Herr und Untertan - Stefan G. Rohr - E-Book

Herr und Untertan E-Book

Stefan G. Rohr

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Beschreibung

Die gerade achtzehn Jahre alt gewordene Viktoria muss erfahren, dass ihr Vater sie in eine Ehe verspochen hat, sie in aller Kürze die Hochzeit begehen wird. Nicht allein das Unglück des jähen Endes ihrer Jungend beschwert die junge Frau, es erwartet sie eine Schreckenszeit, ein Martyrium als Ehefrau in einer erzkonservativen Hamburger Familie des letzten Drittels im 19. Jahrhundert. Gewalt, Unterdrückung, Erniedrigung und sexuelle Schmach prägen ihr neues Leben. Nach gelungener Flucht verschlägt es Viktoria mit ihrer Begleiterin nach Paris, und ihr gelingt dort der Aufbau eines fulminanten Erfolges gegen alle Widerstände der Zeit und der tonangebenden Gesellschaft. Ein spannender Historienroman, verfasst in der Sprache seiner Zeit, versetzt seine Leser/innen gekonnt in die Ära des ausgehenden Jahrhunderts um die Zeit von 1880. Drama und Erschütterung liegen in diesem Roman dicht bei wohltuenden Geschehnissen in Gesellschaft und Usancen des Beginns der Emanzipation und ihrem Kampf um die Frauenrechte.

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Seitenzahl: 480

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Stefan G. Rohr

Herr und Untertan

Die außergewöhnliche Geschichte einer unbeugsamen Frau

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Herr und Untertan

VORWORT

TEIL 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

TEIL 2

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

TEIL 3

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

TEIL 4

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

EPILOG

Impressum neobooks

Herr und Untertan

.

für Sophie

VORWORT

Dies ist die Geschichte von Viktoria. Und ich habe diese nun aufgeschrieben, denn ich denke, sie ist es mehr als Wert vernommen zu werden. Viktoria ist natürlich nicht ihr richtiger Name, ebenso wenig wie eine ganze Reihe anderer Namen in der Geschichte, welche dann aber doch einem wahrheitsgetreuen Bericht entsprechen könnten, sofern man diesem auf der Grundlage der dargebotenen Erzählung dann auch folgen möchte.

Der Grund für die Veränderung von Namen wird beim Lesen auch schnell erkannt werden können. Denn die wahren Personen, obwohl schon keine von diesen noch unter uns Lebenden verweilt, müssen wie immer unerkannt bleiben. Das ist die Regel bei derlei Geschichten, und an diese möchte auch ich mich beflissen halten. So ist mir nachzusehen, dass ich überwiegend ganz und gar erfundene Namen hier verwende und die Herleitung eines persönlichen Bezuges auf alles Wahre somit, soweit es geht, erschwere. Hingegen werden Sie beim Lesen dieser außerordentlichen Geschichte auch eine Reihe von Persönlichkeiten begegnen, deren Namen Ihnen aus Lexika, Geschichts- und Schulbüchern sehr wohl bekannt, vielleicht sogar vertraut sein werden. In diesen Fällen war es mir als Chronist ein wichtiges Anliegen, deren Erwähnung mit großem Ehrempfinden dann auch völlig frei zu halten.

Ich habe Viktoria auch nie persönlich treffen können, denn ihr Leben endete lange vor meiner eigenen Geburt. Doch ein glücklicher Zufall führte mich mit jemandem zusammen, der ihre Geschichte noch sehr gut kannte, vielmehr sogar darauf gewartet hat, sie an geeigneter Stelle erzählen zu können. Ich bitte nun auch um Ihre diesbezügliche Nachsicht, dass ich mich geheimnisvoll zurückhalte und jetzt noch nicht konkreter werden möchte. Sie werden das im Laufe der nächsten Kapitel sicher verstehen.

Nun, diesen Jemand traf ich bei einem abendlichen Essen mit Freunden, und ganz en passant, es war gewiss ganz zufällig, hörte ich zum ersten Mal von ihr. Und ich war so fasziniert von dem, was ich über diese Viktoria erfuhr, dass ich mehr wissen wollte. Und so kam es, dass ich nach und nach, über eine ganze Reihe von weiteren Zusammentreffen, immer tiefer in ihr Leben eintauchte.

Nachdem wir zu dem Schluss gekommen waren, dass es nichts mehr zu berichten gäbe, was ich noch nicht wusste, gingen wir auseinander, und ich begann für mich zu überlegen, was ich aus all den vielen gehörten Einzelteilen denn nun machen sollte. Ein interessanter Stoff – aber er basierte auf einzelnen Erzählungen und für mich nur schwer zusammenzufügenden Details. Schicksalshaft, dramatisch, traurig und wieder voller Hoffnung und schönster Momente – ja es waren unzählige Farben eines Kaleidoskops, die sich mir in den Erzählungen boten. Fast schon zu bunt, fast schon zu quirlig, und so kam ich nach und nach zu dem Schluss, von einer Verwendung des Ganzen abzusehen. Vergessen konnte ich die faszinierende Viktoria aber auch nicht. Da erhielt ich ein kleines Paket mit der Post. Der Absender war mir bekannt, es war der Mensch, welcher mir so viel über Viktoria erzählt hatte. Als ich das Päckchen öffnete, fand ich ein sehr altes Büchlein darin. Und als ich es aufschlug, stellte ich fest, dass es ein Tagebuch war. Das Tagebuch von Viktoria.

Es war nicht nur sehr alt, es war auch recht abgegriffen, vergilbt und ganz an den Rändern angeräuchert, so, als wäre es fast schon einmal einem Brand ausgesetzt gewesen. Es muss tausende Male angefasst, aufgeschlagen und wieder geschlossen worden sein. Einige Blätter waren schon lose und nur an die betreffende Stelle hineingelegt. Die Schrift war winzig klein und stammte aus einer längst vergangenen Zeit. So war es mir nicht gleich vom ersten Augenblick möglich, alles so einfach lesen zu können. Doch mit der Zeit kam ich auch mit dieser Schrift zurecht.

Das Tagebuch war auf den 24. Dezember 1883 datiert, dem Tag des ersten Eintrages. Es wurde also an einem Heiligabend begonnen, und es endete irgendwann einige Zeit später. Aber dieses Datum verrate ich an dieser Stelle natürlich nicht.

Die Aufzeichnungen Viktorias waren die fehlenden Puzzleteile in meinen Überlegungen. Zusammen mit diesem Büchlein und den vielen Erzählungen gab es erstmals einen umfänglicheren Eindruck in alles, was Viktoria erlebt hatte. Und so war es möglich, die Lücken zu füllen, dass die Geschichte dem tatsächlichen Geschehen entspricht oder sehr, sehr nahe kommt.

Und nun möchte ich beginnen. Mit der Geschichte von Viktoria.

TEIL 1

Kapitel 1

Das alte Jagdhaus lag idyllisch inmitten eines kleinen Fichtenwäldchens. Von diesem Ort her gelangte der geneigte Besucher schnell in die sich über weite Flächen ausdehnende Heide. Im Frühling duftete es nach frischem Grün, Wiesenblumen und für einen kurzen Moment stets auch intensiv nach Waldmeister. Im Herbst hingegen war die Luft lange vom Geruch der vielen Pilze erfüllt, die es rundherum zu sammeln gab. Während das junge Jahr bereits vorangeschritten war, sollte es aber noch einiges dauern, bis die passionierten Gesellschaften mit geflochtenen Körbchen und einem kleinen Messer bewaffnet in die Pilze gehen konnten. Und das war gut so, denn der Hochsommer hierzulande galt nun einmal als die schönste Zeit.

Dem Gebäude war es noch gut anzusehen, dass es einmal recht hochherrschaftlich daherkam. Damals, als es noch zum Besitz einer mächtigen Adelsfamilie gehörte, strahlte es förmlich vor Gediegenheit und Glanz, dem selbst die erkennbare Zweckmäßigkeit kein Abbruch tat. Seiner Bestimmung folgend war es als Landsitz und für den Aufenthalt stattlicher Jagdgesellschaften entworfen. Traditionell das Ambiente, nützlich das Beiwerk, zu denen die großen Stallungen, die unweit des Hauptgebäudes angesiedelt waren, ebenso zu zählen waren wie das separate Gesindehaus, welches so gestaltet war, dass es jeden Förster in Entzücken versetzt haben würde.

Doch schon die adligen Vorbesitzer konnten ihr Besitztum lange vor dem Verkauf nicht mehr dem Sinne entsprechend nutzen. Und der neue Eigentümer, der ehrenwerte Kaufmann Franz-Joseph Kohlhaase, war bar einer derartigen Passion. Das aber sollte nicht der alleinige Grund sein. Für die Jagd war diese Region zwar mehr als geeignet. Rot- und Dammwild, Füchse, Sauen und Fasane oder Hasen gab es genügend. Derlei Veranstaltungen aber waren eben nicht umsonst. Für solches Unterfangen waren viele Goldtaler aufzuwenden. Und es lag dem Kaufmann alles andere im Sinn, sich mit derartigem Luxus nur zum Zwecke der Prahlerei das bereits getätigte Kreditvolumen weiter zu beschweren. So geriet es dann auch dem genauen Auge zu erkennen, dass hier oder dort am einst so ästhetisch wirkenden Bau der Zahn der Zeit nagen würde, sich nun nicht mehr allein nur versteckte Blessuren zeigten, auch wenn es nicht auf den ersten Blick anheimelte, als wäre der Bau bald schon marode.

Die Hausherrin, Katharina Kohlhaase, sie war eine geborene Sonnenberg und stammte aus dem nahen Hamburg, staunte an diesem Tage nicht schlecht, als ihr Gatte ganz unerwartet bereits am Mittag mit seiner Kutsche vorgefahren kam. Sie sah zwar nicht, dass er es offenbar sehr eilig hatte, denn er wartete nicht einmal mehr ab, bis ihm der Kutscher den Tritt herunterklappte, hiernach die Türe öffnend, sprang Kohlhaase in voller Montur doch wie ein tobender Stier aus dem Gefährt und stürmte in das alte Gebäude. Und es genügte ihr ein kurzer Blick in sein Gesicht, als er, sichtlich außer Atem und mit geröteten Wangen, den Salon betrat. Nicht einmal seinen Zylinder hatte er abgenommen.

„Katharina…!“, rief er aufgeregt und sah starr in das fragende Gesicht seiner Frau. Doch er verharrte kurz, denn eines der Dienstmädchen war zugegen und sortierte gerade das Silberbesteck, welches sie zuvor geputzt hatte.

Der strenge Blick des Hausherren genügte, und das junge Ding machte einen kurzen Knicks in Richtung ihrer Herrschaften und verließ mit eiligen Tippelschritten unter dem blauen Rock mit der aufgebundenen weißen Schürze flugs den Salon.

„Katharina!“, eröffnete Kohlhaase erneut. „Es ist ein Wunder geschehen. Und ich muss Dir dieses sogleich eröffnen, denn fortan soll sich alles zum Guten wenden. Und es gilt nun, eine formidable Sorgfalt für Planung und Erledigung um des guten Gelingens wegen an den Tag zu legen.“

Katharina hörte ihrem Mann ruhig zu. Bislang konnte sie sich keinerlei Reim aus seinen Worten stricken. Doch sie wusste sich zurücknehmend zu verhalten, denn sie kannte ihren Gatten schon lange und deshalb nur zu gut. Und er würde es ihr gewiss ohnehin in Kürze und in Gänze zum Verständnis gebracht haben.

Er stand immer noch, stemmte nun aber seine Arme links und rechts in die Hüften, während er dazu seine Brust nach einem tiefen Atemzug durch die Nase hervorstreckte: „Unsere Viktoria wird in den Hafen der Ehe segeln. Ich habe es heute um halb elf mit dem ehrenwerten Medizinalrat Dr. Johann Krottenkamp zur Vereinbarung gebracht… .“

Katharina Kohlhaase zog die Augenbrauen hoch. Zum einen war da diese Ansprache, in der ihr Gatte von `ihrer´ Viktoria sprach. Denn für allgemein, und das war in der Regel fast immer, ging ihm ein fröhlicher und liebevoller Singsang bezüglich seiner Tochter nicht über die Lippen. Dann war das Kind stets `Deine´ Viktoria, häufig mit missbilligendem und durchaus als abfällig zu wertendem Unterton. Doch wie er nun daherkam, der Herr Kaufmann mit Zylinder und stolzer Brust, das war dann doch geeignet, der sonst so ruhigen Dame ein wenig Zorn in die Magengrube zu verbringen.

„Du redest so, als würdest Du von einem Geschäftsabschluss über dreißig Fuder besten Pariser oder Grasser Parfüms prahlen“, und sie sah ihren Mann mit ernster Miene an: „Und es wäre mir nicht ungelegen gekommen, einen eigenen Anteil zu halten, wenn ein werbender Pfau sein Rad vor unserer Tochter schlägt, es so zu entscheiden ist, ob wir es gutheißen wollen oder dem Spuk doch lieber ein jähes Ende setzen sollten.“

Nun staunte der Herr Vater nicht schlecht. Welch´ ungewohnt gewagten Worte seiner Gattin. Und hörte er aus diesen vielleicht sogar eine Widerständigkeit heraus, gar eine Missbilligung seines ihm doch als Familienoberhaupt unstrittig gebührenden Handelns? Doch es erschien ihm eher opportun, ganz aus dem Bauchgefühl heraus, in diesem Moment nicht auf seine Rechte des Herrn im Hause zu beharren, sondern das Gute in seiner Nachricht zu betonen, denn scheinbar war dem eigenen Weib der Sinn seines Erfolges noch nicht klar geworden.

So zog er den hohen Hut von seinem Kopfe, stellte diesen auf eine der Kommoden, knöpfte sich seine Weste halb auf und setzte sich mit einem bittersüßen Lächeln auf den Ohrensessel neben seiner Gattin. Dann nahm er die Gesindeklingel und läutete, dabei vermied er es, derlei in ebensolcher Vehemenz und Dringlichkeit zu vollziehen, wie es ihm ansonsten so zu Eigen war.

Die junge Dienstmagd war schnell erschienen und stand mit gefalteten Händen und einem leicht gesenkten Kopf vor ihren Herrschaften.

Der Hausherr schaute mit großer Ernsthaftigkeit. „Du warst sehr schnell zugegen“, und er sah dem jungen Ding, das aus irgendeinem Provinznest am Rande der Heide aus bäuerlicher Folge den Weg in die Magdschaft genommen hatte und gerade einmal wenige Wochen im Dienste der Familie stand, strengen Blickes ins Gesichtchen. „Solltest Du vielleicht der Ungeheuerlichkeit des Lauschens gefrönt haben?!“

Die junge Frau schüttelte heftig den Kopf. Das würde ihr nicht im Traume einfallen, bekundete sie eindrücklich, und es war ihr die Angst ins Gesicht geschrieben.

Kohlhaase nahm sich zurück. Es war nun nicht gerade der Moment für eine Schelte, auch wenn er sich mit großer Überzeugung wähnte, das freche Ding sogleich ihrer unverschämten Neugierde überführen zu können, gleich folgend eine gerechte Strafe in Form eines einbehaltenen Wochenlohnes zu verkünden. Doch er gab nur Anweisung: „Bring uns eine mittlere Karaffe Sherry. Und lass Dir dabei nicht wieder so viel Zeit, dass es Abend wird, bevor ich mein Glas in Händen halte!“

Als die Türe sich wieder schloss, wandte sich Kohlhaase seiner Gattin zu. Und tatsächlich, ja: Er lächelte ein wenig. „Liebe Frau, nun sei nicht primelig. Denn sage mir, dass ich mich irre, wenn ich erneut zu behaupten wage, dass unsere Viktoria in ebensolcher Weise schwierig in den heiligen Stand der Ehe zu bringen ist, wie ein lahmer Gaul die Wetten hält.“

Seine Ehefrau blies nun spontan die Wangen auf. Schon wollte sie sich zu dieser despektierlichen Metapher äußern, doch der Hausherr ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen: „Echauffiere Dich nicht, geliebte Frau“, im Tonfall blieb er säuselnd. „Was ist es denn anderes, wenn unser Töchterlein so gebrechlich daherkommt wie eine Papierfigur mit Augenringen, als sieche sie schwindsüchtig dahin. Und selbst wenn es einem Aspiranten nicht an Schönheit läge, so forderte dieser dann doch wenigstens die Äußerlichkeiten der Weiblichkeit, ganz wesentlich als Zeichen für das Wohlgelingen seiner Nachkommenschaft.“

Katharina Kohlhaase legte nun ihre kleine Stickerei, die sie bisher in den Händen hatte, beiseite, atmete tief durch, und inmitten eines hörbaren Seufzers antwortete sie ihrem Mann: „Franz! Das Kind ist siebzehn…!“

„Übermorgen achtzehn!“, konterte dieser prompt, „und damit im besten heiratsfähigen Alter.“

„Heiratsfähig hin oder her“, erwiderte nun die Mutter, „darum geht es doch gar nicht, Franz-Joseph. Sie ist doch noch ein Kind, ganz auch das unsre. Und kindlich, spielend ihr Gemüt. Und auch ihr Körper, der ohne Zweifel noch im Wachstum steht, Du aber Füllen reklamierst, die erst mit der Zeit gedeihen. Ein Fohlen ist kein lahmer Zosse und Dein Vergleich ganz liederlich. Denn auch ein Schmetterling ward stets erst eine Raupe.“

Kohlhaase lief rot an. Doch bevor er explodieren konnte, klopfte es kurz an der Türe, und das Dienstmädchen kam herein. Sie stellte auf einem kleinen Silbertablett die mittlere Karaffe mit dem goldgelben Sherry nebst zwei Gläsern auf den Tisch und schickte sich an, diese zu füllen. Doch der Herr schüttelte den Kopf und machte eine ablehnende Geste. Er würde nun selbst einschenken, und das Mädchen könne sich entfernen.

Als sie wieder alleine waren, schenkte er wortlos die Gläser halbvoll und trank, ohne seine Gattin eines Blickes zu würdigen, den sanften Sherry auf einmal herunter. Dann wischte er sich seine Bartenden mit dem Handrücken sauber und räusperte sich. Das war das Zeichen, dass er sich den Vorrang für die Fortführung dieser Unterredung zusprach.

„Werte Gattin“, eröffnete er gediegen. „Wenn´s Dir beliebt, so will ich einen anderen Vergleich nun nutzen. Nur um Gemüter nicht zu sehr zu regen, doch auch die Deutlichkeit nicht missen zu lassen. So frag Dich selbst, ganz objektiv, ob Du als Gatte beim Bettgang unter dem Laken nicht lieber eine pralle Frucht als eine krumme Bohne finden möchtest?“, und er schnalzte noch kurz mit der Zunge, denn der Sherry hatte ein süßliches Aroma in seinem Gaumen hinterlassen.

Die Dame des Hauses hatte keinen Zweifel daran, dass diese Richtung ihrer Unterredung weder zweckmäßig noch förderlich verlaufen würde. Und so entschied sie sich, zum Wesentlichen zurückzukehren und weitere Details zu erfahren. Kohlhaase war zufrieden. So war es Recht, denn seine immer einmal wieder zur Aufmüpfigkeit neigende Ehefrau hatte sich unter seinen strengen Blicken eines Besseren besonnen und gerade klein beigegeben.

„Dr. Krottenkamp drängt auf eine baldige Vermählung“, gab er nun zu wissen.

Katharina Kohlhaase begann süffisant zu lächeln: „Nun, das ist sein Begehr“, und sie sah nun ihrem Gatten ernst in die Augen. „Jetzt sag mir was Dich so hastig drängt, dem seinen so willfährig zu entsprechen?“

Der Kaufmann Franz-Joseph Kohlhaase war nun an die sechzig Jahre auf dieser Welt, von denen er über fünfundvierzig in einem Handelskontor verbracht und es zu einem nicht unbeträchtlich erscheinenden Vermögen gebracht hatte. Und im Handel, mit seinesgleichen, nicht selten auch mit basargewohnten Osmanen, knausrigen Schotten, Undurchsichtigen aus dem Reich der Mitte oder den ewig Schachernden aus der Synagoge, war er aus vielen Verhandlungen nun geschult, sein Antlitz bei Bedarf weder erröten noch in Fahlheit verfallen zu lassen, denn wer zuerst zuckte, hatte stets verloren. So würde er sich von seiner Holden, seinem Weib und der Mutter seines Töchterleins, nun wahrlich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.

„Es sei allein aus Deinem Stand als Dame dieses Hauses Dir nun doch nicht anzulasten, die grad gestellte Frage als wesentlich zu wähnen. Es spricht die ganz bekannte Unkenntnis der alten Regel aller guten Zünfte aus Dir, den Sack dann zuzumachen, sobald er denn gebunden werden kann. Und ratsam ist´s, dass ein Schuster bei seinen Leisten bleibt, ganz so, wie ich es niemals wagte, Dir mit Anweisung oder Besserwisserei Dein Stickwerk zu erklären.“ Nun griff er die Karaffe und goss sich erneut ein Gläschen ein, diesmal bis knapp zum Rand gefüllt.

Die Mutter nahm wieder ihre Stickerei zur Hand und begann, behutsam die Nadel zu führen. „Das Zählen von Pfefferkörnen in einem Scheffel ist schon einem Lehrburschen wenig Hürde. Ein Stickwerk zu erschaffen mit einem Dutzend Fäden schöner Farben setzte die Fähigkeit des Zählens zum einen, dann aber auch zum anderen die Beherrschung des Gesamten voraus. So sei nur zuversichtlich, lieber Gatte, dass es mich nicht überfordern sollte, Deiner Scheffelkunst verständig folgen zu können.“ Sie machte eine kleine Pause, dann fuhr sie fort und erhob ihre Stimme in einer kaum merklichen, dann aber doch für das Ohr des langjährigen Ehemannes unüberhörbaren Nuance: „Es würde uns beiden sicher weniger Last bereiten, wenn Du mir nun Dein fulminantes Geschäft in Gänze eröffnetest.“ Dann lächelte sie ihrem Gegenüber freundlich ins Gesicht: „Soll ich nach dem Mädchen läuten, damit sie Dir eine weitere Karaffe bringt?“

Da war sie wieder, die unsägliche Ironie und auch deutliche Revolte, von der auch Kohlhaase andernorts Gehör erhielt. Weibsbilder, die sich entgegenzustellen versuchten, sich mit spitzen Frechheiten einmischten und dabei den eignen Stand in der gesellschaftlichen Ordnung marodierten. Und wieder einmal schoss es ihm bitter durch den Kopf, wie sehr er sich doch voreilig hatte hinreißen lassen, die fulminante Mitgift des alten Sonnenberg nicht als Blendwerk hinterfragt zu haben. Denn gab es doch mehr als nur ein Zeichen, dass dieser Fuchs wohl ebenso dem Herrn im Himmel dankte, als dessen Zutun, nebst der Mitgift, sein Töchterlein zum Traualtar befahl. Und dem Pfaffen mag es obendrauf gefallen haben, denn sein Klingelbeutel ward an diesem Tage dicker als es die hohen Feste zweier Jahre in einem erbracht hätten.

Doch fühlte nun Kohlhaase auch just identisch, so gab es doch einen Unterschied, und dieser war dann gleich ganz erheblich. So glaubte er seinen Ohren nicht trauen zu können, als ihm der brautwerbende Krottenkamp bekundete, die üblich Mitgift nicht einzufordern, die Sitte sogar umzukehr´n gedachte. Ganz im Privaten, ohne Aufsehen, den Brautvater derart zu erfreuen, statt berappen zu müssen, selbst ein stattlich Sümmchen einzuheimsen. Und damit dieses nicht zur Tuschelei geneigte, er dieses als Kredit vergäbe, der nie zurückzufordern war. Ein Zuschuss, der nie öffentlich zu reklamieren wäre, der sodann das Erbe im Stillen mehren sollte, und so die ausgeschlagene Mitgift zu späterer Zeit, wenn Gott es dann für geboten hielt, in angemessener Weise ausgleichen würde. Und mit dem Geschick des Herrn Kaufmannes wäre damit auch ein guter Zins wahrscheinlich.

Franz-Joseph Kohlhaase rieb sich, während er dem Antrag des Mediziners lauschte, über seine seidene Weste ganz wohlempfindend den Bauch. Jeder Taler, den er nicht auszugeben hatte, zählte doppelt. Nun aber, so wie der Vorschlag auf dem Tische lag, enthielt das Geschäft dazu noch mehr als eine Dopplung. Zum eingesparten Taler kamen fünf hinzu, was dann nach seiner Rechnung der Einnahme eines Siebenfachen entspräche. Für einen lahmen Gaul ganz fulminant! Und er wäre doch zu verjagen gewesen, ein solches Angebot zu verzögern, um es im häuslichen Reigen mit seiner Angetrauten zu erörtern, die es aus Grundsätzlichkeit heraus womöglich dann gleich ausgeschlagen hätte, ganz eben gleich, wie es sich nun andeutete.

Das Siebenfache aber war allein nicht nur eine verlockende Kalkulation. So gingen die Geschäfte seit einiger Zeit doch eher schleppend. Die wirren Jahre, in denen Krieg und Unruh seinen Handel doch stets so wohltuend befeuert hatten, waren vorbei. Mit dem Abzug des Pulverdampfes schwand auch ein großer Teil der schönen Geschäfte, in denen der befähigte Kaufmann sich mit besten Preisen verständigen konnte, ohne sich dabei dem Verdacht der Wucherei aussetzen zu müssen. So kaufte er noch manches Gut mit gerad´ noch üblich hohen Werten, der spät´re Absatz dann von Mal zu Mal noch nicht einmal den Einkauf mehr egalisieren konnte. Das Risiko des Handels war dem alten Schacherer nicht unbekannt, hier und dort auch mit Verlust zu leben war Teil der Profession und somit nicht zu beklagen. So zählte beim Schließen der Bücher stets die Summe unterm Strich und damit gleich der Lehrsatz, dass Handel zwar vom Geben und Nehmen lebte, der Kaufmann am End´ des Tages nur beim Nehmen sich im Vorteil finden müsst.

Nun aber schien der Teufel schon viel zu lange große Freud´ daran zu haben, den Lehrsatz umzukehren und dem umtriebigen Kaufmann mehr Taler aus der Tasche zu ziehen, als dieser im Stande war im Sack zu deponieren. Und wäre dieser Umstand leichtsinnig im Kontor besprochen, die Konkurrenz gar alarmiert, dann wäre Kohlhaase den ehrenwerten Stand des hanseatischen Kaufmannes verlustig geworden und besetzte alsbald eine Zelle im Schuldturm. So sorgte er sich mit zunehmenden Stirnfalten um Liquidität und Leumund, und wenn er an das fahlhäutige Töchterlein dachte, so grauste ihm vor der Pflicht der Zahlung einer Mitgift, die flüssig dann wohl nicht mehr vorhanden wäre.

Wem ist´s dann zu verdenken, die lukrative krottenkampsche Wendung als ein `Wunder´ zu verstehen, denn war´s was anderes als göttliche Fügung? Und wäre es nicht gleichzusetzen mit sündhaft Frevelei, dem Willen des Herrn zuwider zu handeln, im Gegenzuge als Lohn ins Fegefeuer oder gar in die Verdammnis einzufahren? Der lahme Gaul geriet zum Retter. Ganz ohne eigenes Wissen, und statt schmachvoller Insolvenz ließe sich die Verheiratung des lieben Töchterleins verkünden, und niemand hegte einen Verdacht, dass statt die Mitgift auszuschütten sich der Brautvater einer stattlichen Einnahme erfreuen konnte.

So geriete es ihm dann gleich auch zweifach zur Ehre, da ein Jeder ganz selbstverständlich die Mitgiftleistung unterstellt, den Zufluss ins Geschäft und die Abwehr des Ruins nicht durchblicken würd. Das nun aber dem angetrauten Frauenzimmer zu offenbaren, käme einer nicht mehr heilbaren Selbsterniedrigung gleich. Und würde er nun der holden Gattin ganz großzügig von einer reduzierten Mitgiftpflicht berichten, so könnte er sich abermals als fähiger Kaufmann bewiesen wissen und das `Wunder´ allein darauf beschränken, den unverkäuflich lahmen Gaul in den dauerhaften Beritt an einen neuen Besitzer übereignet zu haben.

Und als dann die Karaffe von ihm halb geleert ward, schloss er seine Unterredung mit seiner Gattin wie folgt: „Es liegt mir fern, Dich am Ende aller Worte um Einverständnis ersuchen zu müssen. Zu offen liegt die Vorteilsnahme auf unserer Seite, und das Kind hat Folge zu leisten, wenn der Familienrat getagt, das Oberhaupt entschieden hat. Es ist somit genug des getanzten Sprachreigens. Und als Popanz gedenke ich mich gewiss nicht zu erweisen. Gleichwohl vernahm ich Deine Anmerkungen, und ich ehre diese, denn es ist das mütterliche Herz, das aus Dir spricht. Doch wo stünde uns´re Welt, wenn Mütter uns regierten? Kopfüber wanderten wir durch derlei Zeit. Geschäfte obliegen nicht ohne Grund den Herren, und Vaterherzen lieben auch, nur führt Vernunft und Logik uns auf guten Wegen. So ist´s zum Besten für uns alle, und die Tochter wird es uns bald danken, Gattin – und sicher auch bald Mutter unserer Enkel – eines ehrenwerten Mediziners in bester Vermögenslage geworden zu sein.“

Kohlhaase griff abermals die Karaffe und goss ein weiteres Glas randvoll. Auch zückte er eine Zigarre, welche er in bester Vorausschau eingesteckt hatte, um diese zum gegebenen Zeitpunkt zu entzünden. Als er sie aus seiner Anzugtasche zog, war er bemüht den dort ebenfalls deponierten ersten Anzahlungsscheck des Doktor Krottenkamp nicht versehentlich auch gleich dazu ans Tageslicht zu befördern. „Nun füg Dich besser ein, liebe Frau. Und es steht für Dich nun an, dem Kinde schonend beizubringen, dass der Traualtar ihr winkt, Verlobung nächste Woche gefeiert wird, die Hochzeit dann in der Adventszeit erfolgt.“

In diesem Moment sprang die Türe auf. Hastig und mit leicht geröteten Wangen stürmte ein junges Fräulein in den Salon. Es hatte den Vormittag im Stall mit der Pflege ihrer beiden Pferde verbracht und war hiernach in die Heide geritten, hatte die Pferdchen nacheinander über Hürden springen lassen, war galoppiert, in den Trab gewechselt und hatte vor Einkehr in den Heimatstall die Tiere im Schritt zur Ruhe kommen lassen. So trug sie dann noch das Reitkleid und die Stiefel, den kleinen Hut hingegen hatte sie in der Eingangshalle deponiert, denn sie gedachte, nach dem Mittag zurück in den Stall zu gehen.

„Verehrter Papa, Sie sind schon da?!“, rief Viktoria erstaunt aus, als sie ihren Vater zu dieser Zeit im Salon sitzend vorfand, „… ich wusste ja nicht …!“

Der Vater erhob sich aus seinem Ohrensessel: „Schon gut, liebe Tochter. Ich hatte etwas sehr Wichtiges mit Deiner Mutter zu besprechen. Wie ich sehe, warst Du erneut in den Stallungen und bist dem Gesinde zur Hand gegangen.“ Sein Blick versteinerte sich wieder: „Nun, ich werde mich heute aus gutem Grunde nicht abermals dazu einlassen. So fröne dann noch ein wenig Deiner Marotte. Und nun setze Dich zu Deiner Mutter. Sie hat etwas mit Dir zu bereden.“ Mit einigen kurzen Schritten ging er sodann zur Kommode und dem daraufgestellten Zylinder, dann eilte der Hausherr durch dieselbe Tür, durch die sein Töchterlein gerade hereingekommen war. Er vermied es dabei tunlichst, in das verdutzte, zudem auch sichtlich besorgte Gesicht seines eigen Fleisch und Blutes zu schauen. Die Tatsachen waren geschaffen, nun galt es nur noch, diese zielstrebig zu vollenden. Und Franz-Joseph Kohlhaase wäre nicht er selbst, wenn ihm das Vorhaben, aus welchem Grund auch immer, jetzt noch aus der Hand gleiten sollte.

Gefasst, jedoch mit innerlich ganz beschwertem Herzen, tat die Mutter nun, was ihr soeben aufgetragen ward. Und obwohl es ihrer Rede wohltuend an langen Ausschweifungen um den heißen Brei mangelte, diese vielmehr kurz und knapp das Wesentliche zur Verkündung brachte, ließ sie nichts an mütterlicher Sanftheit und fürsorglicher Wortwahl missen.

Der Tochter kam es dennoch wie in einem Alptraum vor. So ritt sie nur wenige Augenblicke noch zuvor durch die herrliche Heide, in Gänze frei und unbedarft, mit spielerischer Leichtigkeit die Pferdchen über Gräben getrieben, sich auf der Lichtung ausgeruht, den Rücken liegend zur Erde gewandt, die Blicke in den Himmel gerichtet, geträumt und dem Wolkenzug die Freiheit neidend, danach jedem Wölkchen eine Figur entnommen, gestaltet vom Schöpfer, ganz zu ihrer Erbauung und Unterhaltung. Und sah sie derweil nicht auch wieder den Vögeln hinterher? So, wie sie es fast immer tat? Sah den Bussard schweben, auf seinem Weg zur Jagd? Und verirrten sich dabei nicht erneut ihre Gedanken um die Herrlichkeit des Fliegens, welche dem Menschen so bitter versagt blieb? Wär sie nur allzu gern mit ihnen mitgeflogen, wie oft war dieser Wunsch in ihr. Wie lange war die Sehnsucht in den Lüften zu fliegen schon in ihr! Für das, was Daidalus und Ikarus für kurze Zeit vermochten, wär´ sie bereit, das Schicksal gleichzunehmen und in die Tiefe dann zu stürzen, denn jede Sekunde im Fluge stünde höher im Wert als ein ganzer erdgebundener Tag. Und so war sie oft tief in Gedanken, mit großer Phantasie sich Pläne zu entwerfen, wie es den Menschen im Luftraum hielte, und wenn´s nur für Momente sei. Was nur war ihr Geheimnis? Das der Vögel, der Schmetterlinge, der Libellen und auch selbst der Käfer?

Doch jäh erstarb jetzt die gerade noch leuchtend´ gewesene Zukunft, die Jugend und die Leichtigkeit, denn Gattin sein zu müssen war bisher in ebensolcher Ferne wie ein wundersamer Wuchs von Schwingen auf ihrem Rücken. Sie hörte das Gesagte zunächst mit ungläubiger Ruhe, doch als sie kurzerhand begriff, dass es beschlossene Sache war, brach sie in Tränen aus und hielt sich verzweifelt die blassen Hände vor ihr Gesicht. Und es schüttelte sie, so sehr krampfte die Tochter beim Weinen, dass die Mutter nicht umherkam, nach dem Mädchen zu läuten und dem bemitleidenswerten jungen Fräulein ein kühles Glas Wasser bringen zu lassen.

Es dauerte noch eine Weile, bis sich Viktoria soweit gefangen hatte, dass es ihr wieder möglich war zu sprechen: „Sagen Sie mir, Mama, was habe ich Ihnen und Papa nur angetan, um dass Sie mich so strafen wollen?“ Doch ohne eine Antwort abzuwarten, denn eine solche hatte sie mit ihrer Frage auch nicht erwarten wollen, fuhr sie fort: „Oder bewerten sie als meine Mutter den alten Zausel namens Krottenkamp als geeigneten Kandidaten zur Vermählung mit Ihrem eigenen Kind? Nicht nur das Alter, welches doch nur unwesentlich von dem meines Vaters abweicht, steht zum Beklagen frei. Ist´s Ihnen denn zudem entgangen, dass Ihr gewählt habt einen Mann, den´s durchaus mit einem Schlachtschwein zu vergleichen lässt, so dick sein Bauch und fett seine Wangen. Und haben Sie denn nicht auch Mitleid mit all seinen Patienten, die er mit seinen wulstigen und stets nassfeuchten Fingern betastet, auch wenn´s der ärztlichen Kunst geschuldet ist und allein der Heilung dient? Doch mögen Sie es nun gutheißen, dass ebensolche Finger die Hand Eurer Tochter im Stande der Ehe umschließen? Und dann die zionistische Eile! Mich düngt, es drängt Sie mehr als nur die gute Absicht. Doch werd´ ich nicht der Illusion verfallen, dass Sie mir, Vater oder Mutter, den Hintergrund erklären werden. So erlauben Sie mir nun, mich in mein Zimmer zurückziehen zu dürfen. Und es wird für mich zu überlegen sein, ob ich Ihrer Order am Ende den Vorzug vor einem Weggang zuteile, auch wenn das Letztere zur Folge hätte, mich als Magd verdingen zu müssen, um fortan die niedersten Dienste bei einem Bauern zu erbringen“.

„Viktoria!“, platzte es aus der Mutter heraus. Doch das junge Ding war bereits aufgesprungen und lief schnellen Schrittes aus dem Salon, hinauf in ihr Zimmer, dessen Tür sodann deutlich vernehmbar in den Rahmen knallte.

Als das Dienstmädchen das Werk der Köchin zum Abendessen auftischte, blieb Viktorias Platz unbesetzt. Sie lag den ganzen Nachmittag auf ihrem Bett. Die Verzweifelte hatte vergeblich versucht, ihr Weinen unter dem Kissen zu ersticken. Appetit verspürte sie mitnichten, und so verschwendete sie auch keinen Gedanken daran, sich an die elterliche Tafel zu begeben und damit gleichwohl auch stillschweigend ihr Einverständnis um die unsägliche Entscheidung zu bekunden. In ihrer doch noch recht kindlichen Gedankenwelt wollt´ sie den letzten kleinen Hoffnungsschimmer nicht gänzlich löschen, und sie ließ sich sogar zu einem Gebet hinreißen, kniend am Fuße ihres Bettes, dass Gott ihr doch diesen bitteren Kelch ersparen würde.

Kohlhaase ließ gerade einmal eine Minute stillschweigend auf die Tochter wartend vergehen, dann aber richtete er das Wort an seine Frau: „Verstehe ich das richtig? Unsere Tochter hat sich für den Boykott entschieden?“

„Nun lass Sie doch, Franz. Ich bitte Dich“, antwortete Katharina etwas flehend. „Sie ist ein junges Ding. Noch ganz unreif, und Du verlangtest einen harten Weg, ganz ohne Vorbereitung, zudem ganz gegen ihren Willen“.

Kohlhaase stieg die Zornesröte ins Gesicht. „Papperlapapp!“, schnauzte er zurück. „Was gab denn jemals Anlass bei derlei Unterfangen, nach weibischem Willen und derer Wünsche zu entscheiden? Es ist stets nur nach dem Besten zu handeln. Und ein solches ist nicht von einem jungen Ding zu bewerten. Sie hat sich zu fügen. Basta!“

Auch der zaghafte Versuch seiner Ehefrau, den Gatten nun zumindest einmal milder stimmen zu können, vermochte seine Gesichtsfarbe nicht wieder zu ändern. Und als sie ihm in einem unbedachten Nebensatz zur Kenntnis brachte, die Tochter erwöge in kindlicher Verzweiflung sogar ein Weglaufen und die Aufnahme niederster Bauernarbeit, sprang der Herr auf, sichtlich vor Wut schnaubend, und begab sich eilig zum Zimmer seines Kindes. Er trat aber nicht ein, daran dachte er keine Sekunde. Er nahm den großen Schlüssel und sperrte kurzerhand das Türschloss zu. In Gefangenschaft hat sich schon so mancher Übeltäter eines Besseren besonnen. Und was die Isolation dann nicht bewirken sollte, würden Hunger und Durst ganz sicher schaffen. Ein Boykott im eigenen Hause? Aufstand und Revolution hatte er nun genug erlebt. Und dergleichen jetzt unterm eigenen Dache, zudem entgegen seiner Finanzinteressen hinzunehmen, sollte nur über seine Leiche möglich werden.

Derlei Unterfangen war natürlich nicht hinzunehmen. Und wenn´s vonnöten sollte werden, dann würd´ er auch zur Gerte greifen, von derlei Gerätschaft es in den Stallungen schließlich reichlich gab.

Kapitel 2

Zum Sonntag ward der Bräutigam geladen. Ganz manierlich und sittsam, zudem ohne großes Aufsehen. Die Tage bis dorthin waren für Katharina Kohlhaase vollgestopft von allerlei Vorbereitungen und Geschäftigkeiten. 

Zum einen war da der Geburtstag der Tochter. Sie jährte süß ganze achtzehn Lenze, und was eigentlich zu einem angemessenen Festchen hätte Anlass geben können, wurde still und unauffällig zelebriert, ganz im kleinen Kreise von Tochter und Eltern. Denn Kohlhaase hatte entschieden, dass es sich doch besser ausmachen würde, ja überdies aus vielerlei Gründen mehr als empfehlenswert war, das Hochleben seiner Tochter ein paar wenige Tage zu verrücken und im Kreise der kurzfristig eingeladenen Gäste zu einer Soiree im Jagdsaal des Hauses zu laden.

Da er sich bisher nicht rühmlich mit derlei Festlichkeiten hervorgetan hatte, war davon auszugehen, dass trotz der wahrzunehmenden Spontanität seiner Einladung die meisten der Geladenen auch kommen würden, vielleicht sogar ihm den Vorzug vor bereits zugesagten anderen Gelegenheiten geben würden, allein der Neugier wegen und dem Instinkte folgend, es dann spektakulärer sich erweisen könnte als die sonstige Gesellschaftsroutine. So führte er denn auch selbst die Feder für jede einzelne Einladung, die er sorgfältig per hauseigenem Kontorsiegel verschloss und mit eilenden Boten den Herrschaften persönlich überbringen ließ.

Indes oblag es der Hausdame, die zuvor von ihm detailliert festgelegte Festlichkeit zu gestalten. Dies hatte er mit dem Hinweis verbunden, dass der Schneider, Metzger, Dekorateur, Weinhändler, Konditor oder auch die Musiker von ihm beauftragt wurden, die Rechnung ans Kontor zu stellen wäre, die Gattin sich somit um das Budget keine Gedanken zu machen bräuchte. Sie sollte es nur sicherstellen, dass alles am Abend zur Soiree nach seinen Vorgaben erledigt sei, so dass es an nichts mangelte, weder Lücken noch Entbehrungen zu beklagen wären. Auch stattete er dem Goldschmied einen schnellen Besuch ab, gab die großzügige Bestellung eines Ringes mit edelstem Stein in Auftrag, für dessen Rechnung jedoch nicht er geradestand, sondern diese vom ehrenwerten Herrn Dr. Krottenkamp beglichen werde, die Konkurrenz aber das Folgegeschäft einheimsen würde, sofern es Hinweise auf die Indiskretion des Meisters oder seiner Angestellten zu beklagen gäbe, der Bräutigam nicht selbst den Ring gewählt hätte. Der Goldschmied bekundete seinen Eid auf die Tora, Stillschweigen zu bewahren und alles in gewünschter Zeit sowie in höchster Wertigkeit auszuführen.

Kohlhaase nickte zufrieden, wusste er doch nur zu gut, dass sich die Nachricht um die anstehende Vermählung des Herrn Medizinalrates Dr. Johann Krottenkamp mit der Kaufmannstochter Viktoria Kohlhaase wie ein Lauffeuer entfachen würde, sobald die Ladentüre nach seinem Austritt hinter ihm zugefallen war. Dass er nun selbst es war, als Vater der Braut, der den Verlobungsring in Auftrag gab, tat, trotz der eigentlichen Unüblichkeit, der Sache keinen Abbruch. Im Gegenteil. Bekräftigte dieser Umstand doch vielmehr, wie hoch im Stand und auch tonangebend in der Bestimmung der Kaufmann über dem Medizinalrat zu verorten war. Denn nur wer derlei zu behaupten hat, kann sich die Freiheit herausnehmen, selbst noch Größe und Qualität eines Ringes zur Verlobung zu bestimmen, was gewiss sodann erst recht den Rückschluss auch auf alle anderen Konditionen bezüglich dieser Liaison zuließ. So geriet auch dieser Winkelzug zu seiner Ehre.

Viktoria selbst hatte sich zu einem fast durchgängigen Schweigegelöbnis entschieden. Sie sprach nur selten, gab einsilbig Antwort, meist dabei beschränkend auf ein „Ja“, ein „Nein“ oder im Zweifel dem „Wie Sie woll´n!“ Sie hatte schnell erkannt, dass ein Boykott zum Scheitern verurteilt war und beschlossen, das bitt´re Spiel zwar mitzumachen, doch eben ganz ohne eigenes Zutun, bar jedweder eigenen Einbringung. Man sollte sehen, dass sie sich nicht in Freiwilligkeit bewegte, und es war ihr ein Anliegen, die Suppe gut zu versalzen, jedoch keinen Anlass zur Korrektur ihres Handelns zu offerieren. Lächeln, Freude, Ausgelassenheit oder gar verliebte Blicke unterlagen keiner Befehlsgewalt. So lange sie zur Musik allein das Füßchen bewegte, wäre es der Forderung nach Tanz Genüge getan. Und was an eigener Erwartung ihr gegenüber und dem prahlerischen Getue der Gesellschaft gezollt sein würde, wollte sie mit größter Kühle und undurchsichtiger Miene durchkreuzen, damit sich Eltern und der fette Pfau in jeder Sekunde grämten, es aber keinen Vorwurf zu formulieren gäbe. Was Vater und zukünftiger Gatte daraus machen würden, war für sie nur bedingt von Interesse. In erster Linie galt es für sie, die Mutter zum schlechtesten Gewissen zu treiben, welches dieser nicht nur alle Tage verhageln sollte, ihr zudem den Schlaf zu rauben hatte. Stürzte doch mit ihrer Hilfe ihr eigen Fleisch und Blut ins Unglück. So sollte doch der Gerechtigkeit zuliebe die Mutter ein Stück dieser Hölle tragen, die ihrer Tochter nun zum Daueraufenthalt werden sollte.

Deswegen nahm das junge Fräulein weder Anteil beim Aufmaß des Schneiders noch bei den Anproben der Entwürfe. Stoisch ließ sie alles mit sich geschehen, und es wäre ihr nur recht gewesen, wenn sich die Maße und die Schnitte als fatal und falsch erweisen sollten, sie schief und krumm gekleidet der Belustigung aller anwesenden Damen dienen würde. So zog sie nur ganz minimal den Bauch ein, denn Taille wollte sie nicht zeigen. Und mit vorgezogenen Schultern, leicht nach vorn in sich gekippt ließ sie den Schneidermeister gänzlich falsch das Aufmaß nehmen, um hiernach sichergehen zu können, dass dieses Werk von ihm nur Spott einbrächte.

Und als die Frau Mama sie instruierte, um das Verhalten auf der Soiree, ihr nach besten Sitten das Verlangen der Gesellschaft um Proporz herum kundzutun, da lächelte sie in sich hinein und dachte, ein bess´res Lehrbuch könnt´ es gar nicht geben, zum Zwecke der Umkehrung des Guten in das Peinliche studieren zu können. Und so hörte sie die Worte, sah aufmerksam den empfohlenen Bewegungen zu, um sich nur das Gegenteil einzuprägen, damit es genügend Fettnäpfchen geben sollte, in die sie hineinzutreten sich vornahm.

Und für die anstehenden Sonntage, die allesamt nun für einen sittsamen Empfang des künftigen Gatten reserviert waren, hatte sie sich vielerlei zurechtgelegt, um entweder gar nicht zugegen sein zu müssen, oder wenn, dann nur für möglichst kurze Zeit. Migräne, Unpässlichkeit, Übelkeit, Kopfsausen waren dabei die naheliegenden Optionen. Sie erwog aber tatsächlich auch den Sturz vom Pferde mit anschließender Bewusstlosigkeit und notwendig werdender Ruhe über mehrere Tage. Sie überdachte auch die Wahrscheinlichkeit, sich böse zu erkälten, sofern sie dann des Nachts lange genug am offenen Fenster stünde, sich den kalten Wind auf Kopf und Brust wehen zu lassen, damit sie das Fieber niederstreckte. Doch war es derzeit noch ein warmer Sommer, der im Kalender stand. Und die Nächte waren mitnichten kalt, so dass sie dieses Vorhaben ad acta legte.

Und Fieber war auch anders zu erhalten. So fiel ihr ein, dass der Verzehr von Seife recht schnell und eindrücklich zu höheren Temperaturen im Körper führen sollte, und so nahm sie auch einen solchen Akt in ihr inneres Programmheftchen auf. Sie kannte zudem reichlich Heidesträucher mit Beeren, deren Genuss zur Übelkeit beim Konsumenten führten, und es war ihr dabei ganz unwichtig, ob sie durch derlei Geschehen sich selbst ganz böse Pein verursachte. Was war denn diese im Vergleich zu all den Schrecklichkeiten, die ihr die Zukunft bereitzuhalten gedachte?

Und alles aber stand unter einem festen Vorsatz: Dem Freier, dem siegesversicherten Gockel, nicht den kleinsten Ansatz liefern zu wollen, dass dieser sich der Illusion einer bevorstehenden Harmonie und Zuneigung hingeben mochte. Als Gegenstand des Geschäftsvertrages zwischen diesem und dem Vater war sie doch förmlich einem Getreidesack gleichgesetzt. Und so sollte es den künft´gen Gatten dann nicht wundern, wenn es eben einen solchen dann zu lieben galt. Nicht mehr, nicht weniger. Und wenn der liebe Gott es milde mit ihr halten sollt´, dann würd‘ der Kindersegen ausbleiben. Und dafür würde ihr in Zukunft dann so mancher Taler für den Klingelbeutel recht sein.

Ganz nebenbei, es geriet ihr zumindest anfänglich nur ganz oberflächlich zur Überlegung, hatte sie darüber zu sinnieren begonnen, worin der Grund wohl bestand, dass es Krottenkamp mit Verlobung und Vermählung so eilig hatte. Waren doch ihre seltenen und wenigen Begegnungen bisher nicht nur von kürzester Dauer, es mangelte diesen vor allem an Substanz und Liebelei. Kaum waren mehr als die üblichen Höflichkeitsworte gewechselt, nie Blicke ausgetauscht, kein Lächeln geschenkt, welches selbst minimalste Hoffnung auf Glückseligkeit aufkeimen ließ. Sie musste sich zwar eingestehen, dass es durchaus einer Einseitigkeit unterlegen sein konnte, sich der ältere Herr Medizinalrat in der Irrigkeit seiner Wirkung in sie verguckt haben mochte, doch so sehr sie sich auch anstrengte, ihr fiel partout nicht ein, bei welch einer der Gelegenheiten sie seinen Vulkan hätte entfachen können. Sie selbst hatte den dicken Herrn mit dessen fetten Fingern nur kurz einmal betrachtet, dies um sich sogleich abzuwenden und zu beschließen, diesen Arzt auch dann nicht zu konsultieren, wenn ihr das Leben davon abhänge. Hiernach vermied sie es erfolgreich, ihm in die Augen zu blicken oder gar in seiner Nähe zu stehen. Das war dann auch der eigentliche Grund, denn das offenkundig fortgeschrittene Alter, die glänzende Glatze und der Umstand, dass sie ihm doch einen ganzen Kopf überwachsen war, nahm sie schon deshalb gar nicht wahr, weil sich bei ihr zu keiner Zeit auch nur der Hauch eines Gedankens entwickelt hatte, in diesem Herrn mehr zu sehen als einen der Familie flüchtig bekannten Mediziner, der darüber hinaus nichts weiter war als ein fettleibiger Widerling.

Auch täuschte sie sich selbst mitnichten über die Tatsache hinweg, dass es ihr für eine Ausstellung als zu freiende Jungfrau an vielerlei Notwendigem fehlte, zumindest, wenn der Maßstab allein an weiblichen Insignien ausgerichtet war. Schließlich schaute sie tagtäglich selbst in den Spiegel, sah ihre blasse Haut, die Augenringe, die Dürre ihrer Statur. Und wüsste sie es selbst nicht am besten, so hätte auch sie sich die Schwindsucht attestiert, ganz so, wie es ihr häufig nachgesagt wurde. Nach dem Ausritt, ja, nach frischer Luft und vergnüglichen Stunden in der Natur, nach dem Schauen in die Wolken, nach stundenlangen Beobachtungen des Fluges von Bussard und Falke, da zeichneten sich farblich Vitalität und Frische auf ihrem Gesicht ab, und ihre Schönheit kam für diese Momente unübersehbar und fast auf magische Weise zum Vorschein. Doch da es ihr nicht zu Eigen war, laufend prüfend ihr Spiegelbild zu betrachten, mangelte es ihr an jedweder Eitelkeit und Überzeugung. Sie verstand sich als ein hässlich Entlein, zu dürr, um noch ein Schwan zu werden, zu dünn die Haut, um Begehrlichkeiten zu entfachen, und auch die häufigen Bekundungen ihrer Frau Mutter um das vermeintliche Gegenteil und dem Verweis auf noch fehlende Reife sowie die Zuversicht, dass sich jedes Manko in naher Zukunft von allein in wahre Schönheit wandeln werde, wog sich im gleichen Teil mit den nicht selten gehässig klingenden Wertungsnoten ihres Herrn Vaters auf.

Schon am Kindsbett hatte dieser seinen Unmut nicht für sich behalten, dass ihm statt eines Sohnes nur ein Mädchen geboren war. Und dieses, mickrig und mit wenig Gewicht, auch noch das einzige in der Reihe seiner Nachkommen bleiben sollte, da es der Mutter fortan versagt wäre, nach der Schwere der Geburt ein weiteres Mal eine Leibesfrucht entwickeln zu können. So schien Gott ihm also keinen Stammhalter gönnen zu wollen, und er musste sich mit einem Mädel abfinden, was ihm all diese Zeit nie recht gelang. Und da ihm sein Selbstmitleid allzu häufig näher lag als Einsicht und Gerechtigkeit, zürnte er so manche Stunde um das Ausbleiben eines Sohnes, den er gewiss zur rechten Reife geführt haben würde.

Was sollte er sich auch einem Töchterchen hingeben? Ein Kontor würde dieses nie betreten, ein Geschäft nie unter Dach und Fach bringen können, und all die jahrelange Arbeit, ein Handelshaus mit bestem Ruf und anschaulicher Finanzkraft zu etablieren, war am Ende für die Katz, wenn sich der Deckel über ihm schließen sollte, nur der Verkauf des Erbes dann zur Debatte stehen würd´. Zu allem Übel addierte sich für den Kaufmann schnell auch der Umstand, dass neben der Unfähigkeit des Kindes, in den Stand des ehrbaren Kaufmannes gelangen zu können, auf diese Art dann für die Mehrung des Erfolges zu sorgen, ein Mädel ja sogar gegenteilig kostet, und jede Aufwendung in Bildung und Anstand es nur noch zur Folge hätte, dass sich als Brautwerber eben bess´re Herren der Gesellschaft einfinden würden, wodurch eine immer kräftigere Mitgift aufzubringen wär´.

Gewürze aus Indien, Safran aus Persien, Pelze aus Russland, Seide aus China, Teppiche aus Levantinen, Silberwaren aus England, Marmor aus Italien, Parfüme und Essenzen aus Frankreich oder auch nur Käse aus Holland – all diese Waren hatten einen Preis im Handel. Mit Geschick und guter Kenntnis war stets mit Gewinn bei Weiterverkauf zu rechnen. Doch ein dürres Mädel musste schon mit teuerstem Geschmeide behangen werden, um das Auge des Interessenten von der Mangelhaftigkeit der Trägerin abzulenken. So war es für ihn bald schon klar, dass das Kind, das ihm die Mutter schenkte, ihm ein sicheres Minusgeschäft bedeuten werde.

Und ganz obendrauf kam ihre Widerspenstigkeit hinzu, ihr allzu eigner Kopf, der sich nicht selten spürbarer Opposition hingab und es immer wieder nötig werden ließ, dass an Respekt erinnert werden musste, es diesen dann auch häufig tatkräftig einzufordern bedurfte. Statt sittlich Nähzeug zu gebrauchen, statt weiblich´ Tugenden zu lernen, hielt es das Fräulein gerne mit dem Vertun von Zeit und Energie, indem sie den Flug von Federvieh, vom Huhn bis auch zur Gans und Ente, dann später Spatz und Amsel, seit kurzem auch den Bussard und den Falken zu beobachten pflegte, um hiernach in dümmlichster Weise vom Traum eines Menschenfluges zu schwadronieren, was gewisslich nah des Irrsinns liegen würd´. Wenn Gott es gern gesehen hätte, dass Menschen fliegen sollten, dann hätte er diesem Flügel verabreicht, und es wären wohl die Vögel, die dann erdgebunden verweilten.

So hielt er es denn für durchaus denkbar, dass das Kind im Zuge der schweren Geburt einen Schaden davongetragen hatte, und es wurde ihm immer wieder schwer um die Vorausschau, sie dennoch passabel unter den Hut bringen zu können, wohlgemerkt ohne dabei zu viele Taler vor des Pastors Ehesegnung an den künft´gen Schwiegersohn berappt zu haben.

All das war der jungen Frau bekannt. Zum Teil weil´s offen ausgesprochen längst wie ein aufgeblättertes Kartenspiel zu Tische lag, zum anderen war ihr zwar die Schönheit nach eigenem Bemessen nicht in gleicher Üppigkeit gegeben wie´s ihr wohl zum Ausgleich mit Verstand gegeben ward. So hörte sie manches, auch wenn sie nicht alles sah. Doch spürte sie zuhauf, was an Wertung ihr zuteil ward, trotz mannigfaltiger Vorsicht der Flüsterer, es im Verborgenen zu halten. Und klares Wissen, Gefühltes in Ergänzung, ließ mit der Zeit ein treffendes Päckchen schnüren, welches das Gesamtbild über sie als Sendung trug.

Auch sah sie schon als junges Ding den Vorteil in der Täuschung. Dies nicht aus Hinterlist oder zur Erfüllung schlechter Absichten. Derlei Züge wies ihr Charakter gar nicht auf. Hingegen aber hatte sie zu lernen verstanden, dass es ihr leichter dann erging, wenn and´re sie für dümmlich hielten, für träge im Gehirn. Vor allem galt die Taktik einem Zwecke, den Vater von dessen Neigung zu allzu harter Strafe abzuhalten, denn als strafbar konnte nur der Vorsatz oder gröbere Fahrlässigkeit bemessen werden, die pure Dummheit ja auf ganz natürliche Weise zum Freispruch führte. Sie musste nämlich nicht selten des Vaters Neigung zum Jähzorn spüren, und erst mit dem Älterwerden legte sie Zug um Zug das Bildnis einer geistig Trägen zugunsten einer langsam eingestellten Verständigen ab, die nun aber von großer Kindlichkeit und Träumerei getragen wurde, und somit es auch noch nicht zuließ, sie ernster zu nehmen, als es ihr im Geheimen zustand.

Mit dem Vater war nicht gut Kirschenessen. Auch schlug er gern und häufig. Sie war damit nicht allein, denn auch die Dienstschaffenden im Hause spürten so manches Mal die Gerte, den Stock oder die flache Hand. So geriet es auch stets dazu, dass sich das Personal die Klinken in die Hände reichte, beim Gehen wie beim Kommen, und nur die Köchin war geblieben, was Viktoria darin zu begründen vermochte, dass die Mamsell wohl an die 250 Pfund zur Waage brachte und stets ein Messer in der Küchenschürze trug.

Ganz fern, sie war noch sehr jung, und es lag fast in Gänze im Dunklen, wähnte sich die Tochter einiger Besuche ihres Vaters in ihrem Bettchen. Und es war ihr heut noch so, als schmuste dieser ganz allerliebst mit seinem Töchterlein, gab Küsschen, führte streichelnd die Hände auf und ab. Doch schien´s der Mutter nicht zu behagen, denn was Viktoria noch im Gedächtnis trug war ein heftiges Wortgewitter, unter dem der liebende Vater aus dem Bette sprang und es fortan unterließ, sein Bedarf am Kindesschmusen noch einmal anzumelden.

Und was den Schulverlauf anbelangte, so war dieser von größtmöglicher Ambivalenz zu beobachten, was Viktoria beflissen verstand, den Eltern im Verborgenen zu halten. Doch die Fächer, nach ihrer Ansicht bar von Substanz, ließ sie an sich vorüberzieh´n, mit äußerlicher Geduld und gelegentlicher Teilnahme, doch innerlich die Langeweile bekämpfend. So sträubte sie sich nicht in Offenkundigkeit des Erlernens von Flöte und Geige, doch ward es dem Lehrer recht schnell klar, dass dieses Kind kein Paganini werde, ihr auch einfach nur ein Handfeger hätte überlassen werden können, denn dieser erzeugte in ihren Händen wohl denn tatsächlich bess´re Töne fürs Gehör. Im Chor des Lyzeums schnöde Liedchen zu trällern ward ihr sogar zum Graus geworden, drum sang sie schnell mit Absicht schief, um fortan in diesen Stunden nur noch beizusitzen oder die Notenheftchen zu sortieren, was ihr bald auch genommen werden sollte, da sie mehr Chaos produzierte als dem Unterfangen Sinn zu geben vermochte.

Sentenzen, Prosa, Poesie brachten das Kind stets zum Gähnen. Und während die anderen Schüler allesamt das Schulfach Malen und Gestaltung als Herzerfrischung verstanden, hielt es Viktoria nach ein paar hingeschmierten Pinselstrichen nicht selten lieber damit, die stets mitgeführte Lupe zu verwenden, um Farben, Papiere, Hölzer oder Kreiden in Vergrößerung besser auf Zusammensetzung zu betrachten, um Eigenschaft und Verhalten des untersuchten Objektes zu ergründen. So war es denn auch nicht verwunderlich, dass sie ihr sonstiges Verhalten mit flugs entfachter Leidenschaft und höchster Beteiligung bei Stoffen wechselte, die im Zusammenhang mit den Phänomenen der Natur zu stehen schienen. Sie hörte besonders gut zu, sobald es um derlei Gesetzmäßigkeiten ging, die es ihr ermöglichten, ihre zuvor und fürderhin gemachten Beobachtungen dadurch zu erklären. Sie geriet ins Schwärmen bei den Theorien um Raum und Zeit, dann aber war doch vor allem ihr Interesse schier unermesslich, wenn es um Materien oder Energien ging.

Gerne verbrachte sie, natürlich stets im Geheimen, ihre Zeit mit der Einschau in das Räderwerk der großen Standuhr. Dort überlegte sie lange Stunden, was es wohl mit der Anzahl der Zähne auf einem großen Rad und der Übersetzung auf die kleinen, sich zum Teil dann gegensätzlich drehenden Rädchen, auf sich hatte. Und der Antrieb durch Ketten und Gewichte, mit Federn, Schlagwerk und Glockenspiel waren ihr Freude und ließen sie die Funktionen bedenken, denn am Ende stünde die Zeit in ebensolcher Richtigkeit auf dem Ziffernblatt zu lesen wie der Stand des Mondes. Dagegen nun die süßlichen Gedichte, schmalzig und schwülstig in Worten und Sinnen verdreht, als Genuss für Verstand und Seele zu empfinden, ward ihr einfach nicht gegeben, und es düngte ihr als große Nutzlosigkeit und sinnentfremdetes Zeitvertun sich derlei hinzugeben.

Und dennoch wiesen ihre Zeugnisse durchgehend recht passable Benotungen auf, die zwar nicht auf den ersten Plätzen lagen, doch auch nicht sehr viel schlechter daherkamen. Dem Vater hatte es deshalb einmal dazu bewogen, dem Lehrkörper große Nachsicht und auch sicher Mitleid zu konstatieren, denn nach seinem väterlichen Dafürhalten waren die guten Benotungen nicht anders zu erklären, da sein Töchterlein gewiss nicht mit überschüssig vorhandenem Verstand ausgestattet war, was er ja selbst, nebst seiner Gattin, ganz zum Bedauern ihrer selbst schon früh zur Feststellung gebracht hatten. Doch wär´s ihm nie in den Sinn geraten, sich nun über derlei gut gemeinte Zugeständnisse zu beklagen, vielleicht noch der Gerechtigkeit geschuldet. Stets nahm er gern den angebotenen Bonus, derlei nur ein Cretin pro bono auszuschlagen gedenken würde.

So traf dann etwas bisher ganz Außergewöhnliches zusammen, dass nämlich ein Entscheid des Vaters auf Wohlgefallen seiner Tochter stieß. Dieses Ereignis lag nun ein glattes Jahr und etwas mehr zurück, als der Kaufmann beschloss, es wäre nun nicht mehr nötig, das Kind dem Lernen weiter auszusetzen, denn besser sollte sie doch nunmehr von der Mutter auf das Leben in der Praxis vorbereitet werden. Es fände schließlich kein Mann mit eigner Ehre und guter Profession daran Wert, wenn das geehelichte Frauenzimmer mit allzu großer Bildung prahlte, und dafür wenig Eignung für Haus und Küche, Gesellschaft oder die strenge Kontrolle des Gesindes nebst Dienstpersonen und Mamsells aufwies. Die Mutter sollte nunmehr Sorge für eine brauchbare und passable Ausbildung tragen, und es wäre nun ganz und gar seiner Gattin überlassen, auf welche Weise sie dem Wunsche dann gerecht zu werden gedachte.

Viktoria selbst war einverstanden, trug ihre Meinung jedoch nicht offenkundig vor. Denn es stand zu befürchten, dass der Vater den für sie doch vorteilhaften Beschluss gleich wieder deshalb überdenken würde, weil er dem ungewohnten Einverständnis seiner Tochter mit Misstrauen begegnen würde, welches ihn gewiss zur Umkehr seiner Order bewegt hätte. Das Ende ihres Schulbesuches kam einer Befreiung gleich. Zwar würde sie es missen, die Naturwissenschaften nicht weiter zu ergründen, doch war die Last der anderen Fächer, die Fatigantien wie sie derlei zu bezeichnen pflegte, mit deren elend Langeweile ein guter Tausch dagegen. Und letztlich hatte sie sehr wohl bemerkt, dass es in ihrem Lieblingsfach kaum mehr an dieser Schule zu vermitteln gab, als sie ohnehin bereits schon wusste.

Frau Mama war in dieser Frage mitnichten ebensolcher Meinung, dass es nun die bess´re Bildung sei, statt das Französische zu komplettieren, statt Literaturen zu studieren, nun der Mamsell beim Schälen der Kartoffeln auf die Finger zu schauen oder die missratenen Bügelfalten in der Schürze des Dienstmädchens zu monieren. Das war gewisslich auch dem Umstand geschuldet, dass Katharina Kohlhaase, als sie noch Sonnenberg hieß, jugendlich und mitunter noch ebenso verträumt war, wie es denn heute ihre Tochter zeigte, in ebensolcher Weise recht früh das Lernen beendete und dieses so manches Mal danach reuig betrachtete. Doch ganz entgegen des Motives, welches nun ihr eigenes Kind zu akzeptieren hatte, lag ein anderes dem Vater ihrer selbst im Kopfe. Als Händler und Fabrikant besten Rums verschlug es ihn über die Jahrzehnte auf so manche Reise über die große See in Länder mit Palmen und Zuckerrohr. Und so entschied der liebe Vater, das Töchterlein an seiner Seite auf eine solche große Fahrt mitzunehmen, um dieses ein trefflich Abenteuer erleben zu lassen, zudem für´s Leben gut zu lernen. Das blieb zwar nicht ohne Tadel anderer, denn derlei Unterfangen wäre doch eher den Männern zu überlassen, was ihn aber nicht sonderlich zu stören vermochte. Und schließlich gab es gar kein Söhnchen, so lief derlei Kritik ins Leere.

Die junge Katharina Sonnenberg verbrachte eine wunderbare Zeit mit ihrem Vater, sah ferne Länder, lernte viel über Zucker, Melassen, Destillen und Rum. Sie war dabei, als ihr Vater Qualitäten prüfte, feilschte, Handschläge vergab, Kontrakte zeichnete und Geschäfte im Kreise der Verkäufer begoss. Sie hörte fremde Rhythmen, sah exotische Tänze, versuchte sich an Bongos und sah den kleinen knopfäugigen Kindern auf den Dorfplätzen beim Spielen zu. Kurzum, es war ganz außerordentlich gefüllt mit Allerlei an Abenteuern und eben damit eine wunderbare Zeit, an welche sie sich zuweilen noch recht intensiv zu erinnern pflegte, meist dann, wenn ihr Dasein an der Kohlhaas´schen Gattenseite trist und häufig auch betrüblich war.

Dann schwebte sie im Kopf und auch im Herzen zurück an jene Orte, sah alles wieder ganz wie neu, vernahm die schönen Rhythmen und wog sich in Gedanken dazu im Takt. Als sie zur Heirat schreiten sollte, war´s ihrem Vater weder bös damit, noch suchte er den Vorteil. Er sah nur das Wohl in allem, und so entschied er aus Fürsorge die Vergabe der Hand seiner Tochter an einen ehrbaren Kaufmann, mit dem ihn schon gute und ehrliche Geschäfte verbunden hatten. Und sein Teil zum Gelingen sollte ihn nicht als Knauser sehen lassen. So nahm er einen Partner ins Geschäft, der hierfür einen kräftigen Zuschuss einzubringen hatte. Und diesen reichte der Vater an den neuen Gatten und Schwiegersohn durch, damit es schnell möglich werden sollte, dass beide, Eidam und Tochter, sich nun als Familie in bester Lage und Sicherung empfinden konnten.

Doch zum großen Unglück aller war es dem Vater nicht gegeben, das Aufgehen seines Plans mit eigenem Aug´ zu sehen. Kurz nach der Vermählung, noch vor der Geburt seiner Enkelin, verfiel der alte Sonnenberg urplötzlich dem Wahn. In einem Irrsinnsanfall nahm er den Feuerhaken vom Kamin, zerschlug mit kräft´gen Hieben den Schädel seiner Gattin, und mit blutig Händen bestieg er sodann den Kirchturm, um sich von diesem in die Tiefe und zu Tode zu stürzen.

Entsetzen und Trauer grassierte in vielen Herzen. Der neue Partner im Rumhaus der Sonnenbergs aber heimste sich mit linkisch Advokatenhilfe flugs auch den and´ren Teil des Handels ein, und es war der einz´gen Erbin nur noch gegeben, ein kläglich Almosen zur Abfindung zu erhalten, denn des toten Vaters Kontrakt mit dem neuen Partner war für´s Gute nur verfasst, und schlechte Optionen fehlten in der Vorausschau gänzlich, was sich der vom Partner vorsorglich dazu gerufene Advokat galant zunutze machte, womit dieser gewisslich ein hübsches Honorar dafür kassierte.