Flüchtige Größe - Joachim Fest - E-Book

Flüchtige Größe E-Book

Joachim Fest

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Beschreibung

Joachim Fests andere Seite – «das Beste und Schönste, was er geschrieben hat» Mit Büchern über das «Dritte Reich» ist Joachim Fest weltberühmt geworden. Doch seine persönliche Vorliebe galt anderen Themen: Literatur, Architektur und Malerei. Sie begeisterten ihn bereits in seiner Jugend, später setzte er sich mit ihnen in kenntnisreichen Beiträgen auseinander – «das Beste und Schönste, was er geschrieben hat», findet die Süddeutsche Zeitung. Diese weniger bekannte Seite Fests stellt der zweite Band seiner Gesammelten Essays vor: geistreiche Porträts von Schriftstellern wie Graham Greene und Ernst Jünger, Malern wie Bernhard Heisig und Horst Janssen oder Baumeistern wie Palladio und Schinkel, dazu Überlegungen zur heutigen Bedeutung Goethes, eine scharfsinnige Analyse der ideologischen Wirkungen Richard Wagners, Wegweisendes über den unpolitischen Charakter der Brüder Mann, nicht zuletzt kritische Einwürfe zum zeitgenössischen Theater und zur staatlichen Kulturpolitik. Einmal mehr erweist Fest sich als ein Grenzgänger, der die meisten Fachgelehrten an gedanklicher Originalität und stilistischer Eleganz weit übertrifft.

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Seitenzahl: 597

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Joachim Fest

Flüchtige Größe

Gesammelte Essays über Literatur und Kunst

Inhaltsverzeichnis

I. LITERATUR

Goethes Fremdheit und Nähe. Eine Rede in Weimar

Die unwissenden Magier. Über Thomas und Heinrich Mann

Vorwort

Thomas Mann. Politik als Selbstentfremdung

Heinrich Mann. Ein Unpolitischer wird besichtigt

Anmerkungen

In Münster und anderswo. Zu Friedrich Reck-Malleczewens «Bockelson»

Parabel von Macht und Moral. Über Arnold Zweigs «Der Streit um den Sergeanten Grischa»

Friedrich Sieburg. Ein Porträt ohne Anlaß

Würde auf engstem Raum. Chronist des Übergangs: Ernst Jünger

Anmerkungen

Kein Ende der Affäre mit Gott. Versuch über Graham Greene

Lyrikinterpretationen

Genieträume und Wirklichkeit. J. W. v. Goethe, Hoffnung

Flüchtige Größe. Friedrich von Schiller, Nänie

Musikstück für Worte. J. W. von Goethe, Nachtgesang

Mehr erhitzt als erleuchtet? Heinrich Heine, Die Grenadiere

Die hundertste Ghasele. August von Platen, Es liegt an eines Menschen Schmerz

Wozu das Theater? Zwischenruf über einen parasitären Anachronismus

Über Rainer Werner Fassbinders Stück «Der Müll, die Stadt und der Tod»

Reicher Jude von links

Linke Schwierigkeiten mit «links»

Spiel mit der Angst

II. BILDENDE KUNST UND MUSIK

Alessandro Farneses Caprarola. Kastell und humanistisches Märchenschloß

Wunschbild eines neuen Arkadien. Ruhm und Nachruhm Palladios

Architekt einer Übergangsepoche. Karl Friedrich Schinkel

Die Gegenwart des Vergangenen. Cäsar Pinnau

Denkmal der Baugeschichte und verlorene Mitte Berlins. Plädoyer für den Wiederaufbau des Schlüterschen Stadtschlosses

Das nie endende Menetekel der Geschichte. Betrachtung über Bernhard Heisig

Luxemburger Impromptu. Glocken für Horst Janssen

Mozart – das diskrete Genie

Über Richard Wagner. Eine biographische Skizze nach den Tagebüchern Cosimas

NACHWEIS DER ERSTVERÖFFENTLICHUNGEN

BIBLIOGRAPHIE JOACHIM FEST

PERSONENREGISTER

I.Literatur

Goethes Fremdheit und Nähe

Eine Rede in Weimar

Wer spräche über Goethe – wenn hier nicht Weimar wäre? Ein paar Philologen sicherlich und die wenigen unbeirrbaren Liebhaber seines Werkes auch. Aber wer sonst? Goethe ist, mitsamt der Klassik, während der zurückliegenden Jahrzehnte in mehrere Abgründe des Vergessens gefallen, Mal um Mal tiefer. Vermutlich ist auch jetzt nicht der Augenblick, von ihm zu reden. Zeiten politischer Erregung, der Vorherrschaft des Geschichtlichen, gehen immer mit einer Krise des Klassischen einher. Die Turbulenz der Ereignisse macht die Klassik als das In-Sich-Ruhende oder ruhend Scheinende geradezu zum Widerspruch des eigenen Erlebens, alle Gedanken sind auf Gegenwart und nahe Zukunft gerichtet. Das Vergangene gerät aus dem Blick und wird nicht, wie in Zeiten gesicherter Tradition, als Fluchtpunkt im Durcheinander der Erscheinungen empfunden. Es kommt einfach abhanden. Aber manchmal fragen wir uns doch, ob es mit Gegenwart und Zukunft nicht stärker zusammenhängt, als den meisten jeden Tag bewußt ist.

Zweifellos war Goethe das herausragende Ereignis unserer kulturellen Geschichte, es gibt kein größeres: ein langer Augenblick, in dem die Nation, mehr als je zuvor und irgendwann später, auf inspirierende Weise an der zivilisierten Weltgesellschaft teilhatte. Und dieses Ereignis kam wie aus dem Nichts. Den einen Lessing ausgenommen, der aber eine national begrenzte Erscheinung war, lag dieses Deutschland am unbeachteten Rande der Welt. Und auch das herzogliche Residenznest von damals, mit seinen paar tausend Einwohnern, war in seiner kulturellen Bedeutung ein Abbild des Reiches: seiner freundlichen Enge, seiner Verschlafenheit und paternalistischen Provinzialität. Zwar war Wieland da. Aber niemand anders als Goethe hat es aus seiner Anonymität in den Rang einer Metropole erhoben und zum Begriff der europäischen Geistesgeschichte gemacht. Wir leben bis heute davon.

Auch wenn das kaum noch im allgemeinen Bewußtsein ist. Man kann sogar fragen, wie stark es je darin war. Denn aufs Ganze gesehen ist Goethe, ganz anders als der schon von den Zeitgenossen und dann bis dicht an die Gegenwart heran enthusiastisch in Besitz genommene Schiller, dem eigenen Land immer seltsam fremd geblieben. Schon zu seinen Lebzeiten, an Goethes 74.Geburtstag, versammelten sich in Jena auf dem Marktplatz die Studenten, die auch damals dem Geist der Zeit den unverbildetsten Ausdruck gaben, und brachen in skandierende «Nieder»-Rufe und «Weg mit ihm!» gegen den Abwesenden aus. Sein Tod, 1832, blieb von der führenden literarischen Zeitschrift, dem Stuttgarter Literaturblatt, unbeachtet, obwohl sie im gleichen Verlag erschien wie die Werke des Dichters. Das Junge Deutschland überbot sich im Spott auf Goethe, und mit Heine, Börne und anderen als den Stichwortgebern blieb er lange Zeit den Philologen und kleinen Zirkeln der Gebildeten überlassen. Der Wilhelminischen Epoche, die ihr Glück und ihren Anschluß an die Welt im Maßlosen suchte, blieb er ohnehin fremd, trotz der Sophienausgabe, die alles je von ihm Geschriebene in 143Bänden vereinte und an der sich von 1887 bis 1919 zwei Gelehrtengenerationen abmühten. Allenfalls im «Faust» oder doch in dem Bild, das sich die Zeit davon zurechtmachte, glaubte sie sich und ihr Getriebensein wiederzuerkennen. Für das ganze Jahrhundert galt, was Varnhagen schon am zehnten Todestag des Dichters ahnungsvoll in seinem Tagebuch vermerkt hatte: «Mich dünkt, die Zeit von Goethe ist schon weit von uns ab; die Welt hat seitdem eine andere Wendung genommen, sie sieht wenig zurück, sie kann nicht viel zurücksehen, sie hat so viel vor sich.»

Gewiß gab es Schwankungen in der Beziehung, und um die Jahrhundertwende oder einige Zeit danach war sogar die Wendung «Unser Goethe» verbreitet, jedenfalls war das der Titel eines populären Lesebuchs im Bücherschrank vieler Bürgerhäuser. Doch schwer zu sagen, worauf das zielte: mehr auf den Dichter selbst und die Aneignung seines Werkes, oder auf die patriotischen und womöglich sogar «faustischen» Empfindungen, die sich davon herleiten ließen. Auffallend jedenfalls war immer der große Abstand zwischen ihm und der Nation, als habe sie ihm das Wort von den Barbaren, unter denen er leben müsse, von der Achtbarkeit der Deutschen im einzelnen und ihrem miserablen Charakter im ganzen sowie anderes dieser Art, nie verziehen. «Sie lassen mich alle grüßen, und hassen mich bis in Tod», hat Goethe im «Westöstlichen Divan» über seine Landsleute bemerkt.

Sicherlich aber vereinfacht man das Problem, wenn man es, wie häufig, auf eine bloße Heimzahlungsgeschichte verkürzt. Vielfach und jedenfalls stärker, als es der Gegenwart bewußt ist, hat das bürgerliche Jahrhundert Anstoß genommen am Libertinismus des Dichters, den erotischen Eskapaden und Daueraffären mit den «Misels». Nicht ohne spitze Mißbilligung vermerkte Frau v. Stein, der Herr v. Goethe sei in Italien «sinnlich» geworden, und die bald darauf einsetzende Verbindung mit Christiane Vulpius, der «Vulpia», wie sie abfällig genannt wurde, sowie die unverheimlichte Menage im Gartenhaus an der Ilm waren in der bigotten Kleinstadt Gegenstand entrüsteten Klatsches. Als Goethe seine «dicke Hälfte» ausgerechnet in den Tagen der Schlacht von Jena und der Plünderung Weimars heimführte und der Gesellschaft als Frau Geheimrat v. Goethe vorstellte, war alle Welt außer sich. Auch in seinem Werk geriet man zu oft an Anstößiges, von den «Römischen Elegien» bis hin zu den Blocksberg- und Hexensabbatszenen des «Faust» mit dem Hohen Lied auf die Dreieinigkeit von Gold, Schwanz und Schoß. Zwar hatte er diese Stellen den Zeitgenossen nicht zugemutet und in den «infernalischen Walpurgissack» verstaut, aber ins Gerede war er damit und mit manchem anderen doch gekommen. Frau v. Stein nannte den Freund aus früheren Tagen unterdessen den «dickmürrischen Mann» mit den «dummen häuslichen Verhältnissen», Schiller, äußerte sie, nehme sich neben ihm «wie ein himmlischer Genius» aus, und ganz ähnlich war das Bild, das generationenlang vorherrschte. Ein bis in die dreißiger Jahre verbreiteter Zweizeiler, woher auch immer stammend, hat die Mischung aus Respekt und Befremden, auf die Goethe stieß, auf den Reim gebracht: «Reicht v. Goethens Gedankenflug auch höher,/​Steht v. Schillern uns doch sittlich näher.»

Doch gewiß mehr noch hatte die Fremdheit Goethes mit dem inkommensurablen Zug zu tun, der ihm eigen ist, mit seiner Größe und seinen Rätselhaftigkeiten. Auch sieht man sich immer wieder einer Neigung zu Parabel und Gleichnis gegenüber, die dem raschen Begreifen im Wege steht, und strenggenommen beginnen die Schwierigkeiten schon, bevor man sich dem Werk selber nähert. Es gibt ganze Bibliotheken gelehrter Deutungen über ihn, Generationen bewanderter Verehrer haben sich mit ihm beschäftigt, und vieles davon stammt aus genauer und vertrauter Kenntnis des Dichters. Zugleich aber hat die babylonische Goethe-Philologie immer auch ihre einschüchternden Wirkungen gehabt und nicht nur alle Annäherungen erschwert, sondern auch ein Empfinden ungeheurer Distanz und Unnahbarkeit erzeugt.

Diesem Empfinden hat das erratische, nicht nur im Sinn der «großen Konfession» aus zahlreichen Bruchstücken bestehende Werk weiter Vorschub geleistet. Ich erinnere mich eines Lehrers, der, sooft die Rede auf Goethe kam, auf einen der Widersprüche im Leben und Denken des Dichters oder auf ein neues, anderes Kapitel, seinen Stupor in einer richtigen Lehrer-Metapher ausdrückte: Goethe stehe da wie ein Berg, gewaltig und manchmal sogar entmutigend, mit Höhenzügen und Abstürzen, und von wo man sich ihm nähere, nähme er sich anders aus. Goethe selber hat in einem jener verräterisch glättenden Bilder, hinter denen er die mehrdeutigen Seiten seines Wesens zu verbergen liebte, ein ähnliches Motiv verwandt und von der Pyramide seines Daseins gesprochen, die er sich «so hoch als möglich in die Luft zu spitzen» bemüht habe.

Das alles hat den Zugang zu ihm leicht gemacht und zugleich verbaut. Einiges liegt ganz offen und einladend da, die frühe Lyrik vor allem, die in der Verbindung aus impulsiver Wärme und formaler Vollkommenheit, aus Naturlaut und Kunstschönheit, Wahrnehmung und Vergeistigung nie wieder ihresgleichen hatte. Einige Partien aus dem «Faust» kann man nennen, aus dem «Egmont» vor allem die ganz unklassische Figur des Klärchen, kaum noch den «Werther» oder den Geniestreich des «Reineke Fuchs» mit seinen leichten, nie wieder so frei dahinlaufend exerzierten Hexametern. Früher hätte man vielleicht noch den «Tasso» genannt, auch die «Iphigenie», obwohl sich die beiden Werke schon zu Lebzeiten des Dichters beim Publikum schwertaten. Immerhin versorgten sie die Zitierfreudigen mit einem reichen Vorrat gereimter Lebensregeln.

Anderes wiederum blieb immer nur den wenigen Eingeweihten bekannt, mythologisch verschlüsselt und schwer zugänglich: vom zweiten Teil des «Faust» bis zu den «Urworten orphisch». Entfremdend wirkte aber auch Goethes Neigung, sich nicht festzulegen, ein Leben lang mit seinen überwältigend reichen Möglichkeiten zu spielen und sich, wie er selber bemerkt hat, «hinter ein Bild» zu flüchten. Seine ganze Biographie wirkt wie eine Folge wechselnder Launen, er ist Dichter und Minister, malt, forscht und verwaltet, und erst in Italien erkennt er, daß er «eigentlich… zum Schriftsteller geboren» sei. Aber auch das stellt er sogleich wieder in Frage und wechselt unvermittelt und auf Jahre ins Naturwissenschaftliche, zu der bis zum Marottenhaften verteidigten Farbenlehre, mit der er gegen die modernen Naturwissenschaften ankämpfte, «damit die Sonne doch endlich einmal in das alte Ratten- und Eulennest hineinscheine». Daneben widmete er sich der Suche nach der Urpflanze, von wo er Begriff und Vorstellung der Entelechie herholte, der Selbstausbildung des Menschen durch die allmähliche Entwicklung zu dem, was ihm vorgegeben und was er im Verborgenen eigentlich ist. Auch das läßt sich als ein wissenschaftlich verbrämter Rückzug ins Unverbindliche deuten, in einen Zustand vor aller Prägung, sogar ins Vegetative.

Bezeichnenderweise stößt man in der Biographie des Dichters immer wieder auf Lebensentschlüsse, die wie eine Flucht aussehen, den Weg nach Weimar gleich zu Beginn, wo er sich, wie er selber bemerkt hat, «ernsten Dingen opferte», und den alle Erklärungen nur erklärungsbedürftiger machen. Dann der verheimlichte Weggang aus der «Seelenessig-Fabrick» Weimar nach Italien, und dazwischen die häufigen Hals-über-Kopf-Fluchten vor Liebesverhältnissen, sobald sie sich zu Bindungen verdichteten. Die ältere Goethe-Philologie hat ihn für die Freiheit, die er sich bewahrte, gefeiert – aber unterdessen haben wir ein geschärftes Ohr für das kaum wahrnehmbare, aber doch vernehmlich durchtönende «leise Klirren der Kette», das Goethe seinerseits bei Jean Paul herausgehört hat. Es gibt den Zug ins Grandiose, mit dem er sein Lebensschauspiel inszenierte – aber daneben dann die unverkennbar philiströsen Züge, die darin durchscheinen, das Verstimmte und dauernd Gereizte hinter der «sultanischen Arroganz», die ein Zeitgenosse an ihm ausmachte. Vielleicht hat Goethes fast ängstliche Abwehr alles Störenden auch mit dem Empfinden zu tun, daß etwas an der Grundrechnung seines Lebens nicht stimmte, und womöglich kam von daher auch das Bedürfnis nach Daseinsharmonie: «unser Ausgewogenheitsklassiker», wie Martin Walser in einer «Liebeserklärung» spottete, während Wieland und Herder sowie später noch Jacob Burckhardt bedauernd vermerkten, Goethe habe allzu vielen Nebensachen, die auch ohne ihn vorangekommen wären, einen Teil seines poetischen Genies geopfert. Widersprüche über Widersprüche. Es ließe sich lange so fortfahren.

Die Widersprüche in Leben und Werk haben die Widersprüche der Ausleger nach sich gezogen. Mal erscheint Goethe als Kulturrevolutionär, mal – nach Ludwig Börnes höhnischer Bemerkung – als «Stabilitätsnarr»; hier als selbstlos Liebender, dort als gefühlskalter Egoist, der die Tragödien um sich herum in die Luft spielte und alle Menschen, die ihm nahekamen, von Friederike bis hin zum unglücklichen Eckermann, nur seinen Zwecken, poetischen oder lebensgeschäftlichen, unterwarf. Die einen sehen in ihm den geschmeidigen Höfling, die anderen einen Dichterfürsten, der gerade nicht zu Hofe ging, sondern den Hof in seinem Haus am Frauenplan empfing und wie kein anderer vor oder nach ihm auf dem Vorrecht des Geistes gegenüber jedem anderen Anspruch beharrte. Als die deutschen Länder während der französischen Besatzung Kontributionen leisten mußten, machte Napoleon für Sachsen-Weimar eine Ausnahme, dort war gleichsam nicht die Politik, sondern die Literatur das Schicksal. Goethe selber begriff sich als repräsentative Erscheinung und zugleich als Fremdling im eigenen Land. Und das alles, wie vieles andere Gegensätzliche auch, ist mühelos belegbar. Mit Recht hat Reinhard Baumgart von dem «ungeheuerlichen Stimmengewirr namens Goethe» gesprochen. Der Streit kann noch geraume Zeit weitergehen.

Um so sonderbarer mutet an, daß das zwar immer auf den Kreis der Kenner beschränkte, doch schon zu Lebzeiten des Dichters begonnene, unendliche Goethe-Gespräch nahezu verstummt ist. Die letzten großen Darstellungen, Gundolf, Beutler, Staiger, liegen lange zurück, und von ihren akademischen Nachfahren ist unterdessen zu lesen, daß auf den Dichter im Grunde «niemand mehr ernsthaft Anspruch» erhebe. Albrecht Schöne in Göttingen und ein paar andere vielleicht doch. Aber im ganzen, so ließe sich trotz aller Neuausgaben, aller Anthologien und der Fülle an Kleingeschriebenem vermuten, könnte Goethe, nach annähernd zweihundert Jahren einer ohnehin nur partiellen Aneignung, das Schicksal aller Klassiker ereilen, ihn womöglich mehr noch als andere: in gipserner Blässe irgendwo im Entrückten zu stehen und nur noch anlaßweise herbeizitiert zu werden. Als eine Jubiläumsgröße, der nichts anderes obliegt, als hundert Jahre bei Hundertjahrfeiern zu werden, zweihundert Jahre bei Zweihundertjahrfeiern und so, die Zeit hindurch, immer weiter, damit die Nation mit Gedenktagen versorgt sei.

Oder kaum einmal das. Wir hatten, einige Jahre zurück, einen solchen Gedenktag, und was die Mehrzahl der zeitgenössischen Dichter oder Schriftsteller dabei an fröhlicher Ignoranz zum Besten gab, wäre anderswo, in Ländern, die sich auf ihre Zugehörigkeit zur kulturellen Gesellschaft etwas zugute halten, schwerlich denkbar gewesen. Eine Schriftstellerin machte sich mit der Formel «Goethe– Nein danke!» einen Slogan aus anderen Zusammenhängen zu eigen, als drohten von dem Dichter Verseuchung und Intoxikation. Und kaum weniger originell war Thomas Bernhard, als er das angeblich letzte Wort des sterbenden Dichters abwandelte: «Goethe – mehr nicht!» Die führenden Theater haben sich das schon lange gesagt sein lassen und zeigen seine Bühnenwerke kaum noch, es sei denn, sie eigneten sich als Vorlage für allerlei exzeßhaftes Regiespektakel. Auch wetteiferten viele darin, die Entmythologisierungen noch einmal aufzugreifen, die längst vorgenommen waren, und im einen wie im anderen schien jedermann bemüht, den Beweis für die Bemerkung aus den «Wahlverwandtschaften» nachliefern zu wollen, es gebe keinen größeren Trost für die Mittelmäßigkeit als den, daß das Genie nicht unsterblich sei.

Gewiß wird irgendwann fast jede Klassik zum leeren Besitz. Der Augenblick tritt ein, sobald diese verehrungswürdigen Erscheinungen nicht viel mehr als das Empfinden statuenhafter Starre erwecken und der Eindruck überhandnimmt, als hätten sie mit dem Leben, wie es ist, nichts mehr zu tun. Zwar bleibt auch dann noch einiges Bewahrenswerte, weil das Vergangene nie nur das Vergangene ist. Aber es wird zum Gegenstand der Pietät: Das ist der allgemeinste jener Abgründe, von denen die Rede war. Der Zusammenhang bricht ab, wo das Bewußtsein verbindender Fragen und Antworten verlorengeht und die Vorstellung um sich greift, als habe die Zeit unterdessen einen qualitativen Sprung gemacht.

Diese Vorstellung eines Sprunges gibt es tatsächlich, und ihr Motiv ist die Erfahrung der dreißiger Jahre. In einem Beitrag zum 150.Todestag Goethes hat Günter Kunert auf diesen Umstand verwiesen und einer eher beiläufigen Werkstelle aus der «Italienischen Reise», der Schilderung einer drohenden Schiffskatastrophe, entnommen, dem Dichter sei «so vieles Menschliche so fremd» gewesen, daß er den Überlebenden späterer, unheilvollerer Katastrophen nichts mehr zu sagen habe. Andere wenden ein, das deutsche Bildungsbürgertum, das die Klassik wie ein Reservat in Anspruch genommen hatte, habe die Bewährungsprobe der Hitlerjahre nicht bestanden und damit zugleich das Menschenbild von Weimar, seinen Humanitätsgedanken mitsamt der Formel vom «Wahren, Guten und Schönen», in seiner ganzen floskelhaften Unverbindlichkeit bloßgestellt.

Das ist vielleicht nicht ganz unzutreffend. Aber zugleich legt der Vorwurf die Frage nahe, wer oder was die Bewährungsprobe jener Jahre überhaupt bestanden habe. Die Gegner von links, die, anders als das Bürgertum, von den neuen Machthabern nicht umworben wurden und ihnen daher weit eher hätten widerstehen können und müssen, jedenfalls nicht. Und der große Geschichtsgedanke, den sie für sich reklamierten, die Idee einer durch die Völkersignale befreiten Welt, ist damals als mindestens ebenso floskelhafte Unverbindlichkeit enthüllt worden wie der Geist der Goethezeit, und das Letzte Gefecht, zu dem sie sich vorgeblich aufmachten, hat nirgendwo stattgefunden. Wo immer die Hitlerzeit Offenbarungseide verlangte, wurden sie ohne Zögern, kaum mit einem Gefühl der Selbstverleugnung, geleistet: von den Parteien und Gewerkschaften ebenso wie von den Kirchen und vom Militär. Als unfähig zum Widerstand erwiesen sich im Grunde alle Wertvorstellungen und humanen Traditionen, woher sie auch kamen und wie mächtig die Organisationen oder sozialen Gruppen waren, die sie gestern noch vertreten hatten. Wenn es in den Selbstgleichschaltungsräuschen jener Tage überhaupt ein Widerstehen gab, so war es nur bei einzelnen zu finden, die ihre Überzeugungen noch wörtlich nahmen, im Bürgertum so sehr wie in der Arbeiterschaft und anderswo, die Unterschiede sind einzig solche des Charakters, nicht der Ideen. Die Ideen haben, trotz der ihnen häufig zugeschriebenen Macht, allesamt versagt. Von den Klassikern könne man niemals lernen, wie man mit Canaillen umgeht, hat im Jahre 1949 der damalige Rektor der Frankfurter Universität, Franz Böhm, in einer Ansprache zum 200.Geburtstag Goethes bemerkt, sie könnten nicht einmal den Sinn für die Freiheit wecken, sondern allenfalls Menschen hervorbringen, die unter einer Schreckensherrschaft dazu bestimmt sind, in einem Konzentrationslager zu enden. Gerade Bildung, Gewissen und Humanität machten bis zu einem gewissen Grade waffenlos.

Die Frage ist, ob die Geringschätzung der Klassik, die in Deutschland derzeit so viel weiter geht als irgendwo sonst, tatsächlich mit den Bloßstellungen jener Jahre zu tun hat; ob die Verabschiedung von heute mit dem Versagen von damals erklärt werden kann. Oder ob die Erfahrungen des Hitlerreiches der jüngeren Generation nicht nur zum Vorwand dienen, die Geschichte, ihre Mühen und Maßstäbe, loszuwerden. Alle Spätzeiten kennen das «pereant qui ante nos nostra dixerunt», das Goethe in den «Maximen und Reflexionen» zitiert, das Empfinden, daß die Vermächtnisse so vieler Vergangenheiten eine Last zu werden beginnen, der man sich durch das Trugbild eines erinnerungslosen Neubeginns zu entledigen versucht. Dies viel eher als die Behauptung, daß die Klassik und ihr Menschenbild durch die Hitlerzeit entwertet worden seien, stand hinter den Lossagen seit den sechziger Jahren. Ihre Wortführer wollten gerade erst herbeiführen, was sie als schon eingetreten behaupteten. Verhielte es sich so, hätten wir weniger Anlaß zur Besorgnis. Denn irgendwann kehren sich, nach der Mechanik des Generationenkonflikts, die Frontstellungen wieder um.

Aber so einfach liegen die Dinge offenbar nicht. In der Tat ist uns die Klassik ferngerückt, aus Gründen, die in ihr wie in uns selber liegen. Das naive oder doch fraglose Einvernehmen, das noch unsere Väter zu ihr hatten, ist weithin verlorengegangen. Thomas Mann erwähnt in seiner Schiller-Rede von 1949 den dänischen Dichter Herman Bang, der in der Schilderung einer bürgerlichen Abendgesellschaft von einem der Anwesenden sagt, er sei der einzige im Saal gewesen, der in der «Glocke» nicht ganz sicher war. Und obwohl Goethe zu keiner Zeit auch nur annähernd die Popularität Schillers erlangt hat, hätte es, ein oder zwei Generationen zurück, doch einiger Mühe bedurft, im gebildeten Bürgertum diejenigen ausfindig zu machen, die Gedichte wie «Willkommen und Abschied», «Wanderers Nachtlied», die Mignon-Lieder und manches andere nicht jederzeit abrufbereit im Gedächtnis hatten; auch Einzelheiten aus Eckermanns Gesprächen oder Episodisches aus den Biedermannschen Berichten. «Jeder Trost ist niederträchtig, und Verzweiflung nur ist Pflicht», hörte ich in jungen Jahren, unter Hinweis auf die politischen Ereignisse der Hitlerherrschaft, den Vater eines Freundes sagen. Der Gedanke taucht schon in den «Wahlverwandtschaften» auf, aber in dieser Form findet er sich an abgelegenem Ort, in einer der verworfenen Stellen aus dem zweiten Teil des «Faust». Man kannte sich aus.

Diese Vertrautheit mit dem Werk und mit der Person besteht nicht mehr. Zu den Gründen zählt offenbar, daß Goethe dem Zeitgeist, der herrschaftssüchtiger und unduldsamer ist denn je, auffallend entgegensteht. Schon der aristokratische, ins zeremoniell Hochmütige reichende Stil seines Auftretens schafft Befremden; desgleichen, daß er zur Strenge und Selbstnötigung fähig war und lebenslang allem auswich, was ihn hätte beirren, gefährden oder gar ruinieren können, während die Gegenwart diesen Ruin, als Voraussetzung für ihr Interesse, geradezu verlangt und die großen Zerbrochenen feiert: Lenz, Kleist, Hölderlin. Von Goethe dagegen stammt der schneidende Begriff der «Lazarettpoesie», der alles umfaßte, was nur Sentiment, nur Selbstliebe, «nur Genie» war und, wie er bemerkt hat, in einem fort «Brandraketen» in den Himmel steigen ließ, aber nichts wußte vom Ethos der Schreibtischmühsal sowie von der Moralität des Am-Leben-Bleibens und Altwerdens. Fast die ganze romantische Dichtung rechnete er dahin und meinte frostig, das Überflüssige solle man in der Literatur nicht befördern. Als ihm ein junger Lyriker 1830 einen Band mit Gedichten zuschickt, antwortet er steif: «Ihr Büchlein habe angeblättert. Da man sich aber bei eindringender Cholera vor störenden Unpotenzen hüten muß, so leg’ ich’s bei Seite.» Er hatte viel von sich fernzuhalten, Fremdes und mehr noch Eigenes.

Irritierend wirkt auf die Gegenwart auch, daß er gegen die demokratische Tendenz der Epoche lebte, Mehrheitsbeschlüsse sowie Mitspracherechte verachtete und über die «Verrücktheit» der Masse höhnte, die sich einbildete, aus «lauter Göttern der Selbständigkeit» zu bestehen. «Nichts ist widerwärtiger als die Majorität», setzte er dagegen, «denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkomodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.» Dabei trat er keineswegs auf die Seite des Bestehenden und der «Scheiskerle», wie er die Weimarer Hofgesellschaft schon früh charakterisierte. Er weigerte sich nur, den vom Tag ausgegebenen Parolen irgendein Gehör zu schenken. Als er einmal aufgefordert wurde, seine Feder in den Dienst einer politischen Sache zu stellen, das Land vor Anarchie zu bewahren, erwiderte er kühl, er halte es für unmöglich, die Schriftsteller und die Mächtigen zu gemeinsamen Zwecken zusammenzubringen. Anders als Schiller war er ganz und gar unfähig, irgendein Interesse für abstrakt-humanitäre Begriffe zu entwickeln. Den Brand eines Bauernhofs betrachtete er als wirkliches Unglück, wie er sagte, das Wort vom «Untergang des Vaterlandes» dagegen als betrügerische Phrase. «Es war nie meine Art, gegen Institute zu eifern», heißt es einmal, «und ich habe deshalb immer nur ein entferntes Ende der Stange leise berührt.»

Diese Distanz Goethes, sein Heraustreten aus dem ganzen Meinungswesen der Epoche, hat nicht erst die Gegenwart bemerkt. Sie ist schon von den Mitlebenden, meist mit Unmut, wahrgenommen worden und später, in den Zeiten verehrender Inbesitznahme, durch das Bild vom «Dichterfürsten» nur verdeckt gewesen. Der Kanzler v. Müller sprach, im Blick auf Goethes Geringschätzung aller Zeittendenzen, auf seinen Pessimismus und seinen Mangel an humanitärer Gesinnung, von der «ungläubigen Neutralität» des Dichters. Andere beklagten, daß er «immer seinen Panzer anhabe», und sosehr er in seinen frühen Jahren, wohin er auch kam, alle Welt verzauberte, so häufig sind schon bald die Hinweise auf seine Verdüsterungen und «bitteren Apathien». Als wolle er seine zahlreichen Kritiker ins Recht setzen, schrieb er 1778, noch keine dreißig Jahre alt, er sei nicht zu dieser Welt gemacht: «Wie man aus seinem Haus tritt, geht man auf lauter Kot.» Sogar vom «bösen alten Mann» ist im Weimar der letzten Lebensjahre die Rede. Was darin zum Vorschein kommt, hat natürlich auch mit den Bedrückungen zu tun, die, ohne irgendein Hinzutun, von allem majestätischen Alter ausgehen und deshalb von ihm auch nicht einfach hinweggetan werden können.

Aber viel häufiger und durch eine kaum benennbare Zahl von Äußerungen belegt, ist der Vorwurf der Menschenferne. Milde und nicht ohne einen Ton der Verehrung schreibt noch Frau v. Stein: «Es ist immer etwas um ihn, entweder eine Wolke, ein Nebel oder ein Glanz, wo man nicht in seine Atmosphäre kann.» Aber überaus schroff urteilt Schiller in dem Brief, den er bald nach dem ersten Zusammentreffen mit Goethe an seinen Freund Körner richtete: «Öfters um Goethe zu sein, würde mich unglücklich machen», heißt es da. «Er macht seine Existenz wohltätig kund, aber nur wie ein Gott, ohne sich selbst zu geben.» Und dann folgt der erschreckende, aus Scheu, Bewunderung und eingestandenermaßen auch aus Eifersucht gemischte Satz: «Ein solches Wesen sollten die Menschen nicht um sich herum aufkommen lassen.» Zwar weiß man, daß Schiller sich bald anders besann, aber ähnlich beklommene Urteile halten, von vielen Seiten kommend, über die Jahre hin an. Zum Hausfreund jedenfalls und zum Mann der Kalendersprüche ist Goethe wenig oder allenfalls satzweise geeignet, auch wenn er lange dazu gemacht wurde. Er verstand zuviel, um nicht viel zu verachten. Vielleicht hat der Überdruß, den er häufig hervorruft, mehr mit dem pädagogisch verkürzten Bild zu tun als mit dem Werk oder gar der Person des Dichters.

Genauer sicherlich hat Lavater ihn gesehen, als er in einem Kupferstich dem teuflischen Versucher die Züge Goethes geben ließ, und ähnliches meinte Frau v. Stein, als sie schrieb, Goethe arbeite unaufhörlich «an seinen Prometheusschen Menschen», die, ob gut oder böse, sämtlich «seine Lieblinge sind». Alle diese Einwände haben ihren kürzesten Ausdruck in dem Satz eines Besuchers gefunden, der davon sprach, daß Goethe «tolerant (sei), ohne milde zu sein». Was ist das aber anderes als eine Fremdheit, die von Gleichgültigkeit kaum zu unterscheiden ist, ganz als sei, was andere behelligt, nicht der Rede wert? Er lebe wie die unsterblichen Götter, sagt er einmal über sich, und habe weder Freud noch Leid. Mitunter hat man denn auch den Eindruck, Goethe habe ein immerwährendes, ganz in die eigenen Sachen verlorenes Selbstgespräch geführt. Das Politische, die Aufregungen der Zeit und der Menschen, ihre Hoffnungen und Befürchtungen, versanken davor im Wesenlosen oder traten nur störend in Erscheinung. Er beklage nicht Zustände, sagte er zu Sulpiz Boisserée, sondern Ottilie, die junge Frau aus den «Wahlverwandtschaften», die er geliebt und die ihn unglücklich gemacht habe.

Ein beiläufiges, aber bezeichnendes Beispiel für Goethes Fremdheit gegenüber der eigenen Zeit ist sein Verhältnis zur Geschichte. Die zahlreichen Äußerungen dazu ergeben am Ende wiederum nur ein orakelndes Stimmengewirr. «Das Wahre kann bloß durch seine Geschichte erheben und erhalten, das Falsche bloß durch seine Geschichte erniedrigt und zerstreut werden», heißt es in einem Brief an Zelter. Aber dann auch, zum Beispiel im «Werther», die Geschichte sei «ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer» oder, im geplanten Vorwort zum dritten Teil von «Dichtung und Wahrheit», ebenso entschieden: «Die Geschichte, selbst die beste, (hat) immer etwas Leichenhaftes, den Geruch der Totengruft», und drohe, alles Lebendige in sich hineinzuziehen. Man kann lange fortfahren, zu jedem Satz wäre mühelos der Gegensatz ausfindig zu machen, als habe Goethe sich zeitlebens an die Erinnerung aus dem Arbeitsprogramm zum «Faust» gehalten: «Widersprüche, statt sie zu vereinigen, disparater machen.»

So souverän Beliebiges, einander Ausschließendes deutet, neben vielem anderen, auch ein Unverhältnis zu allem Geschichtlichen an, das um so sonderbarer anmutet, als Goethes Lebenszeit in die Epoche des sich entfaltenden historischen Denkens fällt. Damals gewann die Erkenntnis an Boden, daß die Zeiten und die Gesellschaften nicht nach einer idealen Modellvorstellung, sondern nach ihren eigenen Voraussetzungen und Bewegungsgesetzen zu beurteilen seien; daß jede Epoche eine unverwechselbare Lebenseinheit darstelle, deren Wesen sich in allen Erscheinungsformen, von der Politik bis zur Kunst, von der materiellen Kultur bis hin zu den Lebensformen spiegelt. Von solchen Einsichten blieb Goethe jedoch unberührt, und das neue Interesse beeinflußte weder sein Werk noch sein Denken. Die Deutschen des späten 18. und dann des 19.Jahrhunderts waren aber geradezu von einem historischen Fieber erfaßt, die Geschichte hatte lange eine Art Kronrecht unter den Wissenschaften – auch da trennten sich die Wege und führten zu wachsender Fremdheit.

Kaum anders verhielt es sich mit der Gegenwartsgeschichte: die Französische Revolution mit ihren Erschütterungen und vielfältigen Impulsen, das Entstehen neuer gesellschaftlicher Strukturen, die napoleonischen Ereignisse samt der erwachenden deutschen Nationalbewegung – das alles hat bei ihm nicht viel mehr als ein von Abwehr und Unwillen gespeistes Echo gefunden. Er provozierte seine Umgebung gern, indem er von Napoleon als «meinem Kaiser» sprach und noch nach dessen Niederlage das Kreuz der Ehrenlegion trug.

Einmal, im Kreis einer national ereiferten Gesellschaft, verließ er den Raum und kam etwas später mit ein paar Versen zurück, die mit der Zeile begannen: «Ich hab mein Sach’ auf nichts gestellt.» Sosehr er den Kaiser als den einzigen Pair empfand, fürchtete er, daß seine Eroberungen einen patriotischen Egoismus aufrühren müßten, der den Völkern keine Ruhe lassen werde, wie er ein Jahr vor seinem Ende zu Eckermann sagte, «als bis wieder ein großer Despot unter ihnen aufsteht, in welchem sie das auf der höchsten Stufe sehen, was sie selber zu sein wünschen». Aus der Gegenposition notierte Achim v. Arnim während der Napoleonzeit, er sei «fast niemals ohne eine Art Verzweiflung von ihm gegangen». Immer wieder schien es, als wolle Goethe seinen Abstand von allen politischen Überzeugungssachen geradezu demonstrativ hervorkehren. Er hatte jedenfalls keinen Teil daran. Statt dessen wich er in ein Griechentum aus, das er nicht, wie die Arbeiten der gleichzeitigen Historiker, als geschichtliche Welt, sondern als zeitlose Norm begriff. Es war das Dauernde im ständigen Wandel, was sein Interesse anzog, das naturhaft Menschliche. Die Geschichte gab nur das Theater ab, in dem es sich darbot, sie lieferte die Kulisse und die Kostüme dazu, aber gespielt wurde stets das gleiche: Komödie oder Tragödie, auf eines von beiden lief es immer hinaus.

Die Geschichtsverachtung Goethes macht es denn auch nahezu unmöglich, den zeitlichen Hintergrund etwa der «Wahlverwandtschaften» oder des «Wilhelm Meister» zu bestimmen: in unhistorischer Ruhe entwickelt sich das Panorama einer bürgerlichen Ordnung, in der die Zeit durch nicht viel mehr als den Wechsel der Generationen in Erscheinung tritt. Wo, wie in «Hermann und Dorothea» oder in den «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten», die politischen Ereignisse gleichwohl ins Bild treten, zeichnet er den Vordergrund zwar anschaulich und detailgenau bis zum Genrehaften; die historischen Prozesse dagegen bleiben ganz im Abstrakten, Schicksalhaften, das der Dichter mit einer Wendung ins Magistrale, manchmal auch mit dem Sarkasmus des heiter-verdrossenen Weltweisen abtut. «Einem tätigen, produktiven Geist», schreibt er 1793, «wird man es zugute halten, wenn ihn der Umsturz alles Vorhandenen schreckt, ohne daß die mindeste Ahnung zu ihm spräche, was denn besseres, ja nur anderes daraus erfolgen solle.»

Solche Äußerungen machen es auch so falsch, in Goethe, wie es die marxistische Germanistik getan hat, einen Dichter des bürgerlichen Klassenkampfes oder gar, mit einem Frankfurter Kulturdezernenten, einen «konservativen Kryptomarxisten» zu sehen. Denn zu den wenigen, das gesamte Werk durchziehenden Motiven gehört der Gedanke von Ausgleich und Versöhnung, er verabscheute geradezu alle politische Gewalttätigkeit, sie war «Vulkanismus», das heißt Schrecken, Willkür, unkontrollierbare Eruption, die nur zu Schlimmerem führte. Mit einigen Zuspitzungen kann man sogar die These bestreiten, daß Goethe der Aufklärung hinzuzurechnen sei. Natürlich ist der «Sturm und Drang» eine Früh- oder Nebenform davon, auch «Egmont», auch der «Tasso» lassen sich dazu zählen. Aber zugleich stand Goethe immer über solchen Zurechenbarkeiten, das «große Zeitablehnungsgenie», wie Heine ihn genannt hat, und schon die «Iphigenie» drückt allenfalls insoweit den Geist des neuen Zeitalters aus, als sie daran erinnert, daß der Mensch, vor aller Zugehörigkeit zu einem Stand oder einem Volk, als Mensch zu sehen sei. Und der «Reineke Fuchs» sollte in einer Epoche utopischer Glückserwartung und der Hoffnung, daß die Revolution alles neu mache, dem Leser vor Augen rufen, daß der alte Mensch immer der alte Mensch bleibe und das schlaue und ruchlose Wesen wie eh und je triumphiere: die Anthropologie war zuletzt stärker als alle Modelle einer besseren und gerechteren Ordnung.

Auf der anderen Seite ist es ebenso verfehlt, in Goethe, wie es im Zuge der wissenschaftlichen Klassik-Abwertung behauptet worden ist, den Repräsentanten der «Weimarer Hofklassik» zu sehen, er ist, nicht anders als Schiller, Herder oder Wieland, kaum ohne den bürgerlichen Hintergrund zu denken, aus dem er stammte, und die Art, in der er zusammen mit dem jungen Herzog die höfischen Verhältnisse von Weimar durcheinanderwirbelte, zeigt, wie weit er von der Rokokowelt der Etikette und des förmlichen Staatsschauspiels entfernt war. Es war gerade die Verbindung von bürgerlichem Wirklichkeitssinn und feudaler Kultur, die das besondere Wesen der deutschen Klassik ausmacht und ihr die anhaltende Wirkung ins 19.Jahrhundert hinein und darüber hinaus gesichert hat.

Aber mitunter erfaßt uns doch eine Ahnung, wieviel Nähe, bei aller Fremdheit, in so viel Ideologieverachtung und so viel radikalem Skeptizismus stecken könnte; und was es mit einer Nüchternheit auf sich hat, die keinem Glauben oder parteiischem Prinzip anhängt und sich von keiner sogenannten großen Idee beirren läßt, sondern in allem nur ein durchgängiges Ordnungsgesetz entdeckt und behauptet. Goethes kritischer Sensualismus hielt sich stets an die Erscheinungen selber und verharrte außerhalb jener Nebelzonen des Denkens, in denen die Deutschen sich, zu ihrem Glück und ihrem Unglück, bis heute so heimisch fühlen. Man solle nicht hinter den Phänomenen suchen, lautete seine lakonische Lebensregel, sie selber seien die Lehre oder: «Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.» In einem Brief aus der Zeit des noch tastenden Beginns ihrer Freundschaft hat Schiller an Goethe den Blick gerühmt, der nie Gefahr laufe, «auf den Abweg zu geraten, in den sowohl die Spekulation als die willkürliche und bloß sich selbst gehorchende Einbildungskraft sich so leicht verirrt». Und: «Da sucht man lieber Kräuter und treibt Mineralogie, als daß man sich in leeren Demonstrationen verfinge.»

Zu solchen Demonstrationen gehörte alles Denken in großen Formeln und Projekten für eine neue Welt, zu deren Heraufkunft sich das Jahrhundert beglückwünschte. Der anschaulichste Beleg dafür ist der Schluß des «Faust», der von den progressiven Ausdeutern des Werkes bis in die jüngste Zeit als Apotheose jener Utopie verstanden worden ist, deren Demaskierung er gerade betreibt. Die Weltbeglückungsträume sind nichts anderes als Chimären, die aus der Blindheit kommen und in Gewalt enden. Philemon und Baucis gehen daran zugrunde und ungezählte andere: «Menschenopfer mußten bluten, nachts erscholl des Jammers Qual.» Es war eine erkältende Absage an die ausschweifenden Entwürfe zur Neuerschaffung aller Verhältnisse nach den Gesetzen der Vernunft und ohne die Fehlgriffe des biblischen Schöpfers, die darin zum Ausdruck kam, sowie eine hochmütige Geringschätzung des Verbesserungsfurors, der das Zeitalter soeben zu erfüllen begann und bis in unsere Tage umtrieb. Und welches höhnische, das Pathos aufklärerischer Erwartungen desavouierende Bild lieferte die Figur des erblindeten Faust, der in den klirrenden Spaten ringsum auf freiem Grund ein freies Volk zu vernehmen glaubte und doch nur das Werken der Zwangsarbeiter hörte, die ihm das Grab schaufelten.

Goethes Geschichtsferne war geprägt von seiner Herkunft aus dem «Reich», dem weder zu Preußen noch zu Habsburg zählenden Kerngebiet des Landes, das spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg nur noch Objekt der Mächte gewesen war und gleichsam der Balg, um den sie stritten. Die von den umliegenden Staaten herbeigeführte und über alle Wechselfälle aufrechterhaltene Ohnmacht eines Systems parzellierter Kleinherrschaften hat im Fortgang der Geschichte sowohl der lokalen Blickverengung als auch dem Höhenflug in philosophische Weltentwürfe Vorschub geleistet und im Denken des Landes eine lange nachwirkende Tradition begründet. Unter ihrem Einfluß tat man sich schwer mit der Erfassung der Wirklichkeit sowie der bestehenden Machtverhältnisse. Nie hat der politische Gedanke in Deutschland die Lebensferne ganz vergessen machen können, die sein Erbteil war, und sich dafür durch den Stolz schadlos zu halten versucht, in einer Welt der Halbheiten und der falschen Kompromisse das reine Prinzip zu verkörpern. Es ist eine alte, über allen historischen Wandel bis heute bewahrte Geschichte, an die man damit gerät, Wirklichkeitsfremdheit und Weltungeschick, die sich eine Berufung daraus machen, einer trägen und selbstzufriedenen Menschheit moralisch lästig zu fallen.

Aber Goethe ist die störende Gegenfigur in dieser Tradition. Er hat, was zumindest den eigenen Lebensweg angeht, die Entwirklichung des Denkens frühzeitig als Gefahr erfaßt. Was immer seine Motive für den Entschluß waren, als junger Mann dem Ruf nach Weimar zu folgen: die Flucht vor dem Vater, vor der Verbindung mit Lili Schönemann oder vor dem Eingebundensein in ein absehbares Alltagsgrauen, war doch auch die Absicht dabei, von den Büchern und den bloßen Gedankenspielen weg den Schritt in die Realität zu machen, sich in einer «Weltrolle» zu versuchen, wie er 1776 an Merck schrieb. Jedenfalls hat der Herzog ihn nicht als Dichter oder Begründer eines Musenhofs nach Weimar kommen lassen, sondern als Ratgeber in Staatsgeschäften.

Goethe hat sich damit ein Feld praktischer Erfahrung und Lebenskenntnis erschlossen wie kaum ein Dichter vor oder nach ihm. Zwar häuften sich nach den ersten Jahren, als trotz der Zugehörigkeit zum Geheimen Conseil noch alles Laune und Verrücktheit war, die Klagen über die Last der politischen Tätigkeit, die er keineswegs als bloßes Ehrenamt auffaßte. Verhandlungen, Aktenstudium und Eingaben füllten den Tag, er war nacheinander Mitglied der Wege- und Wasserbaukommission, der Kriegskommission, der Bergwerkskommission, Direktor der Kammer, das heißt Finanzminister, auch verantwortlich für den Neubau des Weimarer Schlosses und die Gartenarchitektur in Tiefurt, Dornburg, Belvedere und Ettersburg sowie anderes mehr: Direktor des Hoftheaters, Regisseur, Bühnengestalter und Schauspieler, Übersetzer sowie Bearbeiter von Stücken und italienischen Opern, dazu Arrangeur von Maskenzügen, Feuerwerken, höfischen Aufzügen und Repräsentationsspektakeln. Aber trotz der tausend Mühen und Lästigkeiten, die mit alledem einhergingen, und den ständigen Abhaltungen hat er die Isolation in der Buchstabenwelt des Literaten für weit bedrohlicher gehalten. Als er an der «Iphigenie» arbeitete, schrieb er an Frau v. Stein: «Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden als wenn kein Strumpfwürcker in Apolda hungerte.» Aber er gab, ein Leben lang, das eine nicht für das andere auf, erst beides zusammen machte das Ganze, die Wirklichkeit und der Gedanke, der immer in Gefahr war, die Bodenhaftung zu verlieren und ins Luftige zu entschwinden, wo der Denkende nicht nur die Welt aus den Augen verlor, sondern auch sich selber.

Es ist nur eine zufällig herausgegriffene Überlegung, die damit angestellt wird. Sie soll lediglich als ein Beispiel dienen, wie man Goethe, oder die Klassiker überhaupt, auch lesen und begreifen kann; und daß der Zusammenhang von Frage und Antwort, der erst ihr Nachleben ausmacht, keineswegs abgerissen ist. Wenn Goethe auch nicht zu den Zerbrochenen zählt, so offenbart seine Lebensgeschichte doch, wie nahe er dem Zerbrechen immer war, und seine Biographie läßt sich auch als eine einzige, jederzeit bewußt verfolgte Strategie der Absicherung auffassen, die aus ungezählten Ängsten, Absturzschrecken und Zerrüttungsgefahren herrührte, all dem, was er als Dämonenwesen so häufig beschwor und wie sonst nur noch Tod und Vergessensein fürchtete.

Niemand hat je ohne Bewegung den berühmten letzten Brief Goethes gelesen, wenige Tage vor seinem Tod an Wilhelm v. Humboldt geschrieben, in dem er von «diesen sehr ernsten Scherzen» spricht, die sein Lebenswerk ausmachen, und das Ergebnis so lang verfolgter, seltsamer Bemühungen «an den Strand getrieben» sieht, «wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet». Da ist alles, was er noch an Hoffnung besitzt, auf das eine Wort «zunächst» vermindert. Doch zugleich kommt noch einmal das depressive Wesen unter seinem Olympiertum zum Vorschein, jener am Ende doch alles in den Sturz zerrende Vergeblichkeitsgedanke, der ihn sein Leben lang begleitet hat und dessen Vorechos zunehmend lauter wurden. Um sich herum sah er eine Generation hochkommen, in deren Augen sein Werk «für nichts geachtet wird, eben weil ich verschmäht habe, mich in politische Parteiungen zu mengen», wie er im März 1832, wenige Tage vor seinem Tod, zu Eckermann sagte. «Um diesen Leuten recht zu sein, hätte ich müssen Mitglied eines Jakobinerklubs werden und Mord und Blutvergießen predigen!»

Zufällig und herausgegriffen wirken zweifellos auch diese Überlegungen im ganzen, es kann nicht anders sein. Ihre paradox anmutende Absicht ist es, gerade durch den Hinweis auf die Fremdheit Goethes das Interesse an ihm und seinem Werk zu beleben. Das setzt freilich das Ertragen von Widersprüchen voraus, mit dem, wie man wiederum bei Goethe lesen kann, alle Kultur erst beginnt. Aber wozu gäbe es die Klassiker überhaupt, wenn sie es nicht ermöglichten, Abstand von uns zu gewinnen? Aus der zeitgenössischen Literatur läßt sich allenfalls erfahren, wer wir sind; aus der klassischen dagegen, dem richtigen Verständnis zufolge, wer wir sein könnten. Zwar ist das Bedürfnis begreiflich, sich in ihr auch wiederzuerkennen. Daneben aber sollte man das andere Bedürfnis entwickeln, von Fall zu Fall aus sich herauszutreten, die Erscheinungen und Augenblickszustände der Epoche, die niemand ohne Voreingenommenheit und zeitbedingte Irrtümer wahrnehmen kann, aus der Distanz zu betrachten; sich gleichsam ans entfernte Ende der Stange zu begeben, wo sie sich nur noch leise rührt.

Dieser Absicht dient aber gerade die Fremdheit eines Klassikers mehr und besser als jedes, oft dazu noch täuschende Bewußtsein problemloser Übereinstimmung. Ich erinnere mich eines italienischen Gelehrten, mit dem ich vor Jahren wie über vieles auch über Goethe sprach, und er meinte, die Literaturgeschichte habe sich da einen grandiosen Irrtum erlaubt. Die Deutschen hielten zwar den Faust für die Figur, die ihr Wesen am treffendsten zum Ausdruck bringe, und die Idee des Teufelspakts habe, zumal nach der Erfahrung der Hitlerjahre, diesem Mißverständnis noch Vorschub geleistet. Auch Thomas Mann sei von dem Schauder vor der eigenen Dämonie nicht losgekommen. Aber viel eher seien die Deutschen das Volk des «Don Quichote». Jedenfalls deute darauf ihre Eigenart, im Gedanken ebensooft recht zu haben wie im Leben auf nicht selten verrückte und absurde Weise unrecht. Sie seien außerstande, das eine mit dem anderen zu versöhnen. Und gerade weil Goethe dies auf so exemplarische Weise vermocht habe, frage er sich, wie er überhaupt unter dieses Volk geraten sei. Die Lust des Dichters am Lebendigen und an dessen Erscheinungen, sein Wirklichkeitssinn und die Idee des Maßes, der er sich im Leben wie im Werk oft unter Schmerzen gebeugt habe, empfinde er als widerdeutsch bis zum Grotesken.

Es ist womöglich auch nichts anderes oder nicht viel mehr als das genuin und unbelehrt Deutsche, das sich in den abfälligen Urteilen über Goethe zu Wort meldet. Es beharrt auf der Geringschätzung des Wirklichen, der Vorherrschaft der Idee über die verächtliche Realität und dem universellen Pädagogisieren: sowohl die öffentliche Debatte als auch der wachsende Anhang politischer Gruppierungen, die in hohem Grade aus solchen Komplexen leben, deutet auf die Fortdauer dieser Tradition hin. Der Blick in die Geschichte lehrt, daß darin, unter wie wechselnden Vorzeichen auch immer, eine der Ursachen für manche Abwege liegt, auf die das Land geriet.

Friedrich Meinecke hat unmittelbar nach dem Krieg, im tiefen Erschrecken über «die deutsche Katastrophe», angeregt, in jeder Stadt «Goethegemeinden» ins Leben zu rufen, die das Werk des Dichters pflegen und dessen verlorengegangene oder nie übernommene Maßstäbe zurückbringen sollten. Man kann den Hinweis nicht ohne eine Art von Rührung aufnehmen, weil er auf seine Weise teilhat an der Wirklichkeitsfremdheit, die er zu überwinden sucht. In einer gleichsam vorweggenommenen Antwort hat Karl Löwith während der Emigration geschrieben, es sei nicht möglich, zu Goethe zurückzukehren, aber auch nicht, über ihn hinauszukommen.

Allerdings setzen Überlegungen wie diese auf eine Gewähr, die aus der Kenntnis der Klassiker zumindest in moralischer oder gar politischer Hinsicht folgt. Doch so einfach liegen die Dinge nicht, und die Frage ist, ob man sie überhaupt mit irgendeinem Vorsatz lesen sollte. Anders als der Zeitgeist und die totale, auf den Nutzen versessene Dienstleistungsgesellschaft unserer Tage glauben machen wollen, ist ihre Lektüre keine Sache verwertbarer Gebrauchsanleitungen. Ihr Gewinn liegt jenseits aller Zwecke und nimmt gerade mit der Absichtslosigkeit von Werk und Leser zu. Allenfalls gerät man durch sie an Einsichten, wie sie Goethe nach der napoleonischen Tragödie in Moskau beschrieb: «So fühlen wir denn freilich, in welcher Zeit wir leben und wie hochernst wir sein müssen, um nach alter Weise heiter sein zu können.» An irgendein nutzbares Ende jedenfalls kommt man damit nicht. Sondern zu immer neuen Rätseln und antwortlos bleibenden Fragen, die ihren Reiz und ihren Sinn in sich selber haben.

Die unwissenden Magier

Über Thomas und Heinrich Mann

Vorwort

Alles, was über die schwer entwirrbare Beziehung zwischen Heinrich und Thomas Mann gesagt werden kann, verdankt die suggestivsten Formeln ihnen selbst. Sie haben das Bruderverhältnis romantisiert, pathologisiert und, als es zum Streit kam, zu prinzipiell entgegengesetzten Positionen hochgetrieben. Im April 1919 schrieb Thomas Mann an den Schriftsteller und Theaterkritiker Karl Strecker, der in dem Konflikt nur das Eifersuchtsdrama zweier unterschiedlich begabter Schriftsteller sehen wollte, der Gegensatz zu Heinrich scheine ihm «zu wichtig und symbolisch», um ihn mit literarischen Wertfragen zu verknüpfen. Er glaube, fährt er fort, «an Unterschiede des Temperaments, des Gemüts, der Moralität, des Welterlebnisses, die zu einer im Goethe’schen Sinne ‹bedeutenden› Feindschaft und repräsentativen Gegensätzlichkeit geführt haben – auf der Grundlage sehr stark empfundener Brüderlichkeit. Bei mir überwiegt das nordisch-protestantische Element, bei meinem Bruder das romanisch-katholische. Bei mir ist also mehr Gewissen, bei ihm mehr aktivistischer Wille. Ich bin ethischer Individualist, er Sozialist – und wie sich der Gegensatz weiter umschreiben und benennen ließe, der sich im Geistigen, Künstlerischen, Politischen, kurz in jeder Beziehung offenbart.»1

Die beiden hier vereinigten Essays versuchen, diesen Gegensatz näher zu bestimmen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand, lange Zeit jedenfalls, ein Unterschied in der Auffassung von der Haltung des Schriftstellers gegenüber der Wirklichkeit, insonderheit gegenüber dem Politischen, wenn auch eng verwoben mit persönlichen, literarischen und philosophischen Uneinigkeiten. Die Frage ist, ob über alle «Feindschaft», allen «Haß» hinweg, von denen Thomas Mann gesprochen hat, sie zuletzt nicht doch Brüder auch im übertragenen Sinne blieben. Sie waren sicherlich Repräsentanten, aber vielleicht doch, bei allen Unterschieden, der gleichen Sache: jener tief apolitischen intellektuellen Tradition ihres Landes, der sich der eine früher, der andere mit einiger zeitlicher Verzögerung zu widersetzen schien.

Diese Überlegung macht den über fast zwanzig Jahre erbittert ausgetragenen Konflikt indes keineswegs zum bloßen Scheingefecht. Er war unvermeidlich. Nur führten sie ihn weniger, als ihnen je bewußt war, um grundsätzlich entgegengesetzte politische Auffassungen. Weit eher ging es bei dem von beiden Seiten angefachten und schließlich ins Ideologische ausgeweiteten Konflikt um einen Ablösungsvorgang nach zu lange dauernder, einträchtiger Nähe. Wer die frühen Arbeiten des einen und des anderen vergleicht, wird immer wieder auf verwandte Themen oder Figuren stoßen, den gleichen Erlebnishintergrund, die gleichen Vorbilder, und diese Gemeinsamkeiten haben zwangsläufig zu wechselseitigen Übernahmen und Entlehnungen geführt, die in der beginnenden Auseinandersetzung erhebliches Gewicht besaßen. Vor allem Thomas Mann war es, der dem Bruder vorwarf, ihm Pläne, Motive und sogar einzelne Wortprägungen entwendet zu haben, um sie «in oberflächlicher und grotesker Weise» zu verwerten.2 Die kleinlich wirkende Beschuldigung verbarg, worum es in Wahrheit ging. Wenn Thomas an anderer Stelle, im Blick auf die frühen, gemeinsam verbrachten Jahre von einem «brüderlichen Welterlebnis» gesprochen hat, so empfand er jetzt zusehends die Notwendigkeit, sich endlich ein eigenes zu verschaffen.

Nicht anders verhielt es sich mit Heinrich. Beide suchten «die Abwehr des Anderen»3, der so anders nicht war und gerade deshalb die eigene Entwicklung störte und behinderte: «Alles zugleich Verwandtschaft und Affront», schrieb Thomas Mann in einem Brief vom März 1917 und, wie häufig zu melodramatischer Steigerung neigend, der Streit sei «das schwerste Problem» seines Lebens.4 Es war eine Art nachgeholter und ins Brüderliche versetzter Pubertätskrise, Entzug und Trennung von der übermächtig das eigene Leben bestimmenden Autorität. Anders als die vorherrschende Auffassung annimmt, besaßen die politischen Meinungsunterschiede dafür keine ursächliche Bedeutung; sie waren nur deren auffälligste Folge. Nach Jahren der persönlichen und literarischen Querelen, der Eifersuchts- und Rivalitätskomplexe öffnete die Übertragung des Konflikts ins Politische beiden Seiten einen Ausweg aus allem subalternen Brudergezänk und erlaubte es, die Auseinandersetzung über die private Sphäre hinaus auf die Höhe eines mit bekennerischer Vehemenz ausgetragenen Prinzipienstreits zu führen. «Was hinter mir liegt, war eine Galeeren-Arbeit», schrieb Thomas Mann, auf die «Betrachtungen eines Unpolitischen» anspielend, im Januar 1918 in einem Brief an Heinrich. Den Versöhnungsvorschlag des Bruders wies er jedoch ab, da die Arbeit an dem Buch noch nicht abgeschlossen war. «Immerhin», fuhr er fort, «danke ich ihr das Bewußtsein, daß ich Deiner zelotischen Suada heute weniger hülflos gegenüber stünde, als zu der Zeit, da Du mich bis aufs Blut damit peinigen konntest». Und gegen Ende heißt es: «Laß die Tragödie unserer Brüderlichkeit sich vollenden.»5 Die pathetische Wendung offenbarte, daß er entschlossen war, auch um einen hohen Preis sich aus der Hilflosigkeit gegenüber dem Bruder zu befreien und eine eigene Position zu gewinnen. In einem nicht abgeschickten Brief antwortete Heinrich noch einmal, zum letzten Mal, im Ton des Älteren: «Bezieh nicht länger mein Leben u. Handeln auf Dich, es gilt nicht Dir, u. wäre ohne Dich wörtlich dasselbe.»6

Als die Brüder vier Jahre später wieder zusammenfanden, war der Ablösungsprozeß des einen vom anderen vollzogen, und offenbar hat das Bewußtsein, inzwischen zu sich selbst gefunden zu haben, Thomas die Versöhnung erst ermöglicht oder doch erleichtert. Nun störte auch nicht mehr, daß sie, als Fürsprecher und Anwälte der gefährdeten Republik, die gleiche Sache vertraten: Heinrich mit advokatorischem, der Wahlheimat Frankreich entliehenem Überschwang, Thomas dagegen auf gleichsam philologische Weise, mit Rückgriffen ins Geistesgeschichtliche, literarisch Versonnene und bei alledem immer ein wenig wie ausgedacht. Alle Besorgnisse angesichts der politischen Dauerkrise des Landes jedoch, alle Bereitschaft zum Beistand haben dem Politikverständnis weder des einen noch des anderen aufgeholfen. Die «Naivität» und «groteske Unkenntnis» der Tatsachen, die Hermann Kesten bei Heinrich Mann festgestellt hat7, hätte er auch dem Bruder vorhalten können. Die eigentlich politischen Fragen der Macht und ihrer Mechanismen, des Zusammenspiels gesellschaftlicher Gruppen, der Bedeutung ökonomischer und sozialer Interessen, blieben ihnen nach wie vor verschlossen, und vergebens versuchten sie, ihre Fremdheit auf diesem Felde hinter großen Gutartigkeiten zu verbergen. Daher hätte die vorliegende Zusammenstellung auch, den Titel von Thomas Manns Bekenntnisbuch abwandelnd und erweiternd, «Betrachtung zweier Unpolitischer» heißen können.

Heinrich und Thomas Mann entstammten zwar, der Herkunft nach, einem alten Stadtstaat, in dessen demokratisch-freiheitlicher Selbstregierung die eigene Familie eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. In Wahrheit aber waren sie dieser Welt, wie im Äußerlichen, so auch seelisch entlaufen. Sie dachten und empfanden in einer bürgerlichen Tradition, die ganz an privaten Begriffen, Zwecken, Tugenden orientiert war, Bücher und Träume bildeten ihr eigentliches Element, für das keine Wirklichkeit einen Ausgleich bot. Was man die «öffentlichen Dinge» nannte, war stets die Angelegenheit einiger weniger, die große Mehrheit gerade des gebildeten Bürgertums stand ihnen beziehungslos, nicht selten verlegen gegenüber und stilisierte das eigene Desinteresse als Vorbehalt der Humanität gegen die Politik, der Kultur gegen die Zivilisation, des Gedankens gegen das Leben oder was immer sonst noch an polemisch gemeinten Gegensatzpaaren aus der Verachtung der Realität zu gewinnen war. In jenem intellektuellen Milieu, in dem die Brüder sich in Wahrheit heimisch fühlten, war politische Urteilskraft weithin gleichbedeutend mit sozialem Gewissen und erschöpfte sich darüber hinaus in allgemein moralischen Richtsprüchen oder in den feierlichen Gaukelbildern der Versöhnung von Geist und Macht. Wer die politisch gemeinten Reden, Erklärungen und Aufsätze sowohl Heinrich wie Thomas Manns aus den Weimarer Jahren durchsieht, findet auf nahezu jeder Seite die Belege dafür, und selbst in den erhaltenen Briefen aus der Entscheidungszeit vom Frühjahr 1932 bis zum Februar 1933 sucht man vergeblich nach einem Echo jenes das ganze Land erfüllenden Lärms, der das unüberhörbare Signal der Katastrophe war, die bald schon ihre Welt erfassen und zugrunde richten sollte. Statt dessen Mitteilungen über einen neuen Roman Heinrichs, über Akademiestatuten und eine «Verbindung republikanischer Intellektueller, mit dem Ziel, die kommende zweite Republik geistig zu überwachen». Bücher und Träume.

Nicht anders verhielt es sich während der Emigration. Die zahlreichen Kommentare zum Tage, die vor allem Heinrich in jenen Jahren verfaßte, aber auch die Briefe der Brüder sind eine einzigartige Sammlung von Fehlurteilen und Wunschbildern, und man muß beispielsweise nur René Schickeles Tagebücher aus der gleichen Zeit lesen, um zu erkennen, daß dessen überlegenes politisches Urteilsvermögen nicht nur eine Sache des kühleren Kopfes, sondern offenbar auch der Herkunft aus anderen Traditionszusammenhängen war. Noch in dem Erinnerungsbuch «Ein Zeitalter wird besichtigt» sieht Heinrich Mann auf jenes Europa, das er liebte wie kaum ein anderer, ganz unpolitisch; sein Blick erfaßte es nur ästhetisch, moralisch und mit melancholischem Kulturstolz; es hatte so großen Stil und war reich gewesen an «galanten Begabungen», Franz Joseph und Bismarck und die Erfahrungen von Jahrhunderten. «Wenn ich H.M. und T.M. zusammen politisieren hörte», schrieb Golo Mann später, in Erinnerung an die Zeit der kalifornischen Emigration, «hatte ich manchmal das gleiche Gefühl: Was reden doch die zwei unwissenden Magier da? Unwissend, weil schlecht informiert, weil wirklichkeitsfern. Magier, weil sich andere Wirklichkeiten erträumend oder Lieblingsträume mit Wirklichkeit gleichsetzend, noch mehr, weil mit stark intuitivem Blick begabt».8

Unrettbar fremd im Politischen, wie sie waren, unterschied sie doch eines. Thomas Mann hat die Wendung in die Politik immer als einen Akt der Selbstentfremdung empfunden und sein Engagement als Pflicht aufgefaßt, zu dem die Zeit ihn zwang. «Gleichgültigkeit, ich weiß, das wäre eine Art von Glück», hat er eine seiner frühen Figuren bekennen lassen.9 Am Ende, in allem Triumph über Hitlers Untergang, bleibt daher immer auch die Hoffnung unüberhörbar, daß dieser Sieg nicht nur einen Mann, sondern auch den Epochenirrtum von der Vorherrschaft des Politischen über das Private aus der Welt geschafft habe. Noch einmal täuschte er sich. Aber er war noch in dieser Täuschung seinem Bruder näher, als er glauben mochte, und nichts beweist vielleicht eindrucksvoller den künstlichen, in ganz anderen Motiven zu suchenden und zu findenden Charakter der «repräsentativen Gegensätzlichkeit». Zwar hatte Heinrich die politische Rolle mit der Emphase übernommen, deren er fähig war, ungeduldig erst die Zukunft, dann die Menschenrechte und zuletzt den Widerstand gegen die Barbarei beschwörend. Doch in seinem Buch über das Zeitalter, auf das er am Ende Rückschau hielt, findet sich ein Porträt Arthur Schnitzlers, geschrieben in Verehrung und nicht ohne einen Anflug neiderfüllter Sehnsucht. «Von den öffentlichen Dingen hielt er nichts», heißt es da. «Er hätte, was kam und folgte, durchschauen können wie meinesgleichen; er wollte nicht einmal, daß man daran litt»: der «einzige Dichter von Rang und Urteil, der seine Nichtachtung der öffentlichen Dinge für selbstverständlich nahm – und das Gegenteil für Zeitverderb, wenn nicht für eine ungewollte Enthüllung».10

Um den Versuch einer solchen Enthüllung geht es in den beiden vorliegenden Betrachtungen, auch wenn der Begriff etwas allzu spektakulär anmutet angesichts zweier Schriftsteller, deren Werk und gegenseitige Beziehung inzwischen zum Gegenstand einer unübersehbaren Literatur geworden sind. Vielleicht aber liefert die genauere Vergegenwärtigung der Motive, die Heinrich und Thomas Mann zur Politik brachten, sowie die Erörterung der Frage, wie sie deren Ansprüchen gerecht zu werden versuchten, einige Aufschlüsse, die ihr Bild ergänzen und verdeutlichen.

Thomas Mann– Politik als Selbstentfremdung

Thou com’st in such a questionable shape.

Hamlet1

Dies ist unsicherer Grund. Ein Leben und ein Werk voller Ironie, der Lust an Doppeldeutigkeit und würdevoller Mogelei. Fangen wir vorsichtig an.

Die vorherrschende Auffassung geht dahin, Thomas Manns Verhältnis zur Politik als einen Prozeß zu bezeichnen: die Geschichte einer aus konfusen Anfängen hervorgehenden, nicht ganz freiwilligen, doch vom Druck der Umstände bewirkten «Bekehrung» zu politischer Vernunft. Einzuräumen wären wiederholte Phasen des Schwankens, der Rückfälligkeit in den reaktionären Sündenstand von einst, doch steht am Ende immer wieder der entschlossene Schritt nach vorn: ein deutscher Bildungsroman im Grunde, vorgeführt am Beispiel eines der größten Dichter des Landes, Biographie als Stufengeschichte zu höherer Einsicht. «Einer erzieht schreibend sich selbst», hat Heinrich Mann, ganz in diesem Parabelsinne, den Lebensweg seines Bruders gedeutet.2

Nicht zufällig ist der Entwicklungsroman bei einem pädagogisch so ernstmeinenden Volk wie dem deutschen die Erscheinungsform des Romans schlechthin; und häufiger als offenbar zulässig wirkt die ihm zugrundeliegende Idee, wonach der Mensch erst im Ringen mit sich selbst zu Einsicht und Reife komme, auf die Deutung eines Lebenswegs zurück. Der Verdacht ist nicht unbegründet, daß Thomas Mann in seinem Verhältnis zur Politik nicht zuletzt deshalb zum Paradefall eines deutschen Schriftstellers im ausgehenden bürgerlichen Zeitalter werden konnte, weil er die vertraute Vorstellung, daß Leben soviel wie Läuterung sei, beispielhaft zu erfüllen schien: nach einem entschieden unpolitischen, in die hochmütigen Spielereien der Kunst verlorenen Beginn habe er sich, der verbreiteten Auffassung zufolge, gleich der Mehrzahl seiner schreibenden Zeitgenossen, von den Euphorien des Ersten Weltkriegs zu einigen verworrenen nationalistischen Bekenntnissen hinreißen lassen, dann aber, von Vernunft und Verantwortungsbewußtsein geleitet, den früheren Vorstellungen abgeschworen und den Weg zur Aussöhnung mit Republik und Demokratie eingeschlagen, sogar «zur Entscheidung für den Sozialismus» gefunden, wie Kurt Sontheimer gemeint hat3, kurz: die in seiner Person wie am Exempel sichtbar gewordene, traditionell deutsche Entfremdung von Geist und Politik überwunden, ehe er schließlich, als Emigrant, einer der enragierten Kritiker des in Hitler offenbar gewordenen deutschen Irrwegs geworden sei: in der Tat ein Entwicklungsroman.

Zahlreiche Äußerungen aus der zweiten Lebenshälfte des Dichters stützen diese Deutung offenkundig ab: angefangen von der aufsehenerregenden Rede «Von deutscher Republik», die Thomas Mann 1922, zum 60.Geburtstag Gerhart Hauptmanns, gehalten hat, über die gegen Ende der Weimarer Republik beschwörend ins Politische ausgreifenden Studien zu Freud, Goethe, Richard Wagner, sich fortsetzend in den «Leiden an Deutschland» und schließlich gipfelnd in den von der BBC während des Krieges ausgestrahlten Rundfunkansprachen an die deutschen Hörer sowie in manchem anderen, was er selber, nicht ohne verwunderte Erheiterung, als «politisch gebundene Dienstleistungen» und «demokratisches Wanderpredigertum» bezeichnet hat.4

Die Frage ist freilich, ob von einem wirklichen Wandel der Grundüberzeugungen gesprochen werden kann. Nicht, daß die Bekenntnisse zur Republik, zu westlicher Zivilisation und sozialer Gerechtigkeit nur als die opportunistischen Zugeständnisse eines Mannes zu gelten hätten, dem die Rolle als Praeceptor und Festredner viele republikanische Messen wert gewesen wäre. Doch darf man die ironische Nebenspur nicht übersehen, die alles begleitet, was er je in Standpunktdingen geäußert hat, sie immer sogleich entschärfend, abschwächend und ins Paradoxe auflösend. Schon den «Betrachtungen eines Unpolitischen» hatte er eine Vorrede hinzugefügt, wonach in aller polemischen Heftigkeit, auf die er sich da eingelassen habe, in aller Streitlust, immer auch «ein Rest von Rolle, Advokatentum, Spiel, Artisterei, Über-der-Sache-Stehen, ein Rest von Überzeugungslosigkeit» enthalten sei.5 Und nicht viel anders verfuhr er anläßlich der Bekenntnisrede «Von deutscher Republik». In dem Vorwort, das er der gedruckten Fassung voranstellte, verwirrte er seine Leser mit den Sätzen: «Wenn der Verfasser also auf diesen Blättern teilweise andere Gedanken verficht als in dem Buche des ‹Unpolitischen›, so liegt darin eben nur ein Widerspruch von Gedanken untereinander, nicht ein solcher des Verfassers gegen sich selbst… Dieser republikanische Zuspruch setzt die Linie der ‹Betrachtungen› genau und ohne Bruch ins Heutige fort.» Und an seine Briefpartnerin Ida Boy-Ed schrieb er, das soeben erst abgelegte Bekenntnis zur Demokratie schon fast wieder verleugnend: «Ich halte mich an die großen Meister Deutschlands, Goethe und Nietzsche, die es verstanden, anti-liberal zu sein, ohne irgend einem Obskurantismus das geringste Zugeständnis zu machen und der menschlichen Vernunft und Würde etwas zu vergeben.»6

Wer daher nicht einfach gutgläubig ist oder zu den ideologischen Proselytenmachern zählt, die auf beständiger Suche nach Zeugen und Eideshelfern der demokratischen Sache sind, wird mit der politischen Standortbestimmung des Dichters einige Mühe haben. Zusätzlich kompliziert wird das Urteil noch durch eine ebenso auffällige wie bezeichnende Diskrepanz, auf die Thomas Mann selber hingewiesen hat. Das rational Humanitäre, schrieb er in einem Brief aus dem Jahre 1935, äußere sich bei ihm «fast nur im Kritisch-Essayistischen, Polemischen…, aber kaum in meinem dichterischen Werk, wo meine ursprüngliche Natur, die nach Gleichgewicht im Humanen verlangt, weit reiner zum Ausdruck kommt.»7 Ungeachtet dessen berufen sich die Anwälte eines demokratisch geläuterten Thomas Mann fast ausschließlich auf seine politischen Schriften, weil in ihnen der Dichter selber als Person, Bürger und Bekenner zu sprechen scheint, während in den Romanen und Erzählungen jeder Standort durch die übergreifende Intention, durch Handlungszusammenhang oder Psychologie der auftretenden Personen bedingt und relativiert erscheint.

Wer es sich aber versagt, den Dichter, auch als Person, von seinem literarischen Werk kurzerhand abzutrennen, wird den Widerspruch, zumindest mit Beginn der zwanziger Jahre, immer neu entdecken. Und die Überlegung liefe dann darauf hinaus, ob Thomas Mann sich mit seinem essayistischen Werk, mit seinen Reden und Appellen nicht nur einer wie ernst auch immer begriffenen Pflicht unterwarf – während er in Wirklichkeit, in seinem Werk also und im Persönlichen, der alten romantisch-ästhetischen Position mitsamt ihren Antithesen von Geist und Politik, Kunst und Leben unveränderbar treu blieb; ob all die feierlich stilisierten Bekenntnisse zur Demokratie, zum sozial Nützlichen oder zum Fortschritt nur mühsamer «Gewissensdienst» waren – während er weiterhin jene apolitische «wüthende Leidenschaft für das eigene Ich»8 kultivierte, die sein Bruder Heinrich ihm vorgeworfen hat: die Vorliebe für Verfall, Untergang und weltverachtendes Außenseitertum. In seinem gesamten erzählerischen Werk jedenfalls hat die so spektakulär empfundene Wendung von 1922 keinen merkbaren Widerhall gefunden. Die Welt des Sozialen, in irgendeinem engeren Sinne Politischen: Revolution, Heraufkunft des Industriezeitalters, gesellschaftliche Veränderungen, aber auch die Menschen, die davon erfaßt, getragen und zerbrochen wurden – das alles ist den späten Romanen so fremd wie den frühen; am deutlichsten tritt es, paradoxerweise, noch in den «Buddenbrooks» hervor, die den Verfall einer Familie eng mit dem historischen Untergangsprozeß des Bürgertums verbinden.