Der Umwirbelkomplott - Lisa Brenk - E-Book

Der Umwirbelkomplott E-Book

Lisa Brenk

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Beschreibung

Waghalsige und Neugierige gesucht! Die Wildewald Kompanie rüstet ein Schiff aus, das in nie gesehene Länder vordringt! Was wird Sie erwarten? Schätze? Fremde Kultu-ren? Exotische Tiere? Gesucht werden lizenzierte Abenteurer, Zau-berer, Diplomaten, Forschungsassistenten, Seeleute aller Daseins-formen und vieles mehr. Melden Sie sich am Immerstädter Hafen bei der Kompanie und werden Sie Teil des Schiffes, das Geschichte schreibt! Eigentlich wollte Fiametta nur ihrer gluckenhaften Mutter verheim-lichen, dass sie ihren Job als Treppensteigerin wegen des Dolch-manns mit dem Fuchsring verlor. Jetzt steht sie an Deck des ersten Umwirbelschiffes, vor ihr dröhnt der todbringende Strudel und das Schiff wird mitten hineinsegeln! Auf der andern Seite, so munkelt man, soll es eine fremde Zivilisation geben. Aber nicht nur das! Es warten eine Verschwörung, ein Giftmischer, das Gestöber, ein Dok-tor im Rettungsgewerbe, ein rätselhafter Gefangener, ein Galgen und vorherige Überlebende, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.

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Inhalt

Kapitel 1 Fiametta Malka Buchendorn (oder Immerstadts langweiligster Beruf)

Kapitel 2 Die Wildewald Kompanie

Kapitel 3 Der rostige Angelhaken

Kapitel 4 Eine mittelschwere Katastrophe

Kapitel 5 Das Schneefort

Kapitel 6 Die letzten Immerstädter Tage

Kapitel 7 Die Reise zum Umwirbel

Kapitel 8 Rosch

Kapitel 9 Wenn die Hoffnung sinkt

Kapitel 10 Dämonenwesen

Kapitel 11 Eine Verfolgungsjagd

Kapitel 12 Das Himmelsei

Kapitel 13 Eine Nacht mit dem Feind

Kapitel 14 Auf der Suche nach Granata Yuna Buchendorn

Kapitel 15 Eigene Wege

Kapitel 16 Zwei Spinnen im Netz

Kapitel 17 Ein furchtbar grandioser Plan

Kapitel 18 Eine neue Allianz

Kapitel 19 Rettungsmission für ein Schiff

Kapitel 20 Die Schlacht an der Werft

Kapitel 21 Bürgermeister Van de Wall

Kapitel 22 Rauch

Kapitel 23 Giftige Gassen

Kapitel 24 Der Umwirbelkomplott

Epilog

Lisa Brenk
Der Umwirbelkomplott
© Wölfchen Verlag 2019
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN: 978-3-943406-37-5 Print ISBN: 978-3-943406-38-2 EPUB Copyright (2019) Wölfchen Verlag 1. Auflage, März 2019 Coverillustration: © 2019 Lisa Brenk Innenillustrationen: Lisa Brenk Lektorat: Cornelia Franke Korrektorat: Antje Haugg Satz: André Piotrowski Hergestellt in Syke, Germany (EU) Wölfchen Verlag Radebergstraße 22 28857 Syke www.woelfchen-verlag.de

Kapitel 1Fiametta Malka Buchendorn (oder Immerstadts langweiligster Beruf)

Ich stolperte die Stufen hinauf, blieb stehen, bückte mich und zupfte ein funkelndes Schmuckstück aus dem Dreck. Fauliges Laub und rotbrauner Schlamm klebten an dem Ring. Ich wischte ihn mit dem Daumen ab, sodass feine silbrige Verzierungen zum Vorschein kamen. In der Mitte des Ringes war ein schwarzer matter Stein eingelassen, von zwei Fuchsohren eingerahmt. Eine Gänsehaut kroch mir über den Rücken und es kribbelte in meinem Nacken, so als würde mich jemand beobachten. Ich sah mich hektisch um, doch niemand war in der Nähe. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Fette Beute. Normalerweise fand ich nur alte Suppenlöffel, verlorene Schlüssel, hier und da mal ein Klunt, abgerissene Knöpfe, Tüten mit gebrannten Mandeln oder so wie heute Morgen ein Paar Stiefel.

Der Ring wanderte in meinen Sammelbeutel, den ich später im Büro abliefern musste. Das würde eine gute Prämie geben. Zehn, fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig gelbe Klunts Extra. Genug für einen heißen Staubkuchen und eine frische Nusslimo! Oder für den Eintritt im Dufttheater. Cornelius Borgel führte gerade ein unglaubliches olfaktorisches Stück auf, bei dem einem die Nasenhaare wegschmorten. Funkenflug im Pfefferminzstrauch hieß es … Doch jetzt Schluss mit träumen. Ich hatte zu arbeiten.

Ich beugte die Knie, machte ein paar Aufwärmübungen und starrte die ellenlange Treppe hinauf, die heute mein Arbeitsplatz war. Wer ich bin? Gestatten: Fiametta Malka Buchendorn, unterwegs bei ihrem stumpfsinnigen Job.

Treppensteigerin.

Vielleicht Immerstadts langweiligster Beruf. Ich nahm die nächste Stufe, meine Hand lag dabei vorschriftsgemäß auf dem Geländer und ich blickte freundlich drein. Mein Blick klebte dabei auf den Stufen, um keine weiteren Fundstücke zu verpassen.

Der Fundbeutel an meinem Gürtel schmatzte zufrieden vor sich hin. Er bestand aus dem Leder des Tausendzahntieres und das war selbst nach seinem Tod noch gefräßig. Ich tätschelte den Beutel, der sich durch eine Reihe silbriger Zähne verschloss. Zum Glück hatte ich heute schon einiges gefunden, sonst würde er mir bereits wieder die Hosen vollsabbern.

Treppenstufe um Treppenstufe ging es hinauf. Hier und da nickte ich jemanden zu, der mir entgegen kam.

Ich glaube, die wenigsten der Leute, die an mir vorbei marschierten, wussten, dass auf dieser Treppe Menschen wie ich arbeiteten. Aber ich nahm es ihnen nicht übel. Ich wäre viel lieber Wolkenmaler, Käsehobler oder Vorbeigeher. Immerhin wohnte ich in Immerstadt, dort, wo man alles werden konnte. Ich blieb einen Moment stehen und legte den Kopf in den Nacken. Über mir spannten sich die riesigen rotbraunen Lehmbögen wie bei einem Termitenbau.

In den Bögen lagen die billigen Wohnungen der Milliardenmetropole. Also auch mein Zuhause. Ich kniff die Augen zusammen, aber ich konnte unter den tausenden Fenstern und Wohnungen natürlich nicht ausmachen, wo unsere kleine Bude lag.

Bestimmt saß meine Mutter gerade am offenen Fenster, die Beine über das Fensterbrett baumelnd und strickte eine ihrer furchtbaren Kreationen. Ich sah auf die popelgrünen Socken, die aus den neuen Stiefeln hervor lugten. Dann wurde ich von einem Tritotten angerempelt, der einen Bowtukel an der Leine spazieren führte. Das graue blasenförmige Wesen blubberte vergnügt, als es Straßendreck mit seiner feinen Nase aufsog. Ich stapfte dem Riesen mit den drei Hörnern verdrießlich nach.

Von dem mütterlichen Verbot, Haustiere zu halten, fange ich gar nicht erst an.

Stufe 487. Das war die letzte. Die Treppe führte vom Erdboden in die erste Ebene Immerstadts. Wie ihr vielleicht wisst, reckt sich Immerstadt wie ein riesiger Termitenbau in die Wolken. Gepflasterte Straßen führen über Holzwege, runde Wohnkugeln hängen über klotzigen Kastenbauten. Geschäfte für Nasenkraut, Hundekämme und Laubpinsel türmen sich über Läden für Seegurkenzüchter, Kerzenkannen und Soßendosen. Ich hockte mich auf eine Bank, um kurz Pause zu machen. Nicht zu lange versteht sich. Ich musste in meiner Schicht zwölf Runden schaffen und wenn ich zu viel Zeit verplemperte, würde ich die letzten Runden rennen müssen, bis mir die Waden abfielen und meine Lungen sich wie ein ausgenudelter Ballon anfühlten. Das brauchte ich nicht schon wieder.

Ein lauer Wind tobte durch die Straße, wirbelte rostrote und samtgoldene Blätter auf und ließ sie wie Konfetti herabschaukeln. Sie flirrten in den Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch die Behausungen fanden. Es roch nach frischem Hefezopf mit Brausemus und Käsetalern. Nach ätherischem Harz und dem Regen, der vor einer Stunde auf mich niedergegangen war. Hier und dort auf dem Pflaster schillerten noch die Pfützen. Eine leichte Dunstglocke hing über der Straße. Wie malerisch – und so was von öde! Hier gab es keine Kneipen, in denen man ab und zu eine Prügelei beobachten konnte, die verrotteten Gassen waren weit weg, keine Bärenspinnenkämmerei war zu finden und kein Touristenschwarzmarkt. Nicht einmal eine Geisterbehörde.

Gelangweilt verschlang ich mein Pausenbrot – hartes Grünkernbrot mit ranziger Butter – und machte mich auf zur nächsten Runde. Lausige zehn gelbe Klunts würden heute Abend in meiner Tasche landen und fünf davon musste ich meiner Mutter abdrücken. Außer der Ring war wirklich so viel wert, wie er aussah.

Ich starrte die Treppenstufen an, die ich schon in- und auswendig kannte. Dort, die Stelle mit dem Riss. Hier das zähe Bohnenkraut. Da die Stufe, die ein Stück höher war als die anderen. Der Treppenbesitzer machte sich nicht viel aus der Pflege seiner Einnahmequelle. Wenn ich mal eine eigene Treppe gepachtet hätte, sähe das aber definitiv ganz anders aus!

Ich stockte, als ich einen Haufen Handzettel entdeckte, die jemand auf den nächsten vier Stufen verteilt hatte. Viele der Blättchen waren schon durchnässt und zertreten. Trotzdem war es meine Pflicht, den nassen Haufen aufzuheben.

»So ein Blattsalat«, fluchte ich leise, knüllte das Papier und stopfte die Handzettel in den Müllsack, der direkt neben dem Sammelbeutel baumelte. Welcher ungeschickte Blödian ließ ganze Stapel einfach so fallen? Ich glättete einen der Handzettel und erwartete eine Werbung für Duda Suppenkorn, den Rasenzähler, der einem zurzeit an jeder Werbetafel entgegenstrahlte, doch dem war nicht so.

Waghalsige und Neugierige gesucht. Die Wildewald Kompanie rüstet ein Schiff aus, das in nie gesehene Länder vordringt! Was wird Sie erwarten? Schätze? Fremde Kulturen? Exotische Tiere? Erfahren Sie es, in dem Sie sich bei uns vorstellen und den Eignungstest bestehen. Gesucht werden lizenzierte Abenteurer, Zauberer, Diplomaten, Forschungsassistenten, See aller Daseinsformen und vieles mehr. Melden Sie sich am Hafen bei der Kompanie und werden Sie Teil des Schiffes, das Geschichte schreibt!

Ich starrte den Zettel an und träumte mich sogleich auf die Holzplanken: Meerwasser spritzte auf, ich hangelte mich wagemutig von einem Seil zum anderen, schneeweiße Segel, die sich knatternd aufblähten … bis das Gesicht meiner Mutter vor mir auftauchte und das schöne Traumbild zerplatzte.

»Willst du so enden wie ich? Sieh in mein Gesicht, Kind!« Das würde sie sagen, mit einer Zitronenstimme, die vor Bitterkeit tropfte und mir trotzdem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Dann würde sie mich zwingen, in ihr entstelltes Gesicht zu schauen. Die Narben zu begutachten, die ihre eigene Berufung ihr beigebracht hatte. Die zerstörten milchigen Augen, die knubblige Haut, die Brandstellen, die schwarzen Verfärbungen, die kahle Stelle an ihrem Kopf. Und wie immer würde sie mir nicht glauben, dass es mir egal war, wie sie aussah und wie ich aussehen würde, wenn ich endlich als etwas anderes arbeiten dürfte als Fenstergucker, Kissenschüttler oder Flaumsortierer.

Ich seufzte und schob den Handzettel in meine Hosentasche.

»Na, was Interessantes entdeckt?« Ich erspähte Galeno; auf dem Geländer sitzend und mit den Beinen baumelnd.

»Nur Müll«, sagte ich und dachte an den Ring in meinem Sammelbeutel. Ihm würde ich bestimmt nicht verraten, dass ich heute mal etwas abstauben konnte. Sonst würde er versuchen, seine langen Finger danach auszustrecken. Galeno fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. Das machte er ständig und deshalb erinnerte er mich immer an eine Eidechse. Oder einen Molch.

»Was ist mit dir? Wie läuft es so als Türstopper?« Mein Blick fiel auf seinen linken Fuß, der in dicken Bandagen steckte.

»Hab gekündigt«, meinte er schulterzuckend. »Morgen bin ich Bienenweber.«

Galeno folgte mir, als ich weiter die Treppe herunter stieg. Er rutschte dabei auf dem Geländer mit. Kleine Nervensäge.

»Wann bist du fertig? Wir, also Nola, Pio und ich wollen nachher ’ne Runde drehen und die Läden abgrasen. Kommst du mit?«

’ne Runde drehen und die Läden abgrasen, bedeutete die im Hintereingang stehenden Kartons für Bedürftige durchzuwühlen und vergammelte Salatköpfe, Pampolen und Bollen nach Hause zu tragen. Nola, Pio und Galeno waren meine direkten Nachbarn und diese Runden verliefen eigentlich immer unterhaltsam. Doch heute hatte ich eher Lust, meinen Fund zu feiern und alleine um die Häuser zu ziehen, bis Jersey mich aufspürte und mir ein paar Ohrfeigen verpasste.

»Ne, lass mal Galeno. Ich hab schon was vor.«

Galeno zog eine Schnute. »Suchst du wieder das Abenteurerhaus? Dieses Kuratas, um die wilden Tiere zu sehen?«

»Heute nicht.«

»Du musst mir Bescheid sagen, wenn du das tust. Nola hat in der Zeitung gelesen, dass die letztens einen Spingpang gefangen haben. Der soll tausend Beine haben und eisenharte Schuppen, ein Kopf wie ein Pferd und Hörner wie ein Einhorn.«

Ich blickte einen Moment auf meine Fingerhandschuhe, an denen der Straßendreck klebte. Oh, einen Spingpang! Das klang hinreißend. Nach ein bisschen Herzklopfen und Schweißfingern. Vielleicht würde ich es ja wirklich suchen. Aber bestimmt nicht mit Galeno. Heute wollte ich alleine sein. Außerdem lagen noch drei Runden Treppenstufen vor mir.

»Vielleicht suchen wir morgen danach, ja?« Ich erreichte die unterste Treppenstufe, drehte auf dem Absatz um und sprintete die Stufen wieder hinauf, wissend, dass Galeno mit seinem Humpelfuß nicht so schnell folgen konnte.

Türstopper. Es war gut, dass er den Beruf gewechselt hatte. Der war nur etwas für Leute mit Hufen, Echsenhaut oder welche, die sich Schuhe leisten konnten.

Ich schob mich hastig an einem Treppenbenutzer im schwarzen Umhang vorbei. Es roch nach gebrannten Mandeln und ich sah mich um, in der Hoffnung, dass jemand seine Tüte hatte fallen lassen. Zufällig gab es unten an der Treppe einen Stand, der diese Leckereien anbot. Etwas, das ich mir niemals leisten konnte, aber Treppenbenutzer waren manchmal herrlich ungeschickt.

Doch es erwarteten mich keine Mandeln. Nur ein Mann mit sanftem Gesicht, schwarzem langen Haar und wachsamen Augen.

»He, Treppensteiger, bleib stehen.« Meine Füße gehorchten. Ich blieb, wo ich war und starrte den Kerl unverblümt an. Seine Stimme war … wie soll ich das beschreiben? Süß wie Honig, gleichzeitig samtig wie Rauch.

»Hast du heute etwas Kostbares gefunden? Einen Ring?« Sein Blick wanderte zu meinem Beutel. Das Leder zitterte schuldbewusst auf meinem Bein.

Ich starrte weiter in die schwarzen Augen und versuchte, meine umherirrenden Gedanken einzufangen.

»Sprich!«

»Ja«, sagte ich und biss mir sogleich auf die Lippen. Ich riskierte gerade meinen Job. Es war verboten, über Fundstücke zu sprechen. Rechtlich gehörte alles, was auf einer Treppe verloren ging, dem Treppenbesitzer und ich musste es ihm ausliefern.

»Gib ihn mir. Es ist meiner«, befahl der Mann mit sanfter Stimme und eigentlich hatte er ja recht. Sein Ring. Gab es einen Grund, ihm den nicht zurückzugeben? Mir wurde warm bei dem Gedanken. Ja. So sollte es sein, der rechtmäßige Besitzer sollte den Ring zurückbekommen.

Der Mann streckte seine Hand aus und lächelte mir zu. Ich tastete zu meinem Sammelbeutel und strich ihm über die Seite, damit die Zähne sich öffneten, doch der Beutel wand sich nur hin und her und grunzte dabei.

Irritiert riss ich den Blick von dem Mann, um den alle Passanten einen respektvollen Bogen machten, und klopfte auf den Sammelbeutel.

»Mach schon, du dummes Ding!«, krächzte ich und strich erneut über das Leder. »Geh auf!«

Ich schüttelte ihn. Ein Schauer kroch mir über den Rücken. Plötzlich wusste ich wieder, dass der Beutel die Beute nur den Treppenbesitzer ausspucken würde. Egelbert Munter war der Einzige, der Sachen herausnehmen konnte. Schließlich war es sein einst Tausendzahn gewesen, welcher jetzt an meinem Bein baumelte. Trotzdem wollte ich dem Fremdling nicht enttäuschen. Ich wollte ihm seinen kostbaren Ring geben. Belohnung hin oder her … wie viel Klunts Prämie ich dafür wohl bekommen hätte? Einen Grünen mindestens. Wenn ich meiner Mutter davon nichts erzählte, reichte das, um eine Fahrt hinauf in die Schneeebenen zu bezahlen und dort alles zu erkunden. Ich hatte noch nie echten Schnee gesehen … Besser der Beutel sprang nicht auf und ich lief davon.

Ich sah auf, der Mann schien meine Gedanken gelesen zu haben. Aus seinem Mantelärmel schoss ein Dolch in seine offene Hand. Beim Baum des Lebens! Ich duckte mich unter dem Arm hinweg und begann zu rennen. Was hatte ich getan?

Ich schlüpfte an einem nach Algen und Fisch riechenden Mylttroll vorbei und sprang über eine Gruppe Küsel hinweg. Die Nahkampfzwerge quietschten aufgebracht.

Meine Treppe. Mein Revier. Der Mann hinter mir stolperte, als er die unebene Stufe erreichte, fing sich aber schnell wieder. Borkenmist, Borkenmist! Ich drehte den Kopf. Ein schwarzer Schatten tanzte um die Schultern des Fremden. Weiter!

Wie gut, dass tagelanges Treppensteigen einen in Form hielt. Ich sprang die letzte Treppenstufe hinauf und raste in eine Fußgängerzone. In Immerstadt war es ziemlich leicht zu verschwinden. Ich passte mich dem Tempo der anderen an, zog mir die Kapuze über den Kopf und ließ mich von dem Strom Einkaufender mitreißen. Ich lief den Holzweg herunter. Hinter Schaufenstern lagen speziell angefertigte Zahnstocher, Holzsandalen, Rindenhemden, Spahntorten und Wurzelhobel. War der Fremde noch hinter mir? Mein Herz pochte schmerzhaft in meiner Brust. Alle Warnungen meiner Mutter schossen mir durch den Kopf. Sprich nicht mit Fremden, renn nicht zu schnell, sonst schlägst du hin und haust dir die Zähne raus, bleib in Straßen, die du kennst, sonst wirst du ausgenommen wie eine Bernsteingans …

Es war nicht das erste Mal, dass ich vor etwas oder jemandem weglief in Immerstadt. Einmal hatte ich einen Borkling gesehen. Seine langen Fühler und Kneifzangen schauten unter einem Umhang heraus und aus reiner Neugierde hatte ich meinen Fuß auf den Saum gestellt.

Der Umhang war weggerutscht, das Monster stand in seiner ganzen Pracht da und starrte mich erbost an. Die sechs Ärmchen zeigten auf mich. Die krustige Haut von Moos überwuchert. Der Gestank nach verrotteten Holz und feuchter Erde. Ähnlich fühlte ich mich gerade. Ich spürte wieder die Pranken des Borklings im Nacken. Damals wurde ich von einer Stadtwache gerettet.

Auch jetzt hielt ich nach einem Rotrock Ausschau. Doch nirgends war nur ein Fitzelchen Rot zu sehen.

Ich schob mich an einem Stand vorbei, der gerollte Nollblätter verkaufte. Der Sammelbeutel drückte gegen mein Bein. Er brummte selbstgefällig vor sich hin, das verräterische Ding. Hätte er den Ring einfach ausgespuckt, müsste ich nicht vor einem Irren mit Dolch flüchten.

Wo lang jetzt? Ich durfte mich nicht in mir unbekannten Straßen und Gassen abdrängen lassen. Sonst landete ich noch aus Versehen in einer verrottenden Gegend. Dort, wo die Borklinge zuhause waren und der Abschaum der Gesellschaft. Wachshexen, Knochenorakel, Touristen.

Ich blieb in einer Traube Immerstädter stehen, die gebannt der Vorstellung eines Mäusejongleurs folgte. Nervös beobachtete ich die fliegenden Nager, während ich mich langsam nach vorne schob, um mir einen Schutzmantel aus Passanten umzulegen. Zum Glück war ich klein und schmächtig und konnte mich durch jede Lücke quetschen.

Zwölf Pelzkugeln flogen durch die Luft. Der Akrobat pfiff auf einer Silberpfeife eine lustige Melodie. Mein Magen knurrte und vor meinen Gesicht schwankte, verlockend duftend, eine Tüte mit glasierten Zuckernüssen, die ein Zuschauer in der Hand hielt und kalt werden ließ.

Wäre ich so geschickt wie Galeno, würde ich mir ein paar grapschen. Doch ich traute meinen Fingern nicht. Ich biss mir auf die Lippen und wollte weiter schleichen.

»HE! Loslassen!«

Eine Hand lag in meinem Nacken. Erwischt!

Wie erstarrt hing ich da. Wie ein nasses Huhn. Wie ein plumpes Ding. Unfähig, mich zu wehren.

»Hab ich dich endlich, Fiametta Malka Buchendorn!«

Was? Das war nicht die Stimme des Fremden. Das war das Zischeln von Egelbert Munter. Ich drehte den Kopf, so gut es ging, und entdeckte das Gesicht meines Vorgesetzten.

»Wolltest du dich mit der Beute des Tages davonmachen was? Bist nach Schichtende nicht in mein Büro gekommen!« Er zerrte mich aus der Menge. Keiner half mir. Ein paar glotzten, andere hatten nur Augen für fliegende Nager. Ich war nur ein Mädchen in Lumpen, das gerade einen Job verlor.

Widerstandslos ließ ich mich von Egelbert zum Treppensteigerbüro führen. Sollte er doch den Ring nehmen. Dann war ich den Dolchmann los. Klimpernd schlug die Ladentür des Treppensteiger Hauptquartier auf. Ich rümpfte die Nase. Hier roch es immer nach Schuhpolitur. Die vornehmeren Treppensteiger, welche die Treppen in den noblen Stadtgebieten und Straßen abliefen, wurden mit feinen Wildlederstiefeln ausgestattet. In der Chausseeallee und Padauk-Straße zum Beispiel. Orte, die ich nur vom Namen her kannte. Dort soll alles grün sein. Pflanzen bedeckten dort angeblich die Wege und Hauswände. Es gab Häuser mit Gärten, die aus poliertem Holz bestanden. Diese Viertel lagen ganz dicht am Zentrum, am Baum des Lebens. Angeblich vibrierte die Luft dort vor Leben und man fühlte sich immer wach und tatbereit.

Egelbert zerrte mich zu seinem Tisch und stellte mich davor ab. Dann stampfte er drum herum und warf sich rücklings in den Stuhl. Ohne Pause kramte er einen Stapel Papiere heraus.

Ich stand da und ballte die Fäuste. Gleich würde er ein Urteil über mich sprechen und eine niederschmetternde Empfehlung schreiben. Dann könnte ich bei meinem nächsten Job auf noch weniger Gehalt hoffen.

Blattgewitter! Meine Mutter würde mich ausschimpfen, wenn ich heim kam. Mein Bruder Jersey mir eine Ohrfeige verpassen. Vermutlich wurde mein Essen für heute gestrichen. Mein Kopf dröhnte.

Egelbert knallte ein Formular auf die Schreibtischplatte und tauchte die Schreibfeder in die rote Tinte. Mit zerfurchter Stirn begann er hastig auf dem Zettel herum zu kritzeln.

»Verlassen des Arbeitsplatzes, sich an fremdem Eigentum vergreifen … meinem Eigentum! Flucht vor dem Vorgesetzten.«

Ich holte Luft, um ihm zu sagen, wie es wirklich war. Von dem Dolchmann wollte ich erzählen und dass er mich bedroht hat. Aber würde Egelbert mir glauben? So heftig, wie der die Feder auf das Papier rammte, wahrscheinlich nicht. Ich ließ die Schultern hängen. Ich war eine Versagerin.

»Beutel her!«, befahl Egelbert, der aufsah und ein anderes Formular nahm.

Ohne zu murren, löste ich die Lederschlaufe und warf ihm den Tausendzahnbeutel auf den Tisch.

Egelbert klopfte auf das Leder und die Zahnreihe öffnete sich. Ohne Widerworte spuckte es all meine Fundstücke aus, in der Reihenfolge, wie ich sie gefunden hatte.

»Na, schauen wir mal, warum du fortgelaufen bist. Eine Tabakdose … leer. Ein Kerzenstummel. Ein Päckchen Pfefferminztee. Ein schwarzer Klunt.« Er hielt den glänzenden Würfel kurz ins Licht und prüfte ihn auf Echtheit. Obwohl sich niemand die Mühe machte, Schwarze zu fälschen.

»Eine Rolle Faden. Eine Stricksocke, bunt. Eine Brille mit gesprungenem Glas …« Egelbert sah nach jedem Gegenstand hoch und starrte in mein Gesicht. Als ob ich wegen eines schwarzen Klunts meinen Job aufgeben würde!

Darauf folgten ein kleiner Holzstern, ein Gläschen Marmelade und dann der Ring.

Der Beutel rülpste und schmatzte, dann kullerte das Silberding über den Schreibtisch.

»Aha! Beim ewigen Baum! Da haben wir es. Das ist ein …« Ich blickte auf, als Egelbert mitten im Satz stockte. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Starr blickte er den Ring an, den er aufgehoben hatte. Fuhr mit den Fingerspitzen über die Fuchsohren.

Plötzlich ließ er das Schmuckstück fallen, als hätte er sich daran die Finger verbannt. Er sprang auf so schnell auf, sein Stuhl kippte nach hinten um. Der Ring hüpfte mit einem hellen Pling über die Holzplatte und der Tausendzahnbeutel schnappte erfreut danach.

»Da … das … behalt das!« Egelbert griff nach dem Beutel und warf ihn mir zu. Ich fing ihn auf.

»Was?«

»Behalt das Ding, der Beutel gehorcht jetzt dir. Tu Spucke drauf! Und jetzt raus! Raus aus meinem Büro und lass dich nicht mehr sehen!« Egelbert griff nach einem Schirm, der an der Wand gelehnt hatte, und fuchtelte damit in meine Richtung. Den Beutel fest umklammert stolperte ich zurück.

»Geh, Kind! Verlass sofort meinen Laden!« Er stach mit der Schirmspitze nach mir und ich rannte los.

Klimpernd schlug die Tür hinter mir ins Schloss, das gleich darauf knackte, als Egelbert sie abschloss und die Gardinen vorriss.

Den Beutel an meine Brust gepresst stand ich da und spähte die Straßen auf und ab. Ein Laubwind fegte an mir vorbei, riss an meinen Haaren und an meinem schmuddeligen Pullover. Kein Bewohner war zu sehen. Es war, als hielt alles die Luft an. Ich, die Häuser, Immerstadt und jetzt auch noch der Wind. Er verschwand, als wäre er weggewischt worden.

Die Härchen auf den Armen stellten sich auf. Ich spannte mich an. Mein Herz pochte schmerzhaft.

Einen Moment fühlte es sich an, als würden Spinnenweben über meine Stirn streichen. Dann setzte der Herbstwind wieder ein, er trug heiteres Geplauder mit sich und einen Augenblick später schlenderte eine Traube Immerstädter vorbei. Ich schloss mich ihnen an. Mit zitternden Knien.

Mein Bauchgefühl sagte mir, dass das gerade knapp gewesen war. Eine Sekunde, die über Leben und Tod entscheidet. Genau so hatte meine Mutter es mir früher geschildert. Die Welt hält den Atem an und entweder es knallt und sie dreht sich ohne dich weiter oder du hast noch mal Glück gehabt. Ich fühlte mich wie eine Maus, die dem tödlichen Krallenhieb einer gigantischen Katze entgangen war.

Die Gruppe bog in die Honigschuhstraße ein, in der mehr los war. Der liebliche Honiggeruch und der Duft von neuen Lederschuhen stieg mir in die Nase und nahm die Anspannung von mir. Von hier aus war es nicht mehr so weit bis zu dem Aufzug, der mich nach Hause bringen konnte. Obwohl … ich tastete meine Taschen ab. Den Lohn für heute hatte ich ja nicht bekommen. Den gelben Klunt, welcher der Aufzug kostete, hatte ich nicht bekommen.

Ich schluckte. Das hieß, ich musste die Leitern oder die Stiege benutzen. Ich wischte mir eine Schweißperle von der Stirn und blieb einen Moment am Schaufenster der Wabenmiene stehen. Platten aus wunderschönen Nussholz reihten sich hinter der Scheibe aneinander und darauf stapelten sich die tollsten Leckereien aus Honig. Zuckerkugeln mit heißem Honigkern. Klebrige Nussriegel, mit Schmee versetzt für ein angenehm warmes Gefühl in der Kehle. Luftige Honigwölkchen, glasierte Beerenspieße, marmorierte Bienenflügel …

Ich musste mich zwingen, einen großen Schritt zurückzutreten. Kein Geld, kein Essen. So war die Regel bei uns zu Hause. Ich sah auf den verfluchten Sammelbeutel in meinen Händen. Wenn ich eine Pfandleihe entdeckte, könnte ich den Ring gegen gute Klunts eintauschen. Doch woher sollte ich wissen, wie viel ich verlangen sollte? Ich sah an mir herunter, die löchrig geflickte Hose, der Pullover mit den Fäden, die aus den Ärmeln hingen, weil unsere zweiköpfige Katze so gerne darauf schlief … Jersey übernahm immer, wenn es um Geld ging. Mein älterer Bruder hatte sich in der Immerstädter Feuerwache nach oben gearbeitet. Vom Eimerträger, über dem Karrenlenker bis zum Feuermeister – und genauso benahm er sich auch. Als gehörte ihm die Welt. Oder zumindest unsere Wohnung, was ja auch stimmte. Er selbst teilte sich ein schickes Haus mit seiner vierarmigen Frau. Effke, die Ätzende.

Ich raufte meine Haare. Sie standen danach in alle Richtungen ab. Fiametta Malka Buchendorn! Du bist wirklich ganz unten angekommen. Da konnte ich heute Abend auch mit Galeno und den anderen Essensreste sammeln. Missmutig ließ ich mich auf eine der mit Lederpolster bezogenen Bänke sinken. Der Handzettel in meiner Hosentasche knisterte.

Ja. Ein Schiff besteigen, fortsegeln und als reiche Dame wiederkommen. Jersey Diamanten ins rosa Gesicht werfen. Wenn ich reich wäre, würde ich in ein Haus ziehen, in dem es in jedem Zimmer Fenster gab. Fenster, die man sogar alle öffnen konnte! Welche, die nicht nur über Strickleitern erreichbar waren. Mit einem Zimmer nur für mich!

Ich zog den Zettel noch einmal heraus und betrachtete das Wappen, das darauf gedruckt war. Zwei Bäume dicht nebeneinander, deren Äste und Kronen sich ineinander verschlangen. Die Wildewald Kompanie. Von ihr hatte ich bisher noch nichts gehört.

Natürlich war der Gedanke nur eine Spinnerei. Ich war gerade Fünfzehn geworden und weit davon entfernt, ein Forscher oder lizenzierter Abenteurer zu sein. Wahrscheinlich hatte ich auch nicht die passenden Papiere, um mich überhaupt vorzustellen. Ich zerknüllte den Handzettel, strich ihn gleich darauf aber wieder glatt.

Letzte Woche erst hatte ich auf der Treppe eine Zeitung gefunden, die ich in der Pause gelesen hatte. Es war wieder ein Artikel über Luzi, die lustige Witwe, darin gewesen. Ich hatte die Seite gestohlen und die Ikozonografie von ihr neben mein Bett gepinnt. Luzi war eine Unterstützerin und Abenteurerin des Kuratas, dem Club für Abenteurer und Haudegen. Auf dem Foto posierte sie neben einem ausgestopften Monster mit hundert Augen und genauso vielen Reißzähnen. Sie lächelte breit in die Kamera, ein Säbel auf der Schulter, bürstenkurzes Haar vom Wind zerzaust. Nichts Sehnlicheres hab ich mir in dem Augenblick gewünscht, als zu sein wie diese Frau. Nicht so verbittert wie meine Mutter, die mit blinden Augen auf die Stadt herunterstarrte und strickte, anstatt wie früher auf die Jagd zu gehen.

Luzi würde sich sicher bei einer solchen Unternehmung bewerben. Ich sah auf die Stiefel an meinen Füßen, die ich heute Morgen auf der Treppe gefunden hatte und nicht bei Egelbert abgegeben hatte.

Entschlossen sprang ich auf. Ich sollte es wenigstens probieren. Ich konnte zur Not diesen verfluchten Ring als Bestechung benutzen. Ich stopfte den Handzettel wieder in die Tasche und steckte die Hände in die Ärmel. Und wenn ich nicht genommen wurde, dann konnte ich wenigstens von mir behaupten, schon den Hafen gesehen zu haben.

Kapitel 2Die Wildewald Kompanie

Den ganzen restlichen Tag war ich gelaufen oder, unter Planen und Heu verbogen, heimlich auf Kutschen mitgefahren. Immerstadt war gewaltig und mein Lebtag lang hatte ich die Stadt noch nicht verlassen. So weit trugen mich meine Füße nicht. Ich sprang von dem Wagen, der hinunter zu einem Wendehammer zuckelte, und rieb mir die schmerzenden Knie. Die Luft roch merkwürdig. Würzig, wie Fisch und ein wenig wie die Mylttrolle. Meine Mutter sagte immer, sie rochen nach Algen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was das sein sollte.

Ihr seht schon, ich war damals hervorragend darauf vorbereitet gewesen, eine Schiffsreise anzutreten.

Bunte Wimpel flatterten im leichten Wind über mir, spannten sich von einem Häuserdach zu nächsten. Raues Gelächter drang aus den Kneipen und Läden, die sich hier die Hand gaben. Interessiert lugte ich in jedes Schaufenster und begutachtete den Kram darin, mit dem ich nichts anfangen konnte. Seile dick wie meine Beine. Holzarme, runde Geräte mit Ziffern darauf, Hölzer, die oben zu klobigen Dingern ausliefen, Stiefel so groß, dass nur ein Riese hineinpassen konnte, kleine glänzende Röhren …

Ich folgte diesem Rauschen und Gluckern, das vom Kai kam. Irritiert blieb ich stehen und starrte mit großen Augen auf die funkelnden Lichtreflexe auf dem schwarzen, schwappenden Wasser. Als wäre ein Stück Nachthimmel zu Erde gesunken. Weiße Gischtkronen rollten in meine Richtung. Wellen krachten gegen die Mauer, auf der ich stand, und warfen Tropfen zu mir hinauf, die salzig schmeckten wie die Suppe, die ich bei Galeno zum Abendessen bekam, wenn ich dort eingeladen war.

Ob er oder die anderen das hier schon einmal gesehen hatten?

Ich beugte mich weit über die Eisenbrüstung, um keinen Augenblick zu verpassen.

Meine Finger brannten vor Kälte, als ich mich nach einigen Minuten losriss.

Wo war jetzt diese Wildewald Kompanie? Ich sah mich um, entdeckte jede Menge Schilder, die abenteuerliche Jobs anpriesen. Fackelwerfer, Salzkrustenschaber, Kalfaterwicht, Algenflechter, Rauchmeister, Nebelfächerer oder Bojensammler. Da, noch einer von den Handzetteln! Ich ging zu dem Laden, bei dem die Anzeige von innen an der Fensterscheibe klebte, und trat ein. Ein flackernder Feuerschein im Kamin in einer Ecke warf orangenes Licht auf die Waren. An einem Ständer aus Treibhölzern hingen dicke, streng riechende Ledermäntel, die glänzten, als wären sie mit Wachs abgerieben. Als die Tür hinter mir zufiel, schaukelten die Jacken hin und her wie Tänzer an Seilen.

»Was willst du denn hier?«, fragte eine schnarrende Stimme hinter dem Tresen. »Ich habe gerade heute Morgen einen neuen Mantelbürster gefunden. Mehr Aushilfen brauche ich zurzeit nicht.«

»Ich suche keinen Job, sondern ›Die Wildewald Kompanie‹«, sagte ich mit fester Stimme und starrte in die Dunkelheit zum Tresen, hinter dem nur der Umriss eines korpulenten Herren zu erahnen war.

»Wildewald?« Er kam näher und ich erkannte, dass er zum Volk der Klebefinger gehörte. Wie jeder seiner Spezies hielt er seine Finger immer ausgestreckt vor sich, um an den klebrigen Zwischenräumen zwischen den Fingergliedern nirgends hängen zu bleiben. Angeblich konnten sie wie Spinnen an Decken entlang krabbeln, ohne dass sie herunterfielen. Angeblich waren sie außerdem die geschicktesten Taschendiebe, weil sie nur in die Taschen fahren und unbemerkt mit ihrer angeklebten Beute wieder herauskommen mussten.

»Wildewald liegt auf der anderen Seite des Hafenbeckens. Was willst du da? Butterer werden? Besenschwinger? Fassroller? Donnerschlag und Mastbruch! Du siehst zu zierlich aus, um im Hafen zu arbeiten. Hier weht ein rauer Wind.« Er setzte sich in Bewegung, wich der Theke mit einem Hüftschwung aus, der nicht zu dem plumpen Körper passte, und baute sich vor mir auf.

Seine violetten Augen strahlen auf mich runter. Die zahlreichen Lachfalten um seine Augen, die ich erst entdeckte, als er vor mir stand, nahmen seinem Gesicht den Schrecken.

»Beim dreisten Klabautermann, du bist ganz schön dürr. Willst du ein Stück Kuchen, bevor du rüber zu den Halsabschneidern und Ausbeutern gehst?«

Er klatschte in die Hände, die sich mit einem saftigen Schmatzen wieder voneinander lösten. Kurz schimmerten klebrige Fäden dazwischen auf, als hätte er Schnecken gestreichelt. Doch das Klatschen sorgte nur dafür, dass es im Laden heller wurde.

»Ebert Locke, mein Name. Willst du dich setzen? Der Kuchen muss aufgegessen werden, ich habe heute Geburtstag und extra einen für die Kunden gebacken.« Er wies auf einen Stuhl neben der Theke und ich setzte mich zaghaft.

Kuchen. Grünkernbrot. Egal! Ich hatte seit Stunden nichts gegessen und außerdem Bauchdrücken, weil meine Mutter bestimmt schon Jersey Bescheid gegeben hatte. Mein Bruder würde die Straßen nach mir absuchen und dazu das Feuernetz benutzen, mit dem Botschaften schneller als durch jeden Imp durch die Stadt geschickt wurden.

Ich schüttelte den Gedanken ab. Ebert kam mit einem Teller süß duftender Sahneschnitten zurück. Es fehlten nur zwei Stücke und ich guckte beschämt zu Boden, denn das bedeutete wohl, dass sein Mantelladen nicht so gut lief.

»Herzlichen Glückwunsch«, murmelte ich und griff nach dem größten Stück.

»Was ist das für eine Frucht?« Ich deutete auf die orangenen Stücke.

»Pampelmuse und Orangen«, erklärte Ebert freundlich und nahm sich ebenfalls ein Stück.

Die Frucht schmeckte bitter, aber ich kaute so hastig, dass ich es kaum schmeckte.

»Jetzt erzähl mal, was dich zu so später Stunde hertreibt. Heute ergab sich einfach keine Gelegenheit für einen netten Plausch.«

Ich leckte mir die Finger ab, sah mich im Laden um. Es gab keine Hintertür, durch das Fenster konnte man mich nicht sehen. Ein keiner Plausch konnte nicht schaden.

Ich zog den knittrigen Handzettel heraus. »Ich will einen Job auf diesem Schiff«, erklärte ich und griff nach einem weiteren Kuchenstück.

Ebert sah von weitem auf das Flugblatt, ohne es entgegenzunehmen. Dann lächelte er traurig.

»Du findest etwas Besseres, Mädchen. Du musst das nicht tun.«

»Ich will das aber«, versicherte ich mit dem Mund voller Sahne. »Ich muss raus. Einfach raus aus Immerstadt. Und ich brauche Klunts. Viele Klunts, um in Ruhe gelassen zu werden.«

»Warst du schon mal auf einem Schiff? Es ist ständig nass, der Wind pfeift einem immer um die Ohren, die Seeleute brüllen einander ständig an. Ohrenkrabben versuchen einem in den Gehörgang zu krabbeln. Nixen und Tentakelpfeifer versuchen dich in das Wasser zu locken und die Garantie, dass das Schiff überhaupt heil zurückkommt, ist … nun ja, genauso hoch, als ob ich jemals ein Blatt des Lebensbaumes berühren dürfte.« Ebert strich über einen der Mäntel und starrte durch ihn hindurch.

»Alles ist besser, als in einem winzigen Haus mit seiner Mutter zu wohnen, die bitterer als jede Pampelmuse ist. Ich bin es gewohnt, hungrig ins Bett zu gehen und der Wind pfeift immer durch mein Zimmer, das ich mir mit einer zweiköpfigen Katze und einem Knalz teilen muss.« Ich zuckte mit den Schultern. »So sieht es nun mal aus.« Ich streckte meine Hand in Richtung des Kamins. Mir war schlecht. Der Jackenhändler hatte recht. Ich hatte keine Ahnung von Schiffen oder der Seefahrt. Ich konnte nicht einmal schwimmen. Aber ich war nicht den weiten Weg hierhergekommen, um jetzt schon aufzugeben.

»Ja, das Leben ist schon sonderbar. Ich hätte auch niemals gedacht einmal Mäntel zu verkaufen. Das sind übrigens die besten Jacken, die man auf einem Schiff tragen kann. Nahezu wasserdicht, mit vielen Taschen, stoßgedämpft, falls man bei unruhiger See hin- und hergeworfen wird. Im Kragen ist ein Antiseekrankheitszauber eingeschrieben von einem Wallander. Als ich noch zur See fuhr, gab es solchen Schnickschnack nicht. Da war man froh, wenn man überhaupt ein Hemd hatte. Meines war aus Peststoff. Der kratzt auf der Haut. Kannst du dir das vorstellen?«

»Klar. Meine Decke ist auch aus Peststoff. Mein Kopfkissen ein alter Jutesack gefüllt mit Steinen.«

Ebert lächelte. »Gegessen haben wir das morsche Holz, das wir austauschten. Getrunken den Schweiß der Rudertrolle.«

»Das ist ja noch gar nichts. Einmal mussten wir eine Woche von den Fußnägeln des benachbarten Kanalbauch leben. Wir haben sie eingeweicht und dann gebraten.«

»Das ist wirklich widerlich!«, lachte Ebert und schob mir den Teller noch mal hin. »Na schön, du hast mich überzeugt. Wenn du da drüben auf die andere Seite gehst, dann lass dich nicht unterkriegen.«

Ich nickte und nahm mir noch ein Stück Kuchen, dann stand ich auf.

»Falls du wirklich genommen wirst … dann komm vorher zu mir. Ich habe ein paar gebrauchte Mäntel. Vielleicht helfen sie dir.«

Ich nickte dankbar. Stopfte mir das letzte Stück in den Mund und verließ den Laden mit gemischten Gefühlen.

Den Bauch voller Sahne trottete ich über die Brücke, die Ebert mir beschrieben hatte. Sie wurde beleuchtet von den funkelnden und wirbelnden Lichtern, die von einem Turm mitten im Wasser ausgingen. Wie Feuerkäfer sausten die Lichter durcheinander und führten einen komplizierten Tanz auf. Ich ging ein bisschen schneller. Dort, wo Feuer brannte, konnte Jersey mich finden.

Die Bogenbrücke endete auf einem Kai, ähnlich wie der auf der anderen Seite, nur dass hier eine große Mauer entlang lief, an der Nester klebten, die aussahen wie die der Knirschvögel, die ab und zu neben meinem Fenster nisteten. Unförmige Gebilde aus Lehm und Stroh. Schnarchen und Gelächter klang hinter den Segeltüchern hervor, die vor den Eingängen hingen. Unterkünfte für die Hafenarbeiter, wie ich vermutete. Ich fand einen Wegweiser und entdeckte endlich das Symbol der Wildewald Kompanie darauf.

Den Schildern folgend wagte ich mich immer tiefer in den Hafen hinein. Große Frachtschiffe schaukelten auf dem Wasser zu meiner Linken. Erstaunlich, wie sich die hundert Seile und Taue an den Masten nicht ineinander verhakten. Von unten sah das Ganze wie ein riesiges Durcheinander aus. Ich wich einem Ochsenkarren aus, der schwer beladen auf ein fast abfahrbereites Schiff zuhielt. Mittlerweile zog die Müdigkeit an meinen Knochen, aber ich wollte die Kompanie wenigstens finden, bevor ich mir ein Eckchen zum Schlafen suchte. Ich schlich mich durch die Hafenarbeiter, die sich Warnungen zuriefen und Kisten schleppten.

Wenn man so schmal war wie ich, konnte man sich überall durchmogeln. Niemand beachtete mich. Ich hob eine hellblaue Mondofrucht auf, die aus einem Korb gesprungen war und beinahe von schweren Stiefeln zerquetscht wurde. Mondos schmeckten leicht säuerlich und hatten nussige Kerne. Das konnte mein Frühstück sein. Ich schob sie mir in die Tasche und tätschelte kurz den Sammelbeutel, der bedächtig brummte.

In der Ferne entdeckte ich erneut das Symbol vom Handzettel. Ein riesiges Schild, Gold auf dunkelgrün prangte am nächsten Hafenabschnitt, an dem es beschaulicher zu ging. Ein blauer Grenzstein markierte das Gebiet der Kompanie. Ein merkwürdiges Kribbeln lief von meinem Kopf bis zu den Füßen, als ich ihn passierte. Es war dasselbe Gefühl, wie wenn man durch ein Spinnennetz läuft und die unsichtbaren Fäden sich auf die Haut legen.

Ich schüttelte mich und hielt mich im Schatten der großen Lagerhalle, die an die Kaimauer anschloss.

Es roch nach feuchtem Stroh, nassem Holz, Salz und wildem Tier. Alles war dunkel. Nur einige Meter weiter vorne leuchtete eine Laterne über dem Eingang zu einem Verwaltungsgebäude.

Es war niemand zu sehen und ich beschloss, dass ich den Morgen abwarten sollte.

Neben der Lagerhalle standen ein paar Karren, abgedeckt mit gewachsten Tüchern. Ich kroch unter eines und fand einen aufgeplatzten Sack mit trockenem Stroh. Ich baute mir schnell ein Nest, um mich darin zusammen zu rollen. Gerade als ich den Sack als Decke über mich zog, hörte ich das leise Prasseln der ersten Regentropfen, welches mich einschlafen ließ. Ich träumte wirr. Von Ebert mit Honighänden, meinem Bruder, der auf einem Ochsen ritt, und meiner Mutter, die mit ledernen Schwingen auf mich niederflog, um mich zurückzuholen, während Rauchwolken aus ihrer Nase ringelten.

Die Morgenluft war schwer und dampfig, als ich die Augen aufschlug. Ich tastete nach meinen Armen, dorthin, wo meine Mutter mich im Traum gepackt hatte, doch natürlich fand ich keine Spuren von ihrem Griff. Ich befreite mich vom Stroh und kletterte unter dem Karren hervor. Auf der Kaimauer saßen zwei Männer, aber sie starrten hinaus auf das Wasser. Sonst lag dieser Bereich noch ruhig und verschlafen vor. Während im restlichen Hafen geschäftiges Treiben herüberschallte, rumpelnde Reifen, quietschende Seilwinden, gebellte Kommandos, Gelächter und Signalhörner – gab es hier nur die beiden Männer und den leeren Vorplatz.

Ich holte die Mondo hervor, strich über die knubbelige Schale und biss hinein. Dann stahl ich mich auf leisen Sohlen an den beiden vorbei.

Ich stapfte auf das Häuschen zu, an dem gestern die Laterne gebrannt hatte. Vor der niedrigen Holztür stand ein Aufsteller, der das Gleiche verkündete wie der knisternde Handzettel in meiner Hosentasche. Ein letztes Mal klopfte ich Stroh und Straßendreck von mir und trat ein.

Ich hatte nichts zu verlieren. Gelächter und ein paar höhnische Worte würden mich erwarten, wenn es nicht klappte, aber damit konnte ich umgehen. Die Leute hier konnten nicht viel demütigender als Jersey oder meine Mutter sein.

Einen Schritt ins Innere und mir stockte der Atem. Es roch hier drinnen so süß, dass ich das Gefühl hatte, meine Zähne klebten alleine schon beim Einatmen zusammen.

Ich stand in einem Flur, dessen Wände mit Bildern von Schiffen bestückt waren. Violette Kerzen brannten in kupfernen Haltern und verströmten den eigenartigen Geruch, der mir in den Kopf stieg. Ich musste mich einen Moment an der Wand festhalten, bevor ich weiterschwankte.

Der Flur führte in einen Raum, der nur einen langen Tisch, einige gepolsterte Stühle und einen Kamin enthielt, in dem ein Feuer flackerte, obwohl die Temperaturen draußen einen heißen Tag ankündigten.

»Hallo?«, fragte ich und schaute mich um. Das Spinnenwebengefühl kehrte zurück. Ich streifte mir über das Gesicht, um sie fortzuwischen. Die Dielen unter meinen Füßen knarzten, als ich durch den Raum schlich und mich umsah. Zwei Türen gingen von diesem Raum aus, leicht verborgen zwischen Stützbalken und den großen Blumenkübeln. Ah, noch ein kleiner Tisch! Auch der hatte im Schatten der Balken gestanden. Ich trat heran und begutachtete die Gegenstände darauf. Ein paar grob geschmiedete Nägel, eine Kappe aus eigentümlichem Stoff, eine Schatulle mit feinen Verzierungen, ein Dolch, ein Korb mit Obst, das ich noch nie gesehen hatte. Ich beugte mich darüber und schnupperte. Erdig roch die Pflanze, braun und klobig sah sie aus. Und was war das? Daneben standen kleine Tiegel, in denen Gewürze dufteten. Ich leckte meine Fingerspitze an und probierte alle Gewürze aus, doch keines schmeckte für sich besonders gut. Ein braunes Pulver trocknete meine Zunge aus, kleine schwarze Sterne knirschten zwischen meinen Zähnen, rote Flocken verbrannten sie und als ich dann noch auf ein schwarzes Stängelchen biss, spuckte ich es sogleich erschrocken auf den Boden.

Neben den Gewürzen lag ein Buch auf einem Kasten. Zuhause hatten wir nur zwei Bücher und keines sah so kostbar aus wie dieses. Ich sah mich einmal um und als ich mich allein wähnte, ließ ich die Schnallen aufschnappen und blätterte die erste Seite um.

Ich blinzelte. Die Schrift auf den Seiten konnte ich nicht lesen. Wie eine Geheimschrift. Neugierig blätterte ich weiter, fand farbenprächtige Illustrationen von merkwürdigen Kreaturen. Zum Beispiel ein Tier mit weißem Pelz und enorm großen Ohren, die nach oben standen. Dort ein langgestrecktes Tier, das eine Krone aus Ästen auf dem Kopf trug. Dicht bei einem Fuchs saß ein Vogel, der beinah aussah wie ein Muhn. Nur hatte dieses einen kleineren roten Bartkamm und nicht so viele Federn an den Beinen. Ich strich darüber und hinterließ einen Knick in der Seite.

Hinter mir klapperte es plötzlich. Ich fuhr herum und ließ hektisch den Blick schweifen. Nichts zu sehen. Vorsichtig verschloss ich den Deckel des Buches und trat von dem Tischchen mit den Wunderdingen weg.

Unschlüssig wechselte ich von einem Fuß auf den anderen, dann wurde es mir zu bunt. Ich stellte mich vor die Tür. »Ein Blatt taumelt vom Baum, es trifft nicht dich, nicht dich, nicht dich. Es tanzt und dreht sich rund herum und legt sich auf dein Haar!«

Rechts. So hatte es der Abzählreim ergeben. Irgendwo mussten die Wildewald-Leute ja sein. Ich schlurfte zum Fenster und überprüfte kurz mein Spiegelbild, wischte den gröbsten Schmutz mit Spucke weg.

Ich straffte die Schultern, schritt zur Tür, drückte die Klinke und stieß sie auf. Ein hell erleuchteter Raum erwartete mich. Dahinter eine große Tafel, ähnlich wie die im vorderen Raum, nur dass hier Leute saßen, die mich interessiert anstarrten, als ich im Türrahmen auftauchte.

Ich schluckte. Wie viele saßen hier? Zwanzig Männer und Frauen? Und sie waren alle viel eleganter gekleidet als ich. Und deutlich fetter waren sie auch. Wortlos schob ich mich in den Raum und zog die Tür hinter mir zu. Die Stille war erdrückend.

Ich zog den Handzettel aus der Hosentasche, um damit zu zeigen, was ich hier wollte, doch der Mann, der mir am nächsten saß, ein rothaariger Kerl mit Mondgesicht und grünen Samtgewändern, legte den Finger auf die Lippen und deutete mir, mich auf einen Platz am Tisch zu setzten. Stirnrunzelnd schlich ich mich an den anderen vorbei, die mucksmäuschenstill warteten.

Ich fühlte mich am falschen Fleck. Vorsichtig ließ ich mich auf den freien Platz nieder und war erstaunt, was für bequeme Stühle es doch gab! Als würde ich auf einer fluffigen Wolke Platz nehmen. Ich lehnte mich zurück und schielte unter meiner Kapuze hervor. Links neben mir saß ein goldhaariger Mann mit Schnauzer. Seine Augen waren grau wie Sturmwolken. Die kräftigen Finger tippten auf der Tischplatte. Die tätowierten Knöchel tanzten dabei auf und ab. Ich starrte an ihm vorbei zu einem weiteren Mann mit breiten Schultern in einem weißen Gewand. Zwischen seinen Fingern dampfte ein Becher mit Tee. Ein hölzerner Stab und die Kappe, die mit allerhand Ansteckern, Zetteln und Troddeln bestückt war, wiesen ihn als Zauberer aus. Ein nervöses Kribbeln breitete sich in meiner Magengegend aus. Geh Zauberern aus den Weg!, hatte meine Mutter stets gesagt. Zauberer sind ein komisches Volk. Auch dieser hier. Auf seinem Hut kauerte eine Nachtigall und steckte den Kopf in ihr braunes Gefieder.

Neben dem Zauberer hockten ein paar Männer und Frauen, die wie Seeleute gekleidet waren, mit Leinenhosen, Halstüchern und Öljacken. Zerfurchte Gesichter, strenge Mienen, wilde Blicke. Mein Bauch drückte plötzlich. Am liebsten wäre ich sofort aufs Klo verschwunden. Aber aufzustehen traute ich mich auch nicht. Mir gegenüber saß ein Mann, der immer wieder zerstreut hochblickte. Er trug schwarze Gewänder, die mit goldenen Fäden bestickt waren und machte sich Notizen in seinem Buch. Seine Schreibfeder kratzte in der Stille unangenehm laut über das Papier.

Ich hatte keine Ahnung, worauf wir warteten. Mein Blick kreuzte sich kurz mit einem gelangweilt dreinblickenden Mann. Er hatte so einen Ausdruck, als ob er versuchte, bis auf den Grund meiner Seele zu schauen. Ich senkte schnell den Blick und schaute auf meine Hände und den Dreck, der unter meinen Fingernägeln rotbraune Monde wachsen ließ.

Ein Klappern ließ mich aufblicken. Jemand musste in den Raum mit der leeren Tafel gegangen sein. Die Köpfe wandten sich nach oben und ich folgte ihren Blicken.

»Was beim Baum ist denn das?«, keuchte ich, als ich oben an der Zimmerdecke eine Art Fenster entdeckte, von dem aus man hinunter in den Raum nebenan blicken konnte. Das musste Zauberei sein! Ein dünner junger Mann drehte sich gerade ratlos darin herum. Mir wurde heiß. Hatten all die Leute hier gesehen, wie ich das Buch durchblättert und auf den Boden gespuckt hatte? Und erst das mit dem Popel, den ich … ich wollte gar nicht daran denken.

Der Mann im Nebenraum sah sich zaghaft um, zuckte mit den Schultern und verschwand dann wieder.

»Schade. Wir haben nach wie vor Platz«, kommentierte Mondgesicht und blickte auf die Reihe leerer Stühle.

»Wir warten eine weitere Umdrehung, dann wollen wir beginnen und ich erkläre Ihnen, was das hier soll!« Er tippte eine Sanduhr an, die neben ihm stand. Der goldene Sand flog von unten nach oben.

»In der Zwischenzeit bedienen Sie sich, bitte.« Ein großer Korb wurde herumgereicht. Süß duftende, braune Teigfladen lagen darin. Ich griff mir gleich zwei. Steckte einen für später in die Hosentasche und biss hungrig in den in meiner Hand. Keine Ahnung, was das war, aber es schmeckte mächtig lecker! Eines der Gewürze vom Tischchen schien darin verbacken zu sein. Ich leckte mir die Finger ab und schmatzte genüsslich, während der Zauberer mir einen missbilligenden Blick zuwarf.

Ich ignorierte ihn und starrte gebannt auf das Luftbild.

Gerade, als ich hochsah und den letzten Happen von diesem Gebäck verspeiste, öffnete sich dort die Tür und ich verschluckte mich prompt, denn ich erkannte die Frau sofort. Der Schnauzer neben mir klopfte mir mit besorgtem Gesicht auf den Rücken und Mondgesicht legte verschwörerisch den Zeigefinger auf die breiten Lippen.

Die drahtige Frau mit kurzgeschorenen Haaren sah sich um, entdeckte denn Tisch, begutachtete alles darauf eingehend. Zum Glück nahm auch sie alles in die Hand und probierte ebenso wie ich die Gewürze. Dann sah sie hoch zur Decke und einen Moment hielten alle im Raum die Luft an, als sie uns direkt zu mustern schien.

»Kann Sie uns sehen?«, flüsterte der Wirrkopf mir gegenüber, doch bevor jemand antworten konnte, machte die Frau eine Handbewegung, als ob sie etwas in unsere Richtung schleuderte und das Bild über uns zersprang klirrend. Gleichzeitig kippte der Zauberer rücklings vom Stuhl, blieb schnaufend liegen. Die Tür knallte auf und keine andere als die Abenteurerin Luzi, die lustige Witwe, stand forsch lächelnd da.

»Na, meine Herren? Spielen Sie Mäuschen im Dunkeln?«

Bei den Blättern vom ewigen Baum, die Frau hatte eine Ausstrahlung, dass ich mich am liebsten direkt unter dem Tisch versteckt hätte, aber zeitgleich war ich nicht in der Lage, mich zu bewegen.

Mit großen Schritten durchquerte sie den Raum, tätschelte Schnauzer neben mir den goldenen Schopf, wie ein kleines Hündchen, und ließ sich direkt neben mir auf den freien Stuhl fallen.

»Oh ha!«, meinte Schnauzer und ein Grinsen flog über sein Gesicht.

»Luzi, die Witwe. Man hörte, Sie seien verschollen?« Er lehnte sich weit vor. Luzi schenkte ihm ein Lächeln.

»Kapitän Thaddäus Sichelbein. Man hört, ihr letztes Schiff ist gesunken?«

Thaddäus’ Lächeln wirkte auf einmal gequält und er lehnte sich wieder zurück. Murmelte etwas von einer Wirbelflaute und dem salzigen Schmirgel.

»So. Was ist das hier, meine Herren und … ähm.« Sie musterte mich und ich hielt ihrem Blick ungefähr eine Sekunde stand, bis mir brennend heiß jeder Fleck und mein klebriges Kinn in den Sinn kam.