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Kein Land hat die Sehnsucht der Deutschen mehr geweckt als Italien. Nirgendwo sonst gehen Vergangenheit und Gegenwart eine so spannungsreiche Verbindung ein, liegen Fremdes und scheinbar Vertrautes so eng nebeneinander. Joachim Fest hat dieses Land nicht auf der herkömmlichen Route bereist, sondern von Süden her. Dabei ist ein lebendiges, facettenreiches Bild entstanden. Stets wechseln sich scharfsichtige Beobachtungen mit pointierten Reflexionen oder packenden historischen Skizzen ab. Im Mittelpunkt jedoch stehen die Menschen, denen er begegnet ist. Ein brillant geschriebenes Reisejournal und zugleich viel mehr: ein literarisches Meisterwerk, kunstvoll komponiert und dennoch sehr persönlich.
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Seitenzahl: 629
Veröffentlichungsjahr: 2015
Joachim Fest
Im Gegenlicht
Eine italienische Reise
Ihr Verlagsname
Kein Land hat die Sehnsucht der Deutschen mehr geweckt als Italien. Nirgendwo sonst gehen Vergangenheit und Gegenwart eine so spannungsreiche Verbindung ein, liegen Fremdes und scheinbar Vertrautes so eng nebeneinander.
Joachim Fest hat dieses Land nicht auf der herkömmlichen Route bereist, sondern von Süden her. Dabei ist ein lebendiges, facettenreiches Bild entstanden. Stets wechseln sich scharfsichtige Beobachtungen mit pointierten Reflexionen oder packenden historischen Skizzen ab. Im Mittelpunkt jedoch stehen die Menschen, denen er begegnet ist. Ein brillant geschriebenes Reisejournal und zugleich viel mehr: ein literarisches Meisterwerk, kunstvoll komponiert und dennoch sehr persönlich.
Joachim Fest (1926–2006) war einer der bedeutendsten Autoren und Historiker der Bundesrepublik. Ab 1963 arbeitete er als Chefredakteur des NDR und von 1973 bis 1993 als Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Seine Hitler-Biographie wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Weitere Werke: «Speer» (1999), «Der Untergang» (2002), «Begegnungen» (2004), «Ich nicht» (2006), «Bürgerlichkeit als Lebensform» (2007).
Für Nicolaus
Die Aufzeichnungen für dieses Buch entstanden im Verlauf mehrerer Jahre, in denen der Verfasser etappenweise den Süden Italiens bereiste. Den Beginn machte Sizilien, es folgten die Küsten des ionischen Meeres, dann Kalabrien, Neapel und schließlich Rom.
Diese Route, gleichsam vom Ende her, widerspricht dem herkömmlichen Weg. Aber manche Kenner des Landes geben ihr gerade deshalb den Vorzug. Denn sie vermeidet das unmerkliche Hinübergleiten in die Muster der Italienischen Reise, wie wir sie aus Dutzenden von Büchern und Berichten kennen. Eher als anderswo, schrieb Karl Philipp Moritz bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts, gewöhne man sich in Italien daran, «die Sachen bloß anzusehen und sie zum Zeitvertreib vor sich vorübergehn zu lassen, ohne Reflexionen darüber anzustellen».
Diesem Erlebnisschema, das nur noch ausgefahrene Spuren kennt, kann die Reise vom «afrikanischen Süden» her entgegenwirken. Auf zahllosen Notizzetteln haben sich während der zurückliegenden Jahre Eindrücke aller Art angesammelt, Gesehenes, Gehörtes und das Gedachte, das sich dazu einstellte. Zunächst war nur der Wunsch bestimmend, es festzuhalten. Dann trat die Absicht hinzu, ihm Ordnung und Zusammenhang zu geben. Vielleicht ist es wirklich so, daß nur das Aufgeschriebene uns gehört. Jedenfalls reist man neugieriger, sieht kritischer und vergewissert sich umfassender unter dem Druck zu schriftlicher Rechenschaft. Das Schreiben steigert das Erleben.
Der Entschluß zu diesen Aufzeichnungen hat aber noch einen weiteren Grund. Wie alle Länder, zumindest des europäischen Kontinents, ist Italien in einem Wandel begriffen, der seine Traditionen, die gewachsenen Lebensformen und auch das äußere Bild des Landes erfaßt. Die schon im 19. Jahrhundert umgehende Besorgnis, daß kommende Generationen den vertrauten Zustand der Welt nicht mehr vorfinden würden, beginnt wahr zu werden. Sizilien beispielsweise hat sich in wenigen Jahren von Grund auf verändert. Zum ersten Mal seit Generationen sind nicht nur die sozialen Verhältnisse sowie die lähmende Mischung aus Stolz, Armut und Fatalismus auf der Insel in Bewegung gekommen. Vielmehr hat sie auch den einstigen Charakter der tragischen Landschaft, der die Beschreibungen bei Verga und auch noch bei Lampedusa beherrscht, streckenweise zumindest, verloren.
Unbestreitbar ist dieser Wandel mit zivilisatorischem Gewinn verbunden. Aber die Einbußen sind auch unübersehbar. Eines der Motive dieses Tagebuchs ist es, das noch Bestehende festzuhalten, ehe es für immer aus unserem Blick verschwindet. Denn die Vielgestaltigkeit, das an jedem Ort andersartige Bild der Welt samt dem unverwechselbaren Profil der Menschen, waren lange einer der Beweggründe, fremde Länder aufzusuchen. Das Reisen, heißt es in einer Eintragung, verändere angesichts der stürmischen Prozesse überall in der Welt seinen Charakter. Es beziehe seinen Reiz weniger, wie eigentlich immer bisher, aus der Entdeckung neuer Räume. Vielmehr habe es nun seine Fluchtpunkte in der Zeit und suche Bilder in der Erinnerung zu verankern, die einmal waren, irgendwo vielleicht noch sind und jetzt von der alles einebnenden Weltzivilisation weggeräumt werden.
Diese Verluste, die der kaum vermeidbare Preis der Gegenwart sind, wiegen überall schwer. Stärker als anderswo werden sie aber in Italien spürbar. Solange man zurückdenken kann, hat das Land eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausgeübt, und spätestens seit den Zeiten der Kavalierstour und den Bildungsreisen hat die Europäer, woher sie auch kamen, ein tiefes Herkunftsgefühl mit Italien verbunden: das Bewußtsein, die prägenden Bilder und Begriffe, die Kategorien der Wissenschaft, der Kunst und des geregelten Zusammenlebens von dort zu haben.
Dieser Gedanke hat seine Wirkungen früh entfaltet und nie verloren. Als das beherrschende Motiv so vieler Aufbrüche in den Süden standen am Anfang Glanz und fortdauernde Legitimität des untergegangenen Römischen Reiches, dann die Heilsversprechen der Kirche. Während diese Beweggründe weiter wirkten, entwickelte Italien sich, in der Renaissance, zum reichsten, kultiviertesten und respektlosesten Land Europas, später zum Maßstab der Bildung, des Geschmacks und der urbanen Umgangsformen, und immer zog es mit alledem die Menschen an. Schließlich wurde es, in einer Zeit von Ohnmacht und Niedergang, zu einer poetischen Fiktion, jenem europäischen Mythos eines Landes von Marmor, Zitronen und südlicher Unschuld, der noch immer in vielen Köpfen nachwirkt. Wenn die Epochen, wie Walter Benjamin bemerkt hat, eine dem Träumen zugewandte Seite haben, dann war es im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert Italien, das die Phantasie der Träumenden mehr als jede andere Weltgegend gefangennahm.
Mitunter drängt sich aber der Eindruck auf, die wechselnden Begründungen der Italiensehnsucht seien nur vorgeschoben und verdeckten ein elementareres Verlangen, das mit der freieren mediterranen Lebensform mehr als mit anderem zu tun hat. So, als seien die vielbeschworenen Beglückungen Italiens vor allem im leichteren Dasein gesucht und gefunden worden. Nicht wenige verbinden mit dem Land bis heute solche Erwartungen.
Die Sache ist wohl die, daß der Individualismus der Italiener, ihr Wirklichkeitssinn, ihr Beharren auf dem Eigenen dazu geführt haben, daß man in diesem Teil Europas auch jetzt noch weniger von dem antrifft, was überall ist. Weniger Reglementierung, weniger Disziplin und weniger Langeweile. Dafür mehr Häßlichkeit und Unordnung. Wenn die Reisenden aus früherer Zeit, neben den naturgegebenen Vorzügen und dem Bilderpalast, der Italien für sie war, nicht selten halb mit Bewunderung, halb mit Entsetzen auf die Verkommenheit des Landes deuteten, auf Verwahrlosung und moralische Korruption, sehen die Reisenden von heute, mit ähnlich fassungslosem Befremden, auf die Rückständigkeiten und tausend Anarchismen Italiens, seine oft chaotischen, für einen modernen Industriestaat schwer begreiflichen Zustände. Und ebenso macht es ihnen Mühe, die Erfolge des Landes auf so vielen Gebieten mit seiner unzureichenden Organisation zusammenzureimen, seinem Mangel an Effizienz sowie seiner Kunst der Krisenbewältigung, die oft nicht viel mehr als Illusionstheater ist.
Dennoch fahren jedes Jahr mehr und mehr Menschen nach Italien. Dafür gibt es die vielen touristischen Gründe. Aber nicht wenige reisen nach wie vor in dem oft uneingestandenen Verlangen dorthin, gerade jener perfektionistisch geordneten Welt ihres Zuhauses zu entkommen, all dem, was man früher die «fatigues du nord» nannte, also der Schwere und Farblosigkeit des Lebens im Norden, und was inzwischen als die «fatigues» einer ganzen Epoche zu erkennen ist. Nach außen scheint Italien von den Verheerungen der Gegenwart vielfach schwerer betroffen als andere Länder. Aber wie durch ein Wunder, vielleicht auch durch Verdienst, hat es sich im Wesen erfolgreicher dagegen behauptet.
Womöglich zeigt sich darin, unter veränderten Umständen, etwas von jener Beispielhaftigkeit, die das Land lange besaß. Im ganzen befindet es sich in den gleichen Entwicklungsbrüchen wie seine Nachbarn auch. Aber es begegnet ihnen mit größerer Gelassenheit, weil es durch Geschichte und Erfahrung gelernt hat, damit zurechtzukommen. Nach wie vor ist die Suggestion, die von ihm ausgeht, stark genug, um unsere Denkgewohnheiten und Vorurteile, aber auch die Beunruhigungen zu relativieren, denen wir im Blick auf Gegenwart und Zukunft soviel leichter erliegen.
Mehr als anderswo jedenfalls, schien mir häufig, kann der Reisende in Italien, neben den Belehrungen über das gemeinsame Herkommen, die Kunst und vieles andere, Einsichten über sich selber gewinnen. Daher ist in diesem Buch oft von Dingen die Rede, die weniger mit Italien als mit den heimischen Verhältnissen zu tun haben und die vom Blick auf das Fremde nur hervorgerufen wurden. Denn man nimmt sich überall hin mit, das Andere treibt das Eigene hervor. Man unternehme solche Reisen nicht zuletzt, schrieb Goethe aus Italien, um sich selber an den Gegenständen kennen zu lernen.
Neben so vielen, ins Allgemeine reichenden Gründen gibt es für solche Aufzeichnungen immer auch persönliche Motive. Zuerst und zuletzt habe ich sie mir und einigen Freunden zum Vergnügen geschrieben sowie allen denen zur Erinnerung, mit denen mich dieses Vorhaben zusammenführte und denen es das meiste verdankt.
Überfahrt nach Sizilien. Dunstiger Morgen. In Reggio hatte man mir von einer Fata Morgana erzählt. Unter bestimmten atmosphärischen Bedingungen könne man vom Ufer aus, während der frühen Dämmerung, Sizilien gleichsam auf dem Meer schweben sehen. Aber das Naturschauspiel stellte sich nicht ein.
Nachdem die Fähre abgelegt hatte, über enge, polternde Treppen hinauf an Deck. Morgendliche Kühle, übernächtigte Gesichter, hochgeschlagene Kragen. Gedränge an der Reling. Alle sahen zur Insel hinüber, die über unruhigem Wasser rasch näher kam. Auf halber Strecke traten aus der Bergwand, die jäh hinter Messina hochsteigt, in gestrichelten, grauen Mustern die Umrisse des Häusergewirrs hervor und gewannen rasch an Fläche, Schatten und Tiefe. So, aus dem Dunstigen, ist die Insel immer wieder vor denen aufgestiegen, die sich ihr näherten. Jedes Mal, wenn das Schiff in eine Welle stieß, näßte die hochstäubende Gischt die Umherstehenden. Aber die Erwartung hielt sie, wo sie waren. Nur einige ältere Passagiere zogen sich in den Kajütenraum zurück.
Noch zum Vorigen. Die andersartige Empfindung des Ankommens, wenn man auf eine Insel reist. Man fährt nach Wien, Marseille, Florenz, tausend Kilometer oder mehr, und weiß sich noch immer in derselben Welt. Die kurze Strecke dagegen, die Reggio von Messina trennt oder auch Calais von Dover, führt auf fremderen Boden. Merkwürdige Distanz, die das Meer schafft.
Messina. Anruf beim Ingenieur. Wir verabredeten uns für den Abend. Er wolle mich, sagte er, mit ein paar Freunden zusammenbringen, denn er selbst müsse für einige Zeit in den Norden. Er sagte das, als mache er sich auf eine Reise nach Hamburg oder Kopenhagen; doch fuhr er nur nach Turin. Immer wieder hatten mir Norditaliener Sizilien als eine fremde Welt beschrieben, archaisches Gelände, mehr Afrika als Europa und wie eine jener weißen Flächen, auf denen die alten Kartographen «hic sunt leones» vermerken. Aber auch Italien lag weit von Sizilien entfernt.
Unterwegs. Am Nachmittag Weiterfahrt nach Syrakus. Die hoch am Meer entlanggeführte Autobahn lag schon im Halblicht. In den Bergwänden zur Rechten hingen Nebelfetzen, die immer neue Formen hervortrieben. Das Bild Siziliens, zusammengelesen von da und dort, verflüchtigte sich schon bei der ersten Wahrnehmung. Dies war eine düstere, unerwartet nordische Walpurgiswelt, die eher an die Hexe Baubo als an Persephone denken ließ. Doch sooft sich der Blick in ein Tal öffnete, war im Hintergrund, blendend über schattenlosem Gelände, die Sonne.
Am Rande. Alle Reisenden kommen mit einem falschen Bild und fahren mit einem falschen Bild wieder fort. Sie entdecken mehr die eigenen Vorstellungen und was die Phantasie schon sah, als das wirklich Fremde; so, wie man nur erkennt, was man schon weiß.
Catania. Ich verließ die Autobahn und fuhr über holprige Straßen, vorbei an einer elenden Vorstadtkulisse, hinunter in die Stadt. Freunde aus Ostia hatten eine Verabredung für mich getroffen mit «Gnu Carlo», wie sie ironisch, unter Verwendung des sizilianischen Begriffs für «Signore», sagten, und hinzugefügt, er sei ein «Freund der Freunde»; wenn irgendwer, dann könne er mir weiterhelfen.
Er erwartete mich in einem Restaurant in der Innenstadt. Ein kleiner, schwerer Mann, der sich mühsam hinter dem Tisch erhob, mit tief, fast auf der Mitte der Stirn ansetzenden Haaren. Er sagte, ich solle mir keine großen Hoffnungen machen, diese Leute seien scheu und überaus mißtrauisch gegenüber Fremden. Auch könne er sich nur an einen Mittelsmann wenden.
Er hatte am Nachmittag in Brùccoli zu tun und fragte, ob ich ihn begleiten wolle. Brùccoli, eine Ortschaft auf halbem Wege zwischen Catania und Syrakus, liegt an der Mündung eines schmalen Flusses, der eine tiefe Schlucht in das poröse Erdgestein gegraben hat. Im Altertum, erzählte mein Begleiter, sei es ein befestigter Platz gewesen, durch den das landeinwärts gelegene Leontinoi Zugang zum Meer hatte.
Heute steht an der Uferspitze ein Kastell aus normannischer Zeit, dessen Mauern von einem dichten Teppich wilder, leuchtendgelber Margeriten eingefaßt waren. Die Straßen zur Stadt lagen wie ausgestorben. Nur aus der Feriensiedlung, ein Stück weit über dem jenseitigen Ufer, kam ein entnervendes Hämmern, als schlüge jemand unablässig gegen einen Eisenträger. Das Geräusch verstärkte den Eindruck der Stille noch. Am Marktplatz trennten wir uns.
Weiter nach Syrakus. Zu beiden Seiten der ausgebauten Straße häßliche Häuserfronten, dann weite, ausgedorrte Landschaften, gehäufter Unrat. Irgendwo ein Wegweiser, der schief im Boden steht: Siracusa, Agrigento, Selinunte. Noch hat man Mühe, das Pathos dieser Namen mit dem äußeren Eindruck zusammenzureimen. Nur der Gedanke macht die Insel zum Platz großer Erinnerungen.
Augusta. Als ich mich dem Hügelrücken vor der Stadt näherte, kam mir auf der anderen Seite der Straße ein Bauer auf seinem Maultier entgegen. Er wirkte, wie er hinter dem Kamm hochritt, als sei er plötzlich dem Boden entstiegen. Zu beiden Seiten des Sattels hingen hohe, geflochtene Körbe. Starr aufgerichtet, den Blick nach vorn gewandt, schien er keine Notiz vom vorüberflutenden Strom der Autos, Busse und Lastwagen zu nehmen. In der ausgeglühten Luft wirbelten Wolken von Staub hoch. Sie hüllten den Mann auf seinem Tier ein und setzten sich in jeder Falte ab. Auf dem Gesicht traten, weiß und verkrustet, die Augenbrauen hervor, und vielleicht war es dieses mehlige Grau über allem, was der Erscheinung den Zug ins Statuenhafte gab. In der steil abfallenden Bucht dahinter erstreckte sich das Labyrinth des Ölhafens von Augusta mit seinen Tanks, den Rohrsystemen und blakenden Abfackeltürmen. Es war, als begegneten sich, in extremen Symbolen, zwei Zeitalter.
Syrakus. Kommt man von Catania, so ist der erste auffallende Unterschied der Wechsel der Farben. Dort ein schwärzlicher Lavastein, der das häufig exzentrische Spiel der barocken Fassaden einebnet und eine im ganzen melancholische, brandig wirkende Aura erzeugt; hier dagegen ein leuchtender, fast ins Silbrige gehender Kalkstein, der den Überschwang des Gebauten, vor allem im schräg fallenden Licht des Nachmittags, effektvoll modelliert.
Bei einbrechender Dunkelheit kam ich in der Unterkunft an. Es war Sonntag. Von der Piazza drang Stimmengewirr herauf, gedämpftes Gelächter und Schritte. Unten standen sie in Gruppen zusammen, und immer führte einer, pantomimisch ereifert, das Wort. Andere gingen Arm in Arm auf und ab, vertieft in bedeutsame Vertraulichkeiten, in Geschäfte, Intrigen oder Affären. Fast alle trugen dunkle Kleidung. In solchen Äußerlichkeiten, aber auch in der gänzlichen Abwesenheit der Frauen, lebt noch die Tradition der Agora fort, wie denn auch in nahezu allen italienischen Städten, die auf antike Gründungen zurückgehen, die Piazza an der Stelle der einstigen Agora oder des Forums gelegen ist.
Auf der gegenüberliegenden Seite, an der Einmündung einer engen Straße, standen einige junge Leute um ihre Motorräder zusammen. Von Zeit zu Zeit ließ einer von ihnen den Motor aufheulen, und die anderen fielen ein, wie berauscht vom potenten Lärm, der sich vielfach an den Häuserwänden brach. Als ich das Quartier verließ, fuhren sie, schreiend und gestikulierend, durch die Zurückbleibenden davon. Allmählich, in entfernten Straßen, verhallte der Lärm.
Acireale. Zum Essen abends am kleinen Fischereihafen. Ein paar vertäute Segelboote schlugen gegen die Mole. An der Straße, die das Hafenbecken säumt, hatten die Restaurants ihre Tische aufgestellt und nur eine schmale Verkehrsrinne freigelassen, durch die sich lärmend die Prozession der Fahrzeuge schob. Aus den im Dunkel liegenden Straßenzuführungen quollen unablässig neue Menschenmassen auf den engen, hell erleuchteten Platz.
Der Ingenieur hatte einige Freunde mitgebracht, die dem Fremden mit jener Mischung aus Neugier und Emphase begegneten, von der schon die Reisenden von früher sprechen. Flüchtiger Eindruck, das Interesse an Sizilien befriedige sie. Gleichzeitig aber schienen sie auch darunter zu leiden, so weit am kulturellen Rand zu leben, in einer Zone aus Geringschätzung und Gleichgültigkeit.
Der Wirt ließ ein paar Tische zusammenrücken, deren Ordnung schon bald in die festliche Verwüstung eines üppigen Mahls überging: ein Durcheinander von Schüsseln und Tellern, in denen gelbglänzend das Fett stand, von zersplitterten Krustentieren, Brotresten, verkohlten Knochen, Flaschen und Gläsern. Fast alle rieten dazu, die Reise nicht nach vorgefaßtem Plan zu unternehmen. Jeder Ort der Insel sei mit dem Wagen in einigen Stunden zu erreichen. Kreuz und quer fahrend gewinne man den besten Begriff davon, was es mit Sizilien auf sich habe.
Später, als das Revier am Hafen sich geleert hatte und nur noch vereinzelte Gruppen an den Tischen saßen, hörte man zum ersten Mal das Schwappen des Meeres. Auf dem Gitterbalkon eines der Häuser, die den Hafen einfassen, stand noch immer, wie schon vor Stunden, ein alter Mann. Reglos unter der heruntergelassenen Persiane und kaum unterscheidbar von dem Halbdunkel, in dem er lehnte, ließ er das Treiben an sich vorüberziehen.
Ich weiß nicht mehr, wer ihn zuerst gesehen hatte. Jetzt war es jedenfalls Don Calicchio, der von dem Mann auf dem Balkon zu reden begann. Er stehe da, meinte er, wie die Figur des Inselbewohners schlechthin: sich still haltend, aus dem Schatten beobachtend und voller schwermütigem Mißtrauen. Vom Gewesenen wisse er sicherlich so gut wie nichts. Und doch habe es sein ganzes Denken und Leben geprägt. Geschichte sitze den Leuten im Blut, sagte er, das ewige Kommen und Gehen von dreitausend Jahren. Immer wieder Eroberungen. Den Anfang hätten Dorer und Phönizier gemacht, dann griechische Tyrannen und die Prokonsuln aus Rom. Anschließend Imame und Normannenfürsten, die Heerzüge von Hohenstaufen und Anjous, die düsteren Statthalter der Katholischen Majestät, Garibaldi und der kleine König aus Piemont, schließlich Mussolini, die Deutschen und die Landungsflotten der Amerikaner. Und alle diese Eroberer, schloß er, ob sie für kürzer oder länger gekommen waren, hätten Unterwerfung bedeutet.
Und nun die letzte Invasion. Menschen von überall her, freundlich, laut und verschwitzt. Keine Ausbeutung mehr, geschweige denn Unterwerfung. Vielmehr brachten sie einigen Wohlstand auf die Insel. Legte ich zuviel hinein, wenn es mir vorkam, als sei den meisten am Tisch ihr Anblick schwer erträglich?
Aus den Notizen. Die Insel gebe so gut wie nichts von selber preis, hatte einer am Tisch gesagt. Man müsse ihr alles entreißen. Die alten Abwehrinstinkte seien noch immer lebendig.
Am Rande. Don Calicchio hatte mir beim Auseinandergehen geraten, nach Gutdünken die Begriffe und Bilder aufzuschreiben, die sich für den Fremden mit Sizilien verbinden, und am Ende der Reise die Vorstellung mit dem Erlebten zu vergleichen.
Nach der Rückkehr ins Hotel notiere ich: Gewalt von Natur und Mensch, Altertum, exzentrische Architektur. Zusammenhanglose Geschichte, deren Ablagerungen sich unentwirrbar ineinanderdrängen, wobei einzelne Details überscharf hervortreten. Stolz, Armut, Rückständigkeit. Kleine Dörfer, wie im Schlaf unter der Mittagsglut. Ein undeutlicher Heroismus, der mit Alter und vergeblicher Auflehnung, mit Vergänglichkeit eher als mit Vergangenheit zu tun hat. Et cinis et nihil, hatte ich vor Jahren, in Spanien, auf einem Fürstensarkophag gelesen.
Syrakus. Das Poltern der Metallrollos, die, eines nach dem andern, an den umliegenden Geschäften hochgezogen wurden, holte mich aus dem Schlaf. Die unverwechselbaren Geräusche Italiens. Die kleine Straße lag noch im Schatten. Vor dem Lebensmittelladen schräg gegenüber besprengte der Inhaber das Pflaster und streute dann Sägemehl darüber. Aber die Piazza lag schon im hellen Licht und füllte sich mit Menschen und Lärm.
Unten, die Loge des Conciergen, war leer, als ich aufbrach. Auf dem Ledersofa, zwischen Zeitungen und abgestelltem Geschirr, spielte eine junge Katze mit dem eingetrockneten Kopf eines Fischs. Kaffee in der Bar am Ende der Straße.
Syrakus. Beim Schritt hinaus auf die Piazza, jetzt erst, der mediterrane Schock, der sich stets einstellt, wenn man aus dem Norden kommt, am heftigsten wohl in Neapel bei der Ankunft mit dem Flugzeug. Das Erlebnis der überfallartigen Gewalt des Südens. Zuerst die Leere des Himmels, seine Bläue und die daraus herabschlagende Glut. Überall ungebrochene Farben. Und dann das Menschengetümmel, in das sich der Ankommende unversehens hineingestoßen sieht, das regellose, wüste Durcheinandergeschiebe. Die Intensität der Szenerien, die naive Gier der Lebensäußerungen. Stets aufs neue die Vorstellung seltsam entblößter Menschen.
Und das Brodeln der Stimmen, der offene und kehlige Ton des Südens. Jedesmal die gleichen Empfindungen von Befremden und Glück. Noch vor dem ersten Zurechtfinden aber auch stets das unvermittelte Abbrechen des merkwürdigen Sabbats, wenn gegen Mittag die Plätze und Straßen sich von einem Augenblick auf den anderen leeren, alles wie vom Nichts verschluckt scheint und die eben noch überschwappende Vitalität urplötzlich in Lethargie umschlägt.
Syrakus. Am Morgen Gang über die Insel Ortygia, das Gründungsgebiet des alten Syrakus. Nirgends wird so greifbar anschaulich, daß Verschmelzung das Genie Italiens ist. Wohin das Auge fällt, trifft es auf Hinterlassenschaft. Wie ein langgestrecktes Vorgebirge in die Meere hineinragend, hat es sich aus dem Strandgut der Zeiten seine Paläste errichtet. Aber alles ist verwandelt und ins Unverwechselbare gesteigert. Die Kathedrale von Syrakus ist der umbaute Athena-Tempel aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, dessen Säulen zu Stützpfeilern einer dreischiffigen Basilika wurden, und das 18. Jahrhundert gab ihr eine malerische Barockfassade. Der Apollo-Tempel wiederum war zeitweilig eine byzantinische Kirche, wurde dann zu einer Moschee umgebaut, später in einen normannischen Dom und diente schließlich, unter spanischer Herrschaft, als Kaserne.
Dergleichen überall. Kaum ein Gebäude in den alten Stadtbezirken, das sich aus dem Bestand der Epochen nicht einige Stücke geholt und sie ebenso willkürlich wie instinktsicher gemischt hätte. Hier wurde der Säulenstumpf eines ionischen Tempels zum Rammstein eines Eckhauses, eine Renaissancefassade nimmt im Portikus das Schnörkelwerk islamischer Architektur auf, dort wird unter dem abgelösten Putz eines Stadttors altes Zyklopengemäuer sichtbar. Die verwitternde Zeit hat ein übriges getan und die ursprünglich wohl schroffer wirkenden Bruchstellen gemildert. Nur an einer der Gassen, die von dem Platz mit dem Café abgehen, in dem ich sitze, treten ein paar Meter des Neubaus einer Bank ins Blickfeld: eloxiertes Aluminium, großflächige Glasscheiben, Sichtbeton. Dies ist ein Bruch, den keine Zeit heilen wird.
Ist es schwindende Assimilationskraft, die darin zum Vorschein kommt, oder der Einbruch einer Welt, die fremder ist als alles Bisherige und von weiter herkommt als von den gegenüberliegenden Küsten des Mittelmeers?
Syrakus. Mittags in einem Restaurant nahe der Piazza Pancali mit Professor Voza, dem Soprintendente für den östlichen Teil der Insel. Man hatte ihn mir als strengen Gelehrten beschrieben, ohne alle mediterrane Aufgeregtheit. Aber dahinter kam ein beweglicher Kopf zum Vorschein, reich an Kenntnissen und mit einer Vorliebe für Paradoxien.
Die Grabräuber, sagte V., bald nachdem wir uns zu Tisch gesetzt hatten, seien die besten Helfer der Archäologen. Sie verfügten über Geld, ganze Maschinenparks, aber auch über Instinkt und Leidenschaft für Altertümer. Er erzählte von einer Gruppe sogenannter Tombaroli, die unlängst im Nordosten der Insel über einen verlassenen Weinkeller beim Durchstemmen einer Wand eine römische Villa freigelegt hätten. Habgier sei womöglich produktiver als Wissensdurst.
Syrakus. Nach dem Essen mit Voza durch die Stadt. Noch einmal über die anverwandelnde Energie Siziliens. Voza erwähnte als Beispiel dafür den Code Napoléon. Das Gesetzeswerk sei zwar übernommen, innerhalb einiger Jahre aber so weit den eigenen Rechtsvorstellungen angepaßt worden, daß die französischen Juristen es nicht mehr wiedererkannten. Die sizilianische Lebensmaxime laute: Widerstand durch Nachgiebigkeit, durch Ausweichen, scheinbares Sich-Ergeben. Das sei noch heute so, und keiner der Veränderer, die da am Werk seien, könne je wissen, worauf eine Sache hinausläuft.
Voza kam ins Dozieren und gab von seinen Kenntnissen zum besten, denen er mitunter ungewöhnliche Gedanken abgewann. Während wir durch die Straßen gingen, schien mir, ich sähe uns da herumlaufen, ihn mit seinem Mitteilungsbedürfnis, mich mit meinem sonderbaren Wissensdrang. Fast alle Weltgegenden, wohin man auch kommt, wecken das Interesse erst durch die Nähe oder Ferne zum Eigenen. Sobald man dagegen auf italienischen Boden gerät, gewinnt selbst das geringste Detail den Rang des Wissenswerten an sich. Wer glaubt schon Thomas Mann, wenn er Tonio Kröger sagen läßt, er fahre, statt nach Italien, lieber «ein bißchen nach Dänemark»? Der Anblick der Reisenden, die, in ihre Bücher vertieft, Ruinen und altes Gemäuer abwanderten, belustigte schon Byron. Im Grunde gleichen wir ihnen alle. Und wohl auch darin, daß das Wissenwollen den Blick verdirbt. Aber was wäre Anschauung ohne das Gewußte und Gedachte?
Am Rande. Noch einmal die Überlegung, daß allein der Gedanke einem Gegenstand zur Bedeutung verhilft. Ein Säulenrest, ein Kastell oder gar eine umkämpfte Grenze, die von der Zeit eingeebnet und wieder zur ununterscheidbaren Landschaft wurde, gewinnen erst durch die Imagination den besonderen Platz im Bewußtsein. Was wären Syrakus, auch Thermopylae oder Canossa ohne die Geschichten, die sich daran knüpfen? Der bloße Augenschein ist immer weniger als die Wirklichkeit. Gedanken und Erinnerungen verwandeln alles, die Trümmer, die Paßhöhen und die Burgruinen. Ohne sie blickte man nur ins Leere.
Syrakus. Zur Latomia dei Cappuccini, einem der weitläufigen Steinbrüche, aus denen sich das antike Syrakus mit Baumaterial versorgte und die unterdessen ein offenes Treibhaus mit wilder, subtropischer Vegetation ist. Die Latomia dei Cappuccini diente den Syrakusanern als eine Art Zwinger für die gefangenen Athener. Tausende kamen darin um. Welcher Veredlungswille hat das 18. Jahrhundert dazu gebracht, in der Antike nur das Schöne, Wahre, Gute zu entdecken und deren mörderische Kehrseite zu übersehen?
Syrakus. Vor dem Apollo-Tempel erläuterte Voza Idee und ästhetische Bedeutung der Entasis, der Verdickung antiker Säulen auf halber Höhe. Die Griechen hätten frühzeitig gesehen, daß eine in gerader Linie sich verjüngende Kontur gleichsam entseelt wirke. Wie sie sich in allem von der Natur anregen ließen, bildeten sie auch die Säule einem leicht gespannten Armmuskel nach, der in der Schwellung jene Belebung gewinne, die er im entspannten Zustand nicht zeige.
Der Apollo-Tempel, in Jahrhunderten zerstört, vermauert und wieder freigelegt, auch er nur noch ein «lakonisches Fragment», ist der älteste griechische Tempel auf Sizilien und zugleich eines der ersten signierten Bauwerke der Geschichte. Am Sockel der rückwärtigen Seite ist zu lesen: «Kleomenes von Knidos hat das gebaut. Auch die Säulen. Kala Erga. Ein schönes Werk.»
Was ist es, das an dieser Inschrift erstaunt? Ist es die Erkenntnis, daß aus der scheinbar überpersönlichen dorischen Ordnung plötzlich ein individueller Bauherr hervortritt, der das alles auf dem Papier entwerfen ließ und es nicht nur als Heiligtum eines Gottes, sondern als Werk der Kunst empfunden hat? Oder ist es der unverhohlene Stolz, mit dem in so früher Zeit ein Künstler gefeiert wird?
Syrakus. Der Fischer am Porto Piccolo, der ein paar Fische aus dem Netz klaubt, sagt, das Meer gebe kaum noch etwas her. Mehr Ölklumpen als Fische. Augusta und alles andere, was die Region beleben sollte, habe den Tod gebracht.
Noto. Vor der Kathedrale, aber auch an einigen Plätzen der Barockstadt, die jedem geläufige Empfindung, dies alles schon gesehen zu haben: die Treppen, die Terrassen und die gebrechlichen, von Alter und Erdstößen zerbrochenen Fassaden, aus deren Rissen verdorrtes Gras in Büscheln herabhängt; die Pfeiler und Balkone mit dem schweren, aus Winkeln und Stützgebälk überall hervorquellenden Ornamentenwerk. Man ahnt noch, wie festlich es gewesen ist.
Aber es war mehr die Stimmung, was man wiedererkannte. Das Ineinander von Stille, Steinfraß und gespensterhaftem Erstorbensein wie in so vielen Städten des Südens. Später kam ich darauf, daß größere Partien von Antonionis «L’Avventura» die Kulisse der Stadt zum Hintergrund haben. Nicht nur das Gelesene, auch das Gesehene beeinträchtigt die Unmittelbarkeit der Anschauung.
Auf der Rückfahrt nach Syrakus kurz hinunter ans Meer. Über der weiten Fläche lag blaßbrauner Hitzedunst. Hinter altem, von den Wellen und dem Salz zerfressenen Mauerwerk ein paar verkohlte Baumstümpfe. Im Wasser standen, leicht schaukelnd im trägen Wellengang, Schwärme kleiner Fische. Von Zeit zu Zeit schossen sie, wie auf ein Zeichen hin, ein Stück weit über den Grund und kamen dann ebenso abrupt zum Stillstand. Auch das kurze, silbrige Aufblitzen, das von nichts anderem als dem gleichzeitigen Abkippen der Leiber herrührte, wirkte ganz kommandohaft.
Gegen Mittag, als die Hitze auch am Wasser unerträglich wurde, zurück ins Hotel.
Syrakus. Von Dr. Johnson, dem Meister der erhabenen Platitüde, dessen Ruhm der im Literarischen einschlägige Ausdruck des englischen Spleens ist, steht in einem Reiseprospekt ein Satz, dem wie immer nichts entgegenzusetzen ist: «A man who has not been in Italy, is always conscious of an inferiority, from his not having seen what is expected a man should see. The grand object of travelling is to see the shores of the Mediterranean.»
Am Rande. Natürlich reist man mit großem Gepäck, das Gewicht ganzer Bibliotheken ist immer dabei: dreihundert Jahre Reiseliteratur, Tagebücher, Travelbooks, Gelehrtes und Banales. Italien war stets die klassische Landschaft Europas, und im Grunde brach man dorthin zur Pilgerfahrt auf: anfangs im ganz buchstäblichen Sinn auf spirituellen Gewinn bedacht, mit Rom als Zielort. In der Kavalierstour seit dem späten 16. Jahrhundert, die von England ihren Ausgang nahm und bald zur europäischen Kulturmode wurde, hat sich diese Vorstellung zwar veräußerlicht. Der Gewinn, den sich die Söhne vor allem des Adels von der Reise versprachen, hatte eher urbanere Lebensformen, sprachliche Kenntnisse und erotische Abenteuer im Blick. Aber die Ahnung, von hier abzustammen, stand auch hinter dieser Wanderbewegung, selbst wenn die Aufzeichnungen, die davon erhalten sind, nicht selten von einer schwer faßbaren Banalität sind; auch von einer nie erschütterbaren Arroganz, die, wohin sie auch blickt, nur Vulgarität, Aberglauben und Faulheit entdeckt.
Erst Winckelmann hat dem Italienerlebnis wieder Ernst und Pathos verschafft und nicht nur den Begriff der «Grand Tour» mit dem hohen Anspruch zur Deckung gebracht, den er erhob. Vielmehr hat er der Reise in den Süden auch den Charakter der Pilgerfahrt, wiewohl humanistisch verweltlicht, zurückgegeben. Es war immer Arkadien, was die romantisch bewegten Reisenden seit Goethe in Italien suchten, eine ursprünglichere Daseinsform, die zugleich Befreiung von der Schwere und Verbindlichkeit verhieß, mit der überall sonst die sozialen Normen auf den Menschen lasteten. Die Beobachtungen und Gedanken, in zahllosen, oft wie erlöst wirkenden Rechenschaften festgehalten, offenbaren aber zugleich auch den inneren Widerspruch dieser Sehnsucht; weil niemand die Naivität und zugleich das Bewußtsein davon haben kann.
Noch zum Vorigen. Alexander Mitscherlich war konsterniert, als ich ihm Vorjahr und Tag von dem Plan eines Reisetagebuchs erzählte. «Was für ein lustiger Gedanke», spottete er, «sich aus den Katastrophen des Jahrhunderts geradewegs in die Gefilde der Seligen zu retten.» Er konnte nicht begreifen, wie man noch immer im Stil der Bildungsreisenden des 19. Jahrhunderts nach Rom oder Neapel fahren könne. Er mißtraute dieser ganzen Tradition. Die Deutschen hätten sich aus Italien stets eine Phantasielandschaft zurechtgemacht. In allen «Italienischen Reisen» trete das Volk nur als fidel verarmtes Personal auf, und jedenfalls sei die deutsche Sehnsucht nach dem Süden immer blind oder gleichgültig gewesen für die Wirklichkeit gesellschaftlicher Zustände. Er erwähnte Goethe, von dem, wie so häufig, die irreführendsten Stichworte herkämen: Et in Arcadia ego. Immer nur die Sonne Homers, das milde Licht Lorrains und die Idolatrie mit der eigenen, aufgetriebenen Persönlichkeit. Alles Fluchtversuche, hatte er zum Schluß gesagt.
Aber vielleicht ist die gegenwärtige Vorliebe für das Gesellschaftliche nur eine andere Art der Blindheit. Und womöglich gehört zu allem Reisen seit zweihundert Jahren das Motiv der Flucht. Die englischen Aristokraten des 17. und 18. Jahrhunderts, auch Winckelmann oder der Baron von Riedesel, reisten noch irgendwohin; seit Goethe reist man von irgendwo weg. Aber man hat schon bessere Gründe dafür, als die Augen zuzumachen.
Auch soll man nicht übersehen, daß Arkadien, seit der Wiederentdeckung im Barock, weniger ein Flucht- als ein Vergänglichkeitsmotiv war. Sehnsucht nach den Ursprüngen, aber nie ganz frei von der pessimistischen Ahnung, daß alles immer so ende. Fuimus Troes. Da war vermutlich mehr Wirklichkeitssinn im Spiel als in der gegenwärtigen Besessenheit von der gesellschaftlichen Realität und all der angestrengten Passion für die kleinen Leute.
Syrakus. Aus der Kathedrale strömt eine Menge schwarzgekleideter Menschen auf den in der Hitze liegenden Platz, viele Frauen darunter, die meisten in den sackartigen Kleidern sizilianischer Witwen und ein Tuch um den Kopf. Ein hochgewachsener Mann mit gewaltigem Körperumfang tritt ins Freie, setzt einen unansehnlichen Filzhut auf und bleibt inmitten der Leute stehen, die sogleich zurücktreten und einen Abstand aus Respekt und stummer Scheu um ihn bilden. Mit langsamen Bewegungen und während die Augen aus dem Schatten heraus über den Platz wandern, beginnt er, die Jacke aufzuknöpfen, die eng über den Leib spannt. Als sie zurückfällt, werden breite Hosenträger über dem Hemd sichtbar.
Plötzlich löst sich ein alter Mann aus den Umstehenden, stürzt auf den Gewaltigen zu und küßt ihm, einen Kniefall andeutend, die Hand. Halblaut spricht er dazu ein paar Worte. Dann verharrt er einen Augenblick, als erwarte er eine Anweisung. Doch der andere nimmt ihn überhaupt nicht wahr, und der alte Mann tritt wieder in die Menge zurück. «Bacio le mani!», erläuterte Don Calicchio, «der traditionelle Gruß der einfachen Leute in Sizilien für die Hochgestellten.»
Syrakus. Mittags im Hotel, die Luft in dem kleinen Zimmer war schwer von Hitze und altem Napthalin. Solche Leute wie der Mann vor der Kathedrale, hatte Don Calicchio gesagt, seien ins Heutige reichende Überbleibsel der Feudalzeit. Ihr Wille sei noch immer die oberste Gewalt. Sie regierten das Leben und den Tod. Wenn er den Satz höre, der Tod sei ein Herr aus Sizilien, denke er an Figuren wie ihn.
Syrakus. Am späten Nachmittag, als die Hitze nachließ, zur Villa Landolina. Die einstigen Gartenanlagen mußten dem Museum weichen, dem V vorsteht. Modernistischer Bau, über den er sich leicht geniert äußert.
Im hinteren Teil des Grundstücks, dicht am Rande der noch offenen Baugrube, liegt August von Platen begraben, Germaniae Horatio, wie Graf Landolina ihm auf den Stein setzen ließ: Dem Horaz Deutschlands. Die Formel verdeckt, wie sehr er mit sich selber und seinem Land zerfallen war. Felix Mendelssohn schrieb nach einer Begegnung in Neapel, Graf Platen sei ein verschrumpfter, goldbebrillter Greis von fünfunddreißig Jahren, dessen Reden aus Schimpfereien über Deutschland bestanden habe. Auf dem Rückweg über das abschüssige Gelände versicherte der Kustode, daß Woche für Woche rund hundert Besucher kämen. Deutsche vor allem und romantische Engländer, wie er meinte.
Mit einem dieser Besucher geriet ich ins Gespräch. Er leitet im Fränkischen einen kleinen Familienbetrieb, vierte Generation, Herstellung von Kunstpapieren, und er hatte, um das Unternehmen weiterzuführen, vor geraumer Zeit das Studium der Alten Geschichte aufgegeben. Aber noch immer reiste er Jahr für Jahr ins Mittelmeergebiet und erwies sich als Kenner der Insel, bewandert auch in Abgelegenem.
Wir kamen auf den merkwürdigen Umstand, daß die Geschichte der Magna Graecia, der glanzvollen griechischen Tochtergründungen in Süditalien, weithin unbekannt geblieben und alles historische Interesse an der hellenischen Welt von Athen aufgezehrt worden ist. Das hat seine leicht erkennbaren Gründe. Athen wies in allem, was es hervorbrachte, über sich hinaus. Dennoch bleibt erstaunlich, daß Städte wie Agrigent, Selinunt oder Metapont nie über einen Randplatz im Bewußtsein hinausgelangten und selbst Syrakus allenfalls in einer Schillerschen Ballade weiterlebt. In Wirklichkeit besitzt es eine großartig bilderreiche Geschichte, war für die Dauer einer Epoche die politische, militärische und kulturelle Vormacht des Griechentums, stieß Athen aus der Geschichte, machte dem mächtigen Karthago zweimal erfolgreich die Herrschaft über Sizilien streitig und dehnte seine Besitzungen bis tief nach Kalabrien aus, ehe es gegen Ende des dritten Jahrhunderts von den Römern unterworfen wurde. «Aber Vergil und Ovid, immerhin, haben seine Größe gefeiert», warf ich dazwischen. Doch meine Zufallsbekanntschaft entgegnete geringschätzig: «Das ist nur literarischer Ruhm.»
Man kann aber fragen, ob es anderen als literarischen Ruhm überhaupt gibt. In den «Troerinnen» des Euripides wird dieser Gedanke auf die Spitze getrieben:
«Die Götter wollten also nichts als unsre Not, / Und unser Troja haßten sie wie keine Stadt: / Wir brachten fruchtlos Opfer. Doch, hätt’ uns ein Gott / Nicht aus den Höhen in den Tod hinabgestürzt, / Wir lebten ruhmlos, kein Gesang verherrlicht’ uns, / Durch den im Mund der Enkel unser Name lebt.»
Am Rande. Siegte Rom, weil es die überlegene zivilisatorische Idee verkörperte? So verstand es das 19. Jahrhundert, das in geordneten und friedenssichernden staatlichen Bildungen den höchsten Ausdruck menschlicher Kultur sah. Selbst Mommsen blickte nicht ohne Geringschätzung auf die Griechen herab, die dazu unfähig waren.
Wir denken skeptischer. Zu den erkauften Lehren der Epoche zählt, daß nicht immer der für höher gehaltene Gedanke sich behauptet. In den Auseinandersetzungen Roms mit Karthago, mit den Galliern, den Germanen und den anderen Randvölkern des Imperiums verhielt es sich wohl so. Mit den Griechen dagegen kommen die Zweifel.
Die Geschichte ist ohne Moral. Sie beugt sich auch der inferioren Kraft und selbst dem Widersinn. Ich erinnere mich, wie mein Vater erzählte, man habe angesichts der Machtergreifung Hitlers, besonders aber nach den stupenden Erfolgen der ersten Regierungsjahre, mitunter das quälende Gefühl gehabt, nicht von einem rücksichtslosen Gegner, sondern von der Geschichte selber besiegt worden zu sein. Und während ringsum uneinnehmbar scheinende Machtbastionen einstürzten, Mauern lautlos niedersanken und so viele erbitterte Gegner von gestern dem neuen Mann mit Unterwerfungsgesten nahten, innen wie außen und Tag um Tag, sei bei den Zusammenkünften in irgendwelchen Hinterzimmern wiederholt der Argwohn aufgestiegen, ob man nicht den Wind eines übermächtigen historischen Prinzips gegen sich habe.
Besser mißtraut man solchen Eingebungen. Die einen reklamieren den Gang der Geschichte für sich, um ihren anstößigen Triumphen den Schein und die Weihe des Unvermeidbaren zu geben. Die andern suchen den Niederlagen, die sie erlitten, der Schwäche und der Resignation, ein Stück des Stachels zu nehmen. Und auch die unendliche Masse der Anpassungswilligen hat ihre Gründe, die Geschichte übermächtig zu nennen. Aber wer kann sagen, er sei dabeigewesen?
Syrakus. Gegenüber der Bar, in der wir saßen, hatte ein Eisverkäufer seinen Karren aufgestellt, ein altertümliches Gefährt mit Speichenrädern, das an das Vorderteil eines Fahrrads montiert war. Er hatte einen Sonnenschirm über sich aufgespannt, der rundum mit Orangen und dem dunklen Blattwerk der Früchte dekoriert war. In die langgedehnte Mittelsilbe des «Gelati», das unaufhörlich über den kleinen Platz hallte, flocht er kunstvolle, manchmal ins Falsett umschlagende Koloraturen ein. Nie endender Infantilismus des Südens. Das Eis holte er aus drei Behältern, die von hohen, kegelförmigen Hauben abgedeckt waren.
Das war einer jener Wagen, wie sie früher auch durch unsere Straßen kamen. Erst in solchen unvermuteten Wiederbegegnungen gerät ins Bewußtsein, was alles, ganz unvermißt, aus dem Bild der Städte verschwunden ist.
Syrakus. Auf der Straße treffe ich Barbaro L., den Viveur unter den Freunden des Ingenieurs. Jedes Jahr verbringt er einige Wochen in Monte Carlo, von wo er mit einer Unzahl exzentrischer Geschichten zurückkehrt: über Liebestragödien, Bankrotteure, Hochstapler sowie haarsträubende Obszönitäten, mit denen er die Runde für den Rest des Jahres unterhält.
Aber seine Freunde bezweifeln alles, es sei zu nah an billigen Romanen, meinen sie, und in Wirklichkeit fahre er nur zu Verwandten auf ein Dorf bei Taranto. Aus der kurzen Unterhaltung blieb mir der Satz in Erinnerung: «Wo vom Vermögen, von der Frömmigkeit und der ehelichen Treue die Rede ist, darf man nie mehr als die Hälfte für bare Münze nehmen.»
Im Hinterland von Syrakus. Es gibt hier einen sattblauen Himmel, und davor, die Hänge hinauf, karstiges Gestein, dessen Grau die andere vorherrschende Farbe ist. Etwas tiefer, wo in schwarzen Flecken die Macchia einsetzt, beginnt manchmal eine Schaftrift: zwei flache, aus Feldstein gezogene Mauern, die steil nach unten laufen. Im Vordergrund, über verholzten Stämmen, das Gespinst von Olivenzweigen, das am Abend, beim Bleicherwerden des Himmels, als erstes die dunklen Farben annimmt, als sei es dem, was bald alles zudeckt, stets einen Schritt voraus. Daneben Kakteen, von denen dürres Gras herabhängt, und zur Seite ein paar eingestürzte Bretterbuden. Im Umkreis liegen Blechdosen, Ölpapier und Plastikfetzen. An einem Stall in Sprühschrift die Losungen: «Viva Gaddafi!» Und darunter: «Non piangeremo mai!». Wir werden niemals weinen!
Syrakus. Die Reisenden der Grand Tour, die noch in der alten Welt beheimatet waren, haben die Stadt mit einer Ergriffenheit aufgesucht, die heute mehr rührt als der Gegenstand, dem sie galt. «Seit der Einfahrt in Rom», schrieb einer von ihnen, «hatte uns kein so gewaltiges Gefühl durchdrungen als jetzt, da wir die traurige Öde durchritten und die toten Klippen, wo sonst das Brausen der größten Stadt der Welt ertönte, sowie den blauen Guß des Hafens vor uns liegen sahen.»
Die Insel Ortygia schließt und teilt das Meeresbecken vor der Stadt und bildete, zusammen mit vier landeinwärts gelegenen Städten, das alte Syrakus. Der Tyrann Dionysios baute nicht nur die Insel zu einer gewaltigen Bastion aus, von der er die Stadt beherrschte und überwachte. Vielmehr errichtete er an ihren Grenzen auch Türme und Bollwerke, die durch eine fast dreißig Kilometer lange Mauer zu einem ausgedehnten Festungssystem verbunden waren. Eine breite Prachtstraße, über einen Damm errichtet, führte vom Apollo-Tempel auf der Insel durch ein fünfbogiges Tor hinüber zur Agora und in die Stadt.
Nur wenige Spuren sind noch da, die der Vorstellung weiterhelfen. Und aus dem verödeten Kleinen Hafen, der konfusen Gegenwartssilhouette von Häuserfassaden, Schuppen und rostigen Fangbooten, steigt das Bild des alten Syrakus herauf: die schimmernde, wenn auch leicht prahlerische Kulisse der Stadt an dem mit Marmor ausgelegten Hafenbecken, dessen Umfassungsmauer Gesimse trug und mit einem Saum von Skulpturen geschmückt war. Darin ein Wald von Masten und Segeln, Handelsschiffe aus Griechenland und Karthago, aus der Levante und von Rom. Syrakus war nicht die Stadt gewöhnlicher Geldleute, sondern verband Macht mit Kunstverstand und Handelssinn mit spekulativer Phantasie. Zuzeiten war der gesamte Vorhof des Tyrannenpalasts mit Sand bedeckt, auf dem sich Hofstaat und Kaufleute an der Lösung geometrischer Probleme versuchten. Aischylos und Pindar waren an den Hof gerufen worden, Archimedes und der Dichter Theokrit leben in Syrakus, Dionysios schreibt Verse und Tragödien, das Theater faßt vierzigtausend Zuschauer. Auf den Hügeln, bis hin zum Vorgebirge Plemmyrion, liegen, zwischen Kunstgärten und Terrassen, die Villen der Notabeln. Von hier geht der Blick zum Großen Hafen hinunter, in dem die Flotten der Athener und Karthager versanken.
Kurze Jahrzehnte der Größe, und alles erzwungen. Eine Zeitlang beherrschte Syrakus fast ganz Sizilien, die mächtigste politische Gründung, die den Griechen je gelang. Aber ihrem Stadtdenken blieben die Formen weiträumiger, auf große Zwecke gerichteter Macht immer fremd. Daran ist jede Tyrannis schließlich gescheitert. Nicht zufällig stammt aus Syrakus die Episode vom Höfling Damokles, der das Glück der Tyrannen pries, woraufhin Dionysios die Güter der Erde vor ihm ausbreitete und zugleich ein Schwert an einem dünnen Haar über ihm aufhängte.
Aus den Wirren und Unruhen, von denen die Geschichte der Stadt durchsetzt ist, erhob sich immer wieder, von den aufgeklärten Tyrannen befördert, der Traum der Versöhnung von Geist und Macht. In dem Garten neben der Herrscherresidenz steht das Haus, das Platon bewohnte. Als er zum ersten Mal in Syrakus eintraf, wurde er im Triumph vom Hafen eingeholt. Aber auch die Zeit der Täuschungen war kurz. Zwar erzählt Plutarch, der launische Dionysios habe allmählich Platons Gespräche ertragen gelernt, «wie ein wildes Tier das Betasten durch die Menschen». Doch am Ende verstieß er ihn und ließ ihn in die Sklaverei verkaufen. Der Hochmütige sei immer einsam, hatte der Philosoph gesagt. Der Satz galt, auf größere Verhältnisse übertragen, auch für das stolze Syrakus.
Ohne Verbündete stand die Stadt, die so viel ungriechische Unterwerfungslust bewiesen hatte, auf verlorenem Posten, als rund anderthalb Jahrhunderte später Rom heranrückte. Länger als zwei Jahre belagerte Marcellus Syrakus, ehe es endlich durch Verrat fiel. Außerstande, seinen Soldaten das Recht auf Plünderung zu versagen, soll er, «da er von einer Anhöhe aus die Größe und Schönheit der Stadt überblickte, lange Zeit geweint und ihr Schicksal beklagt haben, weil er voraussah, daß es in kurzer Zeit um alle die Pracht und Herrlichkeit würde geschehen sein». Die alten Schriftsteller versichern, in Syrakus seien nicht weniger Reichtümer erbeutet worden als später bei der Eroberung Karthagos.
Rom, so heißt es, habe erst durch die Plünderung von Syrakus die griechische Kunst wahrhaft kennengelernt. In der Tiberstadt waren bis dahin vor allem «barbarische Waffen und blutbefleckte Beute», die Trophäen eines Kriegervolkes, aufgestellt. Jetzt kamen Statuen und Säulen, Gemälde und glanzvolles Kunsthandwerk. «Rom erstrahlte von Diebesgut», schreibt Cicero. Die strengeren Römer warfen den Heimkehrenden vor, sie hätten sich vom Glanz der eroberten Stadt blenden lassen. Der Preis für das Schöne sei die Kraft, und wo die Kunst anfange, höre die Macht auf.
Syrakus ist nie wieder in die Geschichte zurückgekehrt. «Ortygia schwimmt da verlassen im Meere, gleich als beweine es, in ein Trauergewand gehüllt, noch unablässig den Verlust der großen Stadt», schrieben später die Reisenden. «Die Bühne, worauf eines der mächtigsten Völker der alten Welt ein so schönes Schauspiel gab, ist abgeschlagen, die Rollen sind ausgespielt, die Menschen sind weggezogen.» Und was geblieben sei, gleiche den Spuren, «die der Fußtritt eines Mannes im Sande zurückläßt, und die keine Auskünfte darüber geben können, was da war».
Am Rande. Immer wieder unbeantwortbare Fragen: Rom wurde dutzendfach erobert, geplündert, verheert. Nie abreißender Sacco di Roma.
Warum kehrt es stets aufs neue in die Geschichte zurück? Bleibt, wenn man Rom gewesen ist, etwas bestehen, was stärker ist als aller Ruin? Das mächtige Syrakus jedenfalls ging mit der einen Eroberung aus der Geschichte. Ebenso Karthago. Vielleicht ist soviel Vergangenheit, wie Rom sie hatte, nicht nur eine Last, sondern auch ein Halt.
Syrakus. In der Post ein Brief von H., der mich darauf aufmerksam macht, daß 1854, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, der preußische Kronprinz, der spätere Kaiser Friedrich, in Syrakus war. Überraschenderweise fühlte er sich hier an sein Zuhause erinnert. «So überall Anklänge an das gute Potsdam, selbst in dieser südlichen Gegend», schreibt er und hat, angesichts des morastigen Geländes um die Stadt, die Sümpfe der Mark vor Augen. Das ist ein treffendes Beispiel dafür, daß Reisende meist nur entdecken, was sie schon kennen.
Zum schon Bekannten zählte für den Kronprinzen vermutlich auch die Verbindung von Wüstenlandschaft und zivilisatorischem Ehrgeiz, die er beim Blick auf die Stadt wahrzunehmen meinte und die auch zum Pathos des alten Preußen gehört. Unübersehbar, daß diese Anstrengung hier gescheitert war. Aber noch die Trümmer sprachen davon.
Doch beruhte der Eindruck des Prinzen auf einem Irrtum. Denn das Hinterland von Syrakus gehörte durch die Jahrhunderte zu den fruchtbarsten Gebieten der Insel, berühmt für sein schweres Getreide, seine Weiden, für Wein und Honig. Dennoch auch hier der Zusammenhang von Machtdenken und unzureichenden Mitteln, ein Eroberungswille, der seine naturgegebene Unterlegenheit nicht zur Kenntnis nahm. Oder seine Verwundbarkeit zu stark empfand und imperial aus Nötigung war. Immer jedenfalls übermächtige Gegner. Am wenigsten bedrohlich war noch der griechische Städtebund auf der anderen Seite des Meeres. Aber dann Karthago und später Rom. Unausweichlich der Untergang.
Syrakus. Von den Anhöhen ringsum meint man noch immer das Bild einer verwüsteten Stadt zu sehen. Mehr als zweitausend Jahre haben die Spuren nicht beseitigt, und die wie zufällig in den noch erkennbaren alten Grundriß gestellten Wohnblöcke machen sie noch auffälliger. Auch hatte das alte Syrakus die fünffache Ausdehnung der gegenwärtigen Stadt.
Das kalkige Grau der Häuser tief unten läßt nichts von der bewegten Buntheit in den Straßen ahnen. Gänzliche Stille, bis ein dreirädriger Lieferwagen den Weg heraufschaukelt. Im Hang, etwas unterhalb, ein paar Zypressen, deren tiefes Blau zur Straße hin ins Staubige übergeht. Salzgeruch vom Meer. Die wenigen Segelyachten im Hafen wirken aus der Ferne wie eine Ansammlung aufgespießter Insekten, die mit hochstehenden Gliedmaßen auf einer spiegelglatten Fläche liegen.
Am Rande. Das Beispiel von Syrakus offenbart, was ein Untergang in der antiken Welt war: die buchstäbliche Auslöschung einer Stadt. In aller Regel wurde die Bevölkerung unterschiedslos niedergemacht, der Platz ausgeraubt, gebrandschatzt und geschleift, bis nur noch ein riesiger Steinhaufen übrig war.
Die Untergänge dagegen, von denen wir im Blick auf die neuere Geschichte sprechen, waren meist nur Niederlagen. Nicht einmal das «Finis Germaniae», das Hitler angedroht und zuletzt mit aller Energie betrieben hat, das zeitweilig aber auch in den Überlegungen der Kriegsgegner herumspukte, hat stattgefunden. Erst die atomare Drohung hat dem Krieg jenen totalen Charakter wiedergegeben, der aber nicht, wie viele glauben, das ganz Neue, sondern gerade das Uralte ist.
Noch zum Vorigen. Janssen fiel mir ein, der auf einer seiner Fluchten, von einem Freund überredet, mit dem Auto nach Neapel und von dort mit dem Schiff ohne Unterbrechung bis hierher, nach Sizilien gefahren war – und dann, von der Sonne und den Gespenstern des Mittags in neue Panik versetzt, auf der Stelle kehrtmachte und die Strecke zurückjagte. Und wie er mich Vorjahren triumphierend anrief, nachdem er gerade von der Erfindung der Neutronenbombe gehört hatte. Sie zerstöre, meinte er, zwar alles Leben, lasse aber die Werke unversehrt. Die zartesten Linien und die gestrichelten Schrecken seien jetzt unvergänglich. Sie hätten außerdem nichts mehr von der Zudringlichkeit derer zu fürchten, die sich als Liebhaber aufspielten. Für den Künstler sei diese Bombe das Versprechen wirklicher Unsterblichkeit. Den naheliegenden Einwand, daß die Unsterblichkeit der Sterblichen bedürfe, überhörte er.
Syrakus. Das Ende des Archimedes, der während der Eroberung von Syrakus, in die Lösung einer mathematischen Aufgabe vertieft, von einem römischen Soldaten erschlagen wurde, galt lange als bewegendes Beispiel spekulativer Selbstversenkung und hat das wissenschaftliche Ethos Europas mitbegründet. Nicht anders verhielten sich, in späterer Zeit, die Gelehrten von Byzanz, die sich in der belagerten Stadt über das Geschlecht der Engel stritten, doch haben sie dafür den Spott aufgeklärter Köpfe geerntet. Hätten sie aber die Eroberer durch die Erörterung der Lage, durch die Einmischung in die politischen Fragen aufgehalten? Zur Leidenschaft für das Denken gehört, daß sie nur das Denken will.
Diese Einsicht zählt zu den Erfahrungen auch unseres Jahrhunderts, doch werden die falschen Schlüsse daraus gezogen. Als sei der Platon von Syrakus das Vorbild, und nicht Archimedes. Man erzählt, Wolfgang Schadewaldt sei Anfang 1934 in einer Freiburger Straßenbahn Martin Heidegger begegnet, der gerade seine ersten Enttäuschungen mit den Gewalthabern hinter sich hatte. Schadewaldt soll ihn mit den Worten begrüßt haben: «Na, Herr Heidegger, zurück aus Syrakus?»
Auf der Fahrt nach Ragusa. Vorbei an den Cave d’Ispica. Die erhöht in die Felswand geschnittenen Höhlen waren ursprünglich eine Nekropole der Sikuler, später auch christliche Katakomben und Einsiedeleien. Ein Teil davon ist noch immer bewohnt, wie alte Gelasse von Fledermäusen. Der Ingenieur hatte gesagt, es mache große Mühe, die Höhlenbewohner umzusiedeln, und mir geraten, ohne Aufenthalt weiterzufahren; er selber war kürzlich bei dem Versuch, die Leute in ein Gespräch zu ziehen, mit Steinen beworfen worden.
Dann windet sich die Straße in immer neuen Kehren durch enge Täler mit leuchtenden Felspartien nach oben. An einer überhängenden Bergnase, stufenförmig in die Wände einer Schlucht gebaut, liegt Modica. Etwas weiter, in ähnlich phantastischer Umgebung und durch den schmalen Rücken eines Steilhangs verbunden, die Stadtgebiete von Ragusa. Trotz aller ins Geschichtliche zurückreichenden Vergangenheit, aller Menschenspuren immerfort, hat die Landschaft ihren urweltlichen Charakter behauptet.
In einem Reiseführer ist von «romantischen Panoramen» die Rede. Aber in Wirklichkeit besitzt die romantische Natur, in einem genaueren Sinne, durchweg menschenfeindliche Züge. Das Naturglück der Gegenwart ist darüber ganz ahnungslos.
Mir kam Kolakowskis verwunderte Frage in den Sinn: Welche eigenartige Verkehrung des Denkens das zivilisationskritische Bewußtsein eigentlich dazu gebracht habe, daß ihm eine schroffe, vergletscherte Felswand «menschlicher» erscheint als eine Maschine. Und warum die meisten sich weniger vom Anblick eines Urwalds als von dem einer automatisierten Fertigungshalle gedemütigt fühlen. Dabei würden sie im Urwald, allen Robinsonträumen zum Trotz, kaum längere Zeit überleben, während die Fertigungshalle doch gerade der Vermenschlichung des Daseins dient. Der zeitgenössische Rousseauismus ist daher auch entweder trügerisches Sentiment oder Rückfall ins Dumpfe, Vorkulturelle, das nicht immer «Blut und Boden» heißen muß.
Ragusa. Abends, in einem Gasthof am Rande der Stadt. Rund dreißig Personen saßen am langen Nebentisch. Die Familienfeier dauerte bis tief in die Nacht, und die Kinder waren bis zum Ende dabei. Kleine Erwachsene mit großen Augen in den verschreckt wirkenden Gesichtern, wie Figuren aus den Spieluhren des Barock. Die Mädchen trugen Schleifen im Haar und waren in halblange Kleider gesteckt, die aussahen, als seien sie aus abgelegtem Sonntagsputz gearbeitet. Mit eingelernter, puppenhafter Geziertheit hielten sie sich aufrecht Als einer der Jungen zu vorgerückter Stunde, den Kopf auf die Stuhllehne gelegt, einzuschlafen begann, wurde er von seiner Mutter wachgerüttelt: «Ein Junge hält sich aufrecht! Sieh Dir Rosalia an! Ein Junge soll einmal befehlen!» Als wolle es den Jungen zu seiner Rolle verführen, stellte sich das Mädchen wenig später vor ihm auf und begann mit affektierten Bewegungen zu tanzen. Von Zeit zu Zeit streckte es ein Bein vorwärts, und jedesmal raffte es dann den Rock ein Stück weit nach oben. Eine kleine, noch halb ahnungslose Lilith, deren Bewegungen aber schon dem alten Urbild folgten.
Ich dachte mir, was sich da andeutete, ein Stück weiter. Der verträumte, weichliche Junge, das herausfordernde Mädchen. Verführung, Inzest, Familientragödie. Zuletzt kommt man immer an Gelesenes. Jedenfalls geriet ich zu Gerhart Hauptmann, der darauf beharrte, der Tanz sei der Ursprung allen Dramas, Wort und Gedanke seien spätere Hinzufügungen.
Am Rande. Die seltsame Gravität solcher Feiern im Sizilischen. Vom Ritual der Begrüßungen über die Placierung bei Tisch bis hin zu den wechselnden Auftritten vor dem Fotografen schien alles einem Muster zu folgen, das Alter, Status und Erfolg in undurchschaubaren Abstufungen widerspiegelte. Die Familienfeiern der eigenen Erinnerung waren dagegen Orgien der Unbefangenheit.
Auf dem Lande bei Vizzini. Der Ingenieur hatte mir sein Landhaus zur Verfügung gestellt, kein Mensch könne unablässig durch die Hitze fahren, hatte er gemeint, und das Nichtstun sei nichts Unmoralisches, wie man im Norden glaube. Wer das nicht begreife, dem bleibe Sizilien fremd.
Das alte Ehepaar, das ihm das Haus in Ordnung hielt, führte mich durch abgedunkelte Räume nach oben ins Gästezimmer. In der Bibliothek standen Mineralwasser und Eis bereit. Fast den ganzen Tag über gelesen. Vor allem von John Julius Norwich die Geschichte der sizilischen Normannen, jener erstaunlichen fünf Brüder Hauteville, die als blutige Räuberhauptleute begannen und sich unvermittelt, kaum daß sie mit Gewalt und Wortbruch zur Herrschaft gelangt waren, zu weit vorausdenkenden Staatsmännern und Dynastiebegründern wandelten. Wie in fast jeder Bibliothek gebildeter Italiener gab es die Werke von Ariost und Petrarca, Tasso und Leopardi, aber daneben auch, in Leder gebunden, einige Jahrgänge des «Playboy». Ferner die Tagebücher von James Boswell.
Das Tagebuch, meint Boswell, sei immer eng mit der Zeit und den Ereignissen verbunden, von daher beziehe es einen Teil seines Interesses. Allerdings müsse der Autor auch Berichtenswertes erleben. Aus keinem anderen Grunde und angeblich nur, um sich einen Vorrat an Erlebtem zu verschaffen, begibt er sich einmal zu den Huren in die Parks von London, um dort eine «höchst männliche Vorstellung» zu geben, und setzt sich auch im folgenden immer neuen Exzessen und Abenteuern aus. Es wirke ermüdend, fährt er fort, nur zu erzählen, daß man aufgestanden sei, herumgesessen, Tee getrunken und ein Buch gelesen habe. Und als ihn einmal weder die Welt noch die eigenen Unternehmungen mit Stoff versorgen, jammert er: «What will now become of my journal?»
Auf dem Lande bei Vizzini. Die Fensterläden waren geschlossen, die alten Samtvorhänge übereinandergezogen, um die betäubende Hitze draußen zu halten. Aber ein scharfer Lichtstrahl drang ins Innere, zog eine dünne, leuchtende Spur durch den Raum und prallte gegen den Marmor des Kamins. Obgleich von den Steinfliesen Kühlung kam, meinte man zu spüren, wie die Mittagsglut heiß und sengend in den schattenlosen Straßen stand und drüben über den Höhenzügen, deren Gelb von riesigen schwarzen Brandflecken zerfressen war. Und mit diesen Bildern fühlte man plötzlich den Schweiß auf der Haut und wie er allmählich zu brennen begann.
Caltagirone. Früh nach Caltagirone, das seiner einzigartigen, über annähernd einhundertfünfzig Stufen zählenden Keramiktreppe wegen berühmt ist. Doch als ich ankam, war schon die Hitze da. Auf der fast menschenleeren Piazza, im Schlagschatten vor der Bar, saßen einige Männer, schweigend und ein Glas vor sich. Einer stand, in Gedanken versunken, wenige Schritte abseits und ging dann quer über den Platz davon. Ich dachte an die Bemerkung des Ingenieurs über die Würde des Müßiggangs.
Wieder auf dem Lande bei Vizzini. Weiter bei Boswell. Auch das Unbedeutende sei für ein Tagebuch von Wichtigkeit, schreibt er jetzt, weil für eine so geringe Kreatur, wie der Mensch es sei, das Geringfügige eben doch Beachtung verdiene. Mit dieser Rechtfertigung: nur aufgestanden, herumgesessen, Eiswasser getrunken. Gelesen.
Dennoch der Vorsatz, morgen früh weiterzufahren. Der alte Hausdiener schüttelte beim Abschied verständnislos den Kopf und blieb im Schatten der Tür zurück. Er meinte, für solche Reisen sei es viel zu heiß. «Wenn einmal Regen käme», sagte er dann mit fast poetischem Ernst, «das wäre für uns wie das Ende der babylonischen Gefangenschaft.»
Am Rande. Das Lächeln der Sizilianer. Mir fiel auf, daß es oft nur aus einem Verziehen der Mundwinkel besteht und mehr die Geste eines Lächelns ist. Zurückhaltung, Skepsis, sogar Ironie drücken sich stärker darin aus als Einverständnis. Als bliebe der Abstand unüberbrückbar und der Fremde immer der Fremde. Er muß nicht aus Italien oder noch weiter aus dem Norden kommen.
Piazza Armerina. Fahrt durch Eukalyptus- und Orangenwälder zur Villa del Casale, einem Herrensitz aus dem letzten Jahrzehnt des dritten Jahrhunderts, den die einen dem römischen Gouverneur der Insel oder einem wohlhabenden Kaufmann, die anderen Kaiser Maximinianus Herculius zuschreiben.
Das Anwesen, das Säulenhallen, Höfe und Treppensysteme, ausgedehnte Wohntrakte und Wirtschaftsräume phantasievoll verschachtelt, zeugt mit seinen Achsbrechungen und schiefwinkligen Raumstellungen vom hohen zivilisatorischen Raffinement jener Zeit. Noch immer kann man die aus gebrannten Ziegeln verfertigten Rohrsysteme ausmachen, durch die das Gebäude mit Warmluft beheizt wurde. Dicht benachbart die Räume, die zum Kühlen der Speisen und Getränke gedient haben. Ein Staubecken in der Nähe besorgte den Wasserdruck, der für Schwimmbäder und Springbrunnen nötig war. Man kennt solchen kunstreichen Komfort zwar aus den Palästen der alten Metropolen und den Sommersitzen in ihrer Umgebung. Hier aber liegt das alles im Innern Siziliens, im unscheinbaren Tal von Mangone, weitab von allem städtischen Zusammenhang.
Die Villa, dem Urteil der Archäologen zufolge über ein Jahrtausend hinweg bis in die normannische Zeit bewohnt, geriet auf ungeklärte Weise in Vergessenheit, obwohl die Erinnerung an die Anlage nie ganz aus dem Gedächtnis der Leute schwand. Nach ersten Funden im 18. und 19. Jahrhundert begann man 1929, inmitten des tief verstrüppten Waldgebiets systematisch zu graben und den Gebäudekomplex freizulegen. Die fast vollständig erhaltenen Fußbodenmosaiken, die eine Fläche von dreieinhalbtausend Quadratmetern bedecken, erregten damals beträchtliches Aufsehen. Sie wurden vermutlich von Hunderten nordafrikanischer Fachleute ausgeführt und zeigen neben geometrischen Mustern, erfindungsreich stilisierten Pflanzen- und Tiermotiven sowie mythologischen Kompositionen vor allem Szenen aus dem Alltagsleben eines begüterten Römers. Die Bilder von Jagd, Ernte und Sport, von Fischfang und häuslichem Dasein besitzen die naive Wirklichkeitstreue und Fabulierlust der Genremalerei, wie sie die bürgerliche Kunst des 19. Jahrhunderts auf andere Weise entwickelt hat. Berühmt ist ein Raum geworden, der gymnastische Spiele junger Mädchen zeigt, deren Bekleidung die Bikinimode unserer Tage aufs verblüffendste vorwegnimmt.
Überraschend auch ein unscheinbares Detail: eines der Mosaiken zeigt ein geflügeltes Greifentier, das in den Vorderklauen einen Käfig trägt, durch dessen schmale Öffnungen ein Mensch mit angstvoll geweiteten Augen blickt. Die Tiere, so wird der Bildeinfall gedeutet, entledigen sich ihres großen Feindes, des Menschen. Er unterwirft sich die Natur, bleibt aber, in all seiner Macht, stets ihr Gefangener. Die Kühnheit, mit der jener unbekannte Künstler die Ordnung der Dinge umkehrt und das gejagte Tier den Menschen fangen läßt, deutet auf das frühe Bewußtsein von der Schutzbedürftigkeit der Tierwelt hin, das in zahlreichen Mythen von Sibirien bis ins Innere Afrikas, aber auch in der Edda, anzutreffen ist.
Desgleichen haben manche Jagdrituale diese Vorstellung bewahrt. Die Idee der «Opferteilung» mit den Göttern durch das Verbrennen von Knochen oder Innereien sucht Entsühnung des Menschen, der im Jagen und Schlachten gegen das Prinzip des Lebens verstößt, sein Vergehen verlangt symbolische Wiedergutmachung. Aus keinem anderen Grunde wurden häufig gerade die Fortpflanzungsorgane geopfert, und die vielen Brüste der Artemis von Ephesos sind in Wahrheit die Hoden von Opferstieren, durch die der schuldig gewordene Mensch der Natur Abbitte leistet.
Piazza Armerina. In der Nähe der Stadt ein kleiner, abseits der Ausfallstraßen gelegener Gasthof. Während der Ankunft ging, nach wochenlanger Trockenheit, ein heftiger Regen nieder. Das Wasser vereinigte sich zu sprudelnden Bächen, brach tiefe Rinnsale in den Blumengarten neben dem Eingang und ergoß sich dann, in zunehmend größeren Stürzen, über den dahinter liegenden Olivenhain. Zwei Stunden später, über abendlichem Dunst, war der Himmel wieder wolkenlos, das Erdreich hatte die Wasser verschluckt und schien so ausgedorrt und verkrustet wie zuvor.
Noch zum Vorigen. Immer wieder wird berichtet, daß ganze Städte, Tempel oder Anwesen wie die Villa Casale in Vergessenheit geraten und nach Jahrhunderten wiederentdeckt werden. Wie kommt dergleichen aus der Erinnerung?