochen in einer der hiesigen Spezialkliniken. Ich wollte ihn seine letzte Zeit nicht alleine verbringen lassen, und so reiste ich ihm hierher nach. Meine Zeitung hatte mir unbezahlte Dispens gegeben, zudem das Versprechen, dass ich hin und wieder etwas schreiben könnte, damit ich nicht ganz verarmen würde. Somit befand ich mich inmitten eines echten Abenteuers, denn die Reichweite meiner Ersparnisse war überschaubar und das mich nun beherbergende Städtchen zu allem Übel auch noch für seine hohen Preise und sein mondänes Publikum weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt.
Ich suchte nach der Hausnummer, doch ich wurde schnell erlöst. Mein Blick fiel auf eine Dame, die bereits mit den Armen wedelte und ganz offensichtlich wusste, dass ich ihr neuer Gast war, der da den Berg heraufschlich. Mit großer Geste wies sie mir, einem Flugzeugeinweiser gleich, einen Parkplatz zu, der sich direkt neben einem kleinen und auf Anhieb sympathisch wirkenden alten Haus befand. Mir fiel sofort auf, dass sie einen Pelzmantel trug, obwohl der April bereits mit warmer Sonne auftrumpfte und es eher angeraten war, die leichten Blusen vom Bügel zu nehmen. Als ich ausstieg hatte ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl, als überlegte sie, ob sie sich zu einer freundschaftlichen Umarmung hinreißen lassen sollte, und es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre dem nachgekommen.
Vor mir stand eine kleine, zunächst äußerst elegant wirkende Dame, deren dunkle Glutaugen unter einem schwarzen Pony herausstachen und mich freundlich, doch unverhohlen neugierig, musterten. Ihr Nerzmantel war mit großer Wahrscheinlichkeit teurer als mein Auto, ihre goldene Armbanduhr, zusammen mit Ohrringen und Handschmuck, schien mir durchaus den Wert eines Mittelreihenhauses in gehobener Lage auszumachen. Nun wusste ich, dass der Wohnungspreis sicher nicht am unteren Ende des Mietspiegels angesiedelt war, mangels Alternativen bemühte ich mich jedoch, diesen Gedanken nicht weiter auszugestalten. Ihre Lippen waren mit einem knallroten Fett belegt, und mich umhüllte eine Wolke satten, süßlichen Parfums, das zweifelsfrei einen sündhaften Preis hatte. Ich schätzte sie auf Mitte Vierzig und konnte mich kaum erwehren, ein wenig in ihren Bann gezogen zu werden. Zwar war sie nicht der Typ Frau, auf den ich reflektierte, doch schien sie mir spontan so außergewöhnlich, ja ein wenig exotisch, dass ich innerlich hoffte, nicht zu erröten.
„Normalerweise vermieten wir ausschließlich an das Fernsehen“, betonte sie, nachdem sie sich mir als Frau Metzger vorgestellt hatte. „Vor allem kommen die Regisseure gerne zu uns. Wegen des Gartens und der Ruhe. Und weil alles so nah liegt, man alles zu Fuß erreicht.“ Und sie lächelte keck, während sie mich erneut von Kopf bis Fuß musterte. „Aber sagten Sie nicht, Sie sind Journalist?“ Meine Antwort wartete sie jedoch gar nicht ab. „Das ist ja dem Fernsehen sehr ähnlich.“
„Ein wenig“, antwortete ich. „Nur eben ohne Werbepausen.“
Frau Metzger musste scheinbar überlegen. Sie entschied sich für die Fortsetzung ihres Lächelns und nickte verständig, wirkte dabei aber fast abwesend.
„Vor einiger Zeit hat schon einmal ein Zeitungsredakteur bei uns gewohnt.“ Sie nahm bei diesem Hinweis schier glückliche Züge an. „Auch ein sehr netter Mann. Und so zurückhaltend.“ Sie stierte nun wieder in meine Augen. „Er war Polizeireporter und beriet bei einer Krimi-Produktion des Senders als Experte vom Fach.“
„Na, dass passt doch!“, lächelte ich erleichtert.
Wir hatten das Haus betreten, und Frau Metzger schloss die Türe zu dem Appartement im Parterre auf. Das ganze Häuschen bestand zwar aus drei Etagen, da es aber ein sehr schmales Gebäude darstellte, befand sich jeweils nur eine Wohnung auf jeder Ebene. Gebaut musste es um 1920 worden sein. Die Eingangstüre hatte bunte Glasscheiben, knarrte und war mit einem großen blankgeputzten Messingknopf ausgestattet, ein amerikanisches Modell zum Drehen, was jemanden, der nicht daran gewöhnt war, schon mal verwirren konnte.
Das Appartement umfasste vielleicht fünfzig Quadratmeter. Neben einer großen Küche und einem Mini-Bad, das die Ausmaße von zwei Telefonzellen aufwies, besaß es ein Wohn- sowie ein Schlafzimmer. Alles war ordentlich und hübsch eingerichtet und machte einen recht gepflegten Eindruck. Das Schönste allerdings war der Ausgang in den hinten liegenden großen Garten. Man gelangte direkt aus der Küche auf einen kleinen, im Hochparterre gelegenen Balkon, von dem eine Treppe auf das Grundstück führte. Dort standen einige Obstbäume, und an der Seite, zwischen einem hölzernen Schuppen und einer riesengroßen Tanne, war eine offene Laube platziert, deren Sprossenwände von Wein umrankt waren. Lauschig stand dort ein alter Gartentisch mit vier gusseisernen Klappstühlen.
Mir gefiel dieser Ort sofort. Das Appartement hatte die richtige Größe, alles war vorhanden. Und dieser leicht verwilderte Garten, mit seiner ganzen Ruhe und Besonnenheit, die dieses Fleckchen spontan auf mich ausstrahlte, hatte einen ganz eigenen Zauber.
„Gefällt es Ihnen nicht?“, fragte mich Frau Metzger urplötzlich.
Ich wusste nicht, was mich so zweifelnd erscheinen ließ, doch scheinbar interpretierte sie meine stille Bewunderung dieses Örtchens als Ablehnung.
„Oh, ganz im Gegenteil“, bekundete ich sofort. „Ich hatte es mir nur nicht so schön vorgestellt.“
Sie schaute mich mit leicht listig zusammengekniffenen Augen an. Ein Blick, den ich bei ihr noch einige Male zu sehen bekommen sollte. „Wann möchten Sie denn gerne einziehen?“
„Heute?“, krachte es aus mir heraus.
Sie lächelte bereits wieder. „Sehr gut“, erwiderte sie knapp und in einem perfekten Tonfall geschäftsmäßiger Abmachung. „Ich habe auf dem Küchentresen einen vorbereiteten Mietvertrag liegen. Wenn Sie wollen…?“
Während wir wieder hineingingen, erklärte mir meine zukünftige Vermieterin die wichtigsten Punkte aus dem Vertrag. Ich könnte jederzeit kündigen, es würde tagesgenau abgerechnet. Strom, einmal wöchentlicher Hausputz, vierzehntägig frische Bettwäsche, Wasser und Heizung wären im Mietpreis enthalten. Die Putzfrau käme jeweils Mittwochvormittag. Waschmaschine und Trockner befänden sich im Keller und würden über einen Münzspender bezahlt. Alle Gebühren für TV und Kabel sowie die Kurtaxe wären ebenfalls inklusive. Allerdings war ein Anmeldeformular von mir auszufüllen, was vom Fremdenverkehrsamt gefordert war.
Ich hatte alles verstanden und unterzeichnete den Vertrag. Noch heute wollte ich mein Hotelzimmer räumen, was nicht allzu große Mühe bereiten würde, denn ich hatte außer zwei größeren Koffern keine weitere Habe dabei.
Frau Metzger bat mich kurz zu warten und verschwand darauf für einen Moment im Keller. Als sie wieder erschien, hielt sie eine eisgekühlte Flasche Champagner in der Hand, überreichte sie mir und machte Zeichen, dass ich diese gleich öffnen sollte. Sie griff in einen Küchenschrank, und im Nu hielt sie mir mit ausgestreckten Armen zwei Gläser entgegen.
„Vor fünf Uhr schon Alkohol?“, fragte ich süffisant.
„Irgendwo auf der Welt ist es immer fünf!“, war ihre trockene Antwort.
Und so kam ich nicht umhin, das kostbare Nass zu entkorken und die Gläser zu füllen.
„Ich heiße Louisa.“ Und sie nickte mir freundlich zu. „Jetzt, wo wir doch Vermieter und Mieter sind…“
„Für Dich gerne Ludwig“, erwiderte ich höflich, war allerdings doch ein wenig über das von ihr hingelegte Tempo erstaunt.
„Das ist so üblich bei uns Metzgers.“ Sie schien meine leichte Irritation bemerkt zu haben. „Und schließlich trinkst Du gerade mit einer waschechten Prinzessin.“ Sie schaute mir geradewegs ins Gesicht. Offensichtlich wollte sie schauen, wie diese Information bei mir ankam.
„Na so was!“ Ich war tatsächlich ein wenig verblüfft. „Eine Adlige also?“
„Gewiss doch.“ Ihr Mund verzog sich ein wenig. „Mein Vater war ein echter hawaiianischer König.“ Sie genoss den Augenblick ausgiebig und sicher nicht das erste Mal.
Ich überlegte sofort, wie sie dann wohl geheißen hatte, bevor sie Herrn Metzger geheiratet hatte. Vielleicht `Prinzessin von Hula-Hula´? Doch ich verkniff es mir, den Gedanken laut auszusprechen. Aber mir erschloss sich nun ihr exotisches Aussehen. Hawaii, das passte durchaus.
„Wie kommt eine hawaiianische Prinzessin in diese Stadt?“, wollte ich wissen.
„Oh, das war ein weiter Weg“, erklärte sie bereitwillig. „Von Hawaii bin ich nach Boston zum Studieren gegangen. Dort lernte ich meinen ersten Mann kennen. Er war Offizier bei der Army und wurde ein paar Jahre nach unserer Hochzeit hierher in diese Stadt versetzt. Und ich bin dann hiergeblieben.“
„Du sprichst aber völlig akzentfrei“, bemerkte ich.
Und Louisa lachte nun herzlich und laut. „Ja, so ist es. Schließlich hatte ich eine deutsche Mutter. Das hat es mir sehr leicht gemacht hierzubleiben.“
Wir waren inzwischen aus der Küche wieder auf die kleine Terrasse hinausgegangen. Die warme Aprilsonne stand freudig am Himmel, und das frische Grün auf den Bäumen mischte sich mit den ersten weißen Blüten der Obstbäume um uns herum. Louisa Metzger befand, dass wir uns nun durchaus in die Weinlaube setzen sollten, zauberte zwei Sitzkissen hervor, und schon nahmen wir an dem Gartentischchen Platz.
Plötzlich erschrak ich. Denn direkt neben uns, am Zaun zum Nachbargrundstück, stand regungslos ein alter Mann und schaute mich mit leerem Blick an. Ich nickte ihm höflich zu und grüßte, wie es sich unter neuen Nachbarn gehört. Doch er antwortete nicht, schaute mich nur weiter an.
„Das ist Herr Fiedler…“, erklärte mir meine Vermieterin und neue Duzfreundin flüsternd. „Er wohnt in der Villa nebenan.“ Sie räusperte sich kurz, dann fuhr sie fort. „Wie soll ich sagen? Er ist verwirrt. Also eigentlich nicht mehr ganz bei Sinnen. Und er kann einem schon wirklich einen Schrecken einjagen, wenn er plötzlich, wie aus dem Nichts, am Zaun steht und gafft. Aber wie mir seine Tochter erklärt hat, bekommt er gar nichts mehr mit. Demenz im Endstadium. Völlig gagga, sozusagen.“ Louisa streckte ihm jetzt geradewegs die Zunge heraus. „Siehst Du, keine Reaktion. Das dauert sicher nicht mehr lange mit ihm.“
Gerne hätte ich ihr ein paar passende Worte erwidert, doch während ich noch nach einer verträglichen Formulierung suchte, wurden die Augen des Alten ein wenig klarer und er sprach mich direkt an.
„Die schönen Wolken! All diese schönen Wolken am Himmel…“, sagte er sehr leise und langsam. Und er schaute kurz in den Himmel hinauf. „Sie werden uns sicher kennen, diese Wolken. Sie waren doch schon einmal da. Über uns. Ganz gewiss.“
Louisa hielt die Hand vor den Mund, rollte leicht mit den Augen und kicherte amüsiert vor sich hin. Ich stand auf und ging ein wenig näher an den Zaun heran. Ich bewegte mich behutsam, denn ich wollte den alten Mann nicht erschrecken. „Ja, es sind schöne Wolken. Und die Götter haben uns etwas sehr Wunderbares geschenkt, als sie diese erfunden haben.“
„Sie fliegen immer um den Erdball. Immer an den gleichen Stellen. Und so waren sie bestimmt schon häufig über uns. Immer die gleichen Wolken.“ Er blickte mich nun wieder direkt an. „Wissen Sie, warum sie es nicht sein lassen können?“
„Vielleicht würden sie es ja gerne sein lassen. Nur sie können nicht. Es ist ihre Aufgabe hoch am Himmel über uns hinwegzureisen.“
„Aber wozu?“, fragte der Alte nun fast völlig klar. „Wozu soll das gut sein?“
„Oh, da gibt es viele Gründe“, antwortete ich und ging noch einen weiteren Schritt näher an den Zaun. „Sie können uns von all den exotischen Orten erzählen, über denen sie schon gewesen sind. Mit ihren Formen malen sie den Menschen Bilder in den Himmel, und sie sprechen so mit uns. Man muss sich nur hinstellen und ihre Sprache erlernen.“