Der unangepasste Mensch - Martin Brüne - E-Book

Der unangepasste Mensch E-Book

Martin Brune

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Beschreibung

Anschaulich und unterhaltsam erzählt der Psychiater und Neurologe vom evolutionären Werdegang des Homo sapiens – von seinem Ursprung vor vermutlich 300.000 Jahren bis in die Gegenwart. Dabei zeigt er, wie wir Menschen uns mit Steinzeitgehirnen in einer modernen Umwelt zurechtfinden müssen, wie unsere biologische Evolution nur mühsam mit den rasanten kulturellen Entwicklungen Schritt halten kann und welche Probleme uns dabei begegnen. 300.000 Jahre evolutionärer Anpassung und dennoch hat die Natur nicht alles zum Besten eingerichtet. Wir haben überlebt, doch unsere körperlichen und psychischen Gebrechen sind leider nicht ausgestorben. Ob Krebs, Herz-Kreislauf- oder Autoimmunerkrankungen, ob Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie – Martin Brünes erhellender Einblick in die Ur- und Frühgeschichte des Menschen ermöglicht ein besseres Verständnis dieser nur allzu gegenwärtigen Leiden.

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Martin Brüne

Der unangepasste Mensch

Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution

Klett-Cotta

Anschaulich und unterhaltsam erzählt der Psychiater und Neurologe Martin Brüne vom evolutionären Werdegang des Homo sapiens – von seinem Ursprung vor vermutlich 300 000 Jahren bis in die Gegenwart. Dabei zeigt er, wie wir Menschen uns mit Steinzeitgehirnen in einer modernen Umwelt zurechtfinden müssen, wie unsere biologische Evolution nur mühsam mit den rasanten kulturellen Entwicklungen Schritt halten kann, und welche Probleme uns dabei begegnen. 300 000 Jahre evolutionärer Anpassung und dennoch hat die Natur nicht alles zum Besten eingerichtet. Wir haben überlebt, doch unsere körperlichen und psychischen Gebrechen sind leider nicht ausgestorben. Ob Krebs, Herz-Kreislauf- oder Autoimmunerkrankungen, ob Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie – Brünes erhellender Einblick in die Ur- und Frühgeschichte des Menschen ermöglicht ein besseres Verständnis dieser nur allzu gegenwärtigen Leiden.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © shutterstock, Vorobiov Oleksii 8

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96418-9

E-Book: ISBN 978-3-608-12027-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Menschliche Evolution in der Nussschale

Ursprünge

Primatenerbe

Warum nur sozial?

Spätstarter

Geschlechtliches

Menschentypen

Weise oder naseweis?

Sesshaftigkeit

Der Preis der kulturellen Revolution

2. Der Neandertaler in uns

Neues und Altes von der Düssel

Ausgestorben oder verschmolzen?

Folgenschwere Begegnungen

Hinterlassenschaften – Fluch oder Segen?

Abgesang

3. Steinzeit und Moderne: Sind wir lebende Fossilien?

Ein Ausflug ins Tierreich

Der Mensch – ein lebendes Fossil?

Auf in die Stadt

Selbstgemachter Stress

Ein bisschen Steinzeit gefällig?

Eine Art Resumé

4. Der Mensch als Ökosystem

Individuelles

Evolutionäres über den Darm

Innenleben

Unwillkommene Gäste

5. Stress und Genetik

Was ist Stress?

Ein kleiner Ausflug in die Welt der Genetik

Gene und Umwelt

Gen und Generation: Hatte Lamarck doch recht?

6. Lebensgeschichtliche Muster oder Leben auf der Überholspur

Evolutionäres zum reproduktiven Timing

Säkulare Trends und Umweltfaktoren

Die Sache mit der Chancengleichheit

Lebensgeschichtliche Muster und psychische Gesundheit

7. Alter(n)

Ernüchterndes

Reparatur – aber zu welchem Preis?

Alzheimer – evolutionär betrachtet

Nicht verzagen

Bedenkenswert Bedenkliches

8. Denkbar Undenkbares

Unverstandenes

Hinterhältige Zeitgenossen

Parasitäre Manipulation?

Kein Kraut gewachsen?

Böse Manipulation?

9. Die Kränkungen der Menschheit

Imperfektes Design

Kränkungen

Psychisches Leid bei Tieren?

Traumatisierte Primaten

10. Be-Handlung

Hilfe suchen

Von Placebo und anderen Effekten

Zuwendung

Tier und Mensch

Mitgefühl mit Gefühl

Von Krankenhäusern und kranken Häusern

Nachwort

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Einleitung

Menschliche Evolution in der Nussschale

Der Neandertaler in uns

Steinzeit und Moderne: Sind wir lebende Fossilien

Der Mensch als Ökosystem

Stress und Genetik

Lebensgeschichtliche Muster oder Leben auf der Überholspur

Alter(n)

Denkbar Undenkbares

Die Kränkungen der Menschheit

Be-Handlung

Register

Vorwort

Wie schön, Sie hier anzutreffen! Womöglich hat Sie der Zufall in die Buchhandlung getrieben, in der Sie augenblicklich stehen, und Sie haben dieses Buch in die Hand genommen, weil Sie jemand darauf aufmerksam gemacht hat, oder weil Sie den Titel interessant oder verwirrend fanden, oder einfach aus Zufall. Zufällig habe ich dieses Buch geschrieben, vordergründig natürlich, weil ich Lust dazu hatte, aber eigentlich hätte es auch anders kommen können.

Dieses Buch selbst handelt zu einem nicht unerheblichen Teil von Zufällen, die die Natur für uns bereithält. Genau genommen sind wir alle nämlich Zufallsprodukte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt haben sich Ei(1)- und Samenzelle(1) unserer Eltern getroffen und vereinigt. Aber dieser Zeitpunkt war natürlich nicht festgelegt, sondern ganz im Gegenteil höchst unbestimmt, um nicht zu sagen rein zufällig. Die meisten von uns lesen und hören das nicht gerne, weil unser psychischer Apparat gar nicht anders kann, als nach Bedeutung und Sinn zu suchen, auch und vor allem im Hinblick auf unsere persönliche Geschichte.

Aber wären wir dieselben, wenn Ei(2)- und Samenzelle(2) nur einen Tag, eine Stunde früher oder später miteinander verschmolzen wären, um dann die vielen Millionen Zellteilungen(1) in Gang zu setzen, aus denen letztlich ein unverwechselbares Individuum entstanden ist? Hätte in der Zwischenzeit vielleicht irgendeine Mutation(1) dazu führen können, dass die Entwicklung geringfügig anders abläuft?

Und was ist mit unserer persönlichen Familiengeschichte? Wieviel Zufall steckt in unserer Existenz? Mein Vater beispielsweise wurde als 18-Jähriger von der Schulbank geholt, um im Zweiten Weltkrieg für Hitler-Deutschland(1) zu kämpfen. Dass er dieses Unterfangen überlebt hat, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit weniger seinem persönlichen Geschick, sondern vielmehr dem Zufall zu verdanken. Der Vater meines Vaters hatte die zweifelhafte Ehre, im Ersten Weltkrieg zu kämpfen. Eine »Trophäe«, an die ich mich gut erinnere, war der Zünder einer Granate, ein schweres, kegelförmiges Gebilde aus Messing, das noch Jahrzehnte nach den beiden Kriegen als Briefbeschwerer diente. Diesen Zünder hatte er aufgehoben, nachdem ihm die Granate nur den Stiefelabsatz und zum Glück nicht das ganze Bein weggerissen hatte. Mein Urgroßvater aus der väterlichen Linie hatte in seinem Leben weniger Glück: Er starb mit Mitte 50 an der Spanischen Grippe, die nach dem ersten Weltkrieg Mitteleuropa(1) heimsuchte. Immerhin hatte er bis dahin zwei Kinder hinterlassen (darunter meinen schon erwähnten Großvater), sodass dies reproduktiv nicht ins Gewicht fiel. Viel weiter kann ich meine väterliche Linie nicht zurückverfolgen (schon gar nicht aus persönlichen Erzählungen), sie verliert sich schließlich in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges (1618–​1648). Von meiner mütterlichen Linie weiß ich noch weniger, aber letztlich reichen die wenigen Fakten dafür aus, um zu dem Schluss zu kommen, dass ich meine Existenz einer langen Reihe von Zufällen verdanke. Damit stehe ich natürlich nicht alleine da; vermutlich gab es in jeder Generation Umstände, die das Überleben des Einzelnen in Gefahr brachten, und wenn Sie ein wenig nachforschen, werden Sie ähnliche Beispiele finden, da bin ich sicher.

Nun wäre es langweilig, sich über das ganze Buch hinweg nur mit solchen Zufällen zu beschäftigen. Interessanter ist vielmehr, was aus denjenigen Zufällen geworden ist, die sich in unserer Stammesgeschichte ereignet haben. So ganz zufällig sind wir alle nämlich doch nicht so geworden, wie wir nun eben sind. Das Zufällige bezieht sich nur auf die persönliche Lebensgeschichte, aber wenn wir uns längere Zeiträume des Lebens auf der Erde anschauen, stellen wir fest, dass die Überlebenswahrscheinlichkeiten von Lebewesen, einschließlich uns selbst, nicht so wahllos sind. Die Evolution lebt von der Veränderlichkeit der Arten und das Material, mit dem ihr Hauptmechanismus, die Selektion(1), arbeitet, ist die zufällige Veränderung des genetischen Codes der Zelle(1), genannt Mutation(2). Bringt dies Vorteile für das Individuum im Hinblick auf dessen Überlebens- und Reproduktionschancen, wird die Mutation vielleicht (!) an folgende Generationen weitergegeben. Ist sie jedoch nachteilig (was viel häufiger der Fall ist), wird sie voraussichtlich nicht in kommenden Generationen vertreten sein.

Dieses Vabanquespiel betreibt die Natur seit dreieinhalb Milliarden Jahren und vor einem Wimpernschlag auf dieser Zeitskala hat unsere Art, Homo sapiens(1), die Bühne betreten. Seit vielleicht 300 000 Jahren gibt es uns, davon haben wir 290 000 als Jäger und Sammler(1) gelebt. Welche unserer früheren Artgenossen überlebt haben, wissen wir nicht, aber es waren genug, dass letztlich Sie heute in diesem Buch blättern können beziehungsweise ich es zu Papier bringen konnte. Der Zufall hat dabei gehörig mitgewirkt, das ist sicher.

Aber was für Leute waren bloß in unserer Ahnenreihe? Nehmen wir einmal eine Generationszeit von 25 Jahren an. Sie nehmen Ihre Mutter oder Ihren Vater an die Hand, Ihre Mutter ihre Mutter oder Ihr Vater seinen Vater und so weiter. Bis in die Steinzeit vor 10 000 Jahren würde die Menschenkette nur 400 Personen umfassen! Es wäre relativ leicht, auf einer Party allen einmal die Hand zu schütteln, wenn es gelänge, sie per Zeitmaschine an einem Ort zu einer Zeit zu versammeln. Was würden Sie Ihre Urgroßmutter oder Ihren Urgroßvater der 400. Generation fragen? Wie geht’s? Was bereitet dir Sorgen? Wovon lebst du? Was machen die Kinder? Bist du gesund oder krank? Kannst du dir vorstellen, dass ausgerechnet ich deine Urenkelin oder dein Urenkel in 400. Generation bin?

Vielleicht fielen Ihnen noch andere Fragen ein, aber als Arzt habe ich ein gewisses, nun ja, morbides Interesse an Krankheiten. Warum werden wir irgendwann krank und sterben, und warum sind wir überhaupt anfällig dafür? Sind dreieinhalb Milliarden Jahre nicht genug Zeit, alle Organismen, einschließlich uns selbst, zu perfektionieren? Warum reichen 300 000 Jahre nicht aus, und wo soll uns die Zukunft noch hinführen?

Aufgrund meiner Spezialisierung auf Neurologie und Psychiatrie gilt mein Hauptinteresse natürlich den psychischen Erkrankungen. Dabei ist mir mein ursprünglicher Berufswunsch, Biologe mit Spezialisierung auf vergleichende Verhaltensforschung zu werden, sehr hilfreich gewesen. Der Blick über den Tellerrand darauf, was das typisch Menschliche ausmacht, was uns von unseren nächsten Verwandten im Tierreich unterscheidet und was uns verbindet, hat meine Sichtweisen als Mensch allgemein und als Arzt im Speziellen stark beeinflusst und geprägt. Ich bin also gewissermaßen als »Verhältnisforscher« unterwegs (der Begriff stammt nicht von mir, sondern ist nur geborgt von meinem Freund und Mentor Professor Wulf Schiefenhövel(1), der als Arzt und Ethnomediziner seit Jahrzehnten kulturenvergleichend forscht, vor allem bei den Eipo, einem Bergvolk im indonesischen(1) Teil Neuguineas(1)), vielleicht auch als »Affendoktor«, als der ich auch schon tituliert worden bin.

In diesem Buch geht es also darum, zu verstehen, was uns als Menschen ausmacht, unseren evolutionären Werdegang sozusagen, und natürlich darum, wie wir mit Steinzeitgehirnen(1) moderne Umwelten kreieren und uns darin zurechtzufinden versuchen. Es handelt auch davon, welche psychischen und körperlichen Probleme uns begegnen, wenn wir versuchen, den Spagat zwischen Steinzeit und Moderne zu meistern und beschäftigt sich auch damit, wie uns unsere evolutionäre Vergangenheit lehren kann, Krankheiten besser zu verstehen und zu behandeln.

Bochum, im April 2020.

Einleitung

Vom Baum der Erkenntnis zu naschen, ist ein unsicheres Unterfangen: Man weiß nie, was man bekommt. Die biblische Schöpfungsgeschichte lehrt uns, dass die Vertreibung aus dem Paradies die unausweichliche Konsequenz ist, sozusagen eine Bestrafung für Neugier. Das Leiden der Menschheit nahm hier seinen Anfang.

Einer, der in der jüngeren Geschichte unseres Daseins geradezu inquisitorisch mit seinen Ideen dazu aufgefordert hat, dennoch nach Erkenntnis zu suchen, war Charles Robert Darwin(1). Darwin selbst zögerte lange mit der Bekanntmachung seiner Theorie der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen von einer Urform durch natürliche Selektion(1) – teils aus Rücksicht auf seine Frau, teils, weil er sicher ahnte, welch weitreichende Folgen seine Theorie haben würde (der Originaltitel seiner Veröffentlichung (1859) lautete On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, in der deutschen Übersetzung (1876) von Julius Victor Carus(1) Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein). Wer weiß, wie lange er seine bereits 20 Jahre zuvor ausgearbeitete Evolutionstheorie(1) (den Begriff »Evolution« hat Darwin selbst übrigens nicht besonders gemocht) unter Verschluss gehalten hätte, wenn ihn 1858 nicht der Brief eines gewissen Alfred Russel Wallace(1) aus Südostasien(1) aufgeschreckt hätte. Wallace hatte darin auf wenigen Seiten einen in weiten Teilen mit Darwins(2) Theorie übereinstimmenden Abriss der Evolution vorgelegt und sich nach der Möglichkeit der Veröffentlichung erkundigt. Darwin steckte in einem echten Dilemma. Einerseits gebot es die Fairness, den Brief nicht zu ignorieren, andererseits wollte er sein wissenschaftliches Vorrecht auf die Theorie der Entstehung der Arten(1) nicht aufgeben. Die damals gewählte pragmatische Lösung, die mithilfe von Darwins(3) Freunden Charles Lyell(1) und Joseph Hooker(1) zustande kam, war die, dass beide Arbeiten 1858 auf einer Sitzung der Linnean Society parallel bekannt gemacht wurden – wobei die Öffentlichkeit den Zündstoff, den die Theorie vor allem in Bezug auf die Stellung des Menschen in der Natur in sich barg, zunächst nicht ganz wahrgenommen hatte. Erst allmählich wurde klar, dass die Theorie der Entstehung der Arten und der Abstammung von gemeinsamen Vorfahren mit einer Sonderstellung des Menschen nicht vereinbar war, also gewissermaßen zwangsläufig darlegte, warum es in der Natur keine paradiesischen Zustände geben kann und es solche auch nie gegeben hat. Darwins(4) Einsichten, so die für viele bittere Erkenntnis, haben uns die Augen für Dinge geöffnet, die ein anthropozentrisches(1) Weltbild nicht zulassen – ein Schock für viele von Darwins(5) und Wallaces(2) Zeitgenossen, mit Nachhall bis in die heutige Zeit.

Wir Menschen sind eben nicht ein Abbild Gottes, quasi perfekt per Design (mit einigen Schönheitsfehlern). Im Gegenteil, wir sind in vielerlei Hinsicht höchst unvollkommen, ein Zufallsprodukt der Natur, wie wir noch sehen werden, dessen Überleben mehr als einmal am seidenen Faden hing. Wir sind weder körperlich robust (und mussten in manchen Teilen der Welt sogar genetische Anleihen von unseren heute ausgestorbenen Mitstreitern, den Neandertalern(1) und Denisova-Menschen(1), nehmen, um zu überleben), noch psychisch besonders stabil, sodass wir mit den neuen Herausforderungen, die wir uns durch unsere kulturelle Evolution(1) selbst erschaffen haben, manchmal nur ungenügend zurechtkommen. Immer wieder gibt es Zusammenbrüche unserer Abwehrstrategien, körperlich und psychisch – Psychiater(1) haben sich für diese Zustände einen bunten Strauß von Namen einfallen lassen: Depression(1), Schizophrenie(1), Sucht(1), Phobie(1), posttraumatische Belastungsstörung(1), Anorexia nervosa(1), Alzheimer-Demenz(1), um nur einige wenige zu nennen. Die übrige Medizin hat dafür nicht minder blumige Diagnosen: Diabetes mellitus(1), Arteriosklerose(1), Obesitas(1), Hypertonie(1), Krebs(1), gerne mit Zusätzen wie »kryptogen(1)«, »idiopathisch(1)« oder sogar »essentiell(1)« versehen, wenn die jeweilige Fachdisziplin in Wirklichkeit keinen blassen Schimmer hat, woher diese Erkrankungen kommen und welche Ursachen sie haben. Aber warum, so könnte man mit Darwin(6) fragen (er hat dies leider selbst nie getan, sondern es Anderen überlassen, die seine Theorie gründlich falsch verstanden oder bewusst instrumentalisiert haben, weil sie vom »Sein« auf »Sollen« schlossen, was unglaublich großes Leid über viele Menschen gebracht hat),[1] ist der Mensch scheinbar so unzureichend an seine Umwelt angepasst? Die Evolution hatte doch genügend Zeit, so könnte man argumentieren, die am besten Angepassten hervorzubringen; oder gibt es etwa »blinde Flecken« der Evolution?

Dieses Buch handelt davon, warum wir so sind, wie wir sind, warum wir gleichzeitig so unglaublich erfolgreich und doch so vulnerabel sind, und – eine unbequeme Erkenntnis – warum wir daran wenig bis nichts ändern können. Überhaupt sind Warum-Fragen(1) die Lieblingsfragen evolutionär denkender Menschen; sie ergänzen nämlich die in den Naturwissenschaften und in der Medizin allgegenwärtigen Wie-Fragen(1). Wie etwas funktioniert, ist die Frage nach Mechanismen, zum Beispiel danach, wie ein Vogelflügel konstruiert ist, und wie die Mechanik des Fliegens funktioniert. Eine weitere Wie-Frage(2) beschäftigt sich mit der Entwicklung des Flügels vom Schlüpfen aus dem Ei (oder bereits davor) zum voll funktionsfähigen Körperteil. Warum-Fragen(2) richten ihr Augenmerk dagegen darauf, welchen Anpassungswert etwa die Fähigkeit zum Fliegen hat, warum sich Federn evolutionär gebildet haben und welche Abstammungslinie zur Entstehung von Federn und Flügeln geführt hat. Der spätere Nobelpreisträger für Medizin oder Physiologie, Nikolaas Tinbergen(1), hat die vier Grundfragen der Biologie(1) (Mechanismus, Ontogenese, adaptiver Wert und evolutionärer Ursprung) in einem wunderbaren Aufsatz aus dem Jahre 1963 zusammengefasst, den er seinem Freund, Kollegen und Mit-Nobelpreisträger Konrad Lorenz(1) zum 60. Geburtstag widmete. Tinbergens(2) Fragen können wir uns auch über uns selbst stellen. Zu den ersten beiden, Mechanismus und Entwicklung, wissen wir bereits unglaublich viel, weil sich Wissenschaftler seit Jahrhunderten damit beschäftigt haben. Zu den anderen beiden Fragen, Anpassung und evolutionärer Ursprung, finden wir erst seit wenigen Jahrzehnten mehr heraus – und dieses Wissen wächst rasant. Warum gehen wir aufrecht(1) auf zwei Beinen? Warum ist das menschliche Gehirn so groß(1)? Warum wächst es nach unserer Geburt(1) für ein weiteres Jahr mit vorgeburtlicher Geschwindigkeit? Warum brauchen wir so lange, um erwachsen zu werden, warum leben wir vergleichsweise lange und warum sind wir so abhängig von der Hilfe und Unterstützung Anderer? Warum haben wir wenige Nachkommen und es trotzdem geschafft, das gesamte Festland unseres Planeten (mit Ausnahme der Antarktis) zu bevölkern?

Aber können wir Tinbergens(3) Fragen auch in Bezug auf Krankheiten stellen? Sicher, die beiden ersten sind ja, wie bereits erwähnt, Standardfragen in der Medizin. Aber einen Anpassungswert von Krankheit gibt es nicht. Eine Blinddarmentzündung(1) bleibt eine Blinddarmentzündung, und daran ist nichts von evolutionärem Nutzen. Eine Depression(2) bleibt eine Depression, und auch die bringt uns keine Anpassungsvorteile für das Überleben oder die Fortpflanzung. Wir müssen Tinbergens(4) Fragen daher ein wenig anders stellen. Wozu ist ein Blinddarm(1) gut, welche Funktion hat er, bietet er einen Anpassungsvorteil (dritte Frage), oder ist er nur ein unnützes Überbleibsel, geerbt von unseren Vorfahren (vierte Frage), das sich im ungünstigsten Fall entzündet? Die Antworten finden Sie in Kapitel 3.

Diese Herangehensweise ist für komplexe Erkrankungen wie Depressionen(3) natürlich ungleich schwieriger. Wir können aber fragen, warum wir unterschiedliche Emotionen(1) und Stimmungen haben. Wir wollen natürlich immer gut gelaunt sein, weil wir schlechte Laune als aversiv erleben, aber sind negative Emotionen wie Traurigkeit, Angst(1), Ekel, Scham oder Schuldgefühle immer schlecht, oder wozu nützen sie? Warum gibt es überhaupt Emotionen(2)? Haben Emotionen einen Anpassungsvorteil und welche evolutionäre Geschichte haben sie? Wenn wir uns auf diesem Weg den Tinbergenschen(5) Fragen zu körperlichen und psychischen Krankheiten nähern, können wir beginnen, besser zu verstehen, woher unsere Veranlagung zu ganz verschiedenartigen Funktionsstörungen unseres Körpers und Geistes stammen. Noch ein anderer Gedanke: Fieber und Husten sind sinnvolle Abwehrstrategien unseres Körpers, um mit Infektionen fertigzuwerden und eingedrungene Krankheitserreger zu eliminieren. Wir können uns nun leicht vorstellen, dass diese Abwehrreaktionen aus dem Ruder laufen können und wir mit Antibiotika(1) eingreifen müssen, wenn die natürlichen Abwehrmechanismen nicht stark genug sind. Umgekehrt gilt aber auch, dass wir unserem Körper nicht immer gleich die Chance nehmen sollten, selbst mit mikrobiellen Attacken fertig zu werden. Es kann sogar gesundheitsschädlich sein, jedes Fieber und jeden Husten mit medizinischen Mitteln zu unterdrücken. Genauso verhält es sich mit Angst(2) und Traurigkeit.

Dieses Buch macht sich nun auf den Weg nach Antworten auf eine kleine Auswahl von Warum-Fragen(3). Warum sind wir anfällig für Stress(1)? Warum sollten wir uns gut um unsere Kinder kümmern? Warum sollten wir unseren Körper gut behandeln? Warum altern(1) und sterben wir? Auf den ersten Blick sehen diese Fragen ganz harmlos aus. Bei näherem Hinsehen sind sie es aber ganz und gar nicht. Es sind Fragen, die wir nur beantworten können, wenn wir uns trauen, von Darwins(7) Baum der Erkenntnis zu kosten. Und das hat seinen Preis. Wer der Versuchung dennoch nicht widerstehen kann, ist herzlich eingeladen, weiterzulesen.

1. Menschliche Evolution in der Nussschale

Ursprünge

Michelangelos(1) Deckenfreskos in der Sixtinischen Kapelle sind ein fantastisches Zeugnis dafür, wie sich Menschen im mittelalterlichen, christlich geprägten Europa(1) die Schöpfung vorstellten. Adam und Eva sind dort unbekleidet und unbehaart dargestellt, ganz so wie im Alten Testament beschrieben. Besonders prominent ist die Erweckung Adams durch Gott zu sehen, dessen Fingerspitze sich der Adams nähert, sie aber nicht berührt. Gott ist von umhüllt von einem Tuch, dessen Form an den Längsschnitt durch ein menschliches Gehirn erinnert; andere Wissenschaftler halten es eher für den Umriss eines menschlichen Uterus. Michelangelo(2) selbst galt als zutiefst religiöser(1) Mensch, aber was auch immer die Botschaft des Künstlers sein mag, es scheint klar, dass die Erschaffung des Menschen hier fundamental mit seinem Selbstverständnis als Abbild Gottes verbunden ist. Neben einer eher weltlichen Frage, wie es dem Künstler gelingen konnte, die Körperproportionen überlebensgroß und über Kopf malend derart genau darzustellen (das gesamte von Michelangelo bemalte Deckengewölbe der Kapelle misst etwa 40 × 13 Meter, die einzelnen Fresken ca. 4,80 × 2,30 Meter), sticht gleich ins Auge, dass Adam und Eva wie Du und Ich aussehen – oder besser gesagt, wie gut trainierte normalgewichtige Exemplare des Homo sapiens(2), wobei erstaunlich ist, dass Adams einen gut sichtbaren Bauchnabel hat. Dem Weltbild Michelangelos(3) entsprechend sind Adam und Eva hellhäutig und mit eher mitteleuropäischen Zügen dargestellt. Eingehüllt in ein modernes Badetuch würden sie in einer heutigen Sauna wohl kaum irgendwelches Aufsehen erregen. Ein ähnliches anatomisches Bild des Menschen haben sicher auch die Autoren der Genesis vor Augen gehabt, wussten sie doch nichts von Evolution und gingen davon aus, dass Gott die Menschen so erschaffen hatte und sie sich seitdem äußerlich nicht verändert haben.

Die in der Genesis beschriebene Bestrafung Evas für das verbotene Kosten vom Baum der Erkenntnis, Kinder fortan unter Schmerzen gebären zu müssen, wäre ihr aber nicht einmal unter paradiesischen Umständen erspart geblieben, weil, wie wir noch sehen werden, der aufrechte Gang(2) mit anatomischen Veränderungen des menschlichen Beckens einherging, die den Geburtsvorgang nicht nur schmerzhaft, sondern auch risikoreich für Mutter und Kind machten. Wichtiger noch, die Fähigkeit zum aufrechten(3) Gang zog eine ganze Kaskade von psychischen Anpassungen nach sich, bedingt dadurch, dass Menschen ihre Babys viel unreifer zur Welt bringen müssen als andere Primaten(1), weil reifere Neugeborene den Geburtskanal nicht mehr passieren könnten, und vermutlich auch deshalb, weil der mütterliche Organismus den Energiehunger des wachsenden Fötus (insbesondere seines Gehirns(2)) nicht länger durch Nahrungsaufnahme stillen kann. Unreif heißt aber auch hilflos, ganz auf die Fürsorge(1) der ersten Bezugspersonen angewiesen. Dies wiederum gestaltete sich für unsere Vorfahren als sehr schwierig, zumal der Verlust eines wärmenden Fells nicht nur körperliche Nähe erforderte, sondern auch das aktive Tragen des Säuglings, der obendrein somit ein Tragling(1) ist und unfähig, sich aus eigener Kraft am mütterlichen Körper festzuhalten, denn auch der bei Geburt(2) noch vorhandene Greifreflex erlischt nach wenigen Wochen. Aber wer sorgt für die Mutter, wenn sie 24 Stunden am Tag für ihren Tragling sorgen muss? Nun, besser fangen wir von vorne an, also nicht bei Adam und Eva, sondern viel früher.

Wir können heute davon ausgehen, dass mehrere geologische Ereignisse vor über fünf Millionen Jahren den Startpunkt darstellten, der letztlich, über viele Umwege, zur Evolution des Menschen führte. Welche Ereignisse dies im Einzelnen waren, ist nicht ganz klar. Möglicherweise trugen Veränderungen der Meeresströmungen durch das Schließen der Landbrücke(1) zwischen Nord(1)- und Südamerika(1) zu einer Abkühlung der Polregionen bei, in deren Folge es auch zu einer Abkühlung weiter Teile des ostafrikanischen(1) Riftvalley(1) kam. Darüber hinaus entzog vermutlich das Zusammenprallen des indischen(1) Subkontinents mit Asien(1) und die daraus folgende Entstehung des Himalaya dem östlichen Teil Afrikas(2) erhebliche Mengen an Niederschlag. Vulkanische Aktivität in Ostafrika(3) selbst, die Entstehung des Ruwenzori-Gebirges zwischen dem heutigen Uganda und dem Kongo(1) sowie rasch aufeinander folgende klimatische Veränderungen mit Entstehung und Wiederverschwinden großer Süßwasserseen stellen weitere geologisch relevante Faktoren dar, die zu einem Rückgang des Baumbestandes und einer zunehmenden Savannenbildung führten. Das Ganze darf man sich nicht als Einbahnstraße oder linearen Prozess vorstellen – vielmehr handelt es sich um eine recht unübersichtliche Gemengelage verschiedenartiger geologischer und klimatischer Veränderungen, die vor etwa 5 bis 2,8 Millionen Jahren den Boden bereiteten für die Entstehung mehrerer Homininen-Linien(1), von denen eine schließlich zur Entstehung unserer eigenen Spezies führte.[1]

Zu dieser Zeit war jedenfalls ordentlich Bewegung in den Primatenstammbaum geraten. Die Evolution experimentierte (natürlich nicht absichtsvoll) mit der Entstehung von robusten und grazilen Australopithecinen(1), den heutigen Menschenaffen(1) nicht unähnlichen Kreaturen, deren Gehirne(2) etwa die Größe von Schimpansengehirnen(1) hatten, die überwiegend arboreal(1) lebten (sie hielten sich also hauptsächlich in Bäumen auf, verließen diese aber etwa zur Nahrungssuche), aber schon kürzere Strecken auf zwei Beinen gehen konnten. Die berühmten fossilen Fußspuren aus Laetoli(1) im heutigen Tansania, die vermutlich von mehreren Australopithecinen(2) in frischer Vulkanasche hinterlassen wurden, zeugen davon.[2] Allerdings war das aufrechte Gehen(4) noch recht mühselig und glich eher einem Watschelgang. Diese Fußspuren zeigen aber, dass bereits Veränderungen des Fußskeletts stattgefunden hatten. Die große Zehe war bereits deutlich an die anderen Zehen angelegt und nicht mehr so gut abspreizbar wie bei den heutigen Menschenaffen (letztere werden deshalb auch als Quadrumanen, also Vierhänder(1), bezeichnet, weil sie die Füße beinahe so gut wie die Hände zum Greifen benutzen können). Auch die Anatomie des Beckens hatte sich verändert und der Winkel des Oberschenkelhalses (die Stelle, die bei uns Menschen so gerne bricht, vor allem bei Älteren) war bereits steiler als bei den rezenten Schimpansen(2), unseren nächsten lebenden Verwandten. Die Anpassungsvorteile dieser ersten Gehversuche sind bis heute nicht ganz geklärt. Die weit verbreitete Savannentheorie(1), der zufolge das aufrechte Stehen (und Gehen(5)) dafür vorteilhaft war, Raubtiere(1) schneller erkennen zu können, ist nicht ganz sattelfest, weil der aufrechte Gang(6) vermutlich bereits früher unter Umweltbedingungen entstand, als diese Homininen(2) noch eher an Waldrändern lebten. Wie dem auch sei, eins ist klar: Der aufrechte Gang(7) hatte zunächst nichts mit der Größenzunahme des Gehirns(3) zu tun, sondern entwickelte sich unabhängig davon. In den nächsten zwei Millionen Jahren passierte scheinbar nicht viel, erst vor ungefähr 2,8 Millionen Jahren gab es Neuigkeiten. Zeit also, die wir nutzen können, einen kleinen Ausflug zu machen hin zu der Frage, was denn an Primaten(2) eigentlich so besonders ist, welche Eigenschaften wir von ihnen geerbt haben und mit ihnen teilen, und natürlich warum dies alles bis zum heutigen Tag für unser So-und-nicht-anders-sein bedeutsam ist.

Primatenerbe(3)

Primaten(4) gibt es schon erstaunlich lange auf unserem Planeten. Die ersten Exemplare beziehungsweise deren Spitzhörnchen(1) ähnelnde Vorfahren liefen schon vor über 70 Millionen Jahren durch das Unterholz – also »kurz« nach oder sogar noch vor dem Aussterben der Dinosaurier(1).[3] Die ersten Affenähnlichen (Anthropoiden(1)) im engeren Sinn gingen aus diesen kleinen Säugetieren(1) vor vermutlich 50 Millionen Jahren hervor und eroberten die Baumwipfel. Die Fortbewegung im Geäst erforderte etliche anatomische Adaptationen und Verhaltensanpassungen, die für uns derart selbstverständlich sind, dass wir uns ihre evolutionäre »Sinnhaftigkeit«, also ihren Anpassungswert, selten bewusst machen.

Die ersten Säugetiere waren überwiegend eher verhuschte Kreaturen, die lieber nachts unterwegs waren, um bloß nicht aufzufallen. Unsere heute lebenden Igel(1) gehören zu einer recht ursprünglichen Gruppe von Säugetieren(2), wenngleich sie nicht zu unseren direkten Vorfahren zählen. Sie sind nachtaktiv und haben kleine Augen, die sich an der Seite des Kopfes befinden. Ihr wichtigster Sinn ist der Geruch. Sie ernähren sich vorwiegend von Insekten und Regenwürmern und leben als Einzelgänger. Ihre Kinder sind zunächst blind und hilflos, öffnen aber nach etwa zwölf Tagen die Augen und werden schon nach sechs bis acht Wochen entwöhnt. Geschlechtsreif sind Igel(2) mit sechs bis zwölf Monaten. So oder so ähnlich lebten bereits viele Säugetierarten zu Zeiten der Dinosaurier(2), weil andere ökologische Nischen bereits von den Reptilien(1) besetzt waren.

Was für ein Unterschied zu den heutigen Primaten(5)! Bis auf wenige Ausnahmen (zum Beispiel der Koboldmaki(1)) sind alle heutigen Primaten tagaktiv. Ihre Augen sind frontal nach vorne gerichtet und relativ groß (die größten Augen in Relation zur Gehirngröße(4) haben allerdings die nachtaktiven Koboldmakis(2)). Die nach vorne schauenden Augen ermöglichen ein binokulares Sehen(1). Dieses Sehen mit beiden Augen ist die Voraussetzung für die dreidimensionale Wahrnehmung des Raumes und daher das Einschätzen von Entfernungen. Dies hat enorme Vorteile für Tiere, die sich hangelnd, schwingend oder springend fortbewegen. Anders ausgedrückt, wer den nächsten Ast verfehlt, hat weniger Nachkommen. Zudem hilft es enorm beim Beutefang. Die frühen Primaten(6) sowie die heutigen Koboldmakis(3) ernährten sich nämlich vorwiegend von Insekten. Dies ist der Grund, warum auch Raubtiere(2) nach vorn gerichtete Augen haben, Beutetiere(1) dagegen an der Seite des Kopfes liegende. Seitliche Augen ermöglichen nämlich einen fast panoramaartigen Rundumblick, ein großer Vorteil, wenn es darauf ankommt, schnell das Weite zu suchen. Räumliches Sehen funktioniert so allerdings nicht (halten Sie sich einmal ein Auge zu und greifen nach Ihrer Kaffeetasse).

Als Primaten(7) zunehmend das Tageslicht eroberten, ergab sich ein gewisses evolutionäres Dilemma – davon gibt es sehr viele; evolutionäre Prozesse dienen dazu, »Kompromisse« zu schließen, weil Evolution nicht in die Zukunft schaut und der »Blinde Uhrmacher(1)«, wie es Richard Dawkins(1) auf den Punkt gebracht hat, nicht wie ein Ingenieur ein neues Design entwerfen kann, sondern mit dem bereits Vorhandenen arbeiten muss.[4] Tagaktive binokuläre(2) Tiere, die nicht am oberen Ende der Nahrungskette(1) stehen, und die nicht über außergewöhnliche Abwehrmethoden wie Gift, übelriechende Sekrete oder Ähnliches verfügen, haben das Problem, leicht selbst zur Beute zu werden, weil sie weniger gut übersehen, was sich hinter Ihrem Rücken abspielt. Gemeinerweise schleichen sich Jäger und Raubtiere(3) deshalb gerne von hinten an; auch die Redensart »jemandem in den Rücken fallen« hat sicher damit zu tun. Die evolutionäre Lösung des Problems war nicht etwa ein Zurück zur Panoramasicht, sondern das Sich-Zusammentun mit Artgenossen. Vier Augen sehen mehr als zwei, und 40 Augen noch mehr.

Alle tagaktiven Primaten(8) sind soziale Lebewesen. Sie können ohne die Nähe und Hilfe von Artgenossen nicht überleben, weder als Kinder noch als Erwachsene. Viele Primaten warnen sich gegenseitig vor Raubtieren(4) mit sogenannten Alarmrufen. Das erscheint zunächst evolutionär gesehen widersinnig, weil sich der Rufer ja durchaus in Gefahr begibt, indem er etwaige Raubtiere(5) auf sich aufmerksam macht. Die Gruppe als Ganzes profitiert jedoch enorm, und somit auch die mit dem Rufer (genetisch) verwandten Gruppenmitglieder. Im Übrigen sind viele Primatengesellschaften(9) (einschließlich uns selbst) außerordentlich geschwätzig. Sie leben keineswegs im Verborgenen – im Gegenteil, sie können beträchtlichen Lärm verursachen und viele Primaten verständigen sich akustisch untereinander über große Distanzen. Der britische Evolutionspsychologe(1) Robin Dunbar(1) meint im Übrigen, dass die menschliche Sprache als Kommunikationsmittel entstand, um das gegenseitige Lausen ohne direkten Körperkontakt zu ermöglichen, sozusagen als soziale Fellpflege (die Erfindung von Mobiltelefonen scheint dieser Entwicklung zuwiderzulaufen; im öffentlichen Raum kommunizieren heute die meisten Menschen mehr mit ihrem Daumen als mit ihrem Mund).

Der Gesichtssinn(1) (ein etwas altmodisch anmutender, aber unglaublich treffender Ausdruck für das Sehvermögen(2)) veränderte sich bei Primaten(10) auch dahingehend, dass sich das Verhältnis von Zapfen zu Stäbchen in der Retina (Netzhaut(1)) des Auges zugunsten der Zapfen verschob. Die Stäbchen sind Sinneszellen(1) am Augenhintergrund, die vor allem lichtsensibel reagieren, während die Zapfen das Farbensehen(1) ermöglichen. Farbensehen (trichromatisches, also das Sehen von drei Farben: rot, grün und blau) entwickelte sich bei Primaten vor etwa 30 bis 45 Millionen Jahren durch mehrere Mutationen des Gens(1), das für die Programmierung des Farbsehstoffes Rhodopsin(1) zuständig ist. Das Farbensehen(2) entstand vermutlich im Rahmen von Anpassungen, die mit einer zunehmenden vegetarischen Ernährungsweise zusammenhängen. Tagaktive Primaten ernähren sich vorwiegend von Blättern (folivore(1) Ernährung) oder von Früchten (frugivor(1)), wenngleich viele Arten proteinhaltige Nahrung wie etwa Eier oder Fleisch nicht verschmähen. Blätter und vor allem Früchte verändern sich über die Zeit farblich(3), und das Auffinden reifer (und somit essbarer) Früchte stellte sicher einen Überlebensvorteil dar.[5] Und noch eine wesentliche, für uns so selbstverständliche Fähigkeit entwickelte sich im Laufe der Primatenevolution(11): die Koordination von Augen- und Handbewegungen. Diese einmalige Errungenschaft ermöglicht nicht nur einen Präzisionsgriff(1), sondern auch das Abtasten von Dingen, um ihre Beschaffenheit zu untersuchen. Deshalb hat sich in diesem Zuge auch der Tastsinn(1) evolutionär entwickelt, also das sprichwörtliche Fingerspitzengefühl. Sie haben sich sicher schon einmal dabei ertappt, wie Sie im Supermarkt den Reifezustand von Obst oder Gemüse ertastet haben. Genau dafür ist die Fähigkeit auch »gedacht«. Aber mehr noch: Der Präzisionsgriff erfordert auch die Opponierbarkeit (Gegenüberstellung) des Daumens gegenüber den anderen Fingern. Wieder so eine typische Primateneigenschaft(12), die wir sicher nicht missen wollen. Der menschliche Daumen ist übrigens besonders lang in Relation zu den anderen Fingern und auch besonders beweglich, quasi im dreidimensionalen Raum, was nicht nur beim Benutzen der Handy-Tastatur von Vorteil ist, sondern auch für den Werkzeuggebrauch(1) allgemein. Sie könnten weder einen Stein oder Speer(1) zielgerichtet werfen noch mit Pfeil und Bogen(1) hantieren oder diese Werkzeuge(1) überhaupt erst herstellen, ohne den Daumen opponieren zu können.

Warum nur sozial?

Aber zurück zum Sozialverhalten. Auf den ersten Blick mag es plausibel erscheinen, dass das Leben in Gruppen Vorteile für das eigene Überleben bietet. Was den Schutz vor Raubtieren(6) betrifft, mag das auch zutreffen. Aber nun sitzt der Nahrungskonkurrent(1) mit am Tisch. Wer Kinder hat, weiß, wovon ich spreche. Das Gruppendasein ist kein Spaß. Nicht nur muss Nahrung geteilt werden, auch sonst wird um Ressourcen(1) konkurriert – sei es um Zuwendung(1), sozialen Status(1), Freunde oder Partner, je nach Entwicklungsstand und Bedürfnissen. Das erzeugt Stress(2): Der kann uns krank machen, wenn unsere Regulationsmechanismen versagen (siehe Kapitel 5).

In den meisten Primatenhorden existiert wie auch in anderen Tiergesellschaften eine »Hackordnung(1)« oder soziale Hierarchie.[6] Diese Rangordnung(2) innerhalb einer Gruppe hängt einerseits sicher von physischen Kräfteverhältnissen ab. Der körperlich Stärkste hat bei vielen Tierarten die besten Aussichten, die Gruppe zu dominieren (deshalb haben bei amerikanischen(1) Präsidentschaftswahlen auch meistens die körperlich größeren Kandidaten gewonnen). In komplexer werdenden Primatengemeinschaften kommen aber noch andere Faktoren dazu: Häufig wird die Rangordnung(3) vererbt, aber nicht etwa genetisch, sondern zum Beispiel auch von der Mutter auf die Tochter oder den Sohn. Die Nachkommen dominanter Weibchen nehmen oft per Geburt(3) eine höhere Stellung in der Rangordnung(4) ein als Kinder von Müttern, die weiter unten in der Rangordnung(5) stehen. Bei den höheren Primaten(13) wie etwa Pavianen oder Schimpansen(3) spielt überdies die Fähigkeit, Koalitionen zu bilden, eine große Rolle. Schimpansenmänner(4), die sich der Gefolgschaft anderer Männer und Frauen sicher sein können und diese wichtigen Beziehungen aktiv pflegen, haben bessere Chancen, einen hohen Rang(6) in der Gemeinschaft einzunehmen (und dadurch reproduktiv erfolgreich zu sein).

Das Schmieden von Koalitionen und engen Beziehungen unter erwachsenen Mitgliedern einer Gruppe – Männchen und Weibchen – hat vermutlich die Entstehung sozialer Intelligenz(1) begünstigt, wie Richard Byrne(1) und Andrew Whiten(1) herausgefunden haben; der Begriff »Machiavellische Intelligenz(1)« verleiht dieser Fähigkeit einen leicht bösartigen Unterton, weil er das gezielte, um nicht zu sagen bewusste Ausnutzen und Täuschen von Artgenossen hervorhebt. Wenn aber die Fähigkeit, Andere für eigene Zwecke auszunutzen, genetisch verankert ist, also alle Gruppenmitglieder prinzipiell über diese Fertigkeit verfügen, dann ist es evolutionär betrachtet sinnvoll, dass sich Gegenstrategien entwickeln, die ermöglichen, das Täuschungsmanöver zu durchschauen beziehungsweise zu durchkreuzen. Der Evolutionsbiologe Robert Trivers(1) hat dies in seiner Abhandlung über den »reziproken Altruismus(1)« ausgeführt. Trivers schreibt, dass die Fähigkeit, Täuschungsversuche zu erkennen und zu vereiteln, dazu geführt hat, dass die Täuschungsmanöver immer ausgefeilter wurden – das Durchschauen dann aber wiederum auch; ein Bespiel für einen echten evolutionären Wettlauf kognitiver Fähigkeiten, ganz im Sinne der »Machiavellischen Intelligenz(2)«. Vermutlich hat sich in diesem Zusammenhang auch die Fähigkeit entwickelt, sich in andere Individuen hineinversetzen zu können. Die Möglichkeit, sich die Motive, Wünsche, Absichten und Gedanken Anderer zu vergegenwärtigen (von den Evolutionspsychologen(2) David Premack(1) und Guy Woodruff(1) etwas missverständlich als »Theory of Mind(1)« bezeichnet), war sicher ein erheblicher reproduktiver Vorteil. Allerdings, und das mag uns ein wenig besänftigen, hat die Entwicklung zu mehr sozialer Intelligenz(2) laut Trivers auch zum Entstehen intensiver sozialer Gefühle(1) beigetragen: Vertrauen, Misstrauen, Scham, Schuldgefühle, Freundschaft, Verbundenheit und Versöhnung, die allesamt dazu führen, dass sich die Mehrzahl der Mitglieder einer sozialen Gruppe an Fairnessregeln(1) halten und ziemlich allergisch auf Verletzungen sozialer Normen reagieren (Versöhnung und Vergebung sind also keine Erfindungen monotheistischer Religionen(2), sondern tief in unserem biologischen Erbe verwurzelt). Selbst bei unkooperativen Individuen wird meistens versucht, sie wieder zu sozial angemessenem Verhalten zu motivieren, bevor Menschen die Eskalation einer Konfrontation riskieren. Neuroökonomische Studien haben beispielsweise gezeigt, dass die meisten Menschen ablehnend reagieren, wenn ihnen eine andere Person etwa das unfaire Angebot unterbreitet, einen zufällig gefundenen Geldbetrag von zehn Euro so aufzuteilen, dass der Anbieter acht Euro für sich behält und zwei Euro abzugeben bereit ist. Sofern Teil des Spiels (das sogenannte »Ultimatum Spiel«) ist, dass keiner der beiden das Geld behalten darf, wenn das Angebot abgelehnt wird, entscheidet sich die Mehrheit der Geldempfänger für das Ablehnen. Rein rational betrachtet ist dies nicht nachvollziehbar, weil der Empfänger ja auch leer ausgeht, und zwei Euro immerhin mehr sind als null Euro. Aber wir Menschen verhalten uns eben nicht oder nur sehr selten rational – verfolgen Sie nur einmal die Börsennachrichten oder die politische Landschaft, dann wissen Sie, was gemeint ist.[7]

Wir wissen also heute, auch durch die Forschung des Evolutionspsychologen(3) Michael Tomasello(1) und seinen Mitarbeitern sowie die der Biologin(2) Sarah Blaffer Hrdy(1), dass die Fähigkeit zur Kooperation(1) mindestens ebenso bedeutsam ist wie die Fähigkeit zur Ausbeutung und vielleicht einen wesentlichen Teil der menschlichen Erfolgsgeschichte ausmacht (gemessen am reproduktiven Erfolg und Verbreitungsgebiet). Vieles spricht nämlich dafür, dass ein wichtiger Unterschied im menschlichen Verhalten zu anderen Primaten(14) darin liegt, dass Menschen die Kooperation(2) mit Anderen in etlichen Lebensbereichen aktiv suchen und pflegen. Beim Stichwort »Kooperation« fällt einem vermutlich als Erstes die gemeinschaftliche Jagd ein, wenn man an die Menschheitsgeschichte denkt. Sarah Blaffer Hrdy(2) hat ausgeführt, dass auch das kooperative(3) Aufziehen der Nachkommen eine typisch menschliche Eigenschaft ist. Die gemeinschaftliche Erziehung von Kindern – bei Jäger-(2) und Sammler-Gesellschaften oft unter Einbindung der gesamten Gruppe – ermöglicht es nicht nur den Kindern, während ihrer langen Entwicklung komplexe soziale Regeln und Normen zu erlernen, sondern befreit die Mütter davon, die Kinder bis zum Erreichen der Pubertät allein versorgen zu müssen. Bei Schimpansen(5) etwa kümmert sich nur im Ausnahmefall ein älteres Geschwisterkind oder eine Tante um den Nachwuchs. Das Kleine bleibt für mehrere Jahre überwiegend im engen Kontakt mit der Mutter, die somit nur etwa alle fünf bis sechs Jahre erneut ein Kind austragen kann. Das kooperative(4) Großziehen menschlicher Kinder hat dagegen ermöglicht, den Geburtenabstand auf rund zwei bis drei Jahre zu verkürzen, was vermutlich erheblich dazu beigetragen hat, dass Menschen reproduktiv so erfolgreich sind (die bei uns in Deutschland(2) gern propagierten »Herdprämien«, die Mütter dazu ermutigen sollen, mit ihren Kindern allein zu Hause zu bleiben, sind aus dieser Sicht eher mit einer gewissen Skepsis zu betrachten). Väter tragen in traditionellen Gemeinschaften oft mehr zur Versorgung von Kindern bei, als dies in unseren »modernen« Gesellschaften der Fall ist, und weit mehr, als bei den meisten anderen Primaten üblich. Der Neurobiologe(1) John Allman(1) hat errechnet, dass der väterliche Beitrag zum Aufziehen von Nachkommen bei Primaten(15) in hohem Maße in Verbindung mit der durchschnittlichen Lebenserwartung(1) von Männern im Vergleich zu Frauen steht. Ein Schimpansenmann(6) lebt demzufolge nur etwa 0,7 Mal so lang wie eine Schimpansenfrau, ein Menschenmann immerhin 0,95 Mal so lange. Bei Springaffen (Callicebus(1)) ist dieser Quotient dagegen sogar größer als 1, genauer gesagt etwa 1,2, weil die Väter hier diejenigen sind, die sich, abgesehen vom Stillen, die meiste Zeit um die Jungen kümmern. Evolutionär betrachtet macht es ja auch Sinn, dass die für die Kinderaufzucht verantwortlichen Protagonisten länger leben, als die, die nur wenig investieren.

Eine weitere interessante Gruppe von Menschen im Kontext sozialer Rollenverteilung sind Großmütter(1). Das veraltete Stereotyp der Großmutter, die kopfwackelnd und mit gebrochener Stimme Geschichten von früher erzählt, ist nicht nur für unsere Gesellschaftsform überholt. Vermutlich existierte es sowieso mehr in Grimms Märchen als in der Realität. Großmütter(2) sind auch in traditionalen Jäger-Sammler-Gemeinschaften(3) alles andere als passive Almosenempfänger, die vom Rest der Gruppe durchgefüttert werden. Im Gegenteil: Großmütter(3), besser gesagt Frauen jenseits der Menopause(1), trugen und tragen einen erheblichen Teil zur Ernährung der Familie bei, was vorwiegend ihren Töchtern zugutekommt und indirekt natürlich auch ihren Enkeln. Dies ist aus evolutionärer Sicht durchaus bemerkenswert, weil ein Leben nach der Menopause – bei uns Menschen sind es leicht 20 bis 30 Jahre – ja nichts Selbstverständliches ist und im Tierreich eher die Ausnahme als die Regel bildet (ein langes Leben nach der Menopause(2) gibt es auch bei Elefanten(1) und Orcas(1), beides sehr soziale und langlebige Arten, deren Kinder sich ebenfalls langsam entwickeln). Der biologische Sinn der post-menopausalen Lebensspanne(1) ist laut »Großmutter(4)-Hypothese(1)« der, das Überleben genetisch verwandter Individuen zu sichern, wenn die Zeit nicht mehr reicht, eigene Kinder erfolgreich groß zu ziehen. Da es bei uns Menschen etwa 20 Jahre erfordert, Nachkommen groß zu ziehen, ist es daher biologisch sinnvoller, in die Nachkommen von Töchtern und Söhnen zu investieren (für Großväter gilt das leider im Übrigen nicht; ihre post-reproduktive Lebensspanne(1) hat statistisch nichts mit der Unterstützung der Enkelgeneration zu tun).

Zwanzig Jahre sind in der Tat eine lange Zeit, jedenfalls für die meisten Organismen aus dem Tierreich. Bäume würden das anders sehen, aber so ist es nun einmal. Menschen entwickeln sich auf jeden Fall langsam. Warum das so ist, soll uns nun beschäftigen.

Spätstarter

Die Natur hat sich im Wesentlichen zwei voneinander grundverschiedene Fortpflanzungsstrategien(1) einfallen lassen. Bei der einen, genannt »r-Strategie« (das »r« stammt aus einer Gleichung der Verhaltensökologie(1) und steht für den englischen Begriff »rate«, also die maximale Wachstumsgeschwindigkeit einer Population) haben die Vertreter einer Art viele Nachkommen pro Reproduktionszyklus. Die erwachsenen Tiere kümmern sich aber kaum bis gar nicht um den Nachwuchs, sodass die Sterblichkeit unter den Jungtieren enorm hoch ist: Nur wenige erreichen das adulte Stadium. Die Nachkommen von »r-Strategen(2)« sind also oft schon kurz nach der Geburt(4) oder dem Schlüpfen auf sich gestellt und reifen schnell heran, um möglichst rasch selbst Nachkommen produzieren zu können. Die maximale Lebenserwartung(2) ist in der Regel kurz. Die »r-Strategie(3)« ist biologisch sinnvoll unter sehr unsicheren Lebensbedingungen. Rasche Veränderungen der Umweltverhältnisse erfordern schnelle Anpassung an etwaige neue Bedingungen, und die Wahrscheinlichkeit, dass bei diesen vielen Nachkommen auch welche darunter sind, die zufällig durch Mutation(3) die richtigen genetischen Voraussetzungen mitbringen, die helfen, mit den neuen Gegebenheiten zurechtzukommen, ist eben größer als bei langsamen Reproduktionszyklen. Typische »r-Strategen(4)« sind die meisten Fische(1), viele Reptilien(2) und unter den Säugetieren(3) vor allem Vertreter der Ordnung der Nagetiere(1) wie etwa Mäuse(1), Ratten(1), Kaninchen(1) und Lemminge.

Die »K-Strategie(1)« (das »K« steht für die »Kapazitätsgrenze« einer Population, die aufrechterhalten werden kann, indem die herrschenden Umweltbedingungen genügend Nahrung, Wasser und Raum zur Verfügung stellen) ist das genaue Gegenteil. Die Vertreter einer Art pflanzen sich nur selten fort. Sie bekommen in der Regel Einlinge, die obendrein viel Aufmerksamkeit und Fürsorge(2) erfordern, weil sie relativ unreif zur Welt kommen, unselbstständig sind und lange brauchen, um unabhängig von der elterlichen Fürsorge zu werden. Diese »K-Strategen(2)« kümmern sich daher lange um den Nachwuchs und werden dafür mit einer langen Lebenserwartung(3) belohnt. Die Sterblichkeit unter den Jungtieren ist niedrig. Allerdings dauert es lange, bis sie selbst Nachwuchs bekommen. Die »K-Strategie(3)« ist biologisch sinnvoller unter eher stabileren Umweltbedingungen. Das, so werden Sie vielleicht denken, widerspricht dem oben Gesagten, dass sich die Umweltbedingungen im östlichen Afrika(4) vor einigen Millionen Jahren so dramatisch veränderten und letztlich zur Evolution des Menschen führten. Bedenken Sie aber bitte, dass wir hier von anderen Zeiträumen sprechen; bei den Veränderungen des Lebensraums im Hinblick auf die »r-Strategie(5)« handelt es sich um schnellere Prozesse, oft innerhalb einer oder weniger Generationen!

Typische »K-Strategen(4)«, Sie ahnen es sicher schon, sind die Primaten(16), zu denen wir uns getrost zählen dürfen, aber auch Wale(1), Elefanten(2) und der Grottenolm(1).[8]

Unter den genannten »K-Strategen(5)« haben wir Menschen es natürlich wieder einmal auf die Spitze getrieben. Unsere Kinder kommen extrem unreif zur Welt. Sie benötigen intensive Fürsorge(3), sonst könnten sie nicht überleben, nackt und bloß wie sie sind, unfähig, sich allein fortzubewegen. Zum Glück hilft das üppig vorhandene Unterhautfettgewebe(1) ihnen dabei, nicht zu schnell auszukühlen. Obendrein finden wir Erwachsenen diese Rundungen auch noch niedlich. Der von dem Verhaltensbiologen und Nobelpreisträger Konrad Lorenz(2) geprägte Begriff des »Kindchenschemas(1)« (große Kulleraugen, rundes Gesicht, kurze Extremitäten, pummeliger Körper) sagt alles (der geneigte Leser, der noch mit Vicco von Bülow(1) alias Loriot vertraut ist, weiß, warum dieser geniale Künstler den Mops so verehrt hat). Unsere Babys kommen deshalb so unreif auf die Welt, weil die Geburt(5) eigentlich viel zu früh für sie kommt. Wenn menschliche Säuglinge mit demselben Reifungsgrad wie Schimpansenbabys(7) auf die Welt kämen, müsste die Schwangerschaft beim Menschen etwa 22 Monate dauern – wie bei Elefanten(3). Dies geht aber nicht, weil der Kopf des Babys dann nicht mehr durch den Geburtskanal passen würde (und die werdende Mutter gar nicht so viel essen könnte, um das kindliche Gehirn(5) mit Nahrung zu versorgen). Wir wissen ja schon, wie es Eva erging (und allen anderen Frauen vor der Möglichkeit zum Kaiserschnitt). Einen 13 Monate alten Säugling vaginal zu entbinden, ist schlicht ein Ding der Unmöglichkeit. Also musste mal wieder einer der bereits erwähnten evolutionären Kompromisse her: die Vorverlagerung der Geburt. Nur so ist erklärlich, warum das menschliche Gehirn(6) nach der Geburt für weitere 13 Monate mit unveränderter Geschwindigkeit weiterwächst. Dies ist einzigartig unter den Primaten(17), aber nicht ohne Risiko, weil ohne die Geborgenheit(1) im mütterlichen Leib die Verletzungsgefahr des kleinen kindlichen Kopfes sowie das Auskühlen, Austrocknen oder auch die Möglichkeit der Überhitzung des kindlichen Organismus massiv zunimmt. Insbesondere das noch unreife Gehirn(3) nimmt solche Situationen sehr übel und reagiert bei nur 4 Grad über der normalen Körpertemperatur mit Krampfanfällen. Man muss sich also kümmern – und zwar intensiv. Das können Säugetiere(4) wie wir ohnehin schon gut; Brutpflegeverhalten(1) ist die Wurzel der Empathie(1) und des Mitgefühls.

Der Psychiater(2) und Therapeut John Bowlby(1) hat uns darüber hinaus erklärt, wie Bindung(1) (Englisch: attachment) funktioniert. Bowlby war in den 1940er Jahren für die medizinische Versorgung von Jungen zuständig, die in Kinderheimen lebten. Er wunderte sich, dass so viele der Jungen sozial auffällig waren, manche sogar straffällig wurden, obwohl dem ersten Augenschein nach gut für sie gesorgt wurde: Die Jungen hatten ein warmes Dach über dem Kopf, ein eigenes Bett und genug zu essen. Was fehlte ihnen also? Es ist ein großes Verdienst, herausgefunden zu haben, dass es den Jungen an emotionaler Zuwendung(2) fehlte. Damals war es nicht nur in England(1) üblich, dass die Pflegerinnen in den Kinderheimen wechselten und somit die Kinder keine festen Bezugspersonen hatten, zu denen sie eine vertrauensvolle und von emotionaler Wärme geprägte Beziehung hätten aufbauen können. Genau dies, so vermutete Bowlby(2), sei aber der springende Punkt: Kinder brauchen eine oder mehrere verlässliche Bezugsperson(en), die Schutz bieten, wenn Gefahr droht. Geborgenheit(2) und Sicherheit sind aber nicht nur Voraussetzung für das Überleben, sondern auch für eine gesunde emotionale Entwicklung und das Verstehen sozialer Regeln. Die Mutter-Kind-Bindung(1) und, wie wir aus Kulturen vergleichenden Untersuchungen wissen, die Bindung(2) des heranwachsenden Kindes an andere wichtige Bezugspersonen wie beispielsweise Vater, Geschwister, Großeltern oder Tanten ist uns gewissermaßen angeboren, einer Prägung(1)[9] nicht ganz unähnlich. Bowlby(3) war der Auffassung, dass die sogenannte »sichere Bindung(1)« eine archetypische, evolutionär entstandene Form der Beziehung des Kleinkindes zur Mutter sei, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich das Kind durch die Mutter rasch beruhigen lässt, wenn es gestresst(3) ist. Die Existenz unterschiedlicher Bindungstypen hat Bowlby(4) später mit seiner Mitarbeiterin Mary Ainsworth(1) im »fremde Situation«-Experiment studiert. Dabei fanden sie heraus, dass sicher gebundene(2) Kinder nach einer kurzen Trennung(1) schnell von der Mutter beruhigt werden können, unsicher gebundene(1) Kinder dagegen etwa mit Wutausbrüchen oder Ignorieren der zurückkehrenden Mutter reagieren. Bowlby(5) hielt unsichere Bindungsstile(2) für nicht biologisch angelegt. Dass er damit im Irrtum war, werden wir noch in Kapitel 6 näher beleuchten. Bindungsstile(3) übertragen sich übrigens im weiteren Leben auf den Umgang mit Freunden, Partnern und anderen Personen; sie begleiten uns also ein Leben lang in mehr oder weniger modifizierter Weise. Für Mütter und andere frühe Bezugspersonen gilt die biologische Verankerung der Bindung an das Kind im Übrigen nicht in der gleichen Weise. Wenngleich die Ausschüttung von Oxytocin(1), einem körpereigenen Hormon, das während des Geburtsvorgangs für das Zusammenziehen der Gebärmutter(1) zuständig ist und nach der Geburt(6) den Milcheinschuss reguliert, in erheblichem Maße die Bindung zwischen Mutter und Kind befördert, so sind doch auf mütterlicher Seite insbesondere Umweltfaktoren wichtig, die auf die Entscheidung der Mutter Einfluss nehmen, wie intensiv sie sich beim Großziehen von Kindern engagiert. Sarah Blaffer Hrdy(3), die viele Jahre Verhaltensstudien an indischen Languren(1) durchgeführt hat, konnte nachweisen, dass sowohl die Verfügbarkeit von Ressourcen(2) wie etwa Nahrung, aber auch sozialer Rang(7) darüber entscheiden, wieviel Energie die Mütter in die Aufzucht der Jungen stecken und welche Erziehungsstile(1) die Mütter an den Tag legen. Dies ist in menschlichen Familien nicht grundsätzlich anders, wie noch im Kapitel 6 zu veranschaulichen sein wird. Man mag über diese Erkenntnisse ernüchtert sein oder auch ungläubig, aber das Verhaltensrepertoire, das uns die Evolution mitgegeben hat, so immens es auch sein mag im Vergleich zu anderen Tieren, ist nicht unabhängig von äußeren Bedingungen und Faktoren, die sich dem individuellen Einfluss in erheblichem Maße entziehen.

Auch Bowlby(6) stieß übrigens mit seinen Ideen über die Bedeutung früher Bindungserfahrungen(4) auf Kritik. Seine »peer group«, Psychoanalytiker(1) wie er selbst, hielten seine Einsichten für abwegig. Sein Beharren auf seinen Entdeckungen hätte um ein Haar zum unfreiwilligen Abschied von der psychoanalytischen Gesellschaft geführt, der Bowlby(7) angehörte. In seinem Bemühen um Unterstützung wandte sich Bowlby schließlich an Verhaltensforscher (Ethologen), die ihm Rückendeckung gaben. In den 1950er und 1960er Jahren führte der US-amerikanische Psychologe(1) Harry Harlow(1) Experimente an Rhesusaffen(1) durch, die Bowlbys(8) Bindungstheorie(1) erhärtete. Harlow(2) untersuchte nämlich (aus heutiger Sicht ethisch höchst fragwürdig, wenngleich es auch nicht ganz fair ist, in der Rückschau mit dem Finger auf Andere zu zeigen, denn hinterher ist man bekanntlich immer schlauer), wie junge Rhesusäffchen reagieren, wenn sie frühzeitig der Mutter weggenommen werden und in Einzelhaltung aufwachsen. Ohne jeden Zweifel ergaben Harlows(3) Forschungen, dass junge Primaten(18) (und in dieser Hinsicht sind wir auch nicht anders) sich vor allem nach Nähe und Schutz sehnen und jede erdenkliche Möglichkeit nutzen, diese Nähe herzustellen, und sei es nur zu einer mit Fell überzogenen Puppe aus Draht. Überdies zeigten Harlows(4) Untersuchungen, dass früh von der Mutter getrennte Rhesusaffen(2) sich als sozial inkompetent erwiesen, wenn sie mit Artgenossen vergesellschaftet wurden. Außerdem waren sie selbst unfähig, Nachwuchs großzuziehen, weil sie ihn entweder vernachlässigten oder sich aggressiv verhielten. Viele früh getrennte Rhesusaffen(3) starben an den Folgen der Trennung(2), an einer »anaklitischen Depression(1)«, wie es der Psychoanalytiker(2) René A. Spitz(1) bezeichnete. Kurz gesagt, ohne intensive Betreuung wird es nichts mit der erfolgreichen Aufzucht von Primatennachwuchs(19).

Geschlechtliches

Vom unterschiedlichen Beitrag der Primatenmütter(20) und -väter am Großziehen von Nachkommen war oben schon kurz die Rede, aber was ist mit dem Verhältnis zwischen Primatenfrauen(21) und -männern? Interessanterweise kann man in Bezug auf die Paarbindung(1) vieles schon an körperlichen Merkmalen ablesen, etwa dem Größenverhältnis zwischen Frauen und Männern, dem sogenannten sexuellen Dimorphismus(1), der Größe der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale(1) im Verhältnis zur Körpergröße und dem Signalisieren der Empfängnisbereitschaft. Ein Besuch im Zoo kann hier sehr aufschlussreich sein. Beim Anblick einer Gruppe von Gorillas(1) beispielsweise sticht gleich ins Auge, dass der große Silberrücken der Chef im Ring ist. Er hat in der Regel mehrere Frauen, über die er mit Argusaugen wacht. Andere erwachsene Männer duldet er nicht in der Nähe seiner Gruppe. Der Silberrücken ist um ein Mehrfaches schwerer und muskulöser als seine Frauen, bei Gorillas(2) gibt es also einen sehr ausgeprägten sexuellen Dimorphismus(2). Der Gorillamann strotzt also gerade so vor Männlichkeit – oder etwa nicht? Geradezu lächerlich klein muten jedoch der Gorillapenis und die Hoden an, die im Verhältnis zur Körpergröße die kleinsten unter den Menschenaffen(2) sind. Aber warum denn das, möchte man vielleicht fragen, wie soll er denn mit dieser mickrigen Ausstattung seinem Harem gewachsen sein? Die evolutionär sinnvolle Antwort ist: eben weil Gorillafamilien polygyn(1) sind. Der Silberrücken hat nämlich keine männliche Konkurrenz innerhalb seiner Gruppe, deshalb braucht er keine größeren Sexualorgane. Ganz anders ist die Situation bei Schimpansen(8). Der Zoobesucher erkennt sofort die enorm großen Hoden des Schimpansenmannes (bei den Bonobos(1) ist es ebenso), während der Penis verhältnismäßig klein und dünn ist. Überdies hat der ungeschulte Beobachter beim Anblick mancher Schimpansenfrauen(9) schnell den Eindruck, die Tiere seien krank, sind sie doch scheinbar von merkwürdigen großen Geschwüren am Gesäß befallen. Diese Östrus(1)-Schwellungen sind jedoch Ausdruck der sexuellen Empfänglichkeit(1) und signalisieren die Tage größter Fruchtbarkeit. Schimpansenmänner(10) finden diese Hinterteile daher höchst attraktiv. Anders als Gorillas(3) leben Schimpansen aber in polygyn-polyandrischen Gruppen, das heißt Frauen und Männer leben in größeren, zum Teil loseren Verbänden zusammen. Im Hinblick auf den sexuellen Dimorphismus(3) ist zu erkennen, dass Schimpansenmänner(11) nur unwesentlich größer sind als Schimpansenfrauen(12). Zwar versucht der dominante Schimpansenmann ebenfalls, Kontrolle über die fruchtbaren Frauen zu erlangen, dies gelingt ihm aber viel weniger gut als dem Gorillamann, auch weil Schimpansenfrauen(13) viel wählerischer sind und nicht unbedingt dem Alpha-Mann den Vorzug geben, sondern demjenigen, mit dem sie sich auch sonst gut verstehen. Das evolutionäre Problem, das alle männlichen Tiere zu lösen haben, wird hier ganz offenbar: Wie können sie sicherstellen, dass sie tatsächlich Väter der Nachkommen sind und somit ihre Gene(2) weitervererbt werden?

Dieses Dilemma ist natürlich für »K-Strategen(6)« von besonderer Bedeutung, weil sie sich selten fortpflanzen und nur wenige Nachkommen haben, die lange von der elterlichen Fürsorge(4) abhängig sind. Wenn man da als männlicher Organismus nicht aufpasst, kümmert man sich um die Nachkommen eines Anderen. Das ist nicht im Sinne des »Blinden Uhrmachers(2)« der Evolution. Schimpansen (Pan troglodytes)(14) und Bonobos (Pan paniscus)(2), um auf diese biologisch uns am nächsten stehenden Menschenaffen zurück zu kommen, mit denen wir immerhin etwa 98 Prozent des Genoms teilen, haben folgende Strategie, um Vaterschaft sicherzustellen: Die Männer konkurrieren miteinander dadurch, dass sie große Mengen Sperma bei der Kopulation produzieren, in der Hoffnung, dass derjenige, der das meiste Sperma produziert, die größte Chance hat, »das Rennen zu machen«.[10] Deshalb die großen Hoden. Dies ist offenbar die beste Strategie in sogenannten Fission-Fusion-Gruppen(1), in denen Schimpansenfrauen(15) und -männer zusammenleben. Diese Gruppen sind durch komplexe Hierarchien und Allianzen unter den Schimpansinnen und Schimpansen(16) gekennzeichnet. Zur Nahrungssuche streifen die Gruppenmitglieder oft allein oder in kleineren Grüppchen durch das Territorium, sodass die Gruppe als Ganzes für den Einzelnen unübersichtlich ist, insbesondere in Bezug auf die Frage, wer mit wem Geschlechtsverkehr hat.

Und wie verhält es sich bei uns Menschen? Körperliche Geschlechtsunterschiede sind für uns so selbstverständlich, dass wir uns selten Gedanken darüber machen, warum es sie gibt. Der Größenunterschied zwischen Frauen und Männern ist eher relativ gering, etwa so wie bei Schimpansen(17). Männer sind im Schnitt ungefähr 15 Prozent größer und schwerer als Frauen. Es verhält sich also keineswegs wie bei Gorillas(4), Löwen(1) oder auch Hirschen – Tierarten, bei denen eine ausgeprägte Haremsstruktur zu beobachten ist. Die Körperbehaarung(1) ist bei Männern ausgeprägter als bei Frauen. Überhaupt haben wir Menschen aber ein vergleichsweise sparsames Haarkleid(1). Reste davon auf dem Kopf schützen uns vor Überhitzung, die unter der Achsel und im Schambereich sind vermutlich dazu da, Geruchsstoffe besser präsentieren zu können, und zwar nicht nur unangenehmen Achselschweiß, sondern auch Pheromone(1) und andere Stoffe, die uns unbewusst Signale geben, ob jemand zu uns passt. Der Ausdruck, jemanden nicht riechen zu können, wenn man eine andere Person nicht gut leiden mag, spricht Bände. Das kulturell bei uns verbreitete Wegrasieren dieser Haare und das sich Einnebeln in verschiedenste Gerüche aus dem pharmazeutischen Labor ist evolutionär betrachtet nicht vernünftig.[11] Ein anderes sekundäres Geschlechtsmerkmal bei uns Menschen ist die weibliche Brust. Bei anderen Primaten(22) schwillt die Brust nur dann an, wenn ein Säugling gestillt wird, sonst sind die Brüste bei anderen Primaten eher unscheinbar. Über die weibliche Brust beim Menschen ist aus evolutionärer Sicht viel spekuliert worden. Es ist sicher ein Attraktivitätsmerkmal und signalisiert so etwas wie Fruchtbarkeit, ob aber ein fülliges Dekolleté tatsächlich die rückwärtige Ansicht eines attraktiven Primatenhinterns imitiert, wie manche behaupten, darf zumindest angezweifelt werden (das Argument lautet: Die Kopulation erfolgt bei den meisten Primaten(23) von achtern; die frontale Stellung »von Angesicht zu Angesicht«, so die These, hat dazu geführt, dass die Vorderseite wie die Rückseite aussieht – aus meiner Sicht weder besonders schmeichelhaft noch plausibel). Wie auch immer, plastische Chirurgen dürften nicht über Arbeitsmangel klagen, denken doch offenbar viele Menschen, dass mehr desselben noch attraktiver macht (hoffentlich erfahren diese Leute niemals von der Hypothese der Gesäßanalogie). Weibliche Attraktivität wird auch über ein bestimmtes Verhältnis von Taillen- zu Hüftumfang ausgedrückt, weil dies, so sagen evolutionäre Psychologen, ebenfalls Fruchtbarkeit anzeigt. Bei Männern sind dies breite Schultern, eine tiefe Stimme und ein prominentes Kinn. Menschenfrauen haben allerdings (zum Glück) keine Östrusschwellungen: Die sogenannte verdeckte Ovulation(1) des Menschen ist hochinteressant. Man(n) sieht einfach nicht, wann eine Frau empfängnisbereit ist. Das ist eine nicht einfach zu lösende Situation. Wie stellt der Menschenmann dann sicher, dass er Vater der Kinder ist, die die Frau zur Welt bringt (die meiste Zeit unserer evolutionären Geschichte gab es keine Verhütungsmittel)? Man bleibt eben einfach permanent bei der Frau. In den meisten Kulturen bindet man sich in Ritualen aneinander und nennt das dann Ehe. Das erhöht schon einmal die Sicherheit, dass man nicht in die Kinder eines Anderen investiert. Dann ist es sinnvoll, einfach regelmäßig Sex zu haben, auch das erhöht die Wahrscheinlichkeit, biologischer Vater seiner Kinder zu sein. Menschenmänner haben nicht die Wahnsinnshoden eines Schimpansen(18), sind aber besser »ausgestattet« als Gorillas. Für »sperm competition(1)« reicht das aber bei Weitem nicht. Allerdings ist der menschliche Penis im Vergleich zu dem anderer Primaten ziemlich lang und dick, vielleicht, weil dies die Stimulation der weiblichen Klitoris(1) verbessert und dadurch die Paarbindung(2) stärkt.

Dann gibt es ja auch noch Eifersucht(1) (von althochdeutsch »eiver« für Erbitterung und »suht« für Krankheit). Eifersucht ist unser kultureller Begriff dafür, aufzupassen, dass der Partner oder die Partnerin nicht auf andere Ideen kommt und diese keinesfalls in die Tat umsetzt. Männer sind wegen der unsicheren Vaterschaft immer besonders eifersüchtig in Bezug auf Sex, Frauen auch deshalb, weil sie fürchten, der Mann könnte die ihm zu Verfügung stehenden Ressourcen(3) in eine andere Partnerschaft investieren. Ich bin selbst immer wieder erschüttert, wie banal dies alles klingt, aber die evolutionäre Währung ist eben die Weitergabe der eigenen Gene(3) und Kultur und Romantik nur Mittel zum Zweck.