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Die neuere Geschichte kennt nichts, was den Ereignissen des Frühjahrs 1945 vergleichbar wäre. Niemals zuvor sind im Untergang eines Reiches so viele Menschenleben vernichtet, so viele Städte ausgelöscht und Landstriche verwüstet worden. Die Herrschaft des Hitler-Regimes endete nicht einfach – das Land im ganzen ging buchstäblich unter. Joachim Fest schildert die Schlußphase des Krieges, von der im gespenstischen Scheinwerferlicht eröffneten Schlacht um Berlin bis hin zum Selbstmord Hitlers im Bunker unter der Reichskanzlei. Er versucht darüber hinaus, einige Fragen neu zu stellen sowie an ein Geschehen zu erinnern, das nicht nur politisch-historisch, sondern vor allem menschlich nichts anderes als ein Weltuntergang war.
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Seitenzahl: 211
Veröffentlichungsjahr: 2009
Joachim Fest
Der Untergang
Hitler und das Ende des Dritten Reiches
Eine historische Skizze
Vorwort
Die Eröffnung der Schlacht
Konsequenz oder Katastrophe: Hitler in der deutschen Geschichte
»Der Krieg ist verloren!«
Schlußstriche
Bankett des Todes
Der Wille zum Untergang
Kapitulationen
Untergang einer Welt
Bibliographie
Register
Die neuere Geschichte kennt kein katastrophisches Ereignis, das dem Untergang von 1945 vergleichbar wäre. Niemals zuvor sind im Zusammenbruch eines Reiches so viele Menschenleben ausgelöscht, so viele Städte vernichtet und ganze Landstriche verwüstet worden. Mit Recht hat Harry L.Hopkins, Berater der beiden amerikanischen Kriegspräsidenten, beim Anblick der Ruinenfelder von Berlin ein Bild aus dem Halbdämmer der Geschichte herangezogen und an das zerstörte Karthago erinnert.
Was von den Mitlebenden durchgemacht und erlitten wurde, waren nicht nur die unvermeidlichen Schrecknisse einer von der Vernichtungsmacht moderner Kriege noch gesteigerten Niederlage. Vielmehr schien in der Agonie, mit der das Hitlerreich erlosch, eine steuernde Kraft am Werk. Sie setzte alles daran, daß seine Herrschaft nicht nur endete, sondern das Land im ganzen buchstäblich unterging. Schon bei seinem Machtantritt und dann immer wieder hatte Hitler erklärt, daß er niemals kapitulieren werde, und zu Beginn des Jahres 1945 seinem Luftwaffenadjutanten Nicolaus von Below versichert: »Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen.«
Hitler wußte seit langem, daß der Krieg verloren war. Die ersten Äußerungen darüber fallen bereits im November 1941.Aber eine hinreichend ruinierende Kraft besaß er noch immer. Auf dem Grund aller Durchhalteappelle und Verteidigungsaufrufe der letzten Monate ist eine Art Jubelton unüberhörbar, wie er in Robert Leys Ausbruch anläßlich der Zerstörung Dresdens durchschlägt: »Wir atmen fast auf! Nun ist es vorbei! Wir werden jetzt durch die… Denkmäler deutscher Kultur nicht mehr abgelenkt!« Und Goebbels sprach von den »zerschmetterten Gefängnismauern«, die nun »in Klump geschlagen« seien. Hitler selber hatte schon im Herbst 1944 und dann noch einmal durch den sogenannten »Nerobefehl« vom 19.März 1945 angeordnet, sämtliche Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung des Lebens zu demolieren: die Industriewerke und die Versorgungsanlagen, die Straßen, Brücken und Kanalisationssysteme, so daß dem Gegner nichts als eine »Zivilisationswüste« in die Hände fiel.
Die Monate des endenden Kriegs verbrachte Hitler in dem Bunker, den er Anfang der vierziger Jahre hatte anlegen lassen. Von hier, fast zehn Meter unter der Erde, kommandierte er Armeen, die längst zerschlagen waren, und eröffnete Entscheidungsschlachten, die niemals stattfinden würden. Von Claus Schenk von Stauffenberg, dem Attentäter des 20.Juli 1944, ist die aus dem Anblick der betonierten Führerhauptquartiere gewonnene Beobachtung überliefert: »Hitler im Bunker – das ist der wahre Hitler!« Tatsächlich verrät die Verbindung von Kälte, weltfernem Vernichtungswillen und opernhaftem Pathos, die Hitlers Entscheidungen der letzten Zeit bestimmen, viel von seinen auffälligsten Wesenszügen, und genauer als aus dem Verhalten dieser Wochen, in denen er sich mehr denn je von der Welt wegsperrte, kann man dem, was ihn sein Leben lang trieb, kaum auf den Grund kommen. Alles ist noch einmal verdichtet und gesteigert zusammen: sein Haß auf die Welt, die Erstarrung in früh gewonnenen Denkmustern, die Neigung zum Unausdenkbaren, die ihm so lange von Erfolg zu Erfolg verholfen hatte, ehe jetzt alles endete. Aber eines der großen Spektakel, auf die er zeitlebens aus gewesen war, ließ sich noch immer und nun womöglich großartiger denn je veranstalten.
Zu Bild und Verständnis des Geschehens gehört die unbestrittene Autorität, die Hitler trotz der von allen Beobachtern übereinstimmend beschriebenen Hinfälligkeit der Person nach wie vor ausübte. Mitunter scheint es sogar, als habe die Greisenhaftigkeit der Erscheinung und die sichtbare Anstrengung, mit der er sich durch die Räume schleppte, die Suggestivität seiner Auftritte noch verstärkt. Kaum einer jedenfalls wagte ihm zu widersprechen. Bewährte Generäle und hochdekorierte Offiziere standen während der täglichen Lagekonferenzen stumm und mit bemüht ausdrucksleeren Mienen um ihn herum. Unbewegt führten sie die ergangenen Weisungen aus, deren Irrwitz oder Sinnlosigkeit ihnen nicht verborgen geblieben war.
Für alle diese und manche weiteren Bewandtnisse liefert die folgende Darstellung zahlreiche, nicht selten bestürzende Beispiele. Sie haben den Ereignissen eine einzigartige Dramatik verschafft. Um so erstaunlicher ist das »ungewisse Licht«, das zumal über den Vorgängen im Führerbunker liegt. Die Wendung stammt von dem britischen Historiker Hugh R.Trevor-Roper, dem Verfasser der ersten verläßlichen Darstellung von »Hitlers letzten Tagen«, wie der Titel seiner bereits 1946 erschienenen Bestandsaufnahme lautet. Bis heute ist dieses Licht kaum schärfer geworden. Allein zu der Frage, wie Hitler sich umgebracht hat, liegen mindestens vier widersprüchliche Zeugenaussagen aus engster Umgebung vor. Ähnliches gilt für den Verbleib der Leiche des Diktators und der seiner ihm in der Nacht zuvor angetrauten Ehefrau, desgleichen für den von sowjetrussischer Seite behaupteten »Sturm« auf die Reichskanzlei und anderes mehr.
Die Unsicherheit in den Befunden geht zum Teil darauf zurück, daß die kritischen Untersuchungen, einschließlich derjenigen Trevor-Ropers, erst Monate nach den Ereignissen einsetzten, als viele wichtige Zeugen entweder in den Kriegswirren verschwunden oder in sowjetische Gefangenschaft geraten und mithin unerreichbar waren. Nicht nur zahlreiche SS-Ränge, die zur Besatzung der Reichskanzlei gehörten, auch Wehrmachtsoffiziere aus dem Kampfgebiet Berlins sowie Bunkerpersonal und selbst noch die Zahnärzte Hitlers kehrten erst 1955, im Anschluß an Adenauers Moskau-Reise, nach Deutschland zurück.
Damit stand unversehens eine Anzahl erster Auskunftgeber über eines der unstreitig erregendsten und folgenreichsten Ereignisse der deutschen Geschichte zur Verfügung. Doch die Gelegenheit ihrer Befragung wurde vertan. Weder das Geschehen selbst noch die auf die eine oder andere Weise unmittelbar Beteiligten vermochten ein stärkeres Interesse zu wecken. Das hatte mancherlei Gründe.
Dazu zählte gewiß, daß der Untergang des Reiches zwar als nationale Katastrophe empfunden wurde. Doch die Nation gab es nicht mehr, und der Begriff der Katastrophe fiel mit wachsendem zeitlichem Abstand einer der deutschen Spitzfindigkeitsdebatten zum Opfer. Vielen klang er zu sehr nach »Schicksal« und Schuldverleugnung, als sei, was geschehen war, aus einer gleichsam unvermittelt auftauchenden historischen Gewitterwolke niedergefahren. Zudem umfaßte er die Idee der Befreiung nicht, die bei jedem Blick auf das Jahr 1945 inzwischen mitgedacht werden sollte.
Das war ein erster Motivstrang für die sonderbare Gleichgültigkeit bei der Erforschung und Quellensicherung dieser Ereignisse. Einzig etliche historisch bewanderte Reporter meist angelsächsischer Herkunft haben sich seit den sechziger Jahren dem Thema zugewandt und die Dabeigewesenen befragt. Eine Rolle spielte auch, daß die Geschichtswissenschaft gerade zu jener Zeit die Bedeutung der Strukturen im historischen Prozeß zu entdecken und, vereinfacht gesprochen, die gesellschaftlichen Verhältnisse für weitaus gewichtiger zu halten begann als die Ereignisse. Das elementare Vergegenwärtigungsbedürfnis, das am Anfang aller historischen Betrachtung steht, wurde seither als »unwissenschaftlich« verpönt; die erzählerische Technik auch. Zugleich damit sah sich jeder geschichtliche Stoff von einigem dramatischen Zuschnitt unter Verruf gestellt, als laufe dessen Darstellung zwangsläufig auf eine Art »yellow history« hinaus. Überhaupt scheut das vom Kleinteiligen angezogene Temperament der herrschenden Historikergeneration die größeren, noch dazu spannungsgeladenen Abläufe. Aber mitunter tut der Chronist gut daran, das Vergrößerungsglas aus der Hand zu legen. Denn auch der Zusammenhang, in dem alles jederzeit mit allem steht, hat seine Bedeutung und leistet Erkenntnisgewinne, die keine Detailbetrachtung erbringen kann.
Mit dieser Absicht ist die vorliegende Darstellung geschrieben. Den Anstoß gab der Beitrag, den ich vor etwa anderthalb Jahren für das von Etienne François und Hagen Schulze herausgegebene Sammelwerk »Deutsche Erinnerungsorte« über den »Führerbunker« verfaßt hatte. Der notgedrungen kurze, zugleich die Geschichte des Reichskanzlerpalais an der Wilhelmstraße beschreibende Essay schilderte lediglich den letzten Tag im Leben Hitlers sowie in wenigen eher offenen Strichen das darauffolgende Geschehen.
Nach dem Erscheinen des Bandes gingen mehrere Anfragen ein, die wissen wollten, anhand welcher Veröffentlichungen ein halbwegs umfassendes Bild vom Zusammenbruch des Reiches zu gewinnen sei. Erst dabei ging mir auf, daß außer einigen wenigen, in mancher Einzelheit inzwischen überholten Darstellungen kaum ein Werk zugänglich ist, das dem ungeheuerlichen Geschehen jener Wochen auf dem neuesten Kenntnisstand gerecht würde. Das gleiche gilt für die Nachgeschichte, als der Vorhang schon gefallen war und das blutige Stück, den Launen der Geschichte folgend, auf der Vorderbühne noch ein paar Auftritte lang weitergespielt wurde.
Die Autoren, die am Ende dieses Buches mit ihren Arbeiten aufgeführt und teilweise kurz gewürdigt sind, haben die Einsicht in den Ereignisverlauf oftmals beträchtlich erweitert. Doch ein Gesamtbild, das sowohl den Gang der Dinge als auch wichtige Aspekte des dazugehörigen Hintergrunds vermerkt, steht offenbar aus. Auch die vorliegende Beschreibung will und kann nicht mehr als einen Anstoß geben. Sie nennt sich eine »historische Skizze«. In vier erzählenden Kapiteln schildert sie die turbulenten, vom Druck des unausweichlich heranrückenden Verhängnisses aufgeladenen Vorgänge sowohl in der Bunkerwelt als auch in der zusehends hoffnungsloser in den Strudeln der Zerstörung versinkenden Hauptstadt. Dazwischengeschaltet sind vier kürzere, reflektierende Einschübe, die ein vom Fortgang des Geschehens in den Blick gerücktes Stichwort aufgreifen.
Das eine wie das andere ist zum Verständnis jener vierzehn Schreckenstage unentbehrlich. Wenn es eine der Aufgaben der Geschichtsschreibung ist, einen Ausschnitt gelebten Lebens zur Anschauung zu bringen, muß sie sich für den von Hitler geschäftig in Gang gesetzten und von allzu vielen bereitwillig betriebenen Untergang um eine denkbar weite Perspektive bemühen. Weder sollte sie die von aller Vernunft verlassenen Entscheidungen der Führung übersehen – und wie es dazu kam – noch die Angst und das Entsetzen, die daraus folgten. Auch hätte sie die gedanklichen und emotionalen Wirrnisse nachzuzeichnen, in die sich die meisten Akteure verlaufen hatten, und die Einschläge schriller Komik nicht zu vernachlässigen, die gelegentlich auftreten und das Grauen erst auf eine Art Gefrierpunkt bringen. Insonderheit aber sollte sie, wie andeutungsweise auch immer, die Trauer über soviel Sinnlosigkeit spürbar machen, die sich bei aller Betrachtung des unaufhörlichen Vernichtungstreibens einstellt, aus dem die Geschichte besteht.
Ein Land »in extremis«: davon ist auf den folgenden Seiten die Rede. Von den Umständen, die dahin führten und das Begreifen erst erschließen, notwendigerweise auch.
ERSTES KAPITEL
Um drei Uhr stiegen ein paar Leuchtkugeln in den Nachthimmel und tauchten den Brückenkopf bei Küstrin in bengalisches Rot. Nach einem Augenblick beklemmender Stille brach der Donner los, der die Oderniederungen weit hinaus über Frankfurt erbeben ließ. Wie von Geisterhand in Gang gesetzt, heulten mancherorts bis hin nach Berlin die Sirenen los, schrillten Telefone und fielen Bücher aus den Regalen. Mit zwanzig Armeen und zweieinhalb Millionen Soldaten, mehr als vierzigtausend Granatwerfern und Feldgeschützen sowie Hunderten von Stalinorgeln, dreihundert Rohren auf den Kilometer, eröffnete die Rote Armee an diesem 16.April 1945 die Schlacht. Überall um die Ortschaften Letschin, Seelow, Friedersdorf und Dolgelin schossen gewaltige Feuersäulen hoch und bildeten eine Wand aus Blitzen, aufspritzenden Erdbrocken und herumfliegenden Trümmern. Ganze Wälder gingen in Flammen auf, und einige der Überlebenden erinnerten sich später an die heißen Orkane, die über das Land hingefahren waren und alles in Brand, Staub und Asche verwandelt hatten.
Nach einer halben Stunde setzte der Höllenlärm unvermittelt aus, und für Sekunden fiel eine atemnehmende, nur vom Prasseln des Feuers und den heulenden Winden belebte Stille ein. Dann flammte über den sowjetischen Linien der Lichtstrahl eines Scheinwerfers senkrecht gegen den Himmel und gab das Einsatzzeichen für hundertdreiundvierzig, im Abstand von zweihundert Metern aufgestellte und flach über das Gefechtsfeld gerichtete Scheinwerfer. Die blendenden Lichtbahnen enthüllten eine tief zerpflügte Landschaft und brachen sich erst einige Kilometer weiter an den Seelower Höhen, die das operative Tagesziel des Oberbefehlshabers der 1.Weißrussischen Front, Marschall Georgi K.Schukow, waren. Der Befehl, mit dem er die Schlacht eröffnet hatte, lautete: »Der Gegner ist auf dem kürzesten Weg nach Berlin zu zerschlagen. Die Hauptstadt des faschistischen Deutschland ist einzunehmen und über ihr das Banner des Sieges zu hissen!«
Das theatralische Lichterspektakel, das in den sowjetischen Planungsstäben als Schukows »Wunderwaffe« beredet worden war, erwies sich als opferreicher Fehlschlag. Gegen manchen Widerspruch hatte der Marschall an der Absicht festgehalten, den vom voraufgegangenen Dauerfeuer verwirrten und entmutigten Gegner bis zur Kampfunfähigkeit zu »blenden«, so daß die dahinterliegenden, annähernd dreißig Meter aufsteigenden, von Mulden und Abhängen durchsetzten Höhen im ersten Ansturm überrannt werden konnten. Doch der dichte Vorhang aus Rauch und Schlachtendunst, den das Trommelfeuer über die Ebene gelegt hatte, fing nicht nur das Licht der Scheinwerfer auf, sondern ließ die Angreifer zunehmend ratlos in dem milchig dunklen Dämmer umherirren. Zudem stellte sich heraus, daß das sowjetische Oberkommando die Unwegsamkeit des schwierigen, von Kanälen, wäßrigen Morasten und Abzugsgräben durchzogenen Geländes, das zu dieser Jahreszeit überdies im Frühjahrshochwasser stand, gänzlich falsch beurteilt hatte. Mannschaftswagen, Zugmaschinen und schweres Gerät aller Art fuhren sich in dem moorigen Terrain fest, rutschten in die Tiefe weg und mußten schließlich aufgegeben werden.
Am folgenreichsten war jedoch, daß der mit der Taktik russischer Truppenführer vertraute Befehlshaber der Heeresgruppe Weichsel, Generaloberst Gotthard Heinrici, kurz vor Beginn der Schlacht die vorderen Verteidigungsstellungen zurückgenommen hatte, so daß der Feuerschlag überwiegend ins Leere ging. Als daher die gegnerischen Infanterieeinheiten, angeführt und begleitet von massierten Panzeraufgeboten, mit wehenden Fahnen und gellenden Schreien aus den Schwaden hervorgestürmt kamen, warteten die weit schwächeren, aus vielfach aufgeriebenen Verbänden zusammengestellten Verteidiger nur ab, bis sie nah genug heran waren und schossen dann nahezu ziellos in die wimmelnden Schattenhaufen hinein. Gleichzeitig eröffneten Hunderte von Flakgeschützen aus heruntergelassenen Rohren das Feuer, sobald die in dichten Rudeln anrollenden Panzer im diffusen Licht Umriß gewannen. Als der Tag anbrach, war der Ansturm unter schwersten Verlusten für die Angreifer abgeschlagen.
Dem ersten Fehlgriff ließ Schukow einen zweiten folgen. Enttäuscht und verzweifelt über seinen Mißerfolg, auch bedrängt von einem erkennbar verärgerten Stalin, befahl er in Abänderung des verabredeten Offensivplans, den Einsatz der zwei Panzerarmeen vorzuziehen, die in rückwärtigen Stellungen warteten. Ursprünglich für den Augenblick bereitgestellt, in dem eine größere Bresche in den deutschen Verteidigungsriegel geschlagen war, stießen sie jetzt auf das Schlachtfeld vor und vermehrten das ohnehin herrschende Durcheinander im Rücken der kämpfenden Truppe. Auf den verstopften Straßen drängten sie sich zwischen die orientierungslosen Verbände, hinderten die Artillerie am Stellungswechsel und schnitten die Zufahrtswege für Nachschub und Versorgung ab. Da sie überdies ohne jede Koordination in das Kampfgeschehen eingriffen, richteten sie ein heilloses Chaos an, das bald zur gänzlichen Lähmung der sowjetischen Operationen führte. Einer der Armeeführer Schukows, Generaloberst WassiliI.Tschuikow, notierte am Abend des 16.April, die sowjetischen Verbände hätten ihre Aufträge nicht erfüllt und seien stellenweise »keinen einzigen Schritt« vorwärtsgekommen. Die Absicht, Berlin am fünften Tag nach Eröffnung der Offensive einzunehmen, war gescheitert.
Im Hauptquartier Hitlers, dem Tiefbunker auf dem Gelände der Reichskanzlei, war der Angriff seit Tagen mit einer Mischung aus Ungeduld, Fieber und narkotischer Ergebung erwartet worden. Bereits die Meldungen von den ersten flüchtigen Abwehrerfolgen hatten noch einmal wirre, alsbald ins Chimärische hochgeredete Siegeshoffnungen aufflackern lassen. Immerhin ordnete Hitler an, das Regierungsviertel und vor allem das Gelände um die Reichskanzlei zur Verteidigung bereitzumachen, Panzerabwehrgeschütze sowie Granatwerfer in Aufstellung zu bringen und überall Schießscharten vorzusehen. Am Nachmittag gab er einen »Tagesbefehl an die Kämpfer der Ostfront« aus, der die Ausrottungswut des »jüdisch-bolschewistischen Todfeindes« beschwor und der Gewißheit Ausdruck gab, daß der Ansturm Asiens auch »dieses Mal… vor der Hauptstadt des Deutschen Reiches verbluten« werde. »Ihr Soldaten aus dem Osten wißt«, hieß es weiter, »welches Schicksal vor allem den deutschen Frauen und Kindern droht. Während die Alten, Männer und Kinder ermordet werden, werden Frauen und Mädchen zu Kasernenhuren erniedrigt. Der Rest marschiert nach Sibirien.«
Bereits im Verlauf ihrer Januar-Offensive hatte die Rote Armee die Oder erreicht und bei Küstrin, einige dreißig Kilometer nördlich von Frankfurt, an mehreren Stellen den Fluß überquert. Im Fortgang der Kämpfe war es ihr gelungen, einen annähernd vierzig Kilometer langen und streckenweise bis zu zehn Kilometer tiefen Brückenkopf zu bilden, der die gesamte »Nibelungenstellung« bis hin zur Neiße gefährdete. Erst Anfang März hatte die deutsche Seite daraufhin begonnen, in und um Berlin Gräben auszuheben sowie Panzersperren und befestigte Stellungen zu errichten. Doch als die sowjetischen Armeen zunächst verhielten, war der Bau eines wie behelfsmäßig auch immer angelegten Verteidigungssystems unbegreiflicherweise zum Erliegen gekommen. Die Einstellung der Arbeiten ging nicht zuletzt auf Hitler selber zurück, der sich zunehmend darauf versteifte, daß die Hauptstadt an der Oder verteidigt werden müsse und kein Verband den zugewiesenen Frontabschnitt verlassen dürfe. »Halten oder untergehen!« lautete die in zahllosen Befehlen und Durchhalteappellen wiederholte Parole.
Der sowjetischen Streitmacht gegenüber lagen das LVI. Panzerkorps General Helmuth Weidlings und, etwas nach Süden versetzt, vor allem die 9.Armee unter General Theodor Busse. Vergebens hatte General Heinrici, zu dessen Heeresgruppe die beiden Verbände gehörten, auf die Einschließungsgefahr hingewiesen, die bei einem erfolgreichen Durchbruch Schukows drohte, und mehrfach auch die Warnung wiederholt, daß der Widerstand nur kurze Zeit durchzuhalten sei; dann müsse der Mangel an infanteristisch bewährten Kräften, an Munition und Nachschub aller Art sowie vor allem die grenzenlose Erschöpfung der Truppen das Ende herbeiführen. Aber Hitlers unbeirrbarer Glaube, daß der Wille jede materielle Unterlegenheit wettmache, brachte im Verein mit irgendwelchen großspurigen, niemals eingehaltenen Zusicherungen von Göring, Dönitz oder Himmler – wenigstens augenblicksweise – die lange begrabene und nur von Hitler selber künstlich aufrechterhaltene Zuversicht zurück. Am Ende wurden einige Volkssturmbataillone mit Omnibussen an die Front geschafft, um Schukows Armeen und motorisierte Korps aufzuhalten. Noch während der Rundfunk meldete, daß »Tausende von Berlinern mit ihren Verbänden an die Front« abgerückt seien, war für einen Teil von ihnen der Einsatz schon beendet. Russische Jagdflugzeuge, die den gesamten Luftraum um die Stadt beherrschten, hatten einige der Wagenkolonnen auf halber Strecke ausgemacht und mit wenigen Tiefangriffen vernichtet.
Die Vorhersagen Heinricis trafen nur allzugenau ein. Nachdem Schukow seine Verbände wieder formiert hatte, ließ er sie bei Eintritt der Dunkelheit erneut angreifen und setzte sie um so rücksichtsloser ein, als inzwischen bekannt geworden war, daß sein Rivale im Süden der Front, Marschall Iwan S.Konjew, offenbar erfolgreicher manövriert hatte. Nicht nur war es Konjew gelungen, die Lausitzer Neiße an mehr als einhundertdreißig Stellen zu überqueren und der Offensive damit den entscheidenden Durchbruch zu öffnen; vielmehr glaubte er seither auch, gute Gründe für seine wiederholt erhobene Forderung zu haben, an der Eroberung Berlins beteiligt zu werden und Schukow die verheißene Siegestrophäe im letzten Augenblick streitig zu machen. Ein stummer, von Stalin mit arglistigen Andeutungen gegen den inzwischen ungeliebten Schukow beförderter Wettlauf setzte ein. Als in einem der Gespräche Konjew den Diktator um die Genehmigung ersuchte, mit seinem rechten Flügel über Lübben und Luckenwalde nach Norden zu schwenken, wo er innerhalb weniger Tage bei Zossen an die Stadtgrenze Berlins gelangen werde, hatte Stalin eingeworfen, ob dem Marschall bekannt sei, daß sich in Zossen »das Hauptquartier der Wehrmacht« befinde. Auf Konjews knappes »Ja!« war von Stalin die Antwort gekommen: »Gut. Ich bin einverstanden. Lassen Sie die beiden Panzerarmeen auf Berlin vorstoßen.«
Ausgangslage bei Beginn der russischen Offensive gegen Berlin am 16.April 1945.Bereits im Januar hatte die Rote Armee die Oder erreicht und bei Küstrin einen annähernd vierzig Kilometer langen und vereinzelt bis zu zehn Kilometer tiefen Brückenkopf gebildet.
Weiter nördlich, im Mittelabschnitt der Oderfront, hatten Schukows Truppen gegen Mitternacht endlich die ersten Häuser von Seelow erreicht. Eine Zeitlang wogte der Kampf um die hufeisenförmigen Höhen hin und her. Dann waren die streckenweise zehnfach unterlegenen, nicht selten aus Reserven von hier und da zusammengerafften Einheiten der Wehrmacht hoffnungslos zermürbt und gingen zusehends in Auflösung über. Darüber hinaus war Heinrici von der wachsenden Sorge erfüllt, daß Konjews stürmisch vorstoßende Verbände plötzlich in seinem Rücken auftauchen und die 9.Armee einschließen könnten. Als ihn am folgenden Tag die Nachricht erreichte, daß eine seiner Eliteeinheiten, die auf den Kämmen der Seelower Höhen eingesetzte Fallschirmjäger-Division, panikartig die Flucht ergriffen hatte, ließ er sich mit dem Führerbunker verbinden.
Doch wie verschiedentlich schon stießen seine dringlich erhobenen Vorstellungen auf völliges Unverständnis. Der Vorschlag, die Truppen aus der Festung Frankfurt/Oder abzuziehen und in eine der kilometerweit aufgerissenen Abwehrlücken zu werfen, begegnete kalter Ablehnung. Und auch als er später von General Krebs, dem erst kürzlich ernannten Generalstabschef, die Genehmigung verlangte,die eigenen Verbände zurückzunehmen, kam vom anderen Ende nur ein hörbar bestürztes Atemringen. Dann sagte Krebs: »Damit wird sich Hitler nie einverstanden erklären. Halten Sie sämtliche Stellungen!«
Am 19.April war die gesamte Hügelkette von Seelow bis hinauf nach Wriezen in russischer Hand und der Landstrich dazwischen, der einen Reisenden, kaum hundert Jahre zurück, an »ferne Wunderländer« erinnert hatte, »alles Friede, Farbe, Duft«, wie er schrieb, in eine gesichtslose Kraterwelt verwandelt. Stück für Stück zerbrachen von nun an, in verlustreichen Stellungskämpfen, die Reste der deutschen Abwehrfront. Nach sowjetischen Angaben hatte die Schlacht auf seiten der Angreifer über dreißigtausend Tote gefordert, glaubwürdigere Berechnungen kommen auf siebzigtausend Gefallene, denen zwölftausend Verluste auf deutscher Seite gegenüberstehen. Aber Berlin lag seither kaum siebzig Kilometer entfernt, und auf dem Weg in die Hauptstadt gab es keine zusammenhängende Front mehr, sondern nur noch mehrere Stützpunkte sowie von einzelnen Einheiten verteidigte Dörfer, Waldstücke oder kleine Anhöhen. Schon zwei Tage darauf schlugen, von eilig vorgezogenen Ferngeschützen abgefeuert, die ersten Granaten auf dem Berliner Hermannplatz ein. Sie richteten unter den ahnungslosen Passanten und den Käuferschlangen vor dem Kaufhaus Karstadt ein grauenhaftes Blutbad an.
Fast eine Woche zuvor hatten amerikanische Truppen bei Barby die Elbe erreicht und dort verhalten. »Berlin ist kein militärisches Ziel mehr«, hatte der amerikanische Oberkommandierende, General Eisenhower, seinen entgeisterten Truppenführern erklärt; die Stadt gehöre den Russen, so sei es vereinbart worden, und der Krieg im nördlichen Teil des Reiches somit für sie zu Ende. Zur gleichen Zeit hatte Feldmarschall Walter Model nach mehreren, durchweg von ihm zurückgewiesenen Kapitulationsangeboten den Kampf um den Ruhrkessel eingestellt und seine Heeresgruppe aufgelöst. Über dreihunderttausend Soldaten und dreißig Generale gerieten in Gefangenschaft. »Haben wir alles getan«, wandte Model sich an seinen Chef des Stabes, »um unser Verhalten vor der Geschichte zu rechtfertigen? Bleibt noch etwas zu tun?« Und nach einem kurzen Blick ins Leere hatte er hinzugefügt: »Früher nahmen die besiegten Feldherren Gift.« Wenig später folgte Model ihrem Beispiel.
Seit Wochen fühlte Hitler sich vom Unheil verfolgt, eine Verteidigungslinie nach der anderen war ihm weggebrochen, angefangen von der Großoffensive der Roten Armee in Ungarn, der Erhebung der Partisanenverbände Titos, dem Fall der Festungen Kolberg und Königsberg bis hin zu den tausend geringeren Schreckensmeldungen, die täglich einliefen. Hinzugekommen waren die Streitigkeiten mit dem inzwischen abgelösten Generalstabschef Guderian sowie mit dem störrischen Speer, der sich Ende März sogar geweigert hatte, auf eine »erfolgreiche Weiterführung des Krieges« zu hoffen. »In allem Verrat ringsum«, hatte Hitler daraufhin gesagt, »ist mir nur das Unglück treu geblieben – das Unglück und mein Schäferhund Blondi.«
Die Kette der Hiobsbotschaften schien nur einmal zu zerreißen, als Goebbels am Abend des 13.April angerufen und atemlos, mit sich überschlagender Stimme in den Apparat gerufen hatte: »Mein Führer, ich gratuliere Ihnen! In den Sternen steht geschrieben, daß die zweite Aprilhälfte für uns den Wendepunkt bringen wird. Heute ist Freitag, der 13.April!« Dann hatte er mitgeteilt, daß der amerikanische Präsident Roosevelt gestorben sei, und in der unverzüglich einberufenen Zusammenkunft mit Generalen, Ministern und Parteioberen schlugen aus Planetenkonjunktionen, Aszendenzen und Transiten im Quadrat noch einmal längst entschwundene Hoffnungen hoch. Ein Bündel Papiere in der zitternden Hand, lief Hitler von einem zum anderen und hielt ihm in leicht entrückter Greisenemphase die Meldungen hin: »Hier! Sie wollten es nie glauben! Wer hat nun recht?« Er verwies auf das Mirakel des Hauses Brandenburg, das den großen Friedrich 1762 rettete: Das Wunder, sagte er, kehre noch einmal wieder! »Der Krieg ist nicht verloren! Lesen Sie! Roosevelt ist tot!«
Wie so oft in seinem Leben schien auch diesmal wieder die Vorsehung ein Einsehen zu haben und sich in buchstäblich letzter Sekunde auf seine Seite zu stellen. Seit Jahr und Tag hatte er seine Umgebung davon zu überzeugen versucht, daß das »widerwärtige Konkubinat« der Feindmächte in naher Zukunft zerbrechen und England wie die Vereinigten Staaten ihn, bevor es zum Äußersten komme, doch noch als Vorkämpfer der gemeinsamen Kultur gegen die Barbaren des Ostens anerkennen würden. Der Tod Roosevelts, versicherte er nun, sei das ersehnte Signal zur Umkehrung der Allianzen, der Krieg im Westen so gut wie beendet, und für ein paar Stunden herrschte im Bunker eine Hochstimmung, in der sich die Empfindung des Davongekommenseins mit Zuversicht und bald schon wieder Siegeserwartung mischte. Aber im Laufe der Nacht, als alle Gaukelspiele durchgerechnet waren, brachen die ausgeblendeten Bedrückungen aufs neue durch, zumal die Meldung eingegangen war, daß die Rote Armee Wien erobert habe. Am Ende saß Hitler, dem Bericht eines Beteiligten zufolge, »erschöpft, wie befreit und zugleich benommen in seinem Sessel; dennoch wirkte er hoffnungslos.« In der Tat hatte der Tod des Präsidenten keinen Einfluß auf den Fortgang des Krieges.
Im Januar, nach der gescheiterten Ardennenoffensive, war Hitler nach Berlin zurückgekehrt und hatte anfangs in der Neuen Reichskanzlei Quartier bezogen. Bald jedoch hatten die ständigen Luftangriffe ihn von dort vertrieben und veranlaßt, in den Tiefbunker umzuziehen, wo er, dem Urteil mehrerer Beobachter zufolge, endlich bei sich selber war. Die Angstkomplexe, die ihn zeitlebens beherrscht hatten, waren bereits zum Vorschein gekommen, als er 1933, wenige Monate nach seiner Ernennung zum Kanzler, eine Reihe von Umbauarbeiten an der Reichskanzlei in Auftrag gegeben und als eines der unerläßlichen Vorhaben eine bunkerartige Unterkellerung des Gebäudes verlangt hatte. Wie obsessiv dieses Verlangen war, geht auch daraus hervor, daß er in den Architekturgesprächen mit Albert Speer »Bunker, immer wieder Bunker« entwarf. Schon der Festsaal, den er 1935 von dem Architekten Leonhard Gall im Garten hinter dem Kanzleramt errichten ließ, erhielt einen Luftschutzkeller mit einer Deckenstärke von annähernd zweieinhalb Metern, die später um einen weiteren Meter verstärkt wurde. Drei Jahre darauf dann, mit dem Bau von Albert Speers Neuer Reichskanzlei, kamen noch einmal ausgedehnte Schutzräume hinzu. In den Tiefgeschossen des Gebäudes lagen auf der gesamten Länge der Voßstraße mehr als neunzig Betonzellen. Sie waren mit dem Bunker unter dem Festsaal durch einen etwa achtzig Meter langen unterirdischen Gang verbunden.
Als jedoch die Winterkatastrophe vor Moskau, Ende 1941, Hitlers Verschrecktheiten neuerlich aufrührte, sah er selbst dieses weitläufige Bunkersystem als unzureichend an. Obwohl seine Armeen zu dieser Zeit den Riesenraum zwi