Der ungezähmte Wald - Martin Levin - E-Book

Der ungezähmte Wald E-Book

Martin Levin

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Beschreibung

Der deutsche Wald: Sehnsuchtsort, Mythos, Identitätsstifter, aber auch Wirtschaftsfaktor. Deutschland hat die größten Holzvorräte in ganz Europa, mehr noch als Finnland oder Schweden, und ist Spitzenreiter in der Forstwirtschaft. In Zeiten der Klimakrise und des Artensterbens kommt dem Wald allerdings eine neue Schlüsselrolle zu, er soll gleichzeitig sauberes Wasser und gute Luft generieren, CO2-Emissionen limitieren, nachhaltige Roh- und Brennstoffe liefern und Naturschutz und Erholung garantieren. Aber ist er dazu überhaupt noch in der Lage? Denn es geht unseren Wäldern so schlecht wie nie. Martin Levin ist Verfechter des Naturwaldes, der, weitgehend in Ruhe gelassen, sich selbst reguliert. Der langjährige Oberförster des Göttinger Stadtwaldes, erklärt das Ökosystem Wald und seine Geheimnisse und zeigt, wie der resiliente Wald von morgen aussehen könnte.

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Seitenzahl: 205

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog – Kein schöner Land: Natur- und Waldverständnis in Europa

Schlüsselmomente

Der Schattiner Zuschlag – ein Wald ohne Förster

Europäischer Urwald – der unentbehrliche Lehrmeister

Der ungezähmte Wald – ein neuer Denkansatz

Ausgangspositionen – Einflüsse der Waldgeschichte auf die Stadtwälder von Lübeck und Göttingen

Auf der Suche nach dem ursprünglichen Wald – die natürlichen Waldgesellschaften und was davon noch übrig ist

Der bisherige Umgang mit Wald – Landwirtschaft mit Bäumen

Der neue Weg: Zulassen statt gestalten – eine Betriebsanleitung für den ungezähmten Wald

Grundlagen für den neuen Denkansatz

Alles öko oder was? Etwas zu den Naturhaushalten

Gemeinsam stark – das Netzwerk des Waldes

Waldboden – die Ursuppe des Lebens

CO2-Speicher – Wald als Klimaretter?

Wald als Regenmacher

Intelligenz und Kommunikation im Wald

Wie lebt es sich im ungezähmten Wald?

Nicht schlecht, Herr Mittelspecht – die Meinung der Vögel zum ungezähmten Wald

Der summende Wald – Insekten, der unbekannte Teil der Biodiversität

Nützliche Zwischenwesen – Pilze und ihre Bedeutung für den Wald

Die Bodenpflanzen – Botschafter von Standort und Veränderung

Sensible Extremisten – Moose und Flechten

Messbare Veränderungen

Rechnet sich das überhaupt? Die ökonomische Seite des ungezähmten Waldes

Zahlen pflastern seinen Weg

Holz wächst an Holz – gedeiht der ungezähmte Wald anders?

Lange Kerls mit stattlichen Dimensionen – wie wächst ein Baum im ungezähmten Wald?

Ausblick

Störung erwünscht, Zerstörung nicht

Mitmachen erwünscht – Aufruf an Politik und Waldbesitzer

Zu guter Letzt – Dank

Quellen und weiterführende Literatur

Wo finde ich ungezähmte Wälder?

 

 

Mahnung

Die Welt, bedacht auf platten Nutzen,

sucht auch die Seele auszuputzen;

Das Sumpf-Entwässern, Wälder-Roden

schafft einwandfreien Ackerboden

und schon kann die Statistik prahlen

mit beispiellosen Fortschrittszahlen.

Doch langsam merken‘s auch die Deppen:

Die Seelen schwinden und versteppen!

Denn nirgends mehr, soweit man sieht,

gibt es ein Seelen-Schutzgebiet:

Kein Wald, drin Traumes Vöglein sitzen,‘

kein Bach, drin Frohsinns Fischlein blitzen,

kein Busch, im Schmerz sich zu verkriechen,

kein Blümlein, Andacht draus zu riechen.

Nichts, als ein ödes Feld – mit Leuten

bestellt es restlos auszubeuten.

Drum, wollt ihr nicht zugrunde gehen,

lasst doch ein bisschen Wildnis stehen!

Eugen Roth

Vorwort

Die Sehnsucht nach heiler Welt ist immer dann besonders groß, wenn uns die Dinge über den Kopf zu wachsen drohen, wenn technische Neuerungen uns Angst machen und wir uns vom „Fortschritt“ überrollt fühlen. Bei heiler Welt denken wir nicht zuletzt an unzerstörte Naturidylle, die freie Landschaft und vor allen Dingen: an unsere Wälder.

Der Titel dieses Buchs mag daher paradox klingen: Ist denn der Wald nicht ohnehin „ungezähmte Natur“? Aber zumindest diejenigen, die mit dem Wald und in ihm arbeiten, wissen, dass unsere Wälder, von wenigen Resten abgesehen, keine natürlichen, sondern von Menschen gemachte und gestaltete Landschaftsformen sind. Seit dem Beginn der modernen Forstwirtschaft vor 200 Jahren machen sich Förster kontinuierlich darüber Gedanken, wie Wälder aufgebaut sein müssen, um einen optimalen Holzertrag und damit den größtmöglichen Gewinn zu erzielen. Das ist das Hauptanliegen der Waldbesitzer, seien es Privatleute, seien es Bund, Länder, Städte oder Kommunen. Wieviel Natur dabei zugelassen werden kann, diese Frage ist in der Regel zweitrangig.

Nach der Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro im Jahr 1992 beschlossen die Städte Lübeck und Göttingen jedoch, neue Wege zu wagen. Sie stellten sich die Frage umgekehrt: Wieviel menschlichen Eingriff verkraftet ein Wald, sodass man ihn noch als natürlich oder naturnah bezeichnen kann?

Auf den nachfolgenden Seiten gehen wir dieser Frage und weiteren, daran anschließenden Fragen nach: Was ist überhaupt natürlicher – ungezähmter – Wald? Was unterscheidet ihn von menschengemachten Wäldern? Welche Vorteile bietet er gegenüber herkömmlichen Wirtschaftswäldern? Sind ungezähmte Wälder eine realistische Alternative, vielleicht sogar in wirtschaftlicher Hinsicht? Können sie gar zur Lösung unserer aktuellen Problemlage hinsichtlich Klimawandel und Artenschwund beitragen? Und schließlich: Was können wir tun, um die negativen Tendenzen zu stoppen und dem ersehnten Ideal heiler Natur wieder ein Stück näher zu kommen?

Prolog – Kein schöner Land: Natur- und Waldverständnis in Europa

Die Westküste Europas ist erreicht, und eine halbe Stunde später blicke ich durch das Flugzeugfenster auf Wald. Heimatliche Gefühle durchströmen mich, begeistert zeige ich meinem Försterkollegen aus Gambia die Landschaft unter uns. Das ist Deutschland! Wir Förster seien stolz auf unsere nachhaltigen, naturnahen und ertragreichen Wälder!

Mein Kollege schaut eine Weile schweigend aus dem Fenster, dann wendet er sich mir zu und sagt: „Ich sehe da unten keinen Wald, ich sehe Plantagen.“ Im ersten Moment bin ich irritiert, dann werde ich nachdenklich.

Wer hat dich, du schöner Wald, / Aufgebaut so hoch da droben … Eichendorffs Gedicht „Der Jäger Abschied“ beschreibt das innige Verhältnis, das wir Deutsche zu unserem Wald haben. Der Wald ist ein Wohlfühlort, ein Ort der Seele, des Ursprungs. Mit Wald verbinden wir Heimat schlechthin. Quer durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen geht man leidenschaftlich gerne „raus in die Natur“, und der Ausflug ins Grüne, der Waldspaziergang, ist geradezu typisch für uns Deutsche.

Anders jedoch, als vor allem im Dritten Reich propagiert, ist unsere positive Einstellung zum Wald nicht seit Urzeiten in der „Volksseele“ verwurzelt; sie hat auch nichts mit einem wie auch immer gearteten intimeren Naturverständnis von uns Deutschen zu tun. Sie ist vielmehr eine Reaktion auf die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und auf den damit verbundenen, sich stark beschleunigenden Wandel, der als bedrohlich empfunden wurde: Während alles sich veränderte, erschien der Wald als ein Hort der Beständigkeit. In ihm schien die gute alte Zeit bewahrt geblieben zu sein.

Der Wald, der im 19. Jahrhundert besungen und gemalt wurde, war indes schon lange kein Urwald oder Naturwald mehr. Die Wälder, die wir auf Gemälden dieser Zeit erkennen können, sind das Ergebnis „moderner“ Forstwirtschaft. Caspar David Friedrichs Gemälde Der Chasseur im Wald zeigt einen Jäger inmitten einer Fichtenplantage, wie man sie bis heute in den Mittelgebirgen findet: Die Bäume stehen ordentlich in Reih und Glied. Kein Wunder, wurden sie doch von preußischen Förstern gepflanzt. Alle Fichten sind gleich hoch und gleich alt, unter ihnen wächst kein Kraut mehr. Der Wald, den wir Deutschen so innig lieben, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein auf maximalen Holzerlös optimierter Wirtschaftswald. Und dies bereits im 19. Jahrhundert!

Die moderne Forstwirtschaft ist, wie der Diesel- und der Ottomotor, eine Errungenschaft unseres Landes, auf die wir nicht zu Unrecht stolz sind. Wir haben den nachhaltigen Waldbau erfunden: Wir ernten nur so viel Holz, wie nachwächst. Die deutsche Forstwirtschaft ist getragen von grenzenlosem Optimismus und dem Glauben an den Fortschritt. Sie markiert wie die Industrialisierung eine Aufbruchszeit und ist Kennzeichen einer neuen Epoche, die sich mit aller Kraft den Naturwissenschaften, den verbesserten Methoden der Landvermessung und der Mathematik zuwandte. Ihr Ziel ist bis heute ein möglichst großer Holzertrag. Dementsprechend ist „Waldbau“ die wichtigste Disziplin der Forstwirtschaft, sie bedeutet so viel wie „Landwirtschaft mit Bäumen“.

Unsere Plantagenwälder lieben wir deswegen so sehr, weil wir kaum etwas anderes kennen. Wilde, ursprüngliche Natur gibt es heute fast nirgendwo mehr. Das ist tatsächlich in ganz Europa so. Die letzten Urlandschaften in Deutschland sind das Wattenmeer, das Hochgebirge über den Almen und einige restliche Moorgebiete. Die Gründe dafür reichen gut 2.000 Jahre zurück. Wilde Natur war den Römern zutiefst suspekt, im Gegensatz zur „schönen“, vom Menschen gestalteten Landschaft. Eine der ältesten bekannten Beschreibungen der deutschen Landschaft stammt von dem Gallo-Römer Ausonius aus dem Jahr 371 n. Chr. Ihm ging das Herz auf beim Anblick des von Menschenhand gestalteten Moseltals, das bereits damals intensiv landwirtschaftlich genutzt wurde1. Den Hunsrück hingegen, den er ebenfalls durchquerte, schildert Ausonius als eine weglose, abweisende, Furcht einflößende Gegend, deren finsterer Wald ihm den Blick zum Himmel versperrte. Diese kulturell geprägte Sichtweise, die nur die vom Menschen gestaltete Landschaft als schön empfindet, wird von den Franken übernommen und wirkt bis ins Mittelalter hinein. In dem mittelalterlichen Epos „Heliand“2 geht Jesus statt in die Wüste in den Wald. Was Wüste bedeutet, war offenbar unbekannt und der Wald wurde wie die Wüste als unwirtlich und unheimlich empfunden. Die Rodung des wilden Waldes, die Urbarmachung des Landes wurde so erfolgreich vorangetrieben, dass im Hochmittelalter lediglich 8 Prozent des heutigen Deutschlands noch mit Wald bedeckt waren, etwa so viel wie heutzutage im waldärmsten Bundesland Schleswig-Holstein. Erst nach der großen Pestkatastrophe, die zwischen 1350 und 1750 in ganz Europa wütete, eroberte der Wald wieder größere Flächen zurück. Heute liegt sein Flächenanteil hierzulande bei 30 Prozent.

Bis ins 18. Jahrhundert war der seit der Römerzeit umgestaltete Wald ein bedeutender Energielieferant und Holz der wichtigste Rohstoff für Haus- und Schiffsbau sowie für die Herstellung von Gebrauchsgegenständen. Der Wald diente zudem als Weideland für Schweine, Kühe, Schafe und Ziegen. In ärmeren Gegenden wurde das Laub zusammengekratzt und als Dünger auf die Felder ausgebracht. Der Wald war der Ort der mittelalterlichen Industrie: Glashütten und Köhlereien waren hier angesiedelt, Pottasche und Gerberlohe wurden in ihm gewonnen3. Im Erzgebirge und im Harz lieferte er Stützbalken für die Bergwerke.

Zum Vergnügen oder zur Erholung ging damals niemand in den Wald, im Gegenteil. Aus Göttingen wissen wir, dass ihn die Bevölkerung nur für eine begrenzte Zeit im Jahr betreten durfte, und zwar um dort zu arbeiten. Ansonsten war es streng verboten.

Wie ein Urwald aussieht, wissen wir kaum noch. Der Gedanke an eine sich selbst überlassene Wildnis macht uns auch heute noch nervös. „O, schaurig ist’s, übers Moor zu gehen“ – so oder ähnlich heißt es in vielen Gedichten und Erzählungen, und auch der tiefe, dunkle Wald unserer Märchen zeugt von der Angst vor einer ursprünglichen, wilden, letztlich lebensfeindlichen Natur. Unsere Sprache spiegelt diese Angst wider und verrät bis heute unsere Einstellung zu Natur und Wald: Begriffe wie „verwildern“, „Unkraut“, „Ödland“ oder „Unholz“ beschreiben negative Zustände, die dort entstehen, wo der Mensch nicht ordnend eingreift. Ungestört wuchernde, sich selbst überlassene Natur gilt als unansehnlich oder gar als gefährlich.

Erst mit Alexander von Humboldt (1769–1859) änderte sich allmählich die Einstellung zur Natur – allerdings nicht in Bezug auf Europa, sondern auf Amerika. Humboldt beschrieb die Schönheit der Urwälder Amazoniens, aber auch bereits ihre Bedrohung durch die Kolonialmächte. Mit seinen umfangreichen Studien am Chimborazo, dem, wie man damals dachte, höchsten Berg der Welt, begründete er die Geobotanik. Und seine Erkenntnis, dass im Naturhaushalt alles mit allem zusammenhängt, war ein Vorgriff auf die heutige Ökosystem- und Biodiversitätsforschung.

Zu Humboldts Zeit begannen die Europäer, Nord- und Südamerika zu besiedeln. Die sogenannte Neue Welt bestand noch zu großen Teilen aus echter Wildnis, für deren Schönheit der preußische Naturforscher seinen Lesern die Augen öffnete. Trotz der Zerstörungen der Siedler blieb in einem so unendlich großen Land noch so viel Natur übrig, dass die Naturphilosophen und -forscher ein neues Verständnis von ihr entwickeln konnten. Der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau (1817–1862) entdeckte das einfache Leben mit der Natur. Er zog in den Wald am Waldensee und bewohnte zwei Jahre lang eine selbstgebaute Blockhütte. Sein dort verfasstes Werk Walden, oder: Leben in Wäldern4, in dem er das einfache Leben im Einklang mit der Natur als Gegenentwurf zur Industriegesellschaft beschreibt, ist bis heute eine der wichtigsten Grundlagen für das Naturverständnis in Nordamerika. John Muir (1838–1914) sorgte für den Schutz des Yosemite Nationalparks und wurde zum Vater der Nationalparkidee5. Und George Perkins Marsh (1801–1882) beschrieb in seinem Werk Man and Nature6 eindringlich die Bedrohung der Natur durch den Menschen. Ökologie, Biodiversitätsforschung und Naturschutzbiologie sind Kinder Nordamerikas.

Europa hinkt bis heute hinterher: Erst seit den 1950er-Jahren befassen sich Geobotaniker und Forstwissenschaftler mit der Rekonstruktion des europäischen Urwalds. Dazu vergleichen sie Boden- und Klimadaten mit den Ansprüchen der heimischen Baumarten und stellen Überlegungen über mögliche Waldtypen und Waldgesellschaften an. Als hierzulande erstes Schutzgebiet seiner Art wurde 1970 der Nationalpark Bayerischer Wald gegründet. Mittlerweile gibt es in den meisten Bundesländern Nationalparks. In Berchtesgaden, im Harz, im Kellerwald, in der Eifel, im Hunsrück und im Nordschwarzwald umfassen sie insgesamt 112.545 Hektar Wald, der seiner natürlichen Entwicklung überlassen wird. Das klingt viel, entspricht aber nur einem Prozent der insgesamt elf Millionen Hektar Waldfläche in Deutschland.

Ein Argument gegen weitere Nationalparks ist der große Bedarf an Holz, auch und gerade in Krisenzeiten. Allein für Papier liegt er bei einer halben Tonne oder 0,5 Kubikmeter Holz pro Kopf und Jahr. Dafür braucht man Wirtschaftswälder mit Hochleistungsbaumarten wie Fichte, Douglasie, Lärche, Küstentanne und Kiefer – so die landläufige Meinung.

Aber ist das wirklich so? Oder könnten wir vielleicht auch mit einem anderen Wald Holz produzieren? Mit einem Wald, der dem Urwald ähnelt, dessen Schönheit und Vielfalt an Pflanzen-, Pilz- und Tierarten uns heute, wo er für immer zu schwinden droht, bewusst wird? Anders gefragt: Wäre es in Zeiten von Klimawandel, Artensterben und Überbevölkerung nicht sinnvoller, mit der Natur zu arbeiten statt gegen sie? „Wir müssen den Krieg gegen die Natur beenden“, forderte António Guterres auf etlichen Klimakonferenzen. Dieser Forderung kann ich nur zustimmen. In unserem Fachgebiet will ich beides in Einklang bringen: die freien Kräfte der heimischen Waldnatur und eine in allen Belangen nachhaltige Nutzung von Holz. Das Ziel ist weder Urwald noch Wirtschaftswald, sondern ein anderer, ein ungezähmter Wald.

1Decimus Magnus Ausonius: Mosella. Hrsg. v. Paul Dräger, Trier 2001

2O. Behaghel / B. Taeger: Heliand und Genesis, Tübingen 1996

3Eine gute Quelle für die Forstgeschichte ist das Werk von Walter Kremser: Niedersächsische Forstgeschichte. Eine integrierte Kulturgeschichte des nordwestdeutschen Forstwesens. Rotenburger Schriften (Sonderband 32), Rotenburg (Wümme) 1990

4H. J. Thoreau: Walden. Ein Leben mit der Natur, München 1999

5John Muir: Our National Parks, Boston 1901

6G. P. Marsh: Man and Nature or: Physical Geography as Modified by Human Actions, 1864, University Press, Washington 2003

Schlüsselmomente

Der Schattiner Zuschlag – ein Wald ohne Förster

Wir alle haben klare Meinungen, bestimmte Grundhaltungen und Überzeugungen, die wir als feste Wahrheiten abgespeichert haben. Aber manchmal erleben wir besondere Schlüsselmomente, in denen solche Einstellungen blitzartig über den Haufen geworfen werden.

So erging es einer Gruppe von Förstern im Herbst 1992 bei einer Begehung des sogenannten Schattiner Zuschlags, einem Waldstück auf dem ehemaligen Grenzstreifen der DDR, das nach der Wende an den Stadtwald Lübeck rückübertragen wurde. Auf einem ausgefahrenen Feldweg, beidseitig gesäumt von alten Apfelbäumen, die damals voller leuchtend roter Früchte hingen, gelangt man am Ende nach einer leichten Biegung in den Wald. Rechter Hand erstreckt sich ein Fichtenbestand, angelegt in den 1960er-Jahren nach dem Kahlschlag eines naturnahen Laubmischwalds. Sobald die Grenzanlagen errichtet waren, wurde er forstlich nicht weiter betreut. Dunkel und dicht, in Reih und Glied stehen hier die Bäume, kein Halm wächst auf dem Waldboden – eine ehemalige Holzplantage, kein schöner Anblick. Linker Hand jedoch, in einer leichten Senke das gänzliche Gegenteil: ein Laubwald in den schönsten Herbstfarben, gebildet von alten, großen Buchen und Eichen. Der Waldboden ist wie ein großes Waschbrett sanft gewellt – Spuren der einstigen, frühmittelalterlichen Bodenbearbeitung. Die Bäume waren auf über 35 Meter Höhe gewachsen, und nicht nur einzelne Exemplare, sondern der gesamte Wald bestand aus Bäumen dieser Größe. Nicht wenige hatten einen Stammdurchmesser von gut einem Meter. Die Stämme waren von der Wurzel bis zum Kronenansatz über 20 Meter hoch, rund und gerade gewachsen. An Stellen, wo sich Lücken im Kronendach auftaten und die Sonnenstrahlen durchließen, hatten sich Hainbuche, Wildkirsche, Bergulme, Bergahorn und Feldahorn angesiedelt. Unter dem dichten Blätterdach herrschte das für einen alten Wald typische angenehme Klima. Die Luft war kühl und feucht, und es roch herbstlich nach Eichenfass, Moos und Erde. Die Szenerie versetzte die Gruppe in Staunen und Begeisterung und ließ sie nicht mehr los. Mit ihrem „Holzblick“ sahen die Förster überall wertvollen Rohstoff, eine wahre Schatztruhe. Dabei waren nirgends Spuren jüngerer forstwirtschaftlicher Aktivitäten zu entdecken. Die Stümpfe der gefällten Bäume waren sehr alt, ihre Zersetzung weit fortgeschritten.

Die letzten Eingriffe hatten hier 1946 stattgefunden. Die Bäume hatten sich nahezu fünfzig Jahre ungestört entwickeln können. Hainbuche, Esche, Ahorn, Ulme und Wildobst hatten den Wald nach und nach von ganz allein verjüngt und für eine großartige Vielfalt gesorgt. Aber wie war das möglich? Das Kronendach von Buchen, so die herrschende Lehrmeinung, ist doch so dicht, dass es andere Bäume darunter schwer haben. Ohne Eingriffe eines Försters konnte eine solche Waldgemeinschaft, wie sie im Schattiner Zuschlag zu finden ist, auf Dauer eigentlich nicht bestehen.

Aber genau das war offensichtlich geschehen. Dieser Wald schien sich um forstliche Regeln nicht zu scheren. Die Frage beschlich die Gruppe, ob es ihm vielleicht gerade deshalb so gut ging, weil er fünfzig Jahre lang ungestört wachsen durfte …

An den Laubmischwald schloss sich ein Buchen-Hallenwald an. Hier waren die Bäume mit über 40 Metern sogar noch höher, dabei deutlich jünger, die Kronen zwar etwas kleiner, aber immer noch beeindruckend. Auch hier war die Holzqualität hervorragend. Die Bäume standen sehr dicht, abgestorbene Bäume fehlten. Auch am Boden lag kein Totholz.

Die Landschaft des Schattiner Zuschlags wurde von den Gletschern der letzten Eiszeit geformt, mitten durch das Gebiet zieht sich eine noch heute deutlich erkennbare nacheiszeitliche Schmelzwasserrinne. Auf der einen Seite war sie mit Buchen und Eichen, Eschen und Hainbuchen bewachsen und erinnerte an Schluchtwälder, wie sie in Mittelgebirgen typisch sind. Auf der anderen Seite der Rinne wuchsen vornehmlich Eichen, etwa so alt wie der Buchen-Hallenwald. Auch in diesem Bereich standen die Bäume sehr dicht, die durchschnittliche Höhe betrug etwa 33 Meter.

Auffällig war hier, im Gegensatz zum gegenüberliegenden Hang, der hohe Totholzanteil. Dies warf Fragen auf: Warum starben die Eichen im Reinbestand ab, die Buchen aber nicht? Warum waren im Eichen-Buchen-Mischwald beide Baumarten gleich hoch, im Reinbestand aber unterschiedlich? Der Schattiner Zuschlag gab viele Rätsel auf, die uns seit nunmehr dreißig Jahren intensiv beschäftigen: Ein Wald, der keinen Förster kannte – und trotzdem war alles in bester Ordnung!

Der unverhoffte neue Waldzuschlag wäre für die Lübecker Stadtkasse ein Fest gewesen: Holz im Wert von mehreren Hunderttausend Euro hätte in dem 50 Hektar großen Waldstück auf einen Schlag geerntet und vermarktet werden können. Doch nach der Besichtigung war allen klar: Der tatsächliche Wert dieses Waldes war noch viel größer und in Geld gar nicht zu bemessen. Er bot die einmalige Chance, von der Natur zu lernen, wie das Leben in einem wirklich naturnahen anderen, ungezähmten Wald funktioniert. Und so ist der Schattiner Zuschlag seit 1992 Lernort und Referenzfläche. Hier wird gemessen und geforscht, die gewonnenen Daten werden systematisch analysiert und ausgewertet mit dem Ziel, die Lebensläufe und die natürliche Dynamik des Ökosystems Wald besser zu verstehen. Ziel des Ganzen ist, die gewonnenen Erkenntnisse auf andere Flächen zu übertragen, damit sich auch dort eine ähnliche positive Dynamik entwickeln kann.

Der Schattiner Zuschlag ist sozusagen Vorbild und Keimzelle einer neuen Waldbewirtschaftung, Vater aller Referenzflächen und Maßstab für einen ungezähmten Wald, in dem die Natur ihren natürlichen Lebensabläufen folgen darf, und zwar ohne dass man auf Erträge aus der Holzernte verzichten muss.

Europäischer Urwald – der unentbehrliche Lehrmeister

Gemeinsam mit einigen hessischen Förstern nahm ich 1996 an einer Exkursion nach Slowenien teil. Dušan Mlinšek, Professor für Forstwirtschaft in Ljubljana, hatte uns eingeladen. Er wollte uns seine Ideen einer behutsamen, naturgemäßen Waldbewirtschaftung näherbringen. Höhepunkt der Exkursion war der Urwald von Kočevje. Zu K.u.K-Zeiten hatte ein österreichischer Adeliger dieses Waldstück gekauft, um dort ein Sägewerk zu errichten. Der Wald bezauberte ihn aber so sehr, dass er von seinen Plänen abließ und ihn dauerhaft unter Schutz stellte.

Ich hatte tropischen Regenwald im Amazonasgebiet und Eukalyptus-Urwälder in Australien gesehen. Europäische Urwälder aber kannte ich aus eigener Anschauung nicht. Während meines Studiums in der Schweiz hatte ich lediglich darüber gelesen. Aber um eine Vorstellung von ihnen zu bekommen, muss man sie erleben. Wie also sieht ein europäischer Urwald aus?

Mein erster Eindruck: ganz anders, als ich erwartet hatte. Kein wildes Durcheinander, keine malerischen Baumruinen (wie etwa im „Urwald“ Sababurg, einem Teil des Reinhardswaldes bei Kassel). Kočevje ist auf den ersten Blick überhaupt nicht als Urwald zu erkennen. Auf dem größten Teil der Fläche stehen dicke Buchen, Fichten, Tannen und Bergahorne dicht an dicht. Unter ihren Kronen ist es dunkel und feucht. Einige Tannen sind abgestorben, manche umgestürzt. Bei vielen ist das Holz so mürbe, dass man mit der Hand kleine Stücke herauslösen kann, die sich anfühlen wie ein nasser Schwamm. Die Baumruinen wirken wie ein großer Luftbefeuchter und sorgen für das besondere Klima im Waldinneren. Die Stämme der lebenden Bäume sind so gerade gewachsen wie Säulen. So viel wertvolles Holz auf engstem Raum hatte ich noch nie gesehen. „Optimalphase“ nennen die Botaniker dieses Lebensstadium eines Waldes. Es ist der Zustand, den das Ökosystem von Natur aus anstrebt.

Zwischendrin, dort wo Bäume abgestorben waren, gab es kleine Lichtungen, auf denen Stämme und Äste wie beim Mikado verstreut herumlagen. Zwischen und auf dem verrottenden Holz regte sich neues Baumleben. Die Überraschung: Viele dieser jungen Waldflächen sahen so gepflegt aus, wie es sich ein Förster nur wünschen kann. Die Auslese der Bäume, die hier nachwuchsen, um später, im hohen Alter den Wald der Optimalphase zu bilden, geschah ohne Zutun des Menschen, aber gleichwohl so, als wäre sie geplant. Alles, was Förster in ihren Wirtschaftswäldern mit viel Aufwand, Mühe und Fleiß erreichen wollen, vollzog sich in diesem Wald wie von selbst und gelang perfekt. Es war sehr verblüffend.

Auf den zweiten Blick fiel uns beim Durchstreifen des 75 Hektar großen Waldes auf, dass keine Ecke der anderen glich: „Die Natur ist unberechenbar, sie wiederholt sich nie. Sie ist immer anders, immer neu“, erklärte Mlinšek. „An jeder Stelle setzt sich der Wald durch zufällige Ereignisse in einer anderen Variante zusammen und optimiert die Lebensabläufe in neuer Form.“ Im Urwald von Kočevje waren die Varianten nicht groß, aber deutlich erkennbar. Die Natur widersetzte sich in gewisser Weise der Physik: Sie optimierte den Energieeinsatz innerhalb der Lebensgemeinschaft in Form einer sehr komplexen Ordnung und schützte das Ökosystem vor schädlichen Einflüssen von außerhalb.

Dafür ein einfaches Beispiel: Die Sonnenenergie, die tagsüber auf die Erde trifft, wird im Ökosystem Wald zu einem großen Teil absorbiert und nicht wieder abgestrahlt. Die Pflanzen nutzen diese Energie, um sich eine eigene, lebensfreundliche Umgebung zu schaffen. Die Folgen sind ein eigenes Waldinnenklima, die Vermeidung von Temperaturextremen und die Beeinflussung des Wasserkreislaufs. Urwälder haben uns gewissermaßen erst das angenehme Klima beschert, das wir Menschen für ein gutes Leben brauchen.

„Mist ist die Seele der Wirtschaft.“ Mit diesen Worten wies Mlinšek auf das perfekte Recycling im Wald hin: Alles, was stirbt, wird in seine Bestandteile zerlegt und beim Entstehen von neuem Leben wiederverwertet. Der Boden steckt voller Leben, er ist eine Recyclingwerkstatt par excellence, in der Tiere, Pilze, Bakterien und Pflanzen wie eine gut geölte Maschine zusammenarbeiten und aus pflanzlichen und tierischen Rückständen Humus machen. Und damit von dieser neu gewonnenen Nahrungsgrundlage nichts verloren geht, reguliert der Wald den Wasserhaushalt. Starkregen wird durch das dichte Kronendach abgefangen, und die dichte Humusschicht saugt das Regenwasser auf wie ein großer Schwamm.

Eine zentrale Rolle spielt die Zeit: Das System braucht lange, um sich zu stabilisieren. Die Bäume müssen alt werden können, um eine Schutzburg aus dicken Stämmen und dichtem Kronendach zu bilden. Noch länger dauert die Humusbildung im Boden. Das dortige Leben wird mit zunehmender Dauer immer reichhaltiger. Dabei wird viel CO2 gebunden: (Ur-)Wälder sind die größten und wichtigsten Kohlenstoffspeicher der Kontinente (dazu an anderer Stelle noch mehr).

„Die Selbstpflege und die eigenen Schutzmechanismen sind die wichtigsten Instrumente im Leben der Urwaldökosysteme“, erklärte Mlinšek. Das perfekte Zusammenspiel und die gegenseitige Ergänzung aller an der Lebensgemeinschaft beteiligten Organismen ist das Kennzeichen, nicht der Kampf und die Konkurrenz aller gegen alle. Die alten Bäume schaffen die besten Lebensbedingungen für die Mikroorganismen im Boden, und diese ernähren die Bäume und andere Pflanzen.

Als Förster beeindruckte mich, dass viele Schäden, die ich aus dem heimischen Wirtschaftswald kannte, im Urwald nicht vorkamen: Wurzeln waren nicht abgeschliffen, wie es beim maschinellen Herausziehen der Stämme geschehen kann. Es gab keine „Schlagschäden“, die entstehen, wenn ein bei der Holzernte gefällter Baum am Stamm seines Nachbarn abrutscht und dessen Rinde verletzt. „Der Wald ist ein einzigartiger und unverzichtbarer Lehrer“, so Mlinšek, „ein Vorbild für ein naturverträglicheres Verhalten von uns Menschen. Vom Urwald können wir nur lernen.“ Dies verstand ich als Aufforderung, darüber nachzudenken, was wir in unseren Wäldern vielleicht falsch machen.

Aus Kočevje nahm ich viele Fragen mit: Wie kann ein Wald wieder zu Urwald werden? Was können wir tun, damit ein Wald seine optimale Anpassungs- und Optimierungsfähigkeit zurückerlangt? Leben, Anpassung, Kooperation – wie können wir dazu beitragen, dass die natürlichen Prozesse möglichst ungestört ablaufen – für eine optimale Lebensgrundlage, zu unserem eigenen Nutzen? Und schließlich: Wie lässt sich eine möglichst schonende Holznutzung integrieren?

Der ungezähmte Wald – ein neuer Denkansatz

Ausgangspositionen – Einflüsse der Waldgeschichte auf die Stadtwälder von Lübeck und Göttingen