Das geliehene Glück des Samuel Goldman - Stefan G. Rohr - E-Book

Das geliehene Glück des Samuel Goldman E-Book

Stefan G. Rohr

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Beschreibung

Über Glück hatte Samuel Goldman die meiste Zeit seines Lebens bisher nie wirklich nachgedacht. Und das obwohl er, wie alle stets bekundeten, wirklich mehr Grund dazu gehabt hatte, als jeder andere, den sie kannten. Aber in einem einzigen, kurzen Augenblick, er war gerade sechsunddreißig Jahre alt geworden, hätte er eigentlich selbst, mit einem Mal, die ganze Gnade eines unergründlichen und einzigartigen Glücks erkennen können. Doch bis dahin bedurftes es eines langen und beschwerlichen Weges, den er sich so, wie er sich ergeben sollte, ganz gewiss nicht gewünscht hatte. Es begann alles, wie es eben bei Sam Goldman fast schon üblich war. Mit unglaublich großem Glück. Und wie anders hätte es auch bezeichnet werden können? Als Zufälligkeit etwa, emotionslos und schnöde? Vielleicht als logische Folge verschiedener Gegebenheiten, die synergetisch verbunden als physikalische Zusammenhänge erklärbar waren? Aber wie man es auch drehen oder wenden wollte, ihm wiederfuhr etwas, das überall auf dem Erdball schlussendlich gleich verstanden wurde. Es war ganz einfach pures Glück. Denn er hatte von 113 Passagieren als einziger einen Flugzeugabsturz überlebt.

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Stefan G. Rohr

Das geliehene Glück des Samuel Goldman

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das geliehene Glück des Samuel Goldman

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

TEIL 2

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

TEIL 1

TEIL 3

Impressum neobooks

Das geliehene Glück des Samuel Goldman

Prolog

Über Glück hatte Samuel Goldman die meiste Zeit seines Lebens bisher nie wirklich nachgedacht. Und das, obwohl er, wie alle stets bekundeten, wirklich mehr Grund dazu gehabt hatte als jeder andere, den sie kannten. Aber in einem einzigen, kurzen Augenblick, er war gerade sechsunddreißig Jahre alt geworden, hätte er eigentlich selbst, mit einem Mal, die ganze Gnade eines unergründlichen und einzigartigen Glücks erkennen können. Doch bis dahin bedurfte es eines langen und beschwerlichen Weges, den er sich so, wie er sich ergeben sollte, ganz gewiss nicht gewünscht hatte.

Es begann alles wie es eben bei Sam Goldman fast schon üblich war. Mit unglaublich großem Glück. Und wie anders hätte es auch bezeichnet werden können? Als Zufälligkeit etwa, emotionslos und schnöde? Vielleicht als logische Folge verschiedener Gegebenheiten, die synergetisch verbunden als physikalische Zusammenhänge erklärbar waren? Aber wie man es auch drehen oder wenden wollte, ihm widerfuhr etwas, das überall auf dem Erdball schlussendlich gleich verstanden wurde. Es war ganz einfach pures Glück. Denn er hatte von 113 Passagieren als einziger einen Flugzeugabsturz überlebt.

Samuel Goldman erfüllte sich gerade einen lang gehegten Wunsch. Eine vierwöchige Reise querbeet durch Südafrika, von Süd nach Nord, von West nach Ost, durch eine faszinierende, für ihn fremde Welt. Das war zumindest sein Plan. Auf dem Flug von Johannesburg nach Durban, seinem zweiten Reiseziel, geschah es. Und es ging rasend schnell, ohne Vorwarnung, urplötzlich.

Der Flug war bereits fast am Ziel angekommen, die Maschine befand sich nur noch wenige Kilometer von der Landebahn entfernt und war bereits auf achthundert Meter Höhe gesunken, als plötzlich ein fürchterlicher Ruck das gesamte Flugzeug erschütterte. Unmittelbar darauf drehte der Flieger stark nach rechts und begann leicht zu trudeln. Die Landschaft unter ihm kam immer schneller auf ihn zu. Es schien, als ob ein riesiger Magnet das Flugzeug anzog, während die Piloten verzweifelt versuchten, die Maschine wieder zu stabilisieren, und das schier Unvermeidliche zu verhindern.

Unter den Passagieren brach Panik aus. Laute Schreie mischten sich in das Tosen der Triebwerke. Sam saß allein am Fenster rechts in der letzten Reihe, und seine finalen Gedanken vor dem Aufprall auf den Boden kreisten um die Frage, ob er wohl sofort tot sein würde. Und unter dem zornigen Gesang der Götter, Sam hatte bereits das Bewusstsein verloren, hatte die Gravitation ihr Soll erfüllt, und die über vierzigtausend Kilogramm schwere Aluminiumhülle in einen Sarg verwandelt, der mit unvorstellbarer Gewalt am Erdboden zerschellte.

Wieviel Zeit vergangen war, bis Sam seine Augen wieder öffnete, wusste er nicht. Er sah zunächst nur helles Licht. Dann nahm er ein ziemlich zerstörtes Maisfeld wahr, dass er trotz des dunklen Rauches, der fast allgegenwärtig war, gut erkennen konnte. Er saß immer noch angeschnallt auf seinem Flugzeugsitz. Direkt vor ihm war nichts mehr, nur noch klaffende Leere, und es war ihm fast so, als säße er im vordersten Waggon einer Achterbahn.

Was er sah, als er sich umschaute, war ein apokalyptisches Desaster. Die Maschine war offensichtlich in mehrere Teile zerborsten, das konnte er unzweifelhaft erkennen. Einige Teile brannten lichterloh, und beißender Geruch von Kerosin, Gummi und Tod stieg ihm in die Nase. Sam bekam kaum noch Luft und er ahnte, dass es endgültig mit ihm vorbei sein würde, wenn er nicht bald hier wegkäme. Er prüfte vorsichtig, ob er Verletzungen an sich feststellen konnte. Hatte er Schmerzen? Blutete er? Konnte er sich noch bewegen? Und er vernahm keinerlei Anzeichen dafür, dass es ihm, außer seiner misslichen Lage, nicht gut gehen würde. Nur schnell hier raus, das war sonnenklar.

Um sich seiner Lage zu vergewissern, drehte er langsam den Kopf. Scheinbar war das Heck des Flugzeugs zuerst abgerissen und zudem auch noch mittig zum Gang zwischen den Sitzen in zwei Teile geborsten. Links von ihm war die gegenüberliegende Sitzseite ebenso verschwunden. Der mit ihm übriggebliebene Teil des Fliegers lag schräg auf dem Maisfeld und ihm kam es nun so vor, als säße er in einem Kinosessel und sähe seinen eigenen Katastrophenfilm. Da vernahm er die immer lauter werdenden Sirenen, die aus der Ferne ankündigten retten zu wollen, was noch zu retten war.

Sam war allein. Um ihn herum war einfach nichts mehr, und auch hinter ihm, in der Pantry im Heck vor dem Ausstieg, war es totenstill. So sehr sich Sam nun bemühte, den Sitz, der ihn mit stoischer Gewalt an sich fesselte, verlassen zu können, gelang es ihm partout nicht loszukommen. Später erinnerte Sam sich noch sehr genau an diesen Moment, besonders immer dann, wenn er von Berufsbesserwissern – meist Journalisten – gefragt wurde, warum er bloß unverändert in seiner Position verharrte. Sie selbst, wie alle anderen, wären doch sofort aus den Trümmern in Sicherheit geflohen, weit weg vom Unglück mit einem sicheren Abstand zur Absturzstelle. Eine unsichtbare Kraft hingegen, vielleicht war es auch ein sadistischer Dämon, hielt ihn gefangen, und forderte ganz sicher seinen Tod.

Sam aber dachte in dem Moment nicht etwa an die Gefahr eines ausbrechenden Feuers in seinem Wrackteil. Auch fragte er sich nicht, ob gleich der tosende Knall einer Explosion das Letzte sein würde, was er auf dieser Erde vernehmen würde. Eigentlich dachte er jetzt gar nichts mehr. Vielleicht, so sagte er einmal im Nachhinein, wollte er instinktiv abwarten, ob er tatsächlich noch zugegen war, und nicht etwa das Ganze nur noch auf seiner Reise ins Jenseits beobachtete. Denn Sam war sich in diesem Moment alles andere als sicher, ob er wirklich noch am Leben war.

So verlor er unmittelbar jegliches Zeitgefühl, so auch wie lange es brauchte, bis die Rettungskräfte ihn entdeckten. Es waren wohl nur Minuten, denn die Einsatzkräfte des Flughafens Durban waren schnell vor Ort. Die Absturzstelle lag schließlich nur einige hundert Meter vor der Sicherheitszone vor dem Flughafenareal, im Vorfeld der Landebahn. Doch was sind in einer solchen Situation Minuten? Sie blähen sich auf wie Monate oder Jahre, mutieren zu einer bitteren Kostprobe der Unendlichkeit.

Mit Eintreffen der Helfer kam bei Sam der Filmriss, er verlor das Bewusstsein. Erinnerungen an seine Befreiung aus dem Wrack oder seine Einlieferung in das Krankenhaus hatte er deshalb nicht. Er erwachte irgendwann einfach wieder. Da wusste er, dass er noch lebte. Ihm kam es nur so vor, als schlüge er die Augen an einem Morgen nach einer großen körperlichen Anstrengung auf. Sein Körper fühlte sich ermattet, ausgelaugt und schlaff an. Gleichzeitig aber auch leicht, fast schwerelos. Er fühlte, dass er einer großen Belastung ausgesetzt gewesen sein musste. Aber Schmerzen hatte er gottlob keine. Ebenso meldete sein Gehirn ihm weder erkennbare Einschränkungen, noch Anomalien. Nur seine Augenlider waren weiterhin schwer, und ihm wollte es einfach nicht gelingen, diese so lange aufzuschlagen, bis er seine Umgebung erfassen konnte. So vernahm er zunächst allein die Stimmen um sich herum. Es mussten die Ärzte und Krankenschwestern sein, die sich um ihn bemühten. Er hörte das Piepsen eines Gerätes, wie es rhythmisch und gleichbleibend das Signal seiner Herzschläge wiedergab. Ja, er war offenbar in einem Krankenhaus.

Sam aber hatte auch jetzt weder Angst noch Panik. Er vermutete, dass er sich gerade in der Phase des Aufwachens befand, und ging davon aus, dass es nur noch wenige Augenblicke dauern würde, bis er wieder ganz bei Bewusstsein war. Und er konzentrierte sich deshalb auf alles, was einen Schlafenden von selbst erwachen lassen würde, denn er war festen Willens, sobald es ginge, die Augen ganz aufzuschlagen.

Er bemerkte dabei selbst, dass er immer wieder zurück in eine dumpfe Tiefe versank, aus der er aber sogleich wieder aufzutauchen das Gefühl hatte. Und dann, nach einigen Malen des Ab- und wieder Auftauchens, öffnete er seine Augen und die Schwere der Lider war fort. Samuel Goldman war wieder bei vollem Bewusstsein.

Die Ärzte erkundigten sich sogleich nach seinem Befinden. Erste Untersuchungen wurden vorgenommen, Reaktionstests unternommen, seine Wahrnehmungsfähigkeit geprüft, und man kam zu dem Ergebnis, dass ihm nichts fehlen würde. Sam war, abgesehen von Schwäche und psychischer Belastung, offensichtlich kerngesund, und hatte keinerlei Verletzungen davongetragen. Sein vorausgegangener Bewusstseinsverlust wurde deshalb auch als ein schockbasiertes Kurztrauma verstanden. Sams Gehirn habe sich für einen Moment selbst ausgeklinkt, zum eigenen Schutz, und hatte alle Wahrnehmungen, die mit der Gefahr im Zusammenhang stehen, kurzzeitig blockiert.

Schnell wurde Sams Überleben zur Sensation. Er hatte unglaublicher Weise als einziger von 113 Passagieren und 5 Besatzungsmitgliedern überlebt. Und das auch noch völlig unbeschadet. Nicht einmal eine Schramme hatte er davongetragen, lediglich einen Bluterguss dort, wo ihn der Sicherheitsgurt im Sitz gehalten hatte. Alle Anderen in der Unglücksmaschine waren beim Aufprall oder unmittelbar hiernach ums Leben gekommen. Waren sie nicht beim Aufprall zerrissen worden, starben die Unglücklichen in den Flammen.

Die Reporter drängten sich vor dem Krankenhausportal oder kamen mit Tricks als Ärzte verkleidet direkt in sein Krankenzimmer. Man stellte Polizisten vor seine Tür, und nur die Unfallermittler sowie einige Manager der Airline hatten Zutritt. Sam fühlte sich gesund, und so bat er die Verantwortlichen der Fluggesellschaft, dass sie ihm doch eine baldige Reise nach Hause organisieren mögen. Doch so schnell wollte man Sam nicht loswerden. Die Medien waren ganz verrückt nach seiner Geschichte, und fast stündlich trudelten Angebote für seine Exklusiv-Story an sein Krankenhausbett.

Für die Airline war Sam so etwas wie ein Qualitätsbeweis. Trotz des Absturzes – welche Ursache für diesen dann auch immer festgestellt werden würde – gab es Überlebende. Sicher, nur einen, aber immerhin. An diesem könnte die Fluggesellschaft nun belegen, wie verantwortlich man in derlei Situationen mit der Angelegenheit umgeht. Und nach der Wahrscheinlichkeitstheorie war die Fluglinie mit diesem Absturz nun für mehrere Jahrzehnte vor weiteren Unglücken gefeit. Jedenfalls statistisch. Das war immerhin eine gute Nachricht. So ließen die Obersten der Airline, vom Vorstand bis zum Pressesprecher, auch keine Gelegenheit aus, sich mit Sam vor die Kameras zu stellen und ihr Bedauern über dieses schreckliche Unglück auszudrücken. Am glücklichsten aber waren sie über ihren glücklichen Überlebenden. Und so etwas lässt sich ein Marketingleiter nicht so einfach entgehen.

Die Bilder gingen in den Nachrichten um die Welt. Und in der fernen Heimat von Sam begaben sich die TV-Sender und Redakteure jener Zeitungen, die etwas auf sich hielten, auf die Jagd nach diesem gruselig schönen Aufmacher. Diese Sensation versprach mit reichem Bildmaterial und dramatischen Berichten, ein Garant für steigende Quoten und Auflagen zu werden. Mit dem einzigen Überlebenden dieser Katastrophe als Hauptdarsteller. Ein gefundenes Fressen, ein wirklich schöner Kuchen. Und es ging jetzt darum, einen möglichst großen Teil für sich zu sichern. Mit Kirsche, das versteht sich!

Sam hatte riesiges Glück gehabt. Wieder einmal. Selbst er musste das jetzt zugeben. Aber dieses Mal sollte es noch sein ganzes Leben verändern.

Kapitel 1

Samuel Goldman war ein eher unauffälliger Mann, den man landläufig wohl als Durchschnittstyp bezeichnen konnte. Das Maß der ihm zuteil gewordenen Aufmerksamkeit lag eher im Mittelfeld, was durchaus auch damit zusammenhing, dass das Kaleidoskop seiner Eigenschaften nicht polychrom ausgelegt war. Dafür stieß er im Gegenzuge aber auch deutlich weniger auf Widerstand in seinem Umfeld, erzeugte kaum Neid und schwamm weitgehend unbekümmert mit der Allgemeinheit mit. Er verfolgte so gut wie keine ehrgeizigen Ziele, strebte nicht nach Prädikatsexamen und Stipendium, nicht nach Pokalen, wollte weder Footballstar der High-School, noch heißester Schwarm aller Cheerleader werden.

Sam erkannte schon früh, dass er über keine herausragenden Talente oder gar Begabungen verfügte. Ihm war zwar ein durchaus über dem Durchschnitt liegender kluger Kopf gegeben, er lernte schnell und einfach, kam überall gut mit und niemand hätte behaupten können, Sam Goldman sei nicht gescheit. Den Drang aber, eine besondere Rolle hierdurch einnehmen zu wollen, war bei ihm schlichtweg nicht vorhanden. So gab es denn auch wenig Anlass für seine Eltern, ihn zu mehr motivieren zu wollen, als er von sich selbst aus leistete, denn es reichte ja allemal für gute Noten, später für einen recht passablen Abschluss an der High-School in Greenville, South Carolina.

Sie waren dennoch durchaus stolz auf ihren Sprössling, so zum Beispiel, als er dann doch einmal für die Football-Mannschaft nominiert wurde. Es tat nicht viel zur Sache, dass er nur als Ersatzspieler aufgestellt war, auch nie zum Einsatz kam, es zählte allein die Tatsache, der olympische Gedanke, und für den Rest sein durchaus geschmeidiger Durchmarsch auf dem Weg zur Universität. Der Besuch der Furman, natürlich auch in Greenville, verlief in der Regelstudienzeit und er erhielt, wie zu erwarten, problemlos sowie ohne Aufsehen seinen Abschluss als Master in der Fakultät der Wirtschaftswissenschaften. Seine Examensnote lag präzise am unteren Rand des oberen Drittels, und so begann er – man könnte fast meinen automatisch – seine Tätigkeit in der örtlichen Bank von Greenville. Denn etwas anderes, als in seiner Geburtsstadt zu bleiben, war ihm niemals in den Sinn gekommen.

Man könnte jetzt meinen, Sam wäre ein leicht unförmiger und zur Akne leidender junger Mann, spießig, etwas fahlhäutig, eher antriebsarm, und verfüge nur über mäßig ausgeprägte Phantasie. Mitnichten war dem so. Auch versteckte er keine schmutzigen Bildchen unter seiner Matratze, jedenfalls nicht für besorgniserregend lange Zeit. Er war auch auf keine andere Weise sonderbar oder skurril. Genau betrachtet war er sogar das ganze Gegenteil. Mit seinen fast 1,90 Metern und einer von der Natur ihm mitgegebenen athletischen Figur hätte er nicht nur einen idealen Sportler abgeben können, er wirkte so auch äußerst dynamisch.

Er war mehr als nur nett anzuschauen, hatte schöne, leicht gewellte braune Haare und erfreute sich des Gesichtes eines altgriechischen Kriegers. Seine Nase war schmal und gerade, vielleicht nur ein ganz klein wenig zu lang. Doch sie passte zu ihm, und war wahrscheinlich einer der entscheidenden Faktoren, dass ihn sowohl Männer als auch Frauen spontan als sympathisch empfanden. Seine Ruhe und vollkommene Eitellosigkeit ließen es für Fremde so erscheinen, als stünde er besonnen über den Dingen, stets mit einer gewissen Anmutung von angenehmer Ausgeglichenheit und wohltuender Souveränität. Aber er war sich seiner Wirkung lange Zeit alles andere als bewusst, und das Spielen mit Eigenschaften war in seinem Wesen einfach nicht verankert. Überhaupt nahm er sich ohnehin nicht besonders wichtig, es mangelte ihm einfach vollkommen an überzogener Selbstdarstellung oder gar narzisstischen Attitüden. Und er empfand es eher belustigend, derlei Verhalten bei anderen zu beobachten. Bei solchen zum Beispiel, die sich bereits mit Eintritt in die Grundschule für den Beruf des Nobelpreisträgers entschieden hatten, und deren Eltern deshalb vorsorglich schon einmal die Visitenkarten drucken ließen.

Sam war einfach mit seinem Leben, so wie es für ihn lief, völlig zufrieden. Er verspürte nie den Drang, Änderungen erzwingen zu müssen, hatte keine ausufernden Karriereziele und dachte bisher nicht im Traum daran, eine Familie zu gründen. Seine Beziehungen verliefen deshalb auch nicht so, wie es den jeweiligen Damen vorschwebte. Immer, wenn eine bestimmte Zeit des Zusammenseins vergangen war, wurde er mit ihren Zukunftsplänen konfrontiert, die ihm nicht recht geeignet schienen, seine aktuell empfundene Komfortzone im Tausch für diese aufzugeben. Zudem war seiner Ansicht nach das Artenspektrum und die Population potenziell geeigneter Aspirantinnen von ihm noch lange nicht ausreichend genug erforscht. In einem Land mit immerhin über 325 Millionen Einwohnern, von denen die Hälfte das passende Geschlecht aufwies, wollte er sich nicht voreilig festlegen. Seinen weiblichen Pendants gingen dann irgendwann die Lichter auf, und sie erkannten, dass Samuel Goldman wohl nicht der Richtige sein würde. Sie entschieden sich deshalb mehrheitlich, sich nach einem geeigneteren Anwärter für Familiengründung und Lebensgestaltung umzusehen, was in der Regel auch von Erfolg gekrönt war. Sam hatte nichts dagegen einzuwenden. So richtig verliebt war er zuletzt in der achten Klasse seiner High-School, was im Übrigen für ihn ohne nachhaltige Schäden blieb.

Auch beruflich hielt es Sam eher mit einer ausgeglichenen Gelassenheit. Eine Bank sei schließlich keine Gladiatoren-Arena, auch wenn es Kunden gab, die das anders sahen. Er war der Auffassung, nichts zu überstürzen, denn mit der Zeit richtet sich alles in gewünschter Weise und Dimension. Und so kam es dann auch – wieder fast automatisch bei ihm – dass er Leiter einer kleinen Filiale der Public Bank of South Carolina wurde, mit einem hübschen, gläsernen zwanzig Quadratmeter Eck-Büro, bei dem er im Bedarfsfall die Jalousien herunterlassen konnte, wenn er mit Kunden über das Hausdarlehen oder ein Fondssparpaket sprach.

Nun könnte noch einmal der Eindruck aufflammen, bei Samuel Goldman handelte es sich um einen eher trivialen Menschen, temperamentreduziert und mit dem Hang dazu, Lebenshürden zu umgehen, statt über diese risikofreudig und beherzt zu springen. Und auch das mitnichten. Sein attraktives Äußeres war schon das eine, und ließ es nicht zu, ihn der Gruppe von antriebsschwachen Menschen zuzuordnen. Er war auch kein mehläugiger Schlafwandler mit Wanderdünen-Charisma. Er war durchaus lebenslustig, humorvoll und eloquent. Er bediente sich zudem einer ausgefeilten und wohlklingenden Sprache und hatte einen Sinn dafür, diese mit intellektuellen Häppchen und Kostproben seiner Allgemeinbildung anzureichern. Das geschah aber nie aufgesetzt, nie mit künstlichem Bemühen, nie mit dem Ziel, sich selbst mit einer überzogenen Selbstdarbietung zu erhöhen. Vielmehr war es ein ganz einfacher Teil seines Wesens, wenig kapriziös und frei von dem Verdacht der Beifallhascherei. Weder Arroganz noch Überschläue wurde jemals von seinem Gegenüber empfunden, vielmehr die angenehme Erkenntnis, dass es sich bei ihrem Gesprächspartner um einen gebildeten Mann handelte, frei von Eitelkeit, offen, ohne Niedertracht und Hintergedanken. Kurzum: Man konnte ihm spontan vertrauen. Direkt und zielsicher, mitunter leicht süffisant, nie aber beleidigend oder gar anmaßend, schaffte er es in der Gesellschaft anderer spielend als unterhaltsam und schlagfertig zu gelten. Alles zusammen genommen – Geist, Bildung, Körpermaße, Attraktivität, Humor und Eloquenz – war Samuel Goldman alles andere als vielleicht zuvor vermutet.

*

Als die Götter aus ihren Füllhörnern das Glück über der Menschheit verteilt haben, stand Samuel Goldman durchaus auf einem der bevorzugten Plätze. Es fehlte allerdings auf den ersten Blick ein wenig an publikumswirksamer Spektakularität, welches das bittersüße Drücken in der Magengegend verursacht, wenn vom Glück anderer Menschen Kenntnis erlangt wird. Nicht jeder Klumpen Mist, den Sam in die Hand nahm, wurde unversehens zu Gold. Nein, es war viel profaner, ja geradezu trivial. Das normale Pech, welches jedem Menschen immer wieder und in unzähligen Lebenssituationen widerfährt, welches mal größer, meist aber auf der Skala von eins bis zehn die 2,5 nicht übersteigt, dieses Pech war ihm nahezu unbekannt. Es wäre nun falsch anzunehmen, dass es Sam nicht auch passiert war, einmal eine unschöne Schicksalsfügung zu erleben. Doch derlei erfolgte bei ihm in homöopathischen Dimensionen, die vom Leben so gering verabreicht wurden, dass deren Messung nicht gelang. Zudem empfand Sam solche Momente auch nie als beklagenswert oder gar dramatisch. Er nahm sie einfach nicht als solche wahr, sie gehörten dazu und würden schon für irgendetwas gut sein. Schließlich lief bei ihm nahezu alles schlichtweg positiv und in gewohnter Eintracht mit dem auf dem Fuße folgenden Eintreten glücklicher Fügungen. So, als fiele es ihm zu, das ständige Glück.

So begab es sich vor vielen Jahren, Sam war gerade sechs Jahre alt, als er mit anderen Jungs im nahegelegenen Park wieder einmal auf die Bäume kletterte. Und es standen dort ausgewachsene Platanen, deren Ausmaße deutlich über die dreißig Meter hinausgingen. Obwohl Sam auch beim Klettern stets bedacht vorging, geschah es, dass er für einen kurzen Augenblick unaufmerksam war. Er verlor den Halt unter seinen Füßen und stürzte, zuerst kopfüber, aus fünfzehn Metern in die Tiefe. Dem sicheren Tod allerdings war er dennoch entgangen. Am Fuße des Baumes, direkt unter seiner Fallrichtung, wuchs ein dichter Haselnussbusch. Satte grüne Blätter rankten sich dicht an dicht um die dünnen, flexiblen Äste des Strauches. Sam krachte zwar in den Busch, doch dieser, von einer guten Vorsehung dort gepflanzte Strauch, federte Sam ab und er plumpste wie ein Waschbär auf den Sand, schaute kurz, stand auf, klopfte sich seine Hosen ab und strahlte. Nichts war passiert, alles war gut. Die Fallhöhe betrug stolze zwanzig Meter, was einem Sprung aus der sechsten Etage eines Appartementhauses entsprach. Die aufmerksam gewordenen Spaziergänger, auch der in Amerika stets zur richtigen Zeit anwesende Cop, und natürlich seine Spielkameraden staunten nicht schlecht. Das Kind musste einen sehr aufmerksamen Schutzengel haben. Oder war einfach ein riesiger Glückpilz.

Bei weitem erstaunlicher allerdings war ein Ereignis, welches sich ereignete, als Samuel Goldman Teenager war. Diese Geschichte erzählte man sich noch lange, denn sie war nicht nur wahrhaftig eindrücklich, sondern zugleich äußerst seltsam. Sam kürzte seinen Schulweg gerne dadurch ab, indem er die bequeme Fahrradstrecke verlies und die Schienen der Greenville & Western Railway Company überquerte. Das schien ihm keine Spur riskant. Trotz mehrerer parallel verlaufender Schienenstränge war die Strecke an dieser Stelle gut zu übersehen, und er brauchte nur von seinem Fahrrad abzusteigen und dieses kurzerhand über die Schienen zu tragen. Sodann konnte er seine Fahrt fortsetzen und war gute zehn Minuten schneller am Ziel.

Der Krug geht bekanntlich so lange zum Brunnen, bis er bricht. Und bis das so weit ist, kann es sein, dass der Teufel sich als Eichhörnchen verkleidet und uns Menschen mit Minimalismen quält. Die Crux steckte auch hier mal wieder im Detail. Sam überquerte wie immer die Schienen, sein Fahrrad behände geschultert. Doch plötzlich rutschte er inmitten eines Gleises seitlich weg und sein Fahrrad verkantete sich unglücklich zwischen den beiden Gleisschienen. Sam wollte sich erheben, merkte aber sofort, dass sein Fahrrad störrisch blieb und seine Position nicht freigeben wollte. Er rüttelte und versuchte mit allen Kräften, sich aus dieser Lage zu befreien. Sein Rad aber verharrte verkantet und ließ sich nicht um einen einzigen Millimeter lockern. Da hörte Sam auch schon den herannahenden Zug. Er wusste, dass dessen Geschwindigkeit auf diesem Teil der Strecke hoch war. Er begann noch stärker am Rad zu rütteln, Verzweiflung machte sich breit, und er realisierte, dass es nur noch wenige Augenblicke dauern würde, bis ihn der rasende Zug, voran die schwere Diesellok, überrollen würde.

Sam hörte Rufe aus der Ferne. Zwei Arbeiter, die vielleicht dreihundert Meter entfernt an einer Zaunanlage tätig waren, hatten gerade die Situation bemerkt und das herannahende Unglück erfasst. Es war zu spät für sie, Sam zu Hilfe zu eilen. Sie riefen laut, wedelten mit den Armen und versuchten Sam klarzumachen, dass er doch schnellstens von den Gleisen sollte. Es schien aber so, als sei Sams Schicksal besiegelt. Der Lokführer gab verzweifelt Signal und hatte bereits die Notbremsung eingeleitet. Es war aber klar, dass ein Halt vor der Unglücksstelle unmöglich war, und damit der Zug unausweichlich über den Jungen und sein Fahrrad rollen würde.

Zwischen dem Zug und Sam lagen vielleicht gerade noch 50 Meter, da schlug das unter lautem Quietschen herandonnernde Ungetüm förmlich einen Haken und rauschte mit tosendem Rattern auf dem seitlich neben Sam verlaufenden Gleis an ihm vorbei. Sams Haare und seine Kleidung flatterten durch den aufwühlenden Luftzug der Lok und der schweren Waggons. Etliche hundert Meter weiter, hinter Sam, kam der Zug zum Stehen. Die beiden Arbeiter hatten nun den Jungen erreicht, und gemeinsam konnten Sie ihn aus seiner unfreiwilligen Gefangenschaft von Rad und Gleis befreien, nicht ohne dabei kräftig zu fluchen und Sam mit Vorwürfen zu überhäufen.

Das Besondere an diesem Vorfall erklärt sich aber nicht allein aus der Tatsache, dass Sam gottlob auf dem falschen Gleis eingeklemmt war. Es war nämlich das richtige. Es war das reguläre Gleis, welches der Zug nach Stellplan der Greenville & Western Railway Company befahren sollte. Doch genau dieser Stellplan war an diesem Tag, vielleicht auch nur in dieser Minute, fehlerhaft. Ein Mitarbeiter hatte die Route und Gleiszuteilung eines anderen Zuges verwendet und damit die Weiche, die sich nur wenige Meter vor Sams Position befand, nicht geradeaus auf Sam zu, sondern zum anderen Gleis in Richtung der Industrieanlagen gestellt. Dieser Fehler rettete Sam das Leben.

Obendrauf brachte es ihm einen fast mystischen Ruf ein. Denn bei der Aufnahme der Fahrtunterbrechung und der sofort routinemäßig eingeleiteten Untersuchung stellten die Techniker der Greenville & Western fest, dass circa zwei Kilometer nach Sams Position ein Gleisbruch vorhanden war. Der Zugführer, der Sam fast überrollt hatte, bemerkte den Schaden ebenfalls, denn als er sich den Schweiß von der Stirn wischte und beim Verschnaufen nach links aus dem geöffneten Fenster schaute, hatte er freien Blick auf das Werk der Göttin Ate. Und seine Stirn wurde unmittelbar wieder nass. Er begriff sofort, dass die Fahrt auf dem vorgesehenen Gleis nicht nur das Leben dieses Jungen gekostet hätte, der donnernde Zug wäre zudem auf den Gleisbruch zugerast, und es wäre zu einer fürchterlichen Katastrophe gekommen. Neben diesem unverschämten Glück des Bürschchens war das eigentliche Glück bei weitem größer. Sam, dem nun unbestreitbar der Ruf als Liebling der Götter, zumindest der freundlich gesonnenen, und als Magier des Glücks anhaftete, wurde für eine kurze Zeit eine echte Berühmtheit in Greenville und Umgebung. Zudem Ehrenlokführer der Western Railway.

Wäre er auf regulärer Strecke zur Schule gefahren, wäre er andernfalls vielleicht einfach nicht auf den Gleisen ausgerutscht, hätte er nur sein Fahrrad anders getragen, hätte sich das Rad nicht derart verklemmt, dann wären viele Menschen in den Tod gerast. Ja, natürlich, der Stellwärter hatte das mit seinem Fehler bereits verhindert. Der Zug wäre dann aber in die Industrieanlage gerauscht, was sicher ein noch größeres Desaster angerichtet hätte. Und eines Gedankens konnte man sich nicht erwehren: Hingen alle diese Zufälle nicht am Ende zusammen? Schicksalsfügung? Das Glück von Sam zugleich die Abwendung einer Katastrophe? Man mag als Realist und Pragmatiker nach kurzer Überlegung zu einfachen, sich selbst erklärenden und logischen Lösungen in dieser Sache gekommen sein. Der Nimbus Sams aber fand in jenen Tagen seine Grundsteinlegung. Gottlob, so empfand es vor allem auch die Familie Goldman, verblasste der Ansatz eines Mythos wieder schnell. Es wuchs reichlich Gras über die Angelegenheit, und Sam konnte sich für eine längere Zeit wieder ungestört seinem Heranwachsen widmen.

Wie an einer Perlenkette aufgeknüpft erlebte Sam fast schon regelmäßiger Weise Dinge, für deren glücklichen Ausgang man im Nachgang keine logische Erklärung fand. Man bemühte sich dann gerne der Physik und eher technischen Faktoren, die Ursachen der Fügung, Zusammenhänge und begünstigenden Zufälle, anzuführen. Eine Korrelation der einzelnen Perlen miteinander, die auf Sams Glückfallkette nach und nach aufzuziehen waren, wurde nie in Erwägung gezogen. Nie wurde ein Gedanke daran verschwendet, dass nur in der Betrachtung des Ganzen die Sinnhaftigkeit erkennbar wird.

Und von diesen Perlen gab es viele. Ein weiteres Beispiel für eine solche lieferte Sam bei einer winterlichen Klassenreise zu den Rocky Mountains. Gemeinsam lernten sie das Skifahren, und am Tag vor der Abreise konnten alle in seiner Klasse, somit auch Sam, bereits ganz passabel fahren. Sam geriet auf der letzten Abfahrt, ganz ohne eigenes Zutun, leicht von der Piste ab, und ehe er sich‘s versah verlor er die Kontrolle. Immer weiter entfernte er sich von seiner Gruppe, die bereits schon einige hundert Meter weiter abgefahren war. Der Schnee unter seinen Brettern wurde tief und das Manövrieren ihm unmöglich. Das Gelände wurde steiler. Die Geschwindigkeit erhöhte sich. Und mit einem Mal löste sich der Schnee unter ihm vom Hang, und Sam ritt für einen kurzen Moment auf einer abgehenden Lawine in einen Talkessel. Die Lawine war nicht allzu groß – gottlob – doch sie reichte, um Sam, der schnell sein Gleichgewicht verloren hatte, an die fünfzig Meter mitzuschleifen und unter einer Schneedecke zu begraben.

Bis Sams Fehlen bemerkt, die Suche eingeleitet und der Unglücksort gefunden wurde, vergingen über drei Stunden. Und es bedurfte nochmals dreißig Minuten, bis die Retter ihn unter dem Schnee entdeckten. Die Bergwacht und der anwesende Notarzt hatten jeder Hoffnung auf Sams Überleben eine Absage erteilt. Eine Chance, unter einer zentnerschweren Schneelast, ohne lange Sauerstoffzufuhr in Eiseskälte lebend zu überstehen, gab es ihrer Ansicht nicht. Doch Sam wurde nach fast vier Stunden nahezu unbeschadet, von einer leichten Unterkühlung abgesehen, quicklebendig aus der Lawine geborgen.

Dass das ein unverschämtes Glück war, bestritt natürlich niemand. Man suchte aber vielmehr nach der Logik, nach physikalischen Zusammenhängen, der zufälligen Konstellation von Faktoren und Einwirkungen, die das Überleben Sams erklären würden. Man kam zu dem Schluss, dass der Schnee ungewöhnlich locker war, und dadurch die Sauerstoffzufuhr möglich machte. Man ging zudem davon aus, dass Sam nicht ganz vom Schnee umgeben war, und sie konstatierten einen noch ausreichend vorhandenen Raum für Bewegung, der die Körperwärme des Verunglückten auffing und Sam vor dem Erfrieren bewahrte. Und schließlich war die abgegangene Lawine eine eher kleine, so dass in diesem Fall nicht alle, sonst stets tödlichen Größenordnungen zu verzeichnen waren. Alles glückliche Umstände? Sicher, aber ein Wunder mitnichten. Denn Physik galt ja auch für die, die sie nicht verstehen. Die Freude über das gute Ende dieses Vorfalls war dennoch groß, aber es kam niemandem in den Sinn, dieses neuerliche Geschehen mit Sams gesamtem bisherigen Glück zu korrelieren.

Denn man hätte es eigentlich bemerken müssen. Von diesen Perlen gab es in Samuel Goldmans Leben eine weit mehr als ungewöhnliche Anzahl. Einen Vorwurf hieraus zu formulieren wäre dennoch ungerecht. An Sams Glück hatte sich sein Umfeld längst ebenso gewöhnt, wie er selbst. Wer Zeit seines Lebens an den sonnigen und warmen Ufern Maledivens, unter Palmen und vor der Kulisse türkisfarbenen Wassers, an einem weißen Sandstrand lebte, dem käme kaum in den Sinn, dieses als ungerechte Vorteilsgabe zu verstehen. Der Feriengast aus London aber, dessen Jahreszeitenwechsel sich lediglich dadurch auszeichnet, dass der Regen eben nur einmal kälter oder wieder wärmer ist, bemerkt hingegen sofort, dass es glücklichere Umstände gibt, als im Einflussbereich eines nordatlantischen Klimas zu leben. Vielleicht bestand genau auch hierin der Grund für das Empire, seinem Wunsch nach fernen Kolonien so lange und intensiv gefrönt zu haben.

Sam war ein Kind der Sonne. Gedanken an Regen waren ihm fern. Die Sonne schien für ihn jeden Tag, und so hatte sich bei ihm gleichermaßen wie bei den anderen nach und nach ein unbekümmertes Gefühl der Selbstverständlichkeit eingeschlichen, welches im Allgemeinen als Gewohnheit bezeichnet wird. So fehlte es ihnen schlichtweg an einschlägigen Momenten, ähnlich denen des Londoners Malediventouristen, der zum ersten Mal inmitten des Indischen Ozeans seiner Überwältigung durch große Augen und lautes Staunen Luft macht. Sie waren nicht mehr fähig dazu, denn es war ja nichts Besonderes für sie. Samuel Goldmans Glück war ihnen so alltäglich, wie es für Adam und Eva der wolkenlose blaue Himmel über dem Paradies war. Wer verschwendet in dieser Eintracht schon einen Gedanken daran, dass eine Schlange und ein profanes Stück Obst der Idylle ein jähes Ende bereiten wird.

*

Die Familie Goldman bestand allein aus seinen Eltern und ihm als Einzelkind. Vater und Mutter nahmen in wohltuender Distanz, gleichfalls aber mit großem Herz und ständiger Hilfsbereitschaft, am Leben und dem Werdegang ihres Sam teil. Sie waren stolz auf ihn, ohne dabei die Nerven ihrer Mitmenschen durch ständige Berichte von Sams Tun und Lassen durch eitles Loben oder glorreiche Erzählungen zu strapazieren. Inzwischen waren sie bereits ein wenig dem Lebensende nähergekommen, und sie hätten sich schon deshalb sehr über eine liebe Schwiegertochter und ein, zwei Enkelkinder gefreut. Als ausgewachsene Fatalisten aber hatten sie weder diesbezügliche Forderungen an ihn gerichtet, noch ein wirkliches Defizit empfunden. Ihr Sam wollte sich eben noch nicht entscheiden. Und früher oder später – das Schicksal sollte es wissen – würde Sam schon die Richtige gefunden haben.

Mit pragmatischem Optimismus haben sie sogar Gutes daran entdecken können. Einige von Sams Schulfreunden und Nachbarskindern waren mittlerweile wieder geschieden, mussten ihre teuren schönen Häuser verschleudern und sich mühen, sich mit ihren Verflossenen um Besuchszeiten der Kinder zu einigen, und – nicht zu vergessen – wer den Hund behielt. Auch der ein oder andere, der mit Stipendium und Elite-Abschluss zu einem scheinbar traumhaften Karriereeinstieg gelangen konnte, war in der Zwischenzeit hart, für alle hörbar, auf den Boden der Realität geknallt. Grämte sich, neben Schulden oder Gerichtsterminen, auch noch die verlorene Mitgliedschaft im geliebten Rotary Club verkraften zu müssen.

Sam hatte solche ehrgeizigen Ziele nie verfolgt und wurde tatsächlich von den Konsequenzen eines allzu schnellen und selbstverliebten Aufstiegs verschont. Die Gescheiterten sahen in ihm deshalb nicht selten den wahren Glückspilz, einen, der fast traumwandlerisch die richtigen Register zur rechten Zeit zu ziehen vermochte. Maßvoll aber kalkuliert. Sie lagen mit ihrer Sichtweise zwar falsch, doch für ein gutes Image war das nicht abträglich. Und Sam war´s egal. Ihm erwuchs hieraus weder Schaden noch Nachteil.

Als die Nachricht von seinem Überleben des Flugzeugabsturzes in Südafrika seine Heimat erreichte, war die Aufregung groß. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Geschichte. Man wurde aufmerksam auf diesen Goldman, dieses wahre Kind des Glücks, der ein Liebling der Götter und Sonntagskind zugleich sein musste. Für sie, allen voran die sensationshungrigen Reporter, Zuschauer und Leser, sorgten die Bilder von der Absturzstelle, den zerschellten Rumpfteilen, den brennenden Wrackteilen und seiner spektakulären Bergung aus dem winzigen Rest des Hecks für Furore. Seine offensichtliche Unversehrtheit, die ersten Interviews der Medien aus Durban und Johannesburg – ja vor allem aber die gemeinsamen Bilder mit den Managern der Airline – machten ihn fast über Nacht zu einer Glücks-Ikone. Allen wurde spontan klar, dass sein Überleben einer Chance gleichgekommen war, deren Wahrscheinlichkeitsbetrachtung die Vorstellungskraft eines Menschenverstandes überforderte. So viel Dusel war nicht von dieser Welt. Und jemand, dem so etwas passiert war, hatte das Potenzial für einen richtigen Helden.

Und wenn es eine Zeit gab, in der Heroen besonders notwendig waren, dann ist es die unsere.

*

Greenville, im Staate South Carolina, auf halber Strecke zwischen Atlanta und Charlotte gelegen, war eine angenehme und attraktive Stadt. Nun ja, mit 60.000 Einwohnern war diese eigentlich eher als Kleinstadt zu bezeichnen. Es ging hier gleichermaßen lebendig wie ehrlich zu. Dafür sorgten die ansässigen Wirtschaftsunternehmen, die überwiegend mit der Automobilindustrie verbunden waren, und natürlich die vielen Baptisten, die in der Region eine stattliche Anzahl ausmachten. Der bekannte Prediger und Bürgerrechtler Jesse Jackson war ein Kind der Stadt, ebenso, wie dessen leiblicher Vater, die ehemalige Boxlegende Noah Louis Robinson.

Sam hatte sich vor zwei Jahren ein kleines Haus gekauft. Eines dieser flachen Holzhäuser, mit kleiner, geländerumzierten Veranda zur Straße hin und mit einer hübschen roten Holztür, die harmonisch zu den Sprossenfenstern links und rechts passte, und seinem neuen Zuhause ein freundliches, fast schon lustiges Gesicht verlieh. Er hatte sich bewusst für den Stadtteil Pleasant Valley entschieden. Dieser lag verkehrsgünstig nahe des 85er Highways, zum anderen war dieser Teil von Greenville besonders beliebt, da viele kleine Wohnstraßen, im Grünen liegend, das Wohnen attraktiv machten. Bunte Vorgärten, unzählige Bäume, die fast alle Straßen des Viertels zu Alleen machten, gepflegte Häuser und freundliche Nachbarn. Das war „pleasant“. Gefragt war die Gegend auch deshalb, weil dieses Wohnviertel fast genau zwischen dem Greenville Country Club, einem der schönste Golfplätze im Staate, und dessen zweiter Anlage, die nur von wenigen Straßen vom Hauptareal des Clubs getrennt einer schönen Parkanlage gleichkam, lag.

Sam nutzte beim Kauf seines Hauses seinen Beruf und die damit verbundenen Gelegenheiten. Als Banker erfuhr er frühzeitig, dass ein Darlehen für ein kleines Haus in Pleasant Valley von den Eigentümern nicht mehr bedient werden konnte. Es handelte sich um einen der örtlichen Autohändler, der sich geschäftlich mit dem Gebrauchtwagenverkauf übernommen hatte. Sam bot ihm an, das Haus zu kaufen und ihn auf diese Weise zumindest vom Immobiliendarlehen zu entlasten. Für Sam war die Finanzierung kein Problem, für den Autoverkäufer bedeutete es schnelles Geld, und so ging der Deal flugs über die Bühne. Sam übernahm bequemer Weise auch gleich das gesamte Mobiliar und zog kurzerhand ein.

Mit dem Erhalt des Postens als Filialleiter der Bank wurde Sam zeitgleich auch die Mitgliedschaft im Country Club angeboten, was er natürlich nicht ausschlug. So standen ihm die Anlagen in seiner unmittelbaren Wohnlage zur Verfügung, und Sam überlegte einige Zeit, ob er tatsächlich das Golfen beginnen sollte. Er nahm sogar erste Stunden beim Golftrainer, schaffte seine Platzreife, ließ es hiernach aber dabei bleiben. Nicht, dass es ihm etwa keinen Spaß gemacht hätte. Es wurde ihm schnell zu teuer und der Wirbel der Clubmitglieder um die auffällige Reihe seiner Hole-in-ones war ihm unangenehm. Er schlug tatsächlich bereits während seiner ersten Stunden auf der Trainings-Range mehrmals den Ball mit einem Schwung vom Abschlag ins Loch. Nicht bei den Langbahnen, dazu waren die Entfernungen zu groß. Bei den Löchern mit geringerer Distanz dafür fast immer. Das sprach sich herum. Und da es üblich war, allen Anwesenden im Club für derlei Schläge einen Drink auszugeben, machte es schnell die Runde, wenn Sam trainierte oder eine Übungsrunde mit dem Pro absolvierte. Sie fanden heraus, dass es sich lohnte, einen Späher zu entsenden, dem die Beweisführung oblag, an welchem Loch und wie oft Sam mit einem einzigen Schlag den Ball im Ziel versenkte. Da er das durchaus auf stolze vier- oder fünfmal brachte, hatten alle Mitglieder eine große Freude, selbst wenn sie dem Alkohol nicht übermäßig zusprachen. Wenn Sam spielte, gab es immer Spektakel.

Seine Treffsicherheit hatte nichts mit seiner Befähigung für den Golfsport zu tun. Als Naturtalent konnte man ihn nicht verstehen. Seine Schwünge, seine Haltung, die Fuß- und Beinstellung, die Körperdrehung, ja selbst die Art und Weise, wie er den Griff des Golfschlägers mit seinen Händen umfasste, war eher nicht geeignet, als Insignie schlummernden Talents gedeutet werden zu können. Es ließ vielmehr die Erkenntnis zu, dass Sam allenfalls ein guter Holzhacker, jedoch wohl nie ein guter Golfer werden könnte. Mit seiner Körpergröße hatte er ohnehin zu kämpfen, da er sich noch nicht durchgerungen hatte, sich ein Set mit Überlänge zu beschaffen. So sah es dann auch tatsächlich derbe und ungehobelt aus, wenn er zum Schlag ausholte.

Dass er dennoch so ungewöhnlich häufig einen dieser seltenen Schläge fabrizierte, zudem vom Fairway aus immer wieder unmöglich erscheinende Bälle einzulochen vermochte, wo selbst versierte Spieler und Profis mit Plus-Handicap Probleme hatten, war die eigentliche Sensation. Natürlich machte Sam häufig ganz außerordentlich dämliche Fehler, stellte sich mehr als ungeschickt an, schlug weit vor dem Ball ins Gras, so dass ein Rasenstück, nicht aber der Ball, durch die Luft wirbelte, schwang meilenweit am Tee vorbei, malte wirre Löcher in die Luft, und katapultierte nicht selten statt des Balls ein Eisen oder den Driver beim Ausswingen in Richtung der Fahne. Der Bewunderung seiner Traumbälle vom Abschlag direkt ins Loch standen seine trottelhaft anmutenden Fehlschläge gegenüber. Und das empfanden alle als zusätzlichen Unterhaltungswert.

Sam benötigte häufig übermäßig viele Versuche, selbst einfachste Bälle aufs Green zu bringen und einzulochen. An einem Tage waren es zweiunddreißig erfolglose Schläge, den Ball aus dem Sandbunker am Loch 18 in Richtung der Fahne und auf das Green zu bringen. Unter tosendem Gegröle der Golfer auf der angrenzenden Terrasse gab er ein wahres Schauspiel ab, welches er schließlich bockig beendete, in dem er den Ball mit der Fußspitze in Richtung der Zuschauer kickte, woraufhin dieser in der Tasse Earl Grey der Stadträtin Elly Sherman – pikanter Weise auch noch englischer Abstammung – landete. Kein Hole-in-one – aber ein eindrückliches Kunststück. Gottlob nahm Mrs. Sherman das sportlich und nicht als unzivilisierten Akt gegenüber dem Ursprungsland dieser Sportart. Sie äußerte sogar eine gewisse Anerkennung und attestierte dem Kunstschützen einen ausgesprochen guten Geschmack, denn dieser hatte ihrem Tee immerhin dem gewöhnlichen deutschen Bier am Nebentisch den Vorzug gegeben. Sam erhielt sogar Applaus. Und so war es dann auch nicht verwunderlich, dass er schon nach kürzester Zeit nicht mehr Sam, sondern `Mister-One´ gerufen wurde – der Anfänger mit dem unverschämten Glück.

Sam mochte diese Freude nicht lange teilen. Es wurde ihm zu viel Brimborium um seine Löcher gemacht und er entschied sich deshalb, das geliehene Schlägerset erst einmal wieder zurückzugeben und ein wenig Abstand zu dieser Sportart zu nehmen. Alle Versuche seines Pros ihn zum Weitermachen zu bewegen, schlugen fehl. Sam versprach ihm aber, nur pausieren zu wollen und es in Bälde wieder fortzuführen. Der Trainer konnte also noch hoffen, denn er war der festen Überzeugung, dass mit einem solchen Spieler viel Geld zu verdienen war.

*

Sam landete kurz vor Mitternacht auf dem internationalen Flughafen von Spartanburg, unweit von Greenville. Seine Unglücksairline hatte ihm zwar angeboten, auch eine Schiffspassage von Durban nach New-York zu organisieren, doch Sam entschied sich schnell für den Flug nach Hause. Es war nicht etwa so, dass er bei dem Gedanken ans Fliegen, oder gar beim Betreten eines Flugzeuges nun ein Problem gehabt hätte. Sicher wäre es das Normalste der Welt gewesen, wenn ihn nach einem solchen Unglück, einem Absturz mit nur ihm als einzigen Überlebenden, keine zehn Pferde mehr auch nur in die Nähe eines Flughafens gebracht hätten. Doch Sam meinte, er würde das schon aushalten.

Ester und Jakob Goldman empfingen im Ankunftsbereich ihren Sohn. Gerne wären die beiden mit Sam ein wenig ungestörter geblieben, denn das Glück, welches Mutter und Vater empfanden, als sie ihren Sohn in die Arme nahmen, ihrem Jungen, der dem Tod gerade von der Schippe gesprungen war, hätte eine ungestörte Privatsphäre gerechtfertigt. Doch blieb es bei dem frommen Wunsch der beiden, denn um sie herum belagerten mehr als zwei Dutzend Reporter und Fotografen die Ankunftsplattform und drängelten sich dicht an dicht vor der milchigen Automatiktür aus Glas, durch die alle ankommenden Fluggäste hindurch mussten. Immer wieder öffnete sich der Ausgang und man konnte für einen kurzen Moment die herankommenden Fluggäste erspähen. Dann schlossen sich die Ausgangsflügel wieder und die Spannung wuchs mit jedem Mal des neuerlichen Öffnens.

Und dann war er da. Samuel Goldman, ein wenig blass und erkennbar übermüdet, doch mit ungebrochenen, strahlenden blauen Augen, die unter den welligen braunen Haaren seinem Gesicht stets ein Leuchten verpassten, welches selbst unaufmerksamen Beobachtern sofort auffiel. Da er keine Koffer mehr besaß, denn diese lagen unter den Trümmern in Durban, schlenderte er mit einer fast provokanten Gelassenheit an den anderen Fluggästen vorbei. Doch als er den Auflauf der Presse erblickte, schaute er sich nach seinen Eltern um, fast ein wenig hilflos, immer mehr bedrängt von Kameras, Mikrofonen und schnatternden Mündern, die ihn unsinnige Dinge fragten.

Sam wurde sofort klar, dass er dieser Meute nicht einfach entfliehen konnte. Er musste sich ihnen stellen, er sah keinen anderen Ausweg. So blieb er kurzerhand stehen, atmete einmal tief durch, schaute in die Runde und begann zu lächeln. Ohrenbetäubend prasselte erneut ein Wirrwarr von Fragen auf ihn ein und unter dem fortwährenden Klicken der Kameraauslöser mischten sich die Pöbeleien der Medienvertreter bei, die sich immer mehr stritten, wer wo zuerst gestanden hätte, und wer nun eigentlich das Vorrecht für die ersten Fragen innehalten würde.

Wie fühlen Sie sich? Was geht jetzt in Ihnen vor?

Sind Sie glücklich, wieder hier zu sein?

Was bedeutet es für Sie, einziger Überlebender zu sein?

Werden Sie die Fluggesellschaft verklagen?

Was war Ihr letzter Gedanke?

Was werden Sie jetzt als Erstes machen?

Glauben Sie jetzt an Gott?

Und die Fotografen übertrumpften sich gegenseitig mit Anweisungen in Sams Richtung, wie er zu schauen hätte und wedelten mit allem möglichen, um seine Blicke auf sich zu lenken.

Können Sie nochmal in die Kamera lachen?

Sam, gucken Sie hierhin …! Nochmal, Sam!

Mr. Goldman – hier!

Schauen Sie mich verdammt einmal an!

Könnten Sie bitte jetzt mal weinen!

Los, mach das Siegeszeichen!

Hierher, Arschloch! Nicht immer nur nach rechts!

Mehrere TV-Sender waren ebenfalls zugegen. Die Kameraleute versuchten, teils verzweifelt, teils mit roher Gewalt, sich in der Menge so zu positionieren, dass ihr Reporter mit dem Mikrophon in Stellung vor Sam geraten konnte. Wem es irgendwie gelang, hatte größte Mühe, sich in seiner Pole-Position zu halten. Es wurden Sam die Mikrophone hingestreckt, und er konnte an den aufgesteckten bunten Schutzkappen erkennen, welche Sender zugegen waren. Es war ein ungeheures Durcheinander, in dem jeder Überblick, jede Ordnung unmöglich schien. Zudem hatten sich viele Menschen um das Spektakel herum versammelt und wollten sehen, was für ein Prominenter denn da im Mittelpunkt stehen würde. Sie hielten ihre Smartphones in die Luft, schossen ihre Fotos oder versuchten einen Videomitschnitt zu machen.

Sam spürte einen festen Griff am rechten Oberarm und wurde gleich darauf mit einem kräftigen Ruck weggezogen. Er blickte in die mürrischen Gesichter mehrerer uniformierter Sicherheitsbeamten des Flughafens, die ihn nun schützend umzingelt hatten und Schritt für Schritt durch den Menschenauflauf durch den Empfangsbereich führten. Sam sah sich immer wieder um. Er wusste, dass seine Eltern irgendwo in der Menge auf ihn warteten. Nur entdecken konnte er sie nicht. Er stolperte mit der Security zu einer Seitentüre, die kurz danach geöffnet wurde, und er war in Sicherheit. Sie brachten ihn in den VIP-Bereich des Airports, wo er erschöpft und sichtlich fassungslos in einen der Sessel fiel. Sam brachte noch heraus, dass seine Eltern zu ihm geholt werden sollen und man versprach, sie ausrufen und hierher bringen zu lassen. Nach einigen Minuten, die ihm schier endlos vorkamen, erschienen Ester und Jakob Goldman in der abgeschirmten Lounge, und sie fielen sich überglücklich in die Arme.

Kapitel 2

Paul Wayne war bei NCCB eine Institution. Er galt als knallhart und war berüchtigt für sein untrügliches Gespür für erfolgreiche TV-Formate und gute Stories. Er hatte nun schon mehr als dreißig Jahre Erfahrung auf dem Buckel und zog erbarmungslos, mit traumwandlerischer Sicherheit für Effekte und Quoten, an den Strippen des Senders. Wayne war ein Halbgott der Branche, ach was, ein Gott. Er war einer der Vorreiter der Sensationsberichterstattung und peitschte seine Reporter und Journalisten mit unablässiger Dominanz stets an die vordersten Stellen der Brennpunkte. Er war die graue Eminenz des Geschäfts. Er bewegte seine Mitarbeiter wie Marionetten, und wer nicht mithalten konnte, wer die gewünschten Erfolge nicht brachte, flog schnell in hohem Bogen aus seinem Team, meist gleich aus dem Sender. Aber wer es bei ihm schaffte, war gleichsam zum Ritter geschlagen.

Wayne war schlank und hatte, trotz seines Alters von nun schon fast sechzig Jahren, volles weißes Haar. Er trug dieses stets mit Festiger versetzt nach hinten gestriegelt, und hielt hieran, gleich einem Markenzeichen, seit Anbeginn seiner Fernsehtage, fest. Diese Frisur verlieh ihm das Aussehen eines sensiblen und kunstverliebten Orchesterdirigenten. Sein dicker grauer Schnauzbart war durchaus in der Lage, diesen Eindruck zu unterstreichen. Wer Paul Wayne aber kennenlernte, stellte schnell fest, dass dieser Mann weder ein Hort schlummernder Urgemütlichkeit noch zartfühlender Empathie war.

Wayne saß, wie immer im weißen Oberhemd und mit breiten blau-weiß-rot-gestreiften Hosenträgern, in seinem Büro und hatte am großen Besprechungstisch Platz genommen. An diesem Tisch fand sich täglich die Prominenz seiner Journalisten zusammen, zur Chefredaktionsbesprechung. Vor ihm stand ein dampfender Kaffeebecher – sein Kaffeebecher – auf dem der Spruch stand: TV ist Krieg. Er bezeichnete sich selbst als Warlord der Medien, als Heerführer von Elitesoldaten mit Kamera, Mikrofon und Schnittraum. Es war noch früh am Morgen am Tag nach Samuel Goldmans Rückkehr.

Wayne hatte seine Brille, die ihn mit ihren breiten schwarzen Rändern nochmals bedrohlicher aussehen ließ, auf die Stirn geschoben, drehte nachdenklich, mal nach links, dann wieder rechts, seinen Kaffeebecher vor sich auf der Tischplatte, und er verharrte in dieser Position, als Mary Thompson den Raum betrat. Sie setzte sich sogleich, wie immer ohne dazu von ihrem Chef aufgefordert worden zu sein, zwei Stühle neben ihn, und knallte ihren eigenen Becher mit schwarzem Kaffee unüberhörbar auf den Tisch. Dann wandte sie sich, ohne die Eröffnung von Wayne abzuwarten, direkt an ihn.

„Lass mich raten, Paul,“ begann Mary, „es geht um die Goldman-Story! Und Du wirst mir gleich mit ewiger Verdammnis und dem Höllenfeuer drohen, falls ich Dir diese nicht sofort exklusiv besorge.“

Mary Thompson schaute dabei mit ihren sanft wirkenden, großen braunen Augen auf Paul Wayne, der immer noch mit leicht gesenktem Kopf da saß und seinen Becher drehte. Er kannte Mary nun einige Jahre. Zunächst war sie ihm beim Wettbewerbssender CKC aufgefallen, dann, nachdem er sie in einem eineinhalbminütigen Gespräch abgeworben hatte, war sie zur Elite in seinem Team aufgestiegen. Sie entpuppte sich unmittelbar als Universalwaffe für besonders knifflige Reportagen. Mary sah blendend aus. Und das war ihrem Chef überhaupt nicht egal, denn ihre Schönheit war eine häufig entscheidende Eigenschaft im Kampf um Interviews und exklusive Reportagen. Ja, Mary hätte durchaus Karriere als Modell machen können, auch jetzt noch, trotz ihres Alters von zweiunddreißig Jahren. Sie trug mit Vorliebe blaue Kostüme, mit engen Röcken, die eine Handbreit über den Knien ihre langen und schön geformten Beine zur Geltung brachten. Aber Paul sah sie nicht als Frau, sie war allein Teil seines Arsenals, eine Waffe, eine extrem erfolgreiche Söldnerin, zudem mit höchsten Einschaltquoten.

Zwischen Marys Eröffnung und Pauls Antwort vergingen ein, zwei Minuten des Schweigens. Mary wartete geduldig ab. Sie kannte diese Situationen und wusste, dass sie ihm nun das Wort zu lassen hatte. Paul beendete urplötzlich sein Schweigen und blickte mit scharfem, stechenden Blick aus seinen hellblauen Augen auf seine Mitarbeiterin.

„Vielleicht ist es nur eine Eintagsfliege, diese Goldman-Sache…“, begann er leise, „vielleicht ist das Ganze der Mühe nicht wert. Der einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes ist dann sicher nicht Programmfüller für viele Wochen, aber …. irgendeine Stimme in mir schreit danach, die Story zu kriegen. Ja mehr noch. Meine Nase, ja, mein ganzer Körper, selbst beim Pissen, sagt mir: Paul, da steckt was drin. Das hat Potenzial. Ich rieche es förmlich.“ Und nach einer winzigen Pause fügte er hinzu: „Mary, ich will Goldman für NCCB, habe ich mich klar genug ausgedrückt?“

Mary nickte kurz und stand auf. „Es wäre für mich auch unerträglich, dafür verantwortlich zu sein, dass Du auch noch auf dem Klo Stimmen hörst und Dir vor Schreck die Schuhe vollpinkelst.“ Sie nahm ihren Kaffeebecher und ging zur Türe. Dann drehte sie sich noch einmal zu ihrem Chef um. „Ich habe also freie Hand und freies Budget …?“

Paul Wayne hatte seinen Kopf wieder gesenkt und drehte erneut seinen Becher herum. Und als er kurz nickte, ging Mary hinaus und schloss die Tür hinter sich. Ein kurzes Aufatmen, dann drückte sie ihr Kreuz durch und verschwand mit vernehmbarem Klackern ihrer Absätze in ihr kleines, dafür aber umso schöner gestaltetes Büro.

Wayne grinste vor sich hin. Das war seine Mary, unverwechselbar. Und er lächelte weiter. `Goldman, Du kleiner Scheißer. Was ist dran an Dir? Was birgst Du für ein Geheimnis? Irgendwas ist da … ich weiß es. Und ich werde Dich kriegen, darauf kannst Du Deinen Arsch verwetten´.

Mary Thompson saß bereits schon wieder auf ihrem Schreibtischstuhl. Sie hatte ihren Assistenten vor sich und diktierte ihm gerade die ersten Anweisungen. Peter McDorman sollte das Team zusammenholen, und zwar gleich. Zudem hatte er sich höchstpersönlich selbst an die Arbeit zu machen und alles – wirklich alles – über Samuel Goldman aus Greenville, South Carolina, in Erfahrung zu bringen.

„Peter!“, begann sie knapp und ein wenig herrisch, „durchleuchte den Kerl von Kopf bis Fuß, ist das klar? Ich will alles über ihn wissen, wann er das erste Mal onaniert hat, die Lieblingsfarbe seiner Unterhosen oder ob er überhaupt welche trägt. Vorlieben, Laster, ob er pervers ist und wenn ja, Bilder dazu. Kurzum: Ich will ihn nackt und nach vorn gebeugt vor mir haben.“ Sie wollte ihren Assistenten damit schon herausschicken, doch dann fügte Mary noch hinzu: „Zuerst aber besorg mir alle seine Telefonnummern, E-Mail-Adressen und… Du weißt schon. Alles, damit ich mit unserem Goldstück Kontakt aufnehmen kann. Also auch die Nummern seiner Frau, seiner Geliebten, seines Hundes und natürlich der Familie – das alles bitte bis gestern!“

Kurz darauf erschien Marys Team. Da war der Kameramann, die Regieassistentin und die zwei Produktioner, die im Außendienst vor allem als HiWis verwendet wurden, deswegen meist wie Falschgeld herumliefen und vom Rest mit lauten Befehlen von links nach rechts geschickt wurden. Mary Thompson war in ihrem Element. Wie aus dem Handgelenk gestaltete sie ein kurzes, knackiges Briefing zum Vorhaben, welches mit den Worten endete, dass alle auf Stand-by zu bleiben haben, es könne jederzeit losgehen. Das Ganze dauerte zehn Minuten, dann war es wieder vorbei und alle stoben auseinander.

Mary setzte sich an ihren Computer. Über die Suchmaschine begann sie, sich die Berichte und Fotos über den Flugzeugabsturz in Durban anzuschauen. Sie wurde schnell fündig. Medien in fast allen Ländern der Erde hatten bereits darüber berichtet. Keiner von diesen aber schien über etwas Exklusives zu verfügen, keine längeren Interviews, keine persönlichen Fotostrecken. Es sah so aus, als ob noch niemand wirklich vorne war. Das aber konnte sich jede Minute ändern, Zeit hatte sie also nicht zu verlieren.

Sie schaute sich verschiedene Fotos von Sam Goldman an. Ein hübscher Kerl, der ihrer spontanen Meinung nach durchaus auch Footballstar hätte werden können. Er sah überdies recht sympathisch aus, zugänglich, nicht unbedingt eitel, vor allem aber attraktiv und interessant. Ihr fielen seine Grübchen auf und für einen kurzen Moment kam ihr in den Sinn, das dieser Bursche, hätte er sie zuvor irgendwann einmal in einer Hotelbar angesprochen, das Zeug für einen Treffer bei ihr hatte. Doch, wie gesagt, dieser Gedanke flog ihr nur kurz durch den Kopf – dann war sie wieder bei der Sache.

Ihr Assistent hatte schnell gearbeitet und kam, sichtlich stolz und mit geschwollener Brust in Marys Büro gestürzt.

„Erste Fakten!“, begann Peter McDorman aufgeregt, „willst Du sie hören?“

„Wozu?“ Mary setzte ihr Pokerface auf. „Du willst doch fristlos gekündigt werden… leg schon los, Idiot!“

Peter McDorman, seine irischen Vorfahren hätten ihn nicht verleugnen können, war ein kleiner, leicht verschlagen wirkender Bursche von fünfundzwanzig Jahren. Er konnte ein Prädikatsexamen vorweisen und machte die Nachteile, die Mutter Natur bei der Verteilung von Schönheitssammelpunkten an ihm eingespart hatte, durch einen messerscharfen Verstand und eine Schnelligkeit wett, die oft nur mit Laserpistolen messbar war. In seiner Herangehensweise war McDorman meist listig bis rotzfrech, Skrupel schien er höchstens beim Betreten des Vatikans zu entwickeln, und er war als Assistent, um es kurz zu sagen, der wahrgewordene Traum für jede investigative Journalistin. Mary wusste und schätzte dies durchaus.

Peter McDorman stand immer noch. Er hielt seinen Notizblock vor sich wie ein Chorknabe das Notenblatt und begann zu berichten: „Samuel Goldman, sechsunddreißig Jahre alt, geboren in Greenville. Einziger Sohn von Jakob – der Vater – und Ester – die Mu….“

Mary unterbrach wirsch: „Kommt noch irgendwann was Interessantes?“

McDorman nickte: „Ok – also… mmmh… Ester, die Mutter… blablabla …. blabla… hier, jetzt kommt´s. Ich habe einige ältere Artikel über ihn gefunden. War ganz einfach. Viel kann ich zwar noch nicht sagen, habe diese nur kurz überflogen. Aber so viel ist sicher: Der Bursche scheint ein echter Glückspilz zu sein. Ich meine, der Absturz war nicht das erste seiner Wunder, wenn ich so sagen darf. Dein neuer Freund scheint ein echter Überlebenskünstler zu sein.“ Er hielt inne und versicherte sich der Wirkung seiner Worte auf seine Chefin.

Mary schaute ihn an. „Und? Was heißt das konkret? Hast Du mehr….?“

„Stelle ich Dir noch alles zusammen,“ antwortete der junge Mann lässig. „Ein wenig Zeit brauche ich schon noch dafür.“

Mary schaute auf ihre Armbanduhr. „Du hast zwei Stunden.“ Und nach einer kurzen, aber klar verständlichen rhetorischen Pause fragte sie nach: „Ist er verheiratet, hat er Kinder und … na, Du weißt schon, das Übliche?“

McDorman grinste: „Nichts von alledem. Wie ich schon sagte, ein echter Überlebenskünstler.“ Und mit sichtbarem Stolz hielt er Mary einen Zettel hin. „Alle Telefonnummern und so weiter … seine Adresse, die von den Eltern, von seiner Bank – er ist nämlich Banker – und …. Du wirst staunen, seine ganz persönliche und vor allem geheime Mobilnummer, die nicht veröffentlicht werden darf.“

Mary schaute auf und lächelte: „Legal oder muss ich jetzt mit Zuchthaus rechnen?“ Ohne jedoch seine Antwort abzuwarten fügte sie an: „Mir auch egal. Du musst ja dort duschen. Her mit der Nummer, mach schon, Du Zecke!“

McDorman wurde rot vor Stolz. „Deine Einfühlsamkeit in Ehren, aber die Nummer habe ich von einem ehemaligen Mitstudenten, der bei dem Mobilfunkanbieter arbeitet. Goldman hat sich diese vor kurzem beschafft. Er will als Banker wohl keine unerwünschten Anrufe von unterbezahlten Redaktionsassistenten bekommen.“

„Damit ist spätestens ab heute für ihn Schluss.“, prophezeite Mary spitz. „War´s das bislang?“

„Liebe Jury, das waren die Ergebnisse der ersten dreißig Minuten. In Kürze werden weitere Fakten folgen.“, konterte Peter mit breitem Grinsen.

Mary schaute ihn bohrend an: „Sag mal, Kleiner. Wie alt bist Du eigentlich?“

„Fünfundzwanzig!?“ McDorman wusste nicht so recht, worauf Mary in diesem Moment hinauswollte.

„Wenn Du noch sechsundzwanzig werden willst, schiebst Du Deinen Arsch jetzt aus meinem Büro!“ Mary sah ihn weiter an, so als gebe sie ihm genau noch zwei Sekunden, um in Bewegung zu kommen. Er verstand sofort und machte einen Schritt nach hinten. Ein wenig milde fügte sie hinzu: „… fürs Erste schon mal nicht schlecht. Sagen wir: eine Dreiminus. Also besser Dich, sonst fliegst Du!“

McDorman konnte das als größeres Lob auffassen. Denn Mary Thompson lobte nie viel mehr, und eine Dreiminus lag schon in den obersten zehn Prozent auf ihrer Bewertungsskala. Er machte wortlos kehrt und schnellte wieselflink aus Marys Büro. Und sie drehte sich auf ihrem Stuhl zum Fenster, sah über die Innenstadt von Greenville, dem Hauptsitz von NCCB, dem TV-Sender, in dem ihre Karriere so richtig durch die Decke gehen sollte.

Kapitel 3

Das Gebäude, in dem die ´SevenDollies Corporation` saß, ein unübersehbarer Wolkenkratzer im Geschäftszentrum von Oklahoma-City, strahlte in der sommerlichen Sonne, und die Fenster spiegelten das Licht weit über den Oklahoma River, hell und gleißend wie eine Wunderkerze. Die obersten fünf Etagen, vom sechsunddreißigsten bis zum vierzigsten Stock, hatten John und Maurice Skinner vor zwei Jahren mit Stolz angemietet, dieses zu einem Zeitpunkt, an dem SevenDollies den Durchbruch am Markt endlich geschafft und die beiden Brüder so zu einem Multimillionengeschäft gelangt waren.

Es war zunächst eine absolut verrückte Idee, vor allem eine aussichtslose, wie nahezu jeder, ob Freund oder Berater, den beiden zu erklären versuchte. Ja sie selbst waren nicht wirklich sicher, ob ihre Idee und das Konzept nicht doch nur eine absurde Verirrung in einen unrealistischen Traum war. Sie blieben aber am Ball, arbeiteten hart, überzeugten selbst die größten Skeptiker und fanden schließlich Investoren, die das benötigte Geld in ihr Projekt schossen.

Das Wagnis, ja dessen Verrücktheit, bestand in dem Vorhaben, den absoluten Marktführern ihrer Branche ernstzunehmende Konkurrenz zu machen. Sie hatten sich vorgenommen, ebenso groß zu werden, in diesem Konzert mitzuspielen, und dabei nicht nur die Piccolo-Flöte abzugeben. Ihre Gegner hießen MegaPin und MillionBall, die größten und mächtigsten Lotterien in den Staaten. Gegen diese erfolgreich ein neues Glücksspiel etablieren zu können, erschien anfänglich völlig aussichtslos.

John und Maurice Skinner waren direkte Nachfahren der Cherokee-Indianer. Das war ein Vorteil, denn die amerikanische Gesetzeslage erlaubte es ihnen dadurch, ihren Unternehmensgewinn aus Glücksspielen steuerfrei zu halten. Dieser kleine Rest an Amerikas schlechtem Gewissen sollte von ihnen genutzt werden, so wie es die vielen stationären Casinos in den Indianerreservaten vormachen und heute milliardenschwere Gewinne einfahren, längst zwei- und dreimal so viel wie in Las Vegas.

SevenDollies hatte es geschafft, nach kürzester Zeit bereits mehr als 20 Millionen Einzeltipps je Ausspielung pro Woche zu generieren. Und das nicht nur stabil, sondern mit stetig steigender Teilnehmerzahl. Das war natürlich nicht mit den Größten des Marktes zu vergleichen. Bedachte man aber, dass dieser Erfolg in nicht einmal drei Jahren seit der ersten Verlosung eingetreten und der Zuwachs noch lange nicht ausgeschöpft war, konnte SevenDollies einen traumhaften Aufstieg vorweisen.

Das Spielkonzept war angenehm einfach und zudem etwas fürs Auge. Sieben Roulettekessel standen nebeneinander. Ein Roboter warf die Rotation in den Kesseln an, jeweils mit exakt gleicher Kraft. Dann wurden, parallel in jedes Roulette, die Kugeln eingeworfen. Waren diese gefallen, ergab sich eine Zahlenreihe mit sieben Einzelzahlen, jeweils zwischen Null, Doppelnull und Siebenunddreißig. Das entsprach dem amerikanischen Roulette, das mit der Doppelnull eine zusätzliche Gewinnvariante aufwies. Gewonnen hatte derjenige, der alle sieben Roulettezahlen richtig getippt hatte. Dieses bedeutete den Hauptgewinn, der stets im Bereich von mindestens einer, je nach Spielsumme aber auch mehrerer Millionen Dollar lag. Gab es mehrere Gewinner, so wurde die Gewinnsumme geteilt. Die Doppelnull spielte zudem eine besondere Rolle und entschied über den Jackpot, der sich im Laufe der Auslosungen ohne Doppelnull anhäufte. Ihren Durchbruch schafften die Brüder Skinner mit den ersten TV-Sendern, die die Zahlenziehung live übertrugen und sich seither über die ständig steigenden Einschaltquoten freuten.

Den Namen `SevenDollies´ wählten die Skinners nicht von ungefähr. Als Dolly werden die kleinen Figuren bezeichnet, die in einem realen amerikanischen Casino auf die Gewinnzahl gestellt werden und diese so für die Spieler am Tisch sichtbarer machen. Bei sieben Roulettekesseln wären also auch sieben Dollies nötig. So war der Name schnell gefunden.

Den etablierten Lotterien war SevenDollies gar nicht Recht. Anfänglich wurden die Skinners nur belächelt. Nach den ersten Erfolgen von SevenDollies aber gab es schnell die ersten Störfeuer. Die Großen ließen ihre Beziehungen spielen und hetzten Kontrolleure der Glücksspielaufsicht auf die Skinners. Beschwerden wurden eingereicht und man schreckte sogar nicht davor zurück, Maulwürfe bei SevenDollies zu platzieren, Mitarbeiter, die zu spionieren hatten. Das alles aber konnte den Erfolg von John und Maurice Skinner nicht aufhalten. Bislang hatten sie allen Attacken standgehalten und ihre Position im Markt ausgebaut.