Mr. Barnacals Schildkröte - Lisa Brenk - E-Book

Mr. Barnacals Schildkröte E-Book

Lisa Brenk

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Beschreibung

Seit dreißig Jahren verschanzt sich Mr. Barnacal in seinem Anwesen wie eine Schildkröte in ihrem Panzer. Aber jetzt drängt ihn das Schicksal heraus! Mr. Barnacal lebt einsam und abgeschieden in seinem Haus voller Wunder, um das Elend der Energiekrise zu vergessen. Doch dann steht ein Rostiger aus den Maschinenstädten und eine Handvoll Glücksritter vor Bairre Barnacals Tür und verlangen dessen Schildkröte. Die mit dem nachtblauen Panzer. Doch Mr. Barnacal lässt sich nicht davon einschüchtern. Wozu ist er schließlich ein genialer Erfinder? Mithilfe eines ängstlichen Minotaurus, des schwarzen Unglückshundes und seines fantasievollen Einfallsreichtums sagt Barnacal den Belagerern den Kampf an und setzt alles daran herauszufinden, was seine Schildkröte so wertvoll macht!

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Inhalt

Kapitel 1 Ein rostiger Besucher

Kapitel 2 Die Welt hinter den Türen

Kapitel 3 Ein verlockendes Angebot

Kapitel 4 Schildkrötensuche

Kapitel 5 Hargest

Kapitel 6 Ein Auto in McKenneth

Kapitel 7 Verkabelte Blumen

Kapitel 8 Der Sumpfrover

Kapitel 9 Eine Finte und ein Revolver

Kapitel 10 Gärtnerschreck

Kapitel 11 Die Belagerung beginnt

Kapitel 12 McKenneths Telefonzelle

Kapitel 13 Kanonenkugeln

Kapitel 14 Barghest und Sturmnacht

Kapitel 15 Feuer frei!

Kapitel 16 Licht aus!

Kapitel 17 Eine Idee reift heran

Kapitel 18 Hargests Angst

Kapitel 19 Resas Diener

Kapitel 20 Konsequenzen

Kapitel 21 In Coasthall

Kapitel 22 Kampf der Kreaturen

Kapitel 23 Zuflucht

Kapitel 24 Der DNA-Scanner

Kapitel 25 Wo gehobelt wird, da fallen Späne …

Kapitel 26 Eine Abkühlung

Kapitel 27 Die dritte Option

Kapitel 28 Die Maschinenstadt

Kapitel 29 Salat für Chester

Kapitel 30 Zähne und Klauen

Kapitel 31 Das sichere Nest in der Hölle

Kapitel 32 Rasende Räder

Kapitel 33 Über den brodelnden See

Kapitel 34 Genmixer und Erlenmeyerkolben

Kapitel 35 Der Anfang vom Ende

Lisa Brenk
Mr. Barnacals Schildkröte
© Wölfchen Verlag 2018
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN: 978-3-943406-98-6 Print ISBN: 978-3-943406-99-3 EPUB Copyright (2018) Wölfchen Verlag 1. Auflage, November 2018 Coverillustration: © 2018 Lisa Brenk Innenillustrationen: Lisa Brenk Lektorat: Cornelia Franke Korrektorat und Satz: André Piotrowski Hergestellt in Syke, Germany (EU) Wölfchen Verlag Radebergstraße 22 28857 Syke www.woelfchen-verlag.de

Kapitel 1Ein rostiger Besucher

»Der Alte frisst die süßen kleinen Katzen. Ich sag es euch. Der tunkt sie wie Zwieback in Milch!«

»Und die Haare? Ich meine, isst er sie mit Fell?«

»Ja, klar. Danach würgt er das Ganze hoch wie eine alte Eule!«

»Arme kleine Dinger …«

Ich drehte am Knopf, der lose am Radio steckte, bis die Dubliners aus dem Lautsprecher quakten, und streckte ein letztes Mal die Tinte mit etwas Wasser. Gleich wäre ich fertig mit dem elenden Geschreibe. Die da draußen würden staunen!

Ich strich über den Stapel fleckiger Papiere und rieb danach meine schmerzenden Handgelenke. In dieser Geschichte geht es um Mr. Barnacal und nicht um mich. Den Alten, wie sie ihn nennen.

Doch vorneweg, damit Ihr’s wisst: Ich habe mir keine Genehmigung geholt, seine Geschichte zu veröffentlichen, aber ich muss es tun. Über Mr. Barnacal gibt es schon zu viele Gerüchte in McKenneth, die ich übrigens alle auflösen werde.

Nun gut, fast alle. Es gibt schließlich so viele davon, dass ich auch sofort damit anfange.

Liebe Bewohner von McKenneth und dem Rest der Welt, auch wenn ich damit euch den bierseligen Gesprächsstoff der tagtäglich in meiner Kneipe, dem Maidin, verbreitet wird, etwas dämpfe, ich sag es gleich: Mr. Barnacal ist nicht verantwortlich, dass Menschen sich im Moor verlaufen. Es stimmt auch nicht, dass es donnert, wenn er oben in seinem Anwesen hustet. Jenem Anwesen, welches er angeblich aus Elfenbein und Kinderknochen errichtet hat. Er ist auch kein Blut trinkender Vampir und ebenso wenig ein Roboter. Er sammelt keine Katzen. Er isst sie nicht. Er leuchtet nicht im Dunklen. Er hat keine Extrahand unter seinem Zylinder versteckt. Er spricht nicht rückwärts, und dass er sich nur von eingeflogener Nashornleber ernährt, ist ebenfalls »Humbug!«, wie er zu sagen pflegt.

Auch mein Lieblingsgerücht, dass Mr. Barnacals einziger Freund ein Blauwal sei, der in Coasthalls Keller wohne, ist nicht wahr!

Apropos Coasthall … Vor vielen Jahren war es gang und gäbe, großen Häusern klangvolle Namen zu geben. Das Anwesen der Barnacals heißt Coasthall. Keiner weiß heute mehr, warum, denn die nächste Küste ist meilenweit entfernt.

In Coasthall beginnt jedenfalls jene ungewöhnliche Geschichte, die Mr. Bairre Barnacals Namen wieder reinwaschen wird.

Es begann an einem kalten Oktoberwochenende. Die Sonne ging gerade über dem Ashton auf. Der spiegelglatte See war in ein helles Rosa getaucht, umrahmt von lilafarbenen und tiefblauen Wolken, die sich wie Zuckerwatte über den Himmel zogen. Erster Raureif machte sich bereits über die Ginsterbüsche her, er umschlang sie mit einer glitzernden Schicht. Die Fische hatten sich aus Schutz vor der Kälte bereits im Schlamm eingegraben. So habe ich es in Erinnerung. Ich stand am See, mit meinem Anois an der Leine, und schaute hinüber nach Coasthall, das hinter knorrigen Bäumen verdeckt lag. Das Anwesen war von einem massiven, schmiedeeisernen Zaun umgeben. Licht brannte hinter einem Fenster, der Geruch von Rauch lag in der Luft.

Wir blickten über einen gelben Rasen, der vor langer Zeit einmal gepflegt gewesen war, durch das halbrunde Bogenfenster und tauchten in Bairre Barnacals Heim ein.

Mr. Barnacal saß vor seinem Kamin, die Füße auf einem Hocker in Richtung des flackernden Feuers ausgestreckt. In seinen faltigen Händen hielt er ein dampfendes Brötchen. Die Butter darauf schmolz gerade zu saftig gelben Tropfen, um sogleich auf die akkurate Weste von Mr. Barnacal zu kleckern. Der Alte starrte über seine Hände hinweg in das Feuer, wie schon so oft zuvor. Er rutschte dabei ab und zu hin und her, weil sich im Sessel eine Feder gelöst hatte. Er würde den Stuhl bald ausbessern müssen. Zu oft nahm er ihn in Anspruch.

Man könnte meinen, dass Mr. Barnacal dort saß und ein Buch las. Das stellt man sich im Allgemeinen doch vor, wenn man an alte Herrschaften denkt, die alleine in ihrem Anwesen leben. Dass sie den ganzen Tag in einer Bibliothek verbringen und kluge wissenschaftliche Dinge lesen. Oder sich über Politik und das, was sich heutzutage noch »Wirtschaft« nennt, informieren.

Mit der Vermutung habt Ihr fast recht. Aber nur fast. Wenn man sich bei Mr. Barnacal genauer umsah, fand man tatsächlich viele wertvolle Bücher. Dicke Wälzer, Hunderte von Jahren alt, eingeschlagen in Leder mit unzähligen Verzierungen. Auch kleine Taschenbücher, die ganz zerlesen waren. Doch keines der Bücher stand in den Regalen der hauseigenen Bibliothek. Diese war schon seit Jahren leer geräumt.

Nein. Bei Mr. Barnacal fand man die Bücher zwischen den getürmten Holzscheiten neben dem riesigen Kamin. Und wenn ich riesig meine, dann stimmt das! Es war ein Kamin, der bestimmt zwei Armlängen breit war und genauso hoch wie ein Mann. Nicht so ein mickriges Ding wie jenes, das meine Stube kaum heizte. Ihr könnt Euch also sicher vorstellen, wo die wertvollen Bücher landeten …

Wie erwähnt, wohnt Mr. Barnacal ganz alleine auf Coasthall und dieses Anwesen hat nicht weniger als fünfundsechzig Zimmer. Ganz schön viele Räume für einen Mann, nicht wahr? Ich habe mich immer gewundert, was man mit so vielen Zimmern will und ob diese überhaupt benutzt werden. Als ich die Wahrheit darüber herausfand, war ich geradezu sprachlos. Übrigens ist hier das Gerücht, das in jedem Zimmer eine Trophäe von einem Mordopfer aufbewahrt werde, genauso blödsinnig wie die Behauptung, dass sie voller Gold seien, auf dem Mr. Barnacal schlafe, um es wie ein alter Drache zu bewachen. Nein. Hinter den Zimmern verbarg sich etwas anderes. Doch zu den Zimmern, mit ihrem geheimen Innenleben, komme ich später zurück.

Mr. Barnacal saß also an einem kalten Oktobermorgen vor seinem Kamin und aß sein Frühstück. Er lauschte in das Haus hinein, es war nie völlig still in Coasthall. Mr. Barnacal genoss das Knarren der Holzbalken, das Knistern des Kamins, den leichten Wind, der durch ein offenes Fenster wehte, das Kratzen oben auf der Diele und seinen eigenen Herzschlag, der dem Ganzen einen Takt gab. Er liebte diese Momente der geräuschvollen Stille. Dann fühlte er sich groß und standhaft wie dieses Haus.

Dies war eine seiner liebsten Beschäftigungen. Die Unendlichkeit der Stille genießen und die Gedanken schweifen lassen, hinaus aus den Mauern, über den farbgewaltigen Himmel, der sich im See spiegelte, über den Mann am Seeufer hinweg, der beobachtete, wie sein Hund im kalten Wasser herumsprang.

Mr. Barnacal ist ein Träumer und das ist gut so. Die Welt braucht solche Menschen. Heute mehr als je zuvor.

Gerade hatte Mr. Barnacal den letzten Bissen seines Brotes gegessen, da geschah etwas, das er nicht erwartet hatte.

Ein tiefer Glockenton brummte wie eine Welle durch das große Haus und verebbte irgendwo auf dem letzten Korridor.

Heute ist nicht Mittwoch!, war Mr. Barnacals erster Gedanke. Die Glocke läutete nur am ersten Mittwoch im Monat.

Hatte er sich verhört?

Bairre lauschte in das Haus hinein. Fast meinte er, die Staubkörner durch die Luft tanzen zu sehen, die von der Druckwelle des fremden Geräusches aufgescheucht worden waren.

Da war es schon wieder!

Das Klingeln der Haustürglocke.

Zweimal! Es klingelte nie zweimal bei Mr. Barnacal. Bairre stand auf, pfiff durch die Zähne.

Ein alter, irischer Wolfshund schlich um die Ecke, um ihn zur Tür zu begleiten. Irgendwie habe ich früher immer gedacht, das Mr. Barnacal an einem Spazierstock gehen würde, gebeugt von der Last, ständig alleine zu sein, doch Bairre war der einzige Mensch, der sich so furchtbar aufrecht halten konnte, dass ich vom Zusehen selber Rückenschmerzen bekam und mich aufsetzte, um nicht wie ein Häufchen Elend neben ihm zu hängen.

Jawohl, ich bin es, der einmal im Monat bei ihm klingelt. Ich bringe ihm Essen aus der Stadt und andere Sachen, die er mir auf einer Liste aufschreibt. Aber dazu vielleicht später mehr. Jetzt seid nur versichert, dass ich nicht zweimal an der Tür geklingelt habe und es mir auch nie im Traum einfallen würde, öfter als einmal im Monat hierherzukommen, um seine Ruhe zu stören.

Mr. Barnacal erreichte die Haustür, begleitet von dem Hund, der noch nicht mal einen Namen hatte. Oder er hatte einmal einen Namen und Mr. Barnacal hatte ihn vergessen, weil er sich nie lange mit anderen Lebewesen beschäftigte.

Bairre atmete durch und setzte eine finstere Miene auf, die unmissverständlich sagen sollte, dass Besucher, oder wer auch immer dort klingelte, nicht gerne gesehen waren.

Mr. Barnacal griff zum großen schmiedeeisernen Türgriff und legte seine Hand darauf. Natürlich wusste er nicht, dass er mit diesem Handgriff sein ganzes Leben durcheinanderbringen würde, denn das, was er mit dem Öffnen der Tür hereinließ, konnte er danach nicht mehr aufhalten.

Ein Schwall kalter Moorluft strömte ihm entgegen, als er die Tür aufdrückte.

»Was wollen Sie?«, sagte er barsch, noch bevor sein Blick den Menschen gefunden hatte, der auf der Türschwelle wartete.

»Reinkommen und Ihre Toilette benutzen, Sir.«

Mr. Barnacal zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. Er kannte den Mann nicht.

»Das kommt nicht infrage. Pinkeln Sie meinetwegen in die Büsche draußen.« Damit wollte er die Tür wieder zuschlagen, doch der Mann stellte seinen Stiefel in den Rahmen. Dabei kam er Barnacal so nahe, dass der seinen Schweißgeruch riechen konnte und das metallische Aroma, das man nur bei rostigen Leuten vorfand.

»Sie kommen aus den Slums der Maschinenstädte hierher, um auf meine Toilette zu gehen?«, fragte Mr. Barnacal, ohne einen Schritt zurückzuweichen noch den Mann aus den Augen zu lassen. Er hätte gerne dessen ganzes Gesicht gesehen, doch dieses war von einer Kapuze bedeckt, die zu einem abgewetzten Sweater gehörte, dessen Farbe man unter der Schicht aus Dreck nur erahnte.

Mr. Barnacal hatte öfters von solchen Leuten gehört. Warum sich so eine Person auf sein Grundstück verlief, war ihm allerdings schleierhaft.

»Sir, lassen Sie mich doch bitte herein, ich habe einen weiten Weg hinter mir und es ist dringend nötig, mal wieder einen Wasserhahn zu sehen.«

»Das sehe ich. Draußen ist ein See.«

»Es ist zu kalt, um dort zu baden.«

»Hören Sie mir mal zu: Ich möchte, dass Sie Ihren Fuß aus meiner Tür nehmen und verschwinden. Oder Sie sagen, was Sie wirklich von mir wollen. Sie kommen von McKenneth, weil nur ein Weg zu mir führt, und der geht durch die Stadt zurück. Ich kann den Geruch nach Kneipe beinahe an Ihnen sehen und dort gibt es ja sehr wohl Sanitäranlagen. Hören Sie auf, mir einen Bären aufzubinden, und sagen Sie mir, was Sie wollen, oder ich jage den Hund auf Sie.«

Mr. Barnacal zog den Hund an seinem Halsband etwas vor. Wie auf ein stummes Kommando bellte dieser halbherzig in Richtung des Mannes, der schweigend zugehört hatte und seine Hände dabei in seinen Hosentaschen verschränkt hielt.

»Na schön, Mr. Barnacal. Ich bin ehrlich. Ich möchte mit Ihnen über etwas reden.«

»Reden? Nein danke, kein Bedarf. Sehen Sie, ich habe nicht ansatzweise das Bedürfnis, mich länger als nötig mit Ihnen zu unterhalten, Mr. …?«

»Raul Lunderan.« Sein Arm zuckte, als ob er einen Moment gewillt war, Mr. Barnacal seine Hand zu reichen, es sich im letzten Moment aber anders überlegte.

»Also, Mr. Lunderan, gehen Sie wieder nach McKenneth. Lassen Sie mich in Ruhe. Es gibt nichts, über das wir zwei reden könnten, und jetzt entschuldigen Sie mich, das Kaminfeuer wartet.« Mit diesen Worten verpasste Mr. Barnacal dem Fremden einen Schlag vor die Brust, sodass er zurückstolperte, rücklings die Marmortreppe hinunterpolterte und in einem knisternden Blätterhaufen liegen blieb, der sich vor den Stufen angesammelt hatte.

Mr. Barnacal schob den Hund hinterher und schloss die Tür, dann ging er zurück zu seinem Ohrensessel am Kamin und sah diesen Zwischenfall als beendet an, doch da lag er falsch. Mit dem Öffnen der Tür hatte er etwas in das Haus gelassen. Etwas Unsichtbares, etwas, was man nicht greifen kann.

Die Unruhe.

Mr. Barnacals schlimmster Feind.

Bairre setzte sich an das Feuer, aber seine Gedanken konnten nicht in die geliebte Stille zurückkehren.

Er musste an die seltsame Begebenheit zurückdenken. Warum wollte man mit ihm sprechen? Das letzte Mal, als jemand an seiner Haustür geklingelt hatte, hatte es sich um einen Vertreter der EEC (Energy Efficiency Control) gehandelt, die seine private Stromleitung kontrolliert hatten, beinahe dreißig Jahre war das her. Da war er erst seit Kurzem alleine gewesen. Vielleicht hätte er damals einfach die Tür des riesigen Gartentores verschließen sollen. Doch dazu hätte er einen Handwerker anfordern müssen, denn es war eingerostet und stand offen, seitdem man das letzte Fest gefeiert hatte.

Auch dies ist bereits dreißig Jahre her und selbst ich erinnere mich nur schwach daran. Immerhin war ich damals noch ein junger Mann gewesen, der zu solchen Feierlichkeiten nie eingeladen war. Ich kannte das Innenleben von Coasthall nur, weil ich mir stets als Kellner bei diesen Festen etwas dazuverdiente.

Seit ebendiesen dreißig Jahren hatte sich das Haus mitsamt seinem einsamen Besitzer verändert.

Entgegen meiner Annahme war Mr. Barnacal nicht verbittert. Seine Persönlichkeit unterschied sich lediglich vom Rest seiner Familie. Ich protestierte später nie, dass es keine rauschenden Feste mehr gab. Dass die Familie Barnacal nicht mehr durch die Stadt flanierte, dass sie Häuser verkauften oder kauften, um sie aufzubauen oder abzureißen, um die Stadt zu den Füßen des Anwesens zu verändern wie ein Kind, das mit Bauklötzen spielt. Seit dreißig Jahren war in McKenneth Ruhe eingekehrt.

Bis jetzt.

Kapitel 2 Die Welt hinter den Türen

Der Hall der Türglocke rollte weiter durch das Anwesen und vertrieb die Stille. Mr. Barnacal fühlte, dass dieser Raul Lunderan nicht weggegangen war. Er widerstand der Versuchung, aus dem Fenster zu gucken, stattdessen setzte er sich an den Kamin und rief sich das Bild des Mannes vor Augen.

Er war einer der Rostigen!

Mr. Barnacal hatte zwar noch nie einen gesehen, doch er hatte von ihnen gehört und er konnte sich noch immer auf seine Nase verlassen. Der süßliche Geruch des korrodierten Metalls sagte alles. Ebenso der hellrote Staub auf seinen abgewetzten Kleidern.

Mr. Barnacal schüttelte den Kopf. Er würde etwas spazieren gehen, um seine Gedanken wieder in gewohnte Bahnen zu lenken.

Bairre griff nach dem Spazierstock, der am Tisch lehnte, und setzte sich seinen Zylinder auf. Sorgfältig knöpfte er seinen Mantel zu, betrachtete sich einen Moment im Spiegel und entdeckte einen Fussel, den er beiseitewischte.

Er ging zur breiten Treppe in der Eingangshalle, die in das obere Stockwerk führte. Mit langsamen Schritten lief er nach oben, lauschte jedem einzelnen Schritt auf den alten Holzdielen.

Mit jedem seiner Schritte, nähern wir uns einem der Geheimnisse von Coasthall!

Bairre lief auf dem langen düsteren Flur, der von kleinen elektrischen Lichtern erhellt wird, die an eine Landebahn auf dem Flugplatz erinnern, bis er eine schwere Metalltür erreichte. Ihr werdet staunen, das kann ich Euch sagen. Und nein, es sind keine Giftnattern oder Irrlichter!

Aber jetzt wollen wir Mr. Barnacal weiter über die Schulter gucken und ich verspreche, ruhig zu sein, damit Ihr den Ausflug genießen könnt! Ausflug?! Ja, Ihr werdet sehen!

Die massive Tür vor Mr. Barnacal bestand aus angelaufenem Stahl und war in eine Wand eingelassen, welche nachträglich in den Flur eingebaut worden war. Wenn man sein Ohr an diese Tür legt, dann kann man sie ganz leise knacken hören sowie ein leichtes Kratzen, dazu ein ganz leises Summen. Nicht dieses Bienenkorbsummen. Eher jenes elektrische Summen von Kühlschränken, die früher in der Küche standen.

Mr. Barnacal drückte die Klinke hinunter und zog die schwere Tür mit einem Ruck auf.

Ein Windhauch trug ihm den Geruch nach feuchter Moorerde entgegen. Kein Wunder, denn hinter der Tür lag eine Graslandschaft! Genau so eine, wie sie draußen vor den Toren von Coasthall lag. Mit gelbem Gras, Moorlöchern und Ginstersträuchern.

Nur wenn man genauer hinschaute, erkannte man die Türen, die hier und dort in der Landschaft verteilt waren. Manche gut getarnt, andere auffällig, mit roten Nummern daran, und wieder andere so massiv wie diese erste hier. Auf deren Oberfläche blinkten kleine Anzeigetafeln.

Mr. Barnacal atmete tief durch und ließ den Blick schweifen. Eine Krähe krächzte, kalter Wind umfing ihn und ließ die Zipfel seines Mantels wehen.

Ein Seufzen entwich seinen Lippen und er machte sich auf den Weg. Vorbei an den ersten Türen, durch das filzige Moos. Er spazierte über Steine, sprang über eine der Pfützen, aus der es brackig und abgestanden roch, und erfreute sich an den kleinen, glitzernden Tropfen, die sich auf seinem dunkelblauen Filzmantel bildeten und die Rocksäume feucht werden ließen.

Je weiter er ging, desto nebliger wurde es. Es dauerte nicht lange, da nahm die Sicht so weit ab, dass man seinen ausgestreckten Arm nicht mehr erkennen konnte. Doch Mr. Barnacal kannte sich aus, er fand den Weg zu den Türen mit geschlossenen Augen. Sein Ziel stand eingeklemmt zwischen zwei Felsen, die er mit ruhiger Hand abtastete, um ihre raue Struktur zu erfassen.

Er wartete einen Moment und trat dann hindurch.

Stellt Euch nun einen Wald vor. Ein richtiges Dickicht mit grünen Büschen und harzigem Holz. Mit Laub auf dem Boden und glitschigen weißen Pilzen, die auf umgestürzten Baumstämmen wuchern. Ich weiß, das ist nicht leicht, wer kann sich schon heute noch daran erinnern, wie die Wälder waren, bevor sie mit Stacheldraht umzäunt wurden …? Versucht es trotzdem, denn genau das sprang Mr. Barnacal mit der nächsten Tür entgegen. Ein dichter Wald, im Lichte der untergehenden Sonne. Insekten schwirrten umher und es war merklich wärmer geworden, nachdem Mr. Barnacal die Tür hinter sich zugezogen hatte. Er folgte einem schmalen Trampelpfad, kaum zwischen den Büschen auszumachen, doch auch diesen kannte Mr. Barnacal auswendig. Mit halb geschlossenen Augen suchte er sich seinen Weg, stieg über Baumwurzeln und schob Äste beiseite, die auf den Pfad hinausragten.

Moment. Moment!, werdet Ihr jetzt denken. Was ist da los? Ich hab es doch gesagt, dass Ihr nicht damit gerechnet hättet, was sich hinter der Stahltür verbirgt, oder?

Wer würde schon daran denken, dass Mr. Barnacal die gesamte Welt, mit ihren unterschiedlichen Klimata und Gebieten, in sein Haus geholt hatte? Dass hinter jeder Tür im oberen Stockwerk eine andere Landschaft lag, durch die er spazierte, wann immer es ihm gefiel?

Ist das nicht eine grandiose Sache?

Man hat Lust, ans Meer zu fahren, und geht einfach in Zimmer zwanzig oder so und findet dort eine Kaimauer und ein Becken, mit echten Wellen und Salzwasser, mit Fischen und Algen und allem Drum und Dran! Ohne lang Sachen zu packen und sich den Stress einer stundenlangen Fahrt mit der überfüllten Dampflok anzutun. Oder wenn Ihr einmal die Wüste sehen wollt? Dann geht Ihr ein paar Zimmer weiter und findet ein Meer aus Sand und am Himmel ist eine so heiße Lampe installiert, dass man das Gefühl hat, die Sonne strahle glühend heiß auf einen herab! Wenn man im Wüstenzimmer ist, kann es sogar sein, dass man von Skorpionen gestochen wird oder einen Hitzschlag bekommt. Alles ist möglich in der kleinen Welt, die er sich dort oben geschaffen hat. Mir fällt einfach kein anderes Wort dafür ein als grandios.

Kein Wunder, dass er so zurückgezogen lebt, nicht wahr? Wenn ich die Welt in meinem Haus hätte, dann würde ich dieses auch nicht mehr so oft verlassen. Dann würde ich vor dem Frühstück in den Bergen klettern gehen, in den Schnee der Arktis pinkeln und nachmittags ein Sonnenbad an einem karibischen Strand unter Palmen nehmen oder ein paar Vögel beobachten, die im Urwaldzimmer umherschwirren.

Wenn Ihr jetzt glaubt, eine künstliche Welt könnte langweilig werden, denn irgendwann würde man ja jedes Blatt und so weiter kennen, dann habt Ihr Euch geschnitten. Mr. Barnacal, der übrigens ein ausgebuffter Tüftler ist und alles selbst entwickelte, hatte seine ganze Energie in eine Wettermaschine gesteckt, die unterschiedliche Wetterlagen und Tageszeiten simulierte. Es konnte stürmen, regnen, schneien, hageln … Dieses System ermöglicht den Pflanzen darin, ganz natürlich zu wachsen. Tiere und Vögel, die für ihn eingefangen und wieder ausgesetzt wurden, blieben scheu, vermehrten sich und starben wieder.

So wie das Leben eben spielt. Und Mr. Barnacal? Der nutzte seine kleine Welt, um darin die Stille zu genießen und mit seinen Gedanken spazieren zu gehen.

Ein Geist muss in Bewegung bleiben, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen, pflegte er zu sagen.

Mr. Barnacal war gerade auf diesem Feldweg angekommen, da blieb er stehen, weil ein Geräusch erklang, das nicht hierhergehörte.

Es war sehr leise und weit weg, doch für Mr. Barnacal klang es schlimmer als das Sirren von Mücken, die einen in der Nacht in den Wahnsinn treiben können.

Man konnte das dumpfe Klingeln kaum wahrnehmen, es war fast nur ein Windhauch, aber Mr. Barnacal konnte es nicht ignorieren.

Der Klang der Türglocke hatte sich einen Weg durch irgendeine Ritze gesucht. Es war das Geräusch, das ihm sagte, dass Raul Lunderan dort unten wartete, mit seiner staubigen Kapuze tief im Gesicht. Ein Raul Lunderan, der bestimmt seinen Hund auf dem Gewissen hatte, den Mr. Barnacal nur beherbergte, weil es zum guten Ton als Landbesitzer gehörte, einen solchen Hund vorzuweisen.

So konnte es nicht weitergehen. Er konnte seinen Gedankenspaziergang nicht in Ruhe weiterführen, wenn ihn dieses Klingeln regelrecht nervte.

Er versteifte sich, zog seinen Mantel energisch zu, machte eine Drehung und trat in das Feld hinein. Er brauchte nur ein paar Schritte, um zu einer gut getarnten Wand zu kommen, mit aufgemalten Pflanzen und blauem Himmel. Schnell fand er die schmale Notfalltür, die mit einem orangen Lämpchen gekennzeichnet war, und schob sich hindurch in einen schmalen Gang, der nichts vom Charme der künstlichen Welt besaß.

Es war ein düsterer Schacht, durch den viele Rohre und Leitungen führten, die leise gluckerten und zischten. Mit energischen Schritten rauschte er auf eine Wendeltreppe zu, die es mit metallischem Gepolter hinabging. Mr. Barnacal war ungehalten. Und wenn Mr. Barnacal ungehalten war, dann wollte man nicht in seiner Nähe sein.

Die Treppe endete vor einer gut gesicherten Tür.

Er entriegelte sie und schob sich hindurch. Bairre stand jetzt wieder unten im Treppenhaus. Mit lautem Rumsen schlug er die Tür zu und sie verschmolz nahtlos mit der Vertäfelung.

Mr. Barnacal war kein Freund von Gewalt und drastischen Maßnahmen, doch dieser Mann verhielt sich viel zu aufdringlich.

Mit festen Schritten stapfte er den Flur entlang, zog im Vorbeigehen ein Rapier aus dem Schirmständer, der, wie Ihr Euch denken könnt, keinen einzigen Schirm, dafür allerhand interessante andere Gegenstände beinhaltete. Zum Beispiel eine Rohrzange, einen Hockeyschläger, eine Gasentladungslampe, ein organisches Maß, eine Diagrammbremse, eine Kastenharfe sowie eine Ankerkette.

Schon war Bairre an der Tür. Gerade als er sie aufzog, klingelte es erneut, ich weiß nicht, zum wievielten Mal. Ohne lange zu zögern, hob Mr. Barnacal die funkelnde Klinge und setzte sie unter Mr. Lunderans Kinn. Der Mann nahm den Finger vom Klingelknopf.

»Holla, Mr. Barnacal! Ich möchte nur mit Ihnen reden und Sie nicht zu einem Duell herausfordern, in dem Sie gegen mich übrigens nicht die geringste Chance hätten.«

Mr. Barnacal stieß ein schnaufendes Lachen aus.

»Wenn Sie sich da mal nicht zu sicher sind. Ich bin Meister in der Kunst des Schwertkampfes. In meiner Jugend war das ein beliebter Zeitvertreib und ich der beste Fechter Irlands. Ich habe Wettkämpfe gewonnen, als Sie noch Ihre Windeln füllten und an der Brust Ihrer Mutter klebten.«

»Ich habe nie an der Brust einer Mutter geklebt«, entgegnete Raul mit rauer Stimme und zog dann seine Kapuze vom Kopf. Die Klinge an seinem Hals sackte einen Moment hinab.

»Sie sind ein …«

»Wechselbalg, ja, ich weiß!«, grummelte Raul und blinzelte mit seinen gelben Augen, dann fuhr er sich mit der Hand durch das aschgraue Haar. Eine pulvrige, rostige Wolke rieselte herab.

»Ich hab noch nie einen wie Sie gesehen«, meinte Mr. Barnacal und seine Wut wandelte sich kurz in Neugierde.

»Gehört habe ich natürlich schon viel. Stimmt es, dass Sie ein missglücktes Experiment aus der Menschenklonung sind? Wurden Sie in einem illegalen Labor gezüchtet und dann von einem Wissenschaftler mit einem echten Menschenkind vertauscht, um Sie in einer normalen Familie aufwachsen zu sehen?«

Mr. Barnacal hatte die Spitze des Rapiers wieder in Position gebracht und erwartete Antworten.

Raul Lunderan starrte ihn einen Moment schweigend an, eine Augenbraue gehoben. Schließlich setzte er ein freundliches Lächeln auf.

»Na, das können Sie und ich doch auch bei einer Tasse Tee oder noch besser einem ordentlichen Whiskey besprechen, oder? Ich bin gerne bereit, Ihnen etwas über meine Vergangenheit und das Labor zu berichten, wenn Sie im Gegenzug dafür nur eine kleine …«

»Nein, lassen Sie mich in Ruhe!« Mr. Barnacal warf die Tür rumsend in das Schloss und lehnte sich dagegen.

Ein schneller Rückzug. Das lag ihm eigentlich gar nicht im Blut. Vielleicht hatte er bemerkt, dass er doch beinahe zugestimmt hätte. Mit einem Wechselbalg reden … das war verlockend. Das war etwas, was er nicht aus den Zeitungsfolien oder dem Kubus erfahren konnte.

Mr. Barnacal schüttelte sich. Es war zu riskant.

Andere Gedanken würden seine Ordnung durcheinanderbringen.

Es klingelte erneut.

Natürlich. Raul verschwand nicht so einfach. Bairre hätte doch das Gerücht verbreiten lassen sollen, dass eine Selbstschussanlage auf seinem Grundstück installiert sei.

Also musste er sich etwas anderes einfallen lassen. Es gab doch Patentrezepte für solche Fälle! Mr. Barnacal stürmte los, direkt in die Küche. Ärgerlicherweise hatte er kein Pech zur Hand, aber der Zuckersirup würde genauso helfen! Schnell erhitzte er den Sirup in einem Topf und eilte zurück. Außerdem holte er eine Leiter aus der Werkstatt und stellte sie hinter die Tür. Über der war nämlich ein Fenster und genau zu dem stieg Mr. Barnacal nun hinauf. Er zog eine kleine Ölkanne aus seiner Tasche und sorgte dafür, dass die Scharniere nicht quietschten, bevor er das Fenster öffnete. Über Mr. Lunderans Kopf ergoss sich ein großer Schwall zähflüssiger Sirup, und bevor dieser reagieren konnte, landeten eine Handvoll Federn aus einem Kissen auf ihm, sodass er aussah wie ein schwarzer, unansehnlicher Rabe. Raul schimpfte fürchterlich, benutzte Wörter, die Mr. Barnacal noch nie gehört hatte. Er hämmerte schwungvoll gegen die Tür, stolperte dann rückwärts und purzelte die Treppenstufen herunter, eine unansehnliche Spur aus schwarzem, klebrigem Zeug hinter sich lassend. Mr. Barnacal verkniff sich ein Lachen, als der unliebsame Besucher erneut im Laubhaufen landete und sich nun getrocknete Blätter an seinen Kleidern festsetzten.

Fluchend stapfte er davon, während Mr. Barnacal ihn durch das Fenster beobachtete.

Als Raul fast am Tor war, drehte er sich noch einmal um. »Ich komme wieder, ich bekomme Ihre Schildkröte schon noch!«, rief er laut, dann wandte er sich ab und trottete den Weg hinunter. Der irische Wolfshund kam angelaufen und folgte ihm, so als sei er schon immer sein Hund gewesen.

Kapitel 3Ein verlockendes Angebot

Mr. Barnacal verbrachte eine ruhige Woche. Der Vorfall mit Mr. Lunderan war schnell vergessen und er ging zu seiner täglichen Routine über. Entweder saß er am Kamin, reparierte seine Wettermaschinen oder spazierte durch jene Zimmer im Obergeschoss, welche die Welt enthielten.

Wenn der irische Wolfshund nicht fort gewesen wäre, hätte er sogar geglaubt, diese unerfreuliche Begegnung nur geträumt zu haben.

Die trügerische Ruhe hielt allerdings nicht lange an.

Acht Tage später, etwa zur selben Zeit wie in der Woche zuvor, klingelte es erneut an der Haustür. Mr. Barnacal war gerade dabei gewesen, die Windmaschine im Inselzimmer neu zu justieren, weil sie ihm ständig dem Zylinder vom Kopf wehte, wenn er am Strand spazierte, und kletterte mit einer ölverschmierten Schürze durch einen Schacht, als sich zu dem süßen Summen seiner Anlage der unangenehme dumpfe Klang der Glocke gesellte.

Mr. Barnacal schreckte verärgert hoch und stieß sich den Kopf, weil er dieses unliebsame Geräusch vernahm.

Er rieb sich die Stirn und zog sich aus dem Schacht, beschloss diesmal, einfach nicht die Tür zu öffnen. Aber nachgucken, ob es tatsächlich wieder dieser Mr. Lunderan war, das wollte er schon.

Mr. Barnacal hatte es nicht sehr eilig, während er eine Wendeltreppe aus dem oberen Stockwerk nach unten nahm. Vielleicht würde sich das Problem auch von selbst lösen, wenn er lange genug trödelte.

Vorsichtshalber nahm er auf dem Weg zur Eingangshalle einen neuen Eimer mit Sirup mit. Man konnte ja nie wissen. Den Lappen, mit dem er sich die Hände abgewischt hatte, legte er im Flur dem ausgestopften Grizzlybären über die ausgestreckten Pranken. Staub wirbelte dabei auf.

Die Leiter stand noch an der Tür, an der es jetzt in regelmäßigen Abständen schellte. Mr. Barnacal zog den Riegel vor dem Fenster beiseite und warf einen Blick hinaus.

Ein großer, roter Regenschirm verdeckte ihm die Sicht.

»Mr. Lunderan, verschwinden Sie! Sonst aktiviere ich die Selbstschussanlage!« Die gab es zwar nicht, aber vielleicht funktionierte die Warnung ja.

Der Schirm wurde vorsichtig beiseitegezogen und zu Mr. Barnacals Überraschung kam nicht das Gesicht von Raul Lunderan zum Vorschein, sondern das einer alten Dame mit einer weißen Dauerwelle, wie sie früher getragen wurden. Mr. Barnacal sah gleich an den dicken Perlenketten, die ihren welken Hals zierten, dass sie zu der Sorte »alte Frau« gehörte die er nicht mochte: vorlaut, aufdringlich und lautstark.

»Mr. Barnacal?« Ihre Stimme klang ganz rau, nicht so künstlich hoch, wie er es erwartet hatte.

»Bairre Barnacal? Man hat mir unten in McKenneth gesagt, dass Sie hier wohnen.«

Der Schirm wurde ganz zusammengefaltet und ein eierschalenfarbener Filzmantel, passend zu einer viel zu großen rechteckigen Brille, kam zum Vorschein, als die Frau nach oben blickte.

»Was wollen Sie, Madam?«, rief Mr. Barnacal, der seinen Kopf so weit zurückzog, dass sie ihn nicht sehen konnte. Er hatte das letzte Mal vor dreißig Jahren mit einer Frau gesprochen.

»Ich möchte Ihnen etwas anbieten, Mr. Barnacal.«

»Mir etwas anbieten?«

»Richtig, ein Geschäft sozusagen. Ich habe gehört, dass mit den Barnacals immer gute Geschäfte zu machen waren.«

Mr. Barnacal runzelte die Stirn.

»Das ist doch Humbug! Ich habe seit Jahren keine Geschäfte abgeschlossen und ich habe auch kein Interesse daran, irgendwelche Geschäfte zu tätigen. Ich bitte Sie nur, mich in Ruhe zu lassen und zurück nach McKenneth zu gehen. Wenn es den Laden an der Ecke Brunnstreet noch gibt und Mr. Reed noch lebt, fragen Sie ihn. Er macht alles für Geld.«

»Alles?«, kam es von unten und die alte Dame strich sich durch die Haare. »So, so. Aber ich bin mir sicher, dass er mir nicht das geben kann, was ich brauche.«

Mr. Barnacal kletterte von der Leiter hinunter, wischte sich nochmals mit dem Hemdsärmel über die Stirn, was das Maschinenfett nur noch mehr verschmierte, und machte die Tür einen Spaltbreit auf. Er wollte einen Blick hinauswerfen.

»Ich sag es Ihnen noch mal von Angesicht zu Angesicht, Madam …«

»Pearl! Ich heiße Pearl.«

»Pearl. Ich verkaufe nichts. Ich kaufe nichts und ich bin glücklich und zufrieden, wenn Sie mich einfach in Ruhe lassen.«

»Aber ich, Mr. Barnacal, wäre dann nicht glücklich und zufrieden. Hören Sie sich mein Angebot wenigstens an!«

Mr. Barnacal musterte sie von Kopf bis Fuß.

»Sie arbeiten mit diesem Raul Lunderan zusammen. Dem habe ich schon gesagt, dass ich meine Ruhe haben will. Also wenn Sie mich entschuldigen …« Mr. Barnacal schlug die Tür rumsend ins Schloss.

»Woher wissen Sie, dass ich Mr. Lunderan getroffen habe?«, kam es einen Augenblick später gedämpft durch die Tür.

»Sie tragen einen Regenschirm und es regnet nicht«, erwiderte Mr. Barnacal.

»Verflixt!«, war die Antwort, gefolgt von einem unschönen Wort, das man aus dem Mund einer alten Dame nicht erwartet hätte.

Mr. Barnacal wartete, bis er sich entfernende Schritte vernahm, dann klatschte er in die Hände, denn es gab etwas zu tun!

Er ging ins Bad und befreite sich von der Schmiere. Er zog seinen eleganten Rock über, machte einen Abstecher in die Küche, um sich etwas selbst gebackenes Hirsebrot zu genehmigen. Schließlich galt es als wissenschaftlich bewiesen, dass die Mundstellung und Bewegung beim Kauen die Gedankenleistung beeinflusst.

Mr. Barnacal nahm kauend sein Notizbuch vom Kaminsims und begab sich in seine Gerüchteschmiede. Wenn bereits zwei Störenfriede sein Haus aufsuchten, dann schienen die schönen Geschichten, die er in die Welt gesetzt hatte, nicht mehr ausreichend zu wirken.

Gerüchte über sich selber erfinden war eine feine Sache. Zum einen, weil kein anderer dadurch zu Schaden kam, zum anderen, weil es einfach eine wundervolle Beschäftigung war. Nach fünf Minuten am Schreibtisch hatte Mr. Barnacal eine Stichwortliste zusammen. Dort stand unter anderem:

Mr. Barnacal muss dich nur angucken und deine Augen platzen.Coasthall ist aus Knochenmehl und Lebertran gebaut worden.Die Türklingel hat einen Mechanismus, der einem die Finger abhackt, wenn man zu oft darauf drückt.Der Nebel, der aus dem Moor heraufzieht, kommt aus den Röhren der Beatmungsmaschinen, die Mr. Barnacal in seinem Haus angeschlossen hat, weil ein zweihundert Jahre alter Geist in den Gemäuern lebt und nach Sauerstoff verlangt.

Die Gerüchte waren noch nicht so schön ausformuliert wie sonst, aber es dürfte genügen, um wieder Ruhe einkehren zu lassen. Er überlegte sogar, ob er nicht ein Schild vorne an die Tür schlagen sollte, welches vor Giftnattern und dem Hackebeil in der Türklingel warnte. Er befand dies für eine gute Idee und verschwand in der Werkstatt, um eine halbe Stunde später mit einem großen Schild wieder hervorzukommen.

Und da er gerade beim Handwerken war, beschloss er, zusätzlich die Attrappe einer Falltür zu bauen, die unter der Türmatte hervorlugen sollte, damit sich keiner mehr zu dicht heranwagte.

Das Ergebnis sah ganz passabel aus, doch es erzielte nicht die gewünschte Wirkung, denn genau vierundzwanzig Stunden später klingelte es erneut an Mr. Barnacals Tür und es war weder Mr. Lunderan noch Madam Pearl. Es war ein Kind, ein besonders schmutziges und mageres obendrein.

Es stand am Rand der Attrappen und klingelte mithilfe eines Stockes, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass dort jemand klingelte, während Mr. Barnacal auf der Kaimauer saß und die Fische mit alten Brotresten fütterte. Seinen Lippen entwich ein Seufzer, als er das Obergeschoss verließ und mit den Gedanken daran, die Klingel endgültig abzuschalten, zur Tür lief. Diesmal setzte er sich seinen großen Zylinder gerade auf den Kopf, machte die finsterste Miene, die er aufbieten konnte, und zog die Tür mit einem Ruck auf. Schweigend stierte er das Mädchen mit den braunen Locken an.

Das Mädchen, vielleicht war es zwölf Jahre alt, guckte mit großen Rehaugen zurück, den Stock fest umklammert. Dann plötzlich sprang es nach vorne, duckte sich und huschte mit einer Drehung an Mr. Barnacal vorbei. Es lief in das Haus, noch bevor er es packen konnte. Schwups, schon war es in seinem Kaminzimmer verschwunden.

»HE! Komm sofort zurück!«, rief Mr. Barnacal ihm hinterher und schlug dann die Tür zu, damit nicht noch Mr. Lunderan oder Madam Pearl oder sonst wer hier hereinspazierte. Mit schnellen Schritten lief er dem Kind nach. Seltsam, er war seit Jahren nicht mehr gerannt. Aber seine Beine wussten noch, wie es funktionierte.

Zum Glück hatte das Mädchen sich nicht versteckt. Es saß frech mit den Füßen wackelnd, den Stock angelehnt, in Mr. Barnacal Lieblingssessel und blickte ihn ernst an.

»Du!«, schnaufte Mr. Barnacal und hob drohend den Zeigefinger. »Du verschwindest jetzt sofort aus meinem Haus. Du hast hier nichts zu suchen!« Er baute sich vor ihm auf, während er überlegte, wie lange er schon keine Kinder mehr gesehen hatte. Anscheinend trug man heutzutage wieder dicke, wollene Stulpen und Lederschuhe, eine Verbesserung zu den modernen Plastikwesten und Boots mit dicken, energieabweisenden Sohlen, mit denen er sich früher herumschlagen musste.

Das Mädchen hatte die Hände vor sich auf dem Schoß gefaltet und dessen Worte hatte Mr. Barnacal auch schon von zwei anderen vernommen.

»Mr. Barnacal, wir müssen reden!«, meinte es ganz förmlich. »Wollen Sie sich nicht setzen? Ein paar Kekse wären auch nicht schlecht.«

»Was sind dieser Mr. Lunderan und diese Pearl für Leute, dass sie ein Mädchen schicken?« Mr. Barnacal stemmte die Hände in die Seite und arbeitete währenddessen an einer Strategie, das Kind möglichst schnell aus seinen vier Wänden zu entfernen.

»Raul und Pearl waren schon vor mir da?« Das Kind zeigte eine bestürzte Miene. »Sagen Sie nicht, dass Sie denen die Schildkröte gegeben haben! Wissen Sie, ich kann mehr zahlen als die beiden zusammen!« Es rutschte unruhig im Sessel hin und her, und Mr. Barnacal beobachtete mit versteinerter Miene, wie es seine wohlgeordneten Kissen zerdrückte und ihm Dreckkrümel von den Ärmeln bröselten. Er holte tief Luft, hin- und hergerissen von dem Gedanken, drastische Maßnahmen zu ergreifen.

»Nun, ich rede mit dir, aber du musst mich sitzen lassen, denn ich hab es im Kreuz.« Das stimmte nicht, aber er konnte nicht mit ansehen, wie jemand seinen Sessel verhunzte.

»In Ordnung!«, rief das Mädchen und sprang auf. Mr. Barnacal ließ sich in die Polster fallen und mit dem vertrauten, unebenem Kissen im Rücken kam die schwindende Selbstsicherheit wieder zurück.

»Also«, sagte er und blickte das Mädchen mit schief gelegtem Kopf an. »Du sagtest etwas von einer Schildkröte?«

»Ja. Ihre Schildkröte, Mr. Barnacal. Haben Sie sie bereits verkauft? An Raul oder Pearl?« Sie klopfte auf einen Lederbeutel, der an ihrem Gürtel baumelte. »Es wäre eine Schande, wenn Sie verpassen würden, was ich Ihnen als Preis biete.«

Barries Blick wanderte vom Beutel zum Mädchen, dann schüttelte er mit einem Lächeln den Kopf.

»Ich habe hier keine Schildkröte.«

»Blitzschlag! Sie ist schon weg?!« Das Mädchen stampfte mit dem Fuß auf. »Wer? Wer von den beiden hat sie bekommen? Oder war Resa Baskin bereits hier? Es war bestimmt Miss Resa Baskin, oder sind Sie auf die hohlen Worte von Mr. Bell hereingefallen, sagen Sie es mir!« Mr. Barnacal beobachtete stirnrunzelnd, wie das Kind mit den Fäusten knackte und nochmals aufstampfte.

»Ähm, du verstehst das nicht, Kind. Ich besitze keine Schildkröte und deshalb habe ich auch keine verkauft.«

»Natürlich besitzen Sie eine Schildkröte! Die Schildkröte mit dem nachtblauen Panzer!«

»Das ist doch Humbug!«, entgegnete Mr. Barnacal gedehnt und lehnte sich zurück.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Erzählen Sie mir keine Laborthesen. Entweder Sie haben sie verkauft oder sie ist hier. Und entweder Sie sagen mir, wer sie gekauft hat, oder Sie übergeben mir das Tier aus Ihrem Besitz.«

»Willst du mir drohen?«, fragte Mr. Barnacal, der den Blick des Mädchens beobachtet hatte, als dieser zu dem Stock gehuscht war, der am Sessel lehnte. »Ich bin ein Meister der Fechtkunst und des Schwertkampfs, wenn du es darauf ankommen lassen möchtest.«

Das Mädchen sah ihn mit blitzenden Augen an.

»Klar! Darauf können wir gerne zurückkommen, wenn keine anderen Möglichkeiten bestehen. Ich kann kämpfen, vor allem mit dem Schwert, das können Sie mir glauben! Ein Schwert halten konnte ich, noch bevor ich lesen gelernt habe.«

Mr. Barnacal lachte. Das Kind schien wohl nicht ganz bei Trost zu sein. Was wollten diese Leute mit seiner Schildkröte, an die er sich gerade erst wieder erinnerte? Er selber wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebte.

Die Schildkröte von Coasthall war schon immer hier gewesen – solange er sich erinnern konnte. Sie wanderte durch das Haus, fraß, was sie fand, ab und zu stolperte man über sie, niemand hatte sich je um sie gekümmert. Bairre wusste nicht einmal, ob er sie vor Tagen oder vor Jahren das letzte Mal irgendwo herumliegen gesehen hatte.

Er lächelte das Mädchen an und zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, Kleine, ich weiß nicht, wovon du sprichst!«

Das Mädchen machte eine unerwartete Vorwärtsbewegung, hatte plötzlich den Stock in der Hand und bohrte ihn gegen seine Brust.

»Veralbern Sie mich nicht, Mr. Barnacal! Ich bin bereit, einen guten Preis zu zahlen!« Es wich zurück und öffnete den Beutel. Auf seine Hand plumpsten ein paar silberne und grünmetallische Teilchen.

»Hochleistungschips kompatibel mit allem, was Sie aufstocken wollen, Mr. Barnacal. Ohne Seriennummer, ohne künstliche DNA.« Es streckte ihm die Hand entgegen, damit Mr. Barnacal die Ware besser begutachten konnte. Es waren tatsächlich ein paar sehr, sehr seltene Prozessoren, die Bairre für seine Wettermaschinen wie gerufen kamen.

»Wo hast du die her?«

»Das tut nichts zur Sache. Wichtig ist nur, dass ich sie habe und Sie diese bekommen können, wenn Sie mir Ihr Haustier übergeben. Ich verspreche auch, mich gut um Sie zu kümmern!« Es setzte ein zuckersüßes Lächeln auf und legte den Kopf schief. Als es lächelte, sah man eine helle Ypsilon-förmige Narbe auf seiner Wange.

Mr. Barnacal war sprachlos vom Benehmen des Kindes und dessen Dreistigkeit. Gerade hatte er seine Gedanken wieder gesammelt, um ihm etwas entgegenzusetzen, da erklang die Klingel und dröhnte wie ein schlechtes Omen durch das Haus.

»Das wird langsam wirklich nervig!«, knurrte Mr. Barnacal, während das Mädchen schnell seine Chips im Beutel verschwinden ließ.

Mr. Barnacal erhob sich und marschierte zur Tür. Wer war es diesmal? Es war kaum zu fassen!

Er riss die Tür auf und brüllte dabei, »Was ist?! Lassen Sie mich alle in Ruhe!«, verstummte dann aber, weil ihn ein seltsames Paar an der Tür erwartete.

Eine Frau mit einem sehr hübschen, spitzen Gesicht strahlte ihn an. Ihre Hände waren in die Taschen einer alten grauen Latzhose versenkt. Um ihre Schulter baumelte eine Ledertasche, aus der Schraubenschlüssel ragten. Sie trug ein merkwürdiges Armband, das sich auf den zweiten Blick als eine Rolle Industrieklebeband herausstellte. Neben ihr druckste sich ein sehr runder, älterer Herr, der eine hohe Stirn sein Eigen nannte. Der wirklich passendste Begriff war, dass er einfach fettig war.

Schmierige Haare, glänzende Haut, ein speckiger Tweedanzug. Außerdem trug er eine Sammlung sonderbarer Ketten und Anhänger um den Hals. Das Gold und Silber wirkte angelaufen und dumpf.

»Mist!«, rief das Mädchen, das Mr. Barnacal gefolgt war und hinter ihm einen Blick durch die Tür warf.

»Meav de Burgh!«, rief die Frau überrascht, doch dann langte sie an Mr. Barnacal vorbei, erwischte den Arm des Mädchens und zerrte es unsanft vor die Tür. Mit einem Griff presste sie das Kind an die Steinmauer, so, dass das Mädchen ächzte, da ihr die Luft abgedrückt wurde.

»Hast du sie? Rück mit der Sprache raus!«

Der Mann legte der Frau die Hand auf die Schulter.

»Nicht so fest, Resa.«

»Lass mich, Bell! Halten Sie sich da raus! Sie wissen genau, was das für eine Ratte ist!« Resa warf ihm einen strengen Blick zu und genau diesen Moment nutzte das Mädchen, um ihr einen kräftigen Tritt in den Unterleib zu verpassen. Es löste sich aus dem Klammergriff und Mr. Bell wurde beiseitegerammt. Flink rannte es die Treppen hinunter Richtung Tor, nach ein paar Schritten blieb es noch mal stehen.

»Denken Sie an mein Angebot, Mr. Barnacal! Ich komme wieder!«

»Miststück!«, fluchte die Frau namens Resa und drehte sich zur Tür, während Mr. Bell sich schnaufend wieder aufrappelte, denn er war von dem heftigen Stoß ein Stück die Treppe hinuntergefallen und in dem Sirupfleck kleben geblieben, der die Stufen zierte.

Als er die Treppe wieder hinaufgestiegen war, fand er die Tür bereits verschlossen, und bevor sie noch mal klingeln konnten, hörten sie, wie sich das Fenster oberhalb der Tür öffnete. Mr. Barnacals Kopf tauchte auf. Die Frau machte einen Sprung beiseite und entging einem Schwall Spülwasser, der allerdings direkt Mr. Bells Hemd traf. Am Fenster verschwand der Kopf und es begann hinter der Tür zu hämmern, als Mr. Barnacal versuchte, die Türglocke abzuschlagen. Allerdings hing die massive Glocke zu hoch an der Decke und für seinen kleinen Taschenhammer war sie viel zu groß. Er brauchte richtiges Werkzeug. Ihn sollte keiner dieser Verrückten da draußen mehr stören!

Gleich nach dem Problem mit der Glocke würde er das Tor unten dichtmachen lassen und sich auf die Suche nach dem Barghest und der Schildkröte begeben. Irgendwo im Haus musste eigentlich beides zu finden sein. Es wäre ja gelacht, wenn er nicht herausfinden würde, was der plötzliche Aufruhr zu bedeuten hatte.

Kapitel 4Schildkrötensuche

Der Barghest war schon uralt. Wahrscheinlich hatte er mit angesehen, wie Mond und Sterne geboren wurden. Mr. Barnacal wusste nicht mehr genau, seit wann das Anwesen den schwarzen Riesenhund beherbergte.

Den Geschichten nach, die Mr. Barnacal früher gehört hatte, war der Barghest einmal während eines furchtbaren Sturmes in der Eingangshalle des Hauses aufgetaucht. Groß wie ein Kalb, mit Fell so lang, dass es in filzigen Strähnen über den Boden glitt. Seine rot glühenden Augen hatten die Menschen gemustert, die panisch vor Angst zusammengekauert in einer Ecke hockten. Dann hatte er sich über seine ellenlangen Reißzähne geleckt, einmal um sich selbst gedreht und in der Eingangshalle zusammengerollt, als sei diese sein Körbchen. Seitdem lebte der Barghest hier zwischen den Mauern von Coasthall. Ab und zu verschwand er nach draußen, doch meistens verbrachte er die Zeit im Kellergewölbe, wo er vor dem riesigen Heizkessel laut brummend schlief.

Mr. Barnacal war zusammen mit dem Barghest aufgewachsen. Es war normal für ihn, dass der schwarze Unglückshund über den Flur stapfte und Schränke mit seiner Rute umwarf. Ebenso, dass büschelweise schwarze Haarklumpen herumlagen oder ab und zu ein tiefes Heulen aus dem Keller hinaufdrang. Der Barghest gehörte ebenso zu Coasthall wie die nachtblaue Schildkröte und er selbst, Mr. Barnacal. Das Dumme war nur, dass man dem Barghest nicht befehlen konnte, das Haus zu bewachen. Er tat nur das, was er wollte.

Trotzdem machte Mr. Barnacal sich auf die Suche. Es konnte nicht verkehrt sein, dem Hund mitzuteilen, was dort oben vorging, und vielleicht würde er den aufdringlichen Besuchen ein Ende machen.

Mr. Barnacal stieg in den warmen, trockenen Keller hinab. Er war schon oft hier heruntergekommen, um die Schläuche, Rohre und Kabellagen seiner Landschaftsmaschinen zu überprüfen, zu reparieren oder neu zu verlegen. Mr. Barnacal legte einen Hebel um. Es knisterte elektrisch, als Glühbirnen das Gewölbe von Coasthall erhellten.

Dort lag er.

Eingerollt, den Rücken am Heizkessel, den Kopf zwischen den Pfoten.

»Barghest?« Mr. Barnacal kam näher, blieb einen Meter vor ihm stehen und setzte sich dann im Schneidersitz hin. Er wartete geduldig, bis der Barghest Lust hatte, seinen Kopf zu heben. Mr. Barnacal erschrak jedes Mal, wenn er in die Augen des Tieres sah. Nicht, weil sie Angst und Schrecken verbreiteten, sondern weil sich ein matter Film darauf gelegt hatte. Der Barghest war ebenfalls in die Jahre gekommen und kleine silbrige Strähnen durchzogen sein tiefschwarzes Fell.