Der Venezianische Löwenbrunnen in Berlin - Jürgen Dittberner - E-Book

Der Venezianische Löwenbrunnen in Berlin E-Book

Jürgen Dittberner

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Beschreibung

Die deutsch-deutsche Geschichte ist eine der Teilung: Die Mauer, die sich jahrzehntelang zwischen Osten und Westen spannte, trennte nicht nur eine Nation, sondern auch Familien. Jürgen Dittberner gelingt mit seinem Roman ein beeindruckendes Zeugnis dieses jüngsten Abschnitts deutscher Geschichte: Friedrich Wurm aus Potsdam und Peter Schnabel aus Westberlin sind Vettern. Ihr Leben ist geprägt von dem jeweiligen politischen System, in dem sie aufwachsen. Ihre gemeinsamen Wurzeln schützen sie nicht vor einer allmählichen Entfremdung. Und doch ergeben sich erstaunliche Parallelen im Leben der Vettern auf beiden Seiten der Mauer. Kenntnisreich stellt Dittberner die Lebensverhältnisse in beiden Teilen Deutschlands dar und spannt den Bogen vom Ende des zweiten Weltkriegs bis zur Wiedervereinigung – bei der sich die Vettern wieder begegnen. Gibt es eine Annäherung zwischen Wurm und Schnabel? Welche Rolle spielt ihre gemeinsame Erinnerung an den Venezianischen Löwenbrunnen in Berlin? Eine spannende Erzählung mit einem überraschenden Ende.

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Seitenzahl: 327

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ibidem-Verlag, Stuttgart

 

Inhaltsverzeichnis

Der Löwenbrunnen

Jürgen Dittberner

Vorwort

„Don't touch the colours!“

Von Grimma nach Berlin

Vor dem Sieg

In Potsdam

Auch noch Nazis!

Im Krieg

Panzersperren

Kohlenklau

Westsektor

Karl-Heinz

Schule

Verwandte

Radioprogramme

Polizeisportfest und anderes

Reformgymnasium

Arm in Arm

Universität und Studentenleben

Rudi Dutschke

Studium Generale

Kritische Universität

Die Mauer in Berlin

Wissenschaftlicher Beobachter

Versorgung in Potsdam

Adolf von Thadden, SPD und FDP

Parteitagsweckdienst und Demokratur

Forschungsinstitut

Liberale Aktion

Anwerbungsversuch im Garten

Hamburg

„Ostwärts“

Berufung

Exkursionen

Wilmersdorf

Ins Landesparlament

Regeln

Funktionär

Heilandskirche und Staatsgrenze

Ausländer

Lucius D. Clay

Die Duldung

Bauen

Die Datsche

Strafversetzung?

Reisen

Im Mekka des Sozialismus

Die Preußen kommen

Konferenzen

Der Putsch

Landesgeschäftsführer

Die PAM

Immer diese Juristen!

In den Senat

Das pralle Leben

Politiker

Der Apparat

Die Öffentlichkeit

Die Mauer fällt

Tante Paulsen

Auf dem Kurfürstendamm

Die Welt

Kutzmutz

Bier für Potsdam

Fragebogen

Friedrich Wurm und Peter Schnabel

Die Vergangenheit

Debatten

Wilmersdorf da capo

Potsdam

Gaudeamus Igitur

Im „Bayrischen Haus“

Heraklion

Der Bruch

Impressum

Der Löwenbrunnen

1911 wurde in Kladow, das am rechten Ufer der Havel gegenüber dem Wannsee, der Pfaueninsel und Potsdam liegt, eine Villa errichtet. Der Bauherr des späteren Lokals war ein Rütger von Brüning. Er, die Berliner und Märker nannten das Haus großzügig „Schloss“ und gaben ihm den Namen des Bauherrn: „Brüningslinden“. Nach dort strömten Berliner und Potsdamer – am liebsten sonntags zum Kaffeetrinken.

Der Ort Kladow selber wurde 1920 zusammen mit der Havelstadt Spandau nach Berlin „eingemeindet“ und gehört seitdem zu Groß-Berlin.

Brüning war viel gereist. Er brachte aus fernen Ländern, selbst asiatischen, Kunstgegenstände mit und schmückte damit Garten und Innenräume seines „Schlosses“. In einer Kladower Festschrift heißt es: „Im Innenhof des Schlosses stand ein Springbrunnen, den Rütger von Brüning in Venedig entdeckte und für sein Anwesen in Kladow kaufte. Der über 200 Jahre alte Brunnen aus Marmor, dessen größte Schale auf für Venedig typischen Löwen steht, war eine besondere Attraktion und viele Besucher des späteren Restaurationsbetriebes ließen sich als Andenken neben diesem Brunnen fotografieren.“1

Das „Schloss“ musste 1972 Einfamilienhäusern weichen, und der Brunnen kam vorübergehend zu einem Weingut in Rheinhessen. 1988 kaufte die „Berliner Bank“ den Brunnen und übergab ihn dem Bezirk Wilmersdorf von Berlin, der ihn in seinem Wappenhof am Rathaus aufstellte.

Nach dem Zusammenschluss der Berliner Bezirke Charlottenburg und Wilmersdorf im Jahre 2001 wurde das Rathaus Wilmersdorf als Flüchtlingsunterkunft genutzt. Der Brunnen wurde eingelagert. Kladower Bürger interessierten sich für ihn, und nach etlichen Querelen kam er zum 750. Jubiläum Kladows im Jahre 2017 hierher zurück, wo er (leider hinter einem Gartenzaun) in der Ortsmitte prangt – zur Erbauung der Einwohner und Freude der Besucher.

1 Kladower Forum e.V. (Hg.), 750 Jahre Kladow. 1267 – 2017, Berlin 2017, S. 69f

Jürgen Dittberner

 

 

 

Der Venezianische Löwenbrunnen in Berlin

 

 

 

„Berlin und Potsdam“ - getrennt und vereint

(Die Namen der handelnden Personen und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen sind teilweise erfunden. Ähnlichkeiten oder Identitäten mit lebenden oder toten Personen und ihren Beziehungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.)

Vorwort

Friedrich Wurm aus Potsdam und Peter Schnabel aus Berlin sind Vettern und werden nach 1945 zu Ost- und Westdeutschen.

Während Wurm in der „DDR“ aufgeht, entwickelt sich Schnabel zum überzeugten Westberliner. Beide engagieren sich politisch: Wurm wird Kommunist und Mitglied der „SED“. Schnabel tritt der „FDP“ bei und zieht ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Er wird Bewunderer der Vereinigten Staaten von Amerika; Wurm dagegen idealisiert die Sowjetunion als Heimat aller Werktätigen.

Wurm und Schnabel leben zwar in der gleichen Landschaft im Havelland und geografisch nicht weit voneinander entfernt. Durch eine Grenze und die Mauer werden sie jedoch politisch und sozial getrennt.

Beide haben sächsische Wurzeln. Der Zweite Weltkrieg hatte ihre Familiengeschichten verblassen lassen. Vieles aus der Vergangenheit erlosch. Beide beklagen aber gleichermaßen die Verbrechen der Nationalsozialisten, und sie hassen den Krieg.

Schnabel und Wurm übernehmen unabhängig voneinander und zu unterschiedlichen Zeiten Leitungsfunktionen in einer KZ-Gedenkstätte und wissen sich dabei im Konsens mit den sie umgebenden Gesellschaften.

Die Wiedervereinigung Deutschlands bringt manche verwandtschaftlichen Bande zum Aufleben. So erinnern sich Wurm und Schnabel, dass sie einst noch vor der Grenzziehung im Ausflugslokal „Brüningslinden“ vor einem marmornem „Löwenbrunnen“ fotografiert worden waren. Im Laufe der Zeit verlieren diese Erinnerungen jedoch bald ihre Relevanz.

Es folgt ein unerwartetes Ende.

Meiner Ehefrau Elke Dittberner danke ich für mannigfache Hilfe.

Berlin 2018

Jürgen Dittberner

 

„Don't touch the colours!“

Für den Westberliner Neuparlamentarier Peter Schnabel war das ein unerwartetes Verbot. Er befand sich mit seiner jungen Frau Anke in einem britischen Offiziersclub. Die Luft war geschwängert vom Rauch süßlichen Tabaks- und edlem Whiskyduft. Die beiden Schnabels standen da, umgeben von höflichen Herren in hellbraunen Uniformen mit Orden und breiten Gürteln um die Taillen. Das Ehepaar war geladen zum Empfang in einem distinguierten Raum, wo an einer Stelle eine Fahnenstafette prangte: Da waren neben anderen die Flaggen des gastgebenden Staates, also der „Union Jack“ und auch die Berliner Fahne zu sehen. Die bunten Tücher hingen schlaff von schräg aufgestellten Stangen herab. Im Gespräch ließ der junge Abgeordnete das Ende der britischen Fahne spielerisch durch seine Finger gleiten.

Der Small Talk stoppte jäh: „Don't touch the colours!“, donnerte eine Militärstimme.

Diese Ermahnung war nicht gerade ein Kulturschock, aber doch ein Zeichen dafür, dass das Leben in einem britischen Regiment anderen Werten folgte als das im altachtundsechsziger Milieu der in Deutschland gerade aufsteigenden Mittelschicht.

„Colours“ hatte der Brite gesagt und „Flagge“ hatte er gemeint. Flaggen blieben fortan von Schnabel unberührt, hatten einen Heiligenstatus angenommen - fast wie ein Kreuz auf einem Altar. Es dämmerte dem jungen Deutschen, dass wohl auch Hymnen und Paraden für Menschen von anderswo keine inhaltsleeren Zirkusnummern waren, sondern dass ihnen etwas Ernsthaftes innewohnen müsse. Andere als die Briten würden es wohl ähnlich sehen.

Könnte es sein, sinnierte Schnabel, dass hier in der geteilten Stadt Berlin fremde Truppen „stationiert“ waren, die manchem nicht nur mit Kanonen und Gewehren imponierten, sondern mit Fahnen, Hymnen oder Aufmärschen? Und könnte es sein, dass die „Einheimischen“ dieses gar nicht richtig durchschaut hatten und also auch nicht wirklich wussten, warum man sie hier auf der „Insel der Freiheit“ weitgehend in Ruhe ließ?

Berlin, Washington, London, Paris und Moskau: Waren das, so grübelte Schnabel, Beziehungsgeflechte, die je nach Standort sehr verschieden aussahen – je nachdem, ob man „mittendrin“ war oder entfernt in Washington und Moskau oder dichter dran in Paris und London? Es wurde fortan spannend, wie der Abgeordnete Schnabel diese Beziehungsgeflechte nach und nach durchschaute - selbst in der Zeit noch, als er kein Politiker mehr war. Da erkannte er immer noch neue Zusammenhänge.

Schnabel ahnte damals im Offiziersclub nicht, dass es lange dauern würde, bis ihm die Empfindungen der Sieger von 1945 halbwegs verständlich geworden waren.

 

Von Grimma nach Berlin

1865 kamen in Grimma in Sachsen Zwillinge zur Welt. Es waren die Jungen Peter und Paul Paulsen. Die Mutter hieß Emilie Klara Johanna Paulsen, geborene Schenk. Der Vater war Gustav Peter Paul, und er betrieb erfolgreich einen Tuchhandel.

Peter und Paul hatten eine schöne Kindheit. Sie machten oft Ausflüge mit den Eltern und dem Hausmädchen. Auf der Mulde fuhren sie bei gutem Wetter mit dem Boot. Besonders gerne durchschipperten sie dabei die alte „Pöppelmannbrücke“, die einst Teil einer von Frankfurt am Main bis nach Polen gehenden Handelsstraße gewesen war.

Überhaupt unternahmen die Paulsens auch mit der Kutsche zahlreiche Expeditionen in das Grimma umgebende „Mittelsächsische Hügelland“. Der Vater zeigte der Familie die vielen Sehenswürdigkeiten, breitete in der freien Natur gerne eine Decke aus, stellte ein „Picknick“-Körbchen sowie Geschirr darauf. Er schien ein glücklicher Mann mit einer glücklichen Familie zu sein.

Beide Brüder besuchten später erste Klassen des am Ufer des Flusses gelegenen traditionsreichen Gymnasiums „St. Augustin“, das 1550 als eine von drei sächsischen „Fürstenschulen“ - vor allem für Beamte und Theologen Kursachsens - gegründet worden war. Die beiden anderen Schulen dieser Art wurden in Meißen und in Pforta bei Naumburg errichtet. Die „Fürstenschulen“ sollten helfen, neue Netzwerke zu schaffen, nachdem die katholische Geistlichkeit das Land wegen der Reformation verlassen hatte.

Die Schule in Grimma besuchten unter anderen Paul Gerhardt, der evangelische Liederschreiber sowie Samuel Freiherr von Pufendorf, der Historiker und aufklärerische Philosoph.

Gerne hätte Vater Gustav seine Sprösslinge dort als „gute Sachsen“ erziehen lassen. Doch als 1891 das neue Hauptgebäude der Schule im Stil der Neorenaissance von König Albert von Sachsen eingeweiht wurde, waren die Paulsen-Brüder bereits in Berlin. Diese „Kinder der Mulde“ hatten sich 1887 an die Spree abgesetzt und ihr Erbe vorzeitig erhalten. Sie wollten dabei sein, wenn die Hauptstadt des neuen Reiches heranwuchs. Sachsen schien ihnen mittlerweile zu klein zu sein.

Vater Gustav war von dem Schritt der Brüder nicht begeistert. Einmal war er ihnen sogar nachgereist, um sie zurück nach Sachsen zu holen. Doch er war erfolglos: Peter hatte im Herzen der Reichshauptstadt bereits einen „Laden“ – wie der Vater sagte – aufgemacht und Paul – der schon immer der „Tunichtgut“ inder Familie gewesen war – hatte sich an Orte des Vergnügens gebunden, wo er sich Frauen und Pferde leistete, solange es ging.

Die beiden Brüder hatten zu dieser Zeit bereits zwei Schwestern bei einem gemeinsamen Besuch in einem Ballhaus kennen gelernt und sie als Bräute genommen. Es waren die Reblin-Schwestern. In die eine - Erna Augustina – hatte sich Peter verguckt, die andere – Brunhilde Augustine – blieb für Paul übrig.

Während Peters „Laden“ bald Furore machte, verschuldete sich Paul zusehends. Die Brüder gingen getrennte Wege, sahen sich oft monatelang nicht. Aber als „Patrioten“, als „gute Deutsche“ empfanden sie sich beide. Wenn der Vater in Grimma wenigstens das aus ihren Briefen herauslas, war er etwas stolz:

Zwar waren seine Söhne keine „guten Sachsen“ geworden, aber immerhin „gute Deutsche“.

 

Mulde: Foto: Elke und Jürgen Dittberner

 

Vor dem Sieg

Peter Paulsen betrieb um die Jahrhundertwende am Gendarmenmarkt Ecke Jägerstraße ein Feinkostgeschäft. Er nannte sich „Kaiserlicher Hoflieferant“. Obendrein besaß er zwei Filialen: eine in der Stadt Spandau bei Berlin am Markt und eine in Potsdam in der Brandenburgischen Straße. Paulsen war ein gemachter Mann. Er hatte zwei Töchter: Margarethe und Dorothea. Seine Ehefrau Erna Augustina, geborene Reblin, half ihm im Geschäft, so gut sie konnte. Während Paulsen aus Sachsen stammte, kam Erna aus Ostpreußen. Für jede ihrer Töchter hatten die Paulsens eine Ausstattung bereitgestellt – im Wert von jeweils 10.000 „Goldmark“.

Paulsen war im Jahre 1900 fünfunddreißig Jahre alt. Ein Riesenrauschebart zierte sein Antlitz. Dahinter steckte ein Geheimnis, denn Paulsen litt unter einer Allergie. Sobald er das Messer ansetzte, um sich zu rasieren, bekam er fürchterlichen Hautausschlag. Also ließ er sich einen prächtigen Bart stehen, und wenn er so mit seinem frischen weißen Kittel hinter der Ladentheke stand, war er eine imposante Erscheinung. Die Kunden schätzten „den Herrn Hoflieferanten“, und sie wussten, dass dieser mittlerweile ein guter Preuße geworden war – trotz der sächsischen Sprachmelodie, die er sich nicht abgewöhnen konnte. Ein auf sein Vaterland stolzer Deutscher war er sowieso; das war klar.

Für einen Kaufmann hatte Paulsen eine unerfreuliche Eigenschaft: Er litt unter einem schlechten Namensgedächtnis. So bediente er seine Kundschaft gerne mit den Worten: „Was wünschen Sie, gnädige Frau..?“ Den Familiennamen der „Gnädigen“ ließ er einfach weg. Kam ein Herr in seinen Laden, so redete Paulsen ihn mit „Herr, Herr…“ an. Viele hielten das für eine Marotte des Händlers, kaum einer wusste, dass er so ein Defizit verdeckte.

Ihre Wohnung hatten die Paulsens in der Chausseestraße. Nach getaner Arbeit machte Paulsen es sich gerne in seinem Zweispanner bequem und lies sich seinem Feierabend entgegen steuern. So auch an einem Tage im Jahr 1911. Zu Hause in der „guten Stube“ saßen die Töchter mit dem „Mädchen“ zusammen und verrichteten Näharbeiten. Paulsen gefiel diese Idylle. Aus einer Dekantierflasche schenkte er sich Portwein ein und sah den Frauen wohlwollend zu.

Da eröffnete ihm seine hinzugekommene Erna, dass „die Töchter“ ja nun in einem gewissen Alter wären und sich nach Freiern umgesehen hätten. Verschämt nahmen die beiden Schwestern den Vater bei dieser Ansprache ins Visier. „Die Marga kennt da einen sehr kultivierten Herrn Schnabel, und die Doro hat sich neulich mit einem feschen Herrn Wurm getroffen.“ Die Töchter wurden rot. Noch aber schwieg der „Herr Vater“, hielt sein Portweinglas gegen das Licht. Erna ging zum Angriff über: „Sollten wir die beiden Herren nicht `mal zum Tee einladen?“ – „Ja, gerne!“, gab Paulsen zur Antwort, erhob sich und verschwand in seinem Arbeitszimmer. Die Frauen warfen sich schelmische Blicke zu.

Paulsen studierte in seinem Arbeitszimmer keine Geschäftsunterlagen, sondern er nahm sich die Tageszeitung vor. Da war zu lesen, dass England, Russland und Deutschland dadurch so eng verwoben seien, dass ihre Herrscher miteinander verwandt waren. Im gleichen Blatt war ein Kommentar abgedruckt, in dem stand, dass Österreich mittlerweile der beste Freund des Deutschen Reiches wäre. Das glaubte Paulsen wohl, denn Volkes Blut war in beiden Staaten schließlich „gut deutsch“. Und er nahm sich vor, die für seine Töchter bestimmten Aussteuern dem deutschen Kaiser zu leihen, wenn der einmal die Waffen sprechen lassen müsste.

Aber das waren nur Gedankenspielereien. Nach dem Abendessen der Familie im Salon beschied Paulsen seine Ehefrau: „Die beiden Freier sollen am Sonnabend um vier kommen.“

Erna Paulsen setzte alles sogleich um. So erschienen der junge Schnabel – ein „guter pommerscher Junge“ – und der junge Wurm am folgenden Sonnabend um vier Uhr bei den Paulsens. Sie waren festlich gekleidet, hielten jeder einen Blumenstrauß in der linken Hand, hatten Blümchen in den Revers, lüfteten artig ihre Hüte, als ihnen nach dem Läuten aufgetan wurde. Auf der Diele empfing sie das Hausmädchen der Paulsens, befreite sie von den Hüten, klopfte an der Tür zum Salon und meldete, nachdem geöffnet wurde: „Die Herren Schnabel und Wurm wären da!“

Schnabel und Wurm erhoben ihre Blumensträuße. Zuerst begrüßte sie aber der Hausherr. Diese Prozedur war äußerst förmlich. Jedoch Frau Erna stand direkt hinter Paulsen. Sie wurde von den Herren mit Verbeugungen und den Sträußen begrüßt: „Gnädige Frau!“, „Gnädige Frau!“ Die „Gnädige“ reichte die Blumen mit herrschaftlicher Geste an das Hausmädchen weiter und empfing wohlgefällig zwei Handküsse. Derweil saßen in einer Ecke des Salons die Töchter Margarethe und Dorothea, scheinbar mit Handarbeiten beschäftigt, tatsächlich jedoch die Eintrittsszenen mit großer Neugier und auch mit etwas Scham beobachtend. Jeder der beiden Freier hielt um eine Hand an, und beide wurden schließlich – nachdem auch die ökonomische Solvenz der Freier geklärt war - erhört. Schnabel fuhr darauf wieder nach Pommern.

Peter Paulsen beobachtete bald danach, wie Europa in einen Krieg taumelte. Dass die Österreicher („Kamerad Schnürschuh“) nun wirklich „Waffenbrüder“ waren, stand bald fest, und Feinde waren jetzt vor allem Frankreich und Russland („Jeder Stoß ein Franzos', jeder Schuss ein Russ'!“). Paulsen drängte es in dieser Lage – wie so viele andere Deutsche, die sich für „Patrioten“ hielten – „zu den Waffen“ und in die „Knobelbecher“. Als fürsorglicher Familienvater dachte er weiter. Marga und ihr „Zukünftiger“ sollten den Laden in Spandau erben und Doro mit ihrem künftigen Gatten den in Potsdam. Dafür würde er die jeweils 10.000 Goldmark dem Kaiser als Kriegskredit gewähren: „Gold gab ich für Eisen!“, prahlte Paulsen und war stolz.

Im ganzen Lande hieß es: „Hurra, wir ziehen in den Krieg!“ Die künftigen Helden gedachten, schnell wieder daheim zu sein, denn mit diesen paar „Franzmännern“, „Russkis“ und „Tommies“ würden sie rasch fertig sein. Der Krieg würde im Übrigen wie ein reinigendes Gewitter dem ganzen Volke gut tun. Niemand sah die schrecklichen Stellungs- und Giftgasschlachten voraus, die danach kommen sollten. So meldete sich natürlich auch Familienvater Peter Paulsen zu den Waffen. Für sein Volk, für den Kaiser und die Gerechtigkeit wollte er in den Krieg ziehen, dem Sieg entgegen.

Doch Peter Paulsen widerfuhr Schreckliches! Das Militär störte sich an seiner Hautallergie und ließ ihn nicht zum Kriege zu! Er durfte nicht ins Feld! Paulsen war zutiefst getroffen. Eigentlich galt: „Ein deutscher Mann weint nicht“. Doch Paulsen brach vor Frau und Kindern in Tränen aus.

Welche eine Schmach: Er durfte nicht „zu den Waffen!“

 

In Potsdam

In Potsdam stand 1928 noch die „Kanaloper“. Das war das Stadttheater, welches den offiziellen Namen „Königliches Schauspielhaus“ trug. Der preußische König Friedrich Wilhelm II. hatte das Theater von 1793 bis 1796 „Am Kanal 8“ errichten lassen. Potsdam wirkte 1928 noch immer wie eine Residenzstadt. Es war zwar preußischer als Berlin, aber trotzdem schöner und dabei selbst nach 1919 Militärstadt geblieben. 1930, als die Hohenzollern nicht mehr regierten, hatte Potsdam seine alten Traditionen bewahren können. Es wurde zugleich jedoch auch immer stärker zur Vorstadt der Reichshauptstadt. So kam es zu einem Potsdamer Ereignis, als der bekannte Schriftsteller Carl Zuckmayer die „Kanaloper“ besuchte, um sich hier die Inszenierung eines seiner Stücke anzuschauen.

1966 dann, als die „SED“ in Potsdam das Sagen bekommen hatte, wurden die Reste der zerstörten „Kanaloper“ abgetragen. Das alte Potsdam gab es nicht mehr.

1928 kam Friedrich Wurm in Potsdam zur Welt. Sein Vater, Herbert Wurm, war hauptberuflich Feldwebel beim so genannten Regiment „Graf Neun“. Das war der Spitzname des „Infanterie-Regimentes 9“ - ein preußisches Regiment, das 1920 innerhalb der Reichswehr der Weimarer Republik aufgestellt und in Potsdam stationiert worden war. Friedrichs Mutter, Dorothea Wurm, führte den vom Vater geerbten Laden, wobei ihr Herbert half, wann immer er konnte.

Bis 1939 waren die Wurms eine solide, halbwegs zufriedene und intakte kleine Familie. Wenn die Zeit es erlaubte, spazierten sie alle durch den Park von Sanssouci, bestaunten die vornehmen Besucher aus Berlin und anderen großen Städten, oder sie erfreuten sich an der prächtigen Vegetation. Mächtigen Respekt hatten sie vor Friedrich dem Großen, dem „Alten Fritz“, der in glücklichen Zeiten hier gelebt und gerecht und erfolgreich über sein Königreich geherrscht haben soll.

Zweimal im Jahr fuhren sie nach Berlin, flanierten auf dem Prachtboulevard „Unter den Linden“, kauften Kleinigkeiten in der Friedrichstraße ein. Gerne besuchten sie außerdem das „Schloss Brüningslinden“ am Ufer der Havel gegenüber Potsdam. Die dort entstandenen Fotos des kleinen Friedrich am „Löwenbrunnen“ gehörten zeitlebens zu seinen Kindheitserinnerungen.

Dann kam der „Tag von Potsdam“, der 21. März 1933! Ein neu gewählter Reichstag trat zusammen. In Potsdam inszenierte die damalige politische Klasse einen Festakt. Der neue Reichskanzler, Adolf Hitler, reichte dem Präsidenten des Reiches, Paul von Hindenburg, die Hand und verneigte sich vor ihm. - Wie stolz waren die Wurms: Das also war ihr Potsdam, und die Spitze des Reiches war in ihre Stadt gekommen: „Berlin bei Potsdam!“

Dass die Nähe zu Berlin in Wirklichkeit wohl den Ausschlag für diese Inszenierung in Potsdam gegeben hatte, verdrängten sie wie wohl die meisten Potsdamer.

Die Wurms genossen das Potsdam umgebende Havelland. Sie fuhren nach Caputh und besuchten dort das alte Preußenschloss. Sie begaben sich nach Rheinsberg und waren beeindruckt von der Anmut der Landschaft. Sie stürzten sich im Sommer in freier Natur ins Wasser und erfrischten sich beim Baden. Sie besuchten die uralte Stadt Brandenburg und standen voller Ehrfurcht im dortigen Dom. Sie waren beim Apfelblütenfest in Werder dabei und schauten den Zügen Richtung Berlin nach, die überfüllt waren von Betrunkenen: Die voll mit Obstwein Abgefüllten strömten in die Riesenstadt zurück.

1939 aber war alles vorbei. Der Vater musste in den Krieg, wahrscheinlich nach Polen. Friedrich und seine Mutter blieben in Potsdam und mussten fortan ohne Herberts Nähe den Laden führen. Zwar lebten die Eltern der Mutter in Strausberg, aber diese Verwandten besuchten sie selten. In Berlin-Prenzlauer Berg lebte außerdem eine entfernt verwandte Tante, Maria Paulsen – „Tante Paulsen“ genannt, doch auch die Reise dorthin war mühsam. Außerdem hatten Mutter und Sohn Wurm den Eindruck, dass diese Tante – sie war die Ehefrau des Zwillingsbruders vom „alten Paulsen“ in Strausberg - sich ziemlich hochnäsig gab, wenn Verwandte aus Potsdam - aus der „Provinz“ – anrückten. So blieben die Wurms am liebsten in Potsdam. Friedrich ging in Nowawes zur Schule, und Mutter Wurm bediente die Kundschaft.

Da traf Mutter und Sohn eine schreckliche Nachricht: Der Vater sei den „Heldentod“ gestorben!

Die Mutter löste sich in Tränen auf. Friedrich überkam eine ungeheure Wut. Beide wollten es nicht wahr haben: Kaum hatte dieser Krieg begonnen, da war der Vater „gefallen“. Das Heldenpathos des Regimes dazu empfanden beide als hohl. Friedrich verbitterte innerlich. Diese „verdammten Nazis“!

Am Radio hörten sie fortan voller Frust und Wut die Siegesfanfaren des „Großdeutschen Rundfunks“. Sie nahmen zur Kenntnis, dass die deutschen Truppen immer weiter nach Osten stürmten, bis sie in Russland vor Moskau nicht weiter konnten und den Rückweg ins „Reich“ antreten mussten. Mutter und Sohn Wurm in Potsdam fanden, dass es so hatte kommen müssen.

Der Krieg kam immer näher. Der Alltag wurde bleiern. Lebensmittel und andere Waren verknappten sich. Der Laden lief schlecht. Vor allem: Von überall her raunte es, die „Nazis“ würden Juden ermorden und jeden, der ihnen widersprach, „an die Wand“ stellen. Immer häufiger heulten Sirenen auf und warnten vor Fliederangriffen.

Angst beherrschte die Stadt.

1944 wurde Friedrich Wurm 16 Jahre alt. Da forderten die Lehrer ihn auf, das „Notabitur“ zu machen. Dieses Angebot war ein Befehl. Wurm und seine jungen Klassenkameraden wurden als „Flakhelfer“ verpflichtet. Der „Führer“, dem mittlerweile immer weniger Deutsche folgen mochten, warf die Jugend seines Volkes an die Front eines verlorenen Krieges. In Schnelllehrgängen mussten die Jungen Kampftechniken und Waffenkunde lernen. Wenn sie Glück hatten, wurden diese Kinder in den Gefechten dann vom „Feind“ geschont.

Und Wurm hatte Glück. Er kam in ein von Briten kommandiertes Lager irgendwo am Rhein. Unter freiem Himmel musste er zusammen mit anderen Jugendlichen vegetieren. Da erfuhr er durch Mundpropaganda, dass sein Potsdam kurz vor Kriegsende bombardiert worden war, dass die schöne Stadt also nicht mehr existierte. Den Turm der „Heiliggeistkirche“ gäbe es nicht mehr, weil die Deutschen die von den „Nazis“ proklamierte „Festung Potsdam“ unter anderem von hier aus hatten verteidigen müssen und durch sowjetische Artillerie verjagt worden seien.

Nach der Hybris und den Verbrechen der „verdammten Nazis“ fand es Friedrich Wurm gerecht, dass nach dem verlorenen Krieg die Sowjets in Potsdam herrschten. Er war sicher: Mit Hilfe der Sowjetunion könne auf den Trümmern des „Nazi“-Krieges der Sozialismus erblühen. Sein Potsdam würde in Zukunft besonders strahlen.

Nachdem er im Lager am Rhein von den Briten frei gelassen worden war, schlug sich Friedrich bis in seine Stadt Potsdam durch. Schließlich schloss er dort seine Mutter in die Arme.

Mit 20 Jahren war Friedrich Wurm dann der „KPD“ beigetreten. Er hatte es richtig gefunden, dass alle Siegermächte des Krieges sich bereits im August 1945 im Schloss Cecilienhof getroffen hatten, um über die Zukunft Deutschlands als Ganzem zu beraten. Die sozialistische Erneuerung des Landes sollte nicht von der alten „Nazi“-Hochburg Berlin ausgehen, sondern von Potsdam.

Überhaupt kein Problem hatte Friedrich damit, dass im Zuge des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft in Deutschlands Osten ihr alter Laden in Potsdam verstaatlicht wurde.

 

Auch noch Nazis!

Peter Paulsen wurde 68 Jahre alt, als in Berlin die „Nazis“ an die Macht kamen. Mit ihren „SA- und SS-Truppen“ marschierten sie auf, schimpften über das Großkapital, das Ausland und die Juden. Sie riefen „Deutschland erwache“ und grölten ihre Lieder. Ein Gefreiter aus Österreich war ihr „Führer“. Deutschland sollte ein Zentralstaat werden; selbst Sachsen und auch die anderen deutschen Länder würden zu Provinzen degradiert. Diese „Nazis“ kamen Paulsen ungebildet, geschichtsvergessen und unkultiviert vor.

Als „Kaiserlicher“ verachtete Paulsen die „Nazis“ rundum. Was redeten sie da beispielsweise über die Juden? Paulsen erinnerte sich, dass viele von ihnen zu Kaisers Zeiten, als er noch „Hoflieferant“ war, seine Kunden waren und dabei zu den Besten gezählt hatten. Sie hatten gute Manieren, Geschmack und Geld. Aus der seinem Geschäft nahe gelegenen „Humboldt-Universität“ hatte er gehört, dass viele der besten Wissenschaftler Deutschlands Juden waren. Und die wollte man jetzt fortjagen?

„Armes Deutschland!“

Peter Paulsen war voller Groll und Frust.

Da erschien sein Bruder Paul. Er bekannte sich mit seinen ebenfalls 68 Jahren als glühender „Nazi“. Endlich täte sich etwas im Lande, und der „Führer“ würde durchgreifen. Dem Ausland, allen Schmarotzern und Arbeitsscheuen ginge es nun an den Kragen. Er – Paul – sei der „NSDAP“ beigetreten, denn es käme eine „neue Zeit“. Mit seinem Parteibeitritt im Jahre 1933 gehörte Paul Paulsen beileibe nicht zu den ursprünglichen „Alten Kämpfern“. Er war vielmehr einer der rund eineinhalb Millionen „Märzgefallenen“, die nach der „Machtergreifung“ in die „NSDAP“ strömten.1

Im Grunde war Paul ein Opportunist. Das „große Kapital“ – so dozierte der neue „Nazi“ - würde ab sofort nicht länger an die Juden und ihre Freunde verschachert, sondern die ehrlichen Deutschen bekämen es. Auch er – Paul – würde bald an Geld kommen. Bis es flösse, bäte er seinen Bruder um einen kleinen Kredit.

Bruder Peter war skeptisch. Er erklärte, Deutschland werde niemals die ganze Welt beherrschen, dazu sei es viel zu klein und „der Jude“ zu mächtig. Zwar habe man im „Versailler Vertrag“ das Vaterland „beschissen“ – das sei leider wahr, doch man müsse jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Mit Grölereien auf den Straßen erreiche man nichts.

Was den Kredit betreffe, so könne Peter nicht viel locker machen. Er habe ja schließlich das Haus gekauft: 500 Mark – höchstens – könne er als Kredit geben. Paul war einverstanden. Er werde das Geld mit „Zins und Zinseszins“ zurückzahlen, denn Deutschland würde bald die „ganze Welt“ beherrschen, und dann werde es allen „Volksgenossen“ besser gehen.

Er verschwand in Richtung Berlin.

Als Peter Paulsen 75 Jahre alt war, begannen die „Nazis“ mit dem Überfall auf Polen den 2. Weltkrieg. Nun war er froh, wegen seines vorgerückten Alters nicht in den Krieg zu müssen. Er hatte mittlerweile so viel von den Grauen des industriell geführten 1. Weltkrieges erfahren, dass ihm seine frühere Kriegsbegeisterung gründlich vergangen war.

Eines war für Paulsen zudem sicher: Auch dieser zweite Krieg würde verloren gehen. Ihn täuschten die Anfangssiege der deutschen „Wehrmacht“ nicht. Er sah sein geliebtes Vaterland auf dem Wege ins Verbrechen und in die Niederlage. Seine Welt blieb das Haus in Strausberg; sein Wohnzimmer war jetzt sein politischer Salon. Sein außerhäusliches Engagement beschränkte sich auf das wöchentliche „Mensch-Ärgre-Dich-Nicht“-Spiel mit dem Nachbarn.

Seine Ehefrau Erna allerdings setzte sich noch immer des Öfteren in die S-Bahn. Sie fuhr in die Friedrichstraße nach Berlin zu zusehends bescheidener werdenden Einkäufen.

 

1 S. Jürgen W. Falter (Hg.), Junge Kämpfer, alte Opportunisten. Die Mitglieder der NSDAP 1919 – 1945, Frankfurt/New York 2016.

Im Krieg

1939 bis 1949 waren Peter Paulsens Enkelsöhne Peter Schnabel und Friedrich Wurm praktisch und leider auch tatsächlich vaterlos. Marga Schnabel in Berlin-Spandau hatte ihren Angetrauten aus Pommern der nationalsozialistischen „Wehrmacht“ überlassen müssen und sein Schwager Herbert in Potsdam verließ seine Dorothea sowie ihren gemeinsamen Sohn und diente in einem anderen Land Europas ebenfalls der „Wehrmacht“. Der eine „lag“ im Westen, der andere im Osten des Kontinents. Schnabel war wohl in Frankreich oder in Belgien stationiert, Wurm in in Polen.

Gerne hätten Marga und Doro etwas über die Aufenthalte ihrer jeweiligen Ehemänner erfahren, doch die „Wehrmacht“ erlaubte keine genauen Nachrichten darüber. De Frauen hatten sogar ein gewisses Verständnis dafür, denn es war ja Krieg. Am Ende hatte Vater Schnabel diesen Krieg überlebt und konnte ein neues Leben beginnen, doch Vater Wurm fand den „Heldentod“, musste den Größenwahn der „Nazis“ mit dem Leben bezahlen.

Was sie im Kriege taten, blieb auch im Nachhinein unklar. Nach 1945 konnte man vor allem im Westen Deutschlands gelegentlich den Eindruck haben, die „Wehrmacht“ sein ein Club nobler Kämpfer in schicken Uniformen gewesen, dem der Erfolg nur deshalb versagt blieb, weil er verraten wurde. Doch die immer dichter werdenden Informationen darüber, wie sehr im Namen Deutschlands in Europa verbrecherisch gewütet worden war, weckten immer mehr Zweifel an der Richtigkeit des Bildes von der noblen „Wehrmacht“. Für all das, was Deutschland zwischen 1939 und 1945 in anderen Ländern angerichtet hatte, konnte nicht allein die „SS“ verantwortlich gewesen sein, wie es in manchen frühen Epen geschildert worden war.

Im „Feld“ hatten der alte Schnabel und Herbert Wurm sicher nicht nur Kameradschaft, Sport und Wettbewerb erlebt, sondern auch Drangsalierungen unterjochter Völker und Kämpfe auf Leben und Tod mit deren Soldaten. Sie erlebten das „Los von Muttern“ als Inferno. Den Müttern und Frauen aber waren nicht nur die Söhne und Männer genommen, ihnen war zudem ungefragt die „Heimatfront“ überlassen worden. So kümmerten sich Paulsens Töchter wohl oder übel um die Läden in Spandau und Potsdam.

Sie meinten, etwas bewahren zu können für ihre soldatischen Männer da draußen. Doch nur einer von zweien kam wieder, und der andere berichtete über den Krieg, als hätte er eine lange Urlaubsreise hinter sich.

Diese deutschen „Wehrmachtssoldaten“ hatten den Krieg entweder nicht überlebt, weil das Regime sie zu Kanonenfutter degradiert hatte, oder sie kamen so traumatisiert heim, dass die über die Wirklichkeit des Krieges nicht sprechen konnten. Dafür, was inzwischen an der „Heimatfront“ geschehen war, hatte sie ihr Kriegstrauma blind werden lassen.

1939 bis 1945, das waren nur sechs Jahre. In dieser Zeit hatten Deutsche überall in Europa gewütet. Die Väter Wurm und Schnabel waren daran beteiligt gewesen - ob gezwungenermaßen oder freiwillig, ist nicht nachzuvollziehen. Einer von beiden hatte dabei sein Leben lassen müssen. Vater Wurm war einer von mehreren Millionen Toten fast aller Völker Europas.

Aber es wütete nicht nur der bitterböse Krieg: In von Deutschen errichteten Vernichtungsstätten wurden abermals Millionen Menschen ermordet – aus rassistischen oder politischen Gründen.

Sechs Jahre nur hatte das Inferno gewährt. Danach war der Kontinent ein anderer, und das Deutschland, von dem alles ausgegangen war, gab es nicht mehr. Die Menschen fingen von vorne an, die im Westen auf ihre und die im Osten auf eine andere Weise.

Hüben und drüben schauten die Menschen nach vorne, und die Deutschen in West und Ost versuchten, das Vergangene zu ignorieren.

Doch das gelang ihnen nicht.

Panzersperren

In Berlin-Spandau, wo Peter Schnabel lebte, hatte es geendet und wieder angefangen mit „Panzersperren“ – den allerletzten Waffen der „Nazis“.

Die „Rote Armee“ der Sowjetunion wollte Berlin erobern. Um sie daran zu hindern, errichteten die Verteidiger auf den Hauptstraßen der Stadt Erdwälle, quer zum Fahrbahnverlauf. Diese nannten sie „Panzersperren“. Doch die Panzer der Sowjets fuhren durch die Wälle hindurch. Diese Sperren hatten den Verteidigern nicht genützt.

Dann waren sie da, die Eroberer. Die Alten unter den Geschlagenen berichteten Schauriges über Raub, Gewalt und Vergewaltigungen durch die Neuen, die Sieger.

Auf den Straßen herrschte Apokalypse: Oberleitungen der Straßenbahnen waren herabgefallen. Die gelben Waggons der einstigen „Elektrischen“ standen leer und funktionslos herum. In graue Uniformen gehüllte Männer – ehemalige Soldaten der „Wehrmacht“ - lagen tot auf den Straßen und Gehwegen, neben ihnen ihre Pferde mit aufgerissenen Augen – auch sie tot. Überall schwelten Mietshäuser.

Eines Tages jedoch wurden die sowjetischen Eroberer aus dem Osten gegen solche aus dem Westen – „Waffenbrüder“ aus den USA, Großbritannien und Frankreich getauscht. Im Stadtbezirk Berlin-Spandau warfen die neuen Soldaten aus dem Westen – es waren Briten - Apfelsinenschalen, Zigarettenschachteln und leere Kaugummiverpackungen fort. Diese Krieger wurden von den Kindern der Eroberten „Tommies“ genannt. Sie waren wie Halbgötter für die Berliner Kinder. Wessen Mutter sich einen von ihnen „geangelt“ hatte, stand bei den herumstreunenden Kindern ganz oben auf der Prestigeleiter, denn ihm waren Zigaretten, Apfelsinen, Kaugummis und Weißbrot zugänglich.

Ein Junge hatte sogar eine ganze „Stange“ herbeigeschmuggelt. Schnell fanden vier Berliner Schuljungen ein Versteck im Park und zündeten sich jeder „eine an“. Das schmeckte zwar nicht, aber es schien die weite, die richtige und gute Welt zu sein. Schon fühlten sich die Berliner Raucher der ganzen einheimischen Gesellschaft – all diesen Verlierern – meilenweit überlegen.

Es war unter Kindern beliebt, „Krieg“ zu spielen. Alle wollten „Amis“ oder wenigstens „Tommies“ sein und keiner „Deutscher“ - das waren ja die Verlierer. Wer in der Rolle als Opfer um der Echtheit der theatralischen Darstellung willen einen Arm im Jackenärmel versteckte und einen Kriegskrüppel mimte, wurde von älteren Landsleuten getadelt: „Das macht man nicht. So viele Männer haben im Krieg den Arm verloren!“

Häuserruinen waren übrigens Spielstätten - die Abenteuerspielplätze der Nachkriegszeit eben.

Auch Geld ließ sich machen: Eifrig sammelten die Gören Metall – das, was der Krieg in die Gegend gewirbelt hatte. Buntmetall war am begehrtesten. Schrotthändler nahmen es gerne ab – „Ah, reines Kupfer!“ oder „Oh, Messing!“ Frecher Weise bezahlten manche Schrotthändler einfach nicht. „Schufte!“, schimpften die betrogenen Kinder.

„Öffentliche Spielplätze“ mit Rutschen, Schaukeln, Buddelkisten und Pflege durch ein Bezirksamt kannte niemand. Auf die Fahrbahnen wurden mit weißer Kreide „Hopsen“ aufgemalt, oder die Straßen wurden zu Völkerballfeldern umfunktioniert: „Völker“ zu spielen war sehr beliebt. Autos kamen fast nie.

Manchmal wurde der spielende Nachwuchs von den in Kopftüchern und Schürzen gewandeten deutschen Müttern abkommandiert. „Geht ‘mal Milch holen!“, oder „Helft beim Teppichklopfen!“, oder: „Hier sind Kartoffelschalen, könnt Ihr gegen Brennholz eintauschen!“ Und: „Ich muss jetzt ins Waschhaus. Seid artig so lange!“

Diese Mütter waren in der Regel das ganze Elternhaus. Väter gab es zwar auch, aber die waren meist weit weg – in irgendwelchen Lagern für Kriegsgefangene. Manche Väter waren ja tot, andere „vermisst“. Die Mütter kannten sich mittlerweile aus auf dem „Schwarzen Markt“. Einer davon war auf dem Alexanderplatz, „Alex“ genannt. Sieger und Besiegte tauschten munter drauf los.

Der heimische Fotoapparat wurde gegen Zigarettenpackungen verscherbelt. Mit den Zigarettenpackungen fuhren die Mütter „aufs Land“ und hehlten bei Bauern – „Speck und Schinken haben die in ihren Schränken!“. Für die Zigaretten erhielten die Frauen Kohlrüben, Kartoffeln, Kohlköpfe und andere „Köstlichkeiten“. Sie selber nannten diese Art des Besorgens „Hamstern“.

Margarethe Schnabel - Peters Mutter - hatte zwar von ihrem Vater einen Laden in Spandau geerbt. Doch der ging immer schlechter, und so hatte sie ihn eines Tages verkaufen müssen. Das Talent zum Handeln war der Mutter immerhin geblieben. So war sie gut qualifiziert für das „Hamstern“ und den „Schwarzen Markt“.

Einmal legte Mutter Schnabel Zigarettenschachteln vom „Schwarzen Markt auf demAlex“ auf den Tisch in der kleinen Wohnstube, die sie vorübergehend bezogen hatten, nachdem sie „ausgebombt“ worden waren („Englische Flieger waren das!“). „Die habe ich Engländern abgeluchst!“, triumphierte Frau Schnabel stolz. Da lag die Beute - ein Zigarettenberg. Der aus Pommern vertriebene Großvater (ein treuer preußischer Untertan, jetzt ein Greis, der Berlin zuvor niemals gesehen hatte) staunte: „Wo haben die Deibels bloß die vielen Zigaretten her?“

Ungefährlich war es auf dem „Alex“ übrigens nicht, denn die Polizei („Polente“) veranstaltete regelmäßig „Razzien“. Da wurden die deutschen Schwarzhändler und -händlerinnen festgenommen und in Polizeiautos verfrachtet. „Ab mit der grüne Minna!“, hieß es. Im nahen Polizeipräsidium wurden die Festgenommenen erkennungsdienstlich behandelt, bevor sie wieder ihrer Wege gehen durften.

Die deutsche Polizei war nur eine Subautorität. Oberste Befehlshaber waren Männer in Siegeruniformen. Die Straße „Unter den Linden“ wurde „Ost-West-Achse“ genannt. Mutter Schnabel war dort mit ihrem Sohn Peter auf dem Wege von Spandau nach Strausberg unterwegs, da passierte es: Ein sowjetischer Soldat – „Ein Iwan!“ – ging auf die Mutter zu und sagte … nicht: „Frau komm mit!“, sondern: „Du: Straße fegen!“ Er reichte der Mutter einen Reisigbesen. So wurde die deutsche Soldatengattin und einstige Feinkosthändlerin Margarete Schnabel, Tochter eines kaiserlichen „Hoflieferanten“, zur sowjetischen Straßenfegerin auf der Allee „Unter den Linden“.

Überall lockten Ruinen die Straßenkinder an. Bröckelnde Mauern und Wände eigneten sich für die bei Jungen beliebten Kriegsspiele. Friedfertige Mädchen konnten an ehemaligen Wohnzimmerwänden ihre billigen Stoffpuppen lagern. Herumliegende Ziegelsteine eigneten sich zum Errichten fragiler Wände und Wälle. Brüchige Treppen forderten die Abenteuerlust heraus. Und immer wieder lag Altmetall herum – manchmal war sogar reines Kupfer dabei. Das beste aber: Einsehbar waren diese Ruinen nicht.

Angefangen hatte das alles mit den wirkungslosen „Panzersperren“.

 

 

Straßenbahn. Foto: Elke und Jürgen Dittberner

Kohlenklau

Bevor in Berlin die Panzersperren errichtet wurden, fuhren die „Elektrischen“ hin und her, standen die Mietshäuser ordentlich an den Straßenrändern. Drüben auf dem „Bürgersteig“ zog ein Trupp junger Kurzbehoster hinter einer Fahne, einer Trommel und einem „Führer“ her. Es waren „Pimpfe“. Peter Schnabel wäre gerne mit ihnen marschiert. Aber seine Mutter ließ ihn nicht.

Offene Lastwagen rumpelten durch die Straßen. Sie hatten Briketts geladen, und wer pfiffig war, rannte hinterher. – Vielleicht würden die LKW's etwas vom „schwarzen Gold“ verlieren.

Zwar gab es noch Straßenbahnen in der Stadt, aber einige ihrer Waggons waren jetzt im Kriegseinsatz. Sie rollten irgendwo an der Front herum und sollten dazu beitragen, dass „Großdeutschland“ bald über „die ganze Welt“ herrschen würde. Auch die wenigen Menschen, die ein Auto besaßen, mussten damit rechnen, dass ihre Gefährte für den Kriegsdienst eingezogen werden könnten. „Kriegswirtschaft“ nannte sich das: Alles war am Ziel des „Endsiegs“ ausgerichtet.

An den Häuserwänden standen Sprüche wie „Räder müssen rollen für den Sieg“ oder „Vorsicht: Kohlenklau!“ oder „Feind hört mit!“. Auch „Heil Hitler“ war zu lesen. Die Passanten waren in dicke dunkle Mäntel gehüllt. Es waren fast nur Kinder, Frauen und Alte. Die nicht so alten Männer „lagen im Feld“.

Gleich neben der Wohnsiedlung der Schnabels befand sich eine Kaserne. Die bestand aus mehreren roten Backsteingebäuden, in denen Soldaten untergebracht waren. Sie bewegten sich stets emsig auf dem Kasernenhof. Alle trugen Uniformen aus Stoffen dick wie Pferdedecken. Unterschiedliche Abzeichen ließen ihre Dienstgrade erkennen. Die Uniformierten „grüßten“ sich gegenseitig, indem sie die rechte Hand zu den Schirmen ihrer Mützen führten: Untere Dienstränge hatten oberen zuerst ihren Respekt zu bekunden.

Allenthalben war der „Großdeutsche Rundfunk“ zu hören. Fanfarenklänge ertönten, und Siegesmeldung auf Siegesmeldung wurde hinaustrompetet.

Doch dann heulten Sirenen auf. „Zivilisten“ eilten in angeblich schützende Räume – „Luftschutzkeller“ genannt. Es war wieder einmal „Fliegerangriff“. In Schwärmen tauchten bedrohliche Bomber am Horizont auf und ließen ihre tödliche Fracht auf die Häuser fallen. Manch ein „Zivilist“ musste dabei sein Leben lassen. Dann drehten die Bomber ab und hinterließen neben Toten brennende Häuser. Die Überlebenden krochen aus ihren Kellern, streckten sich und machten da weiter, wo sie gerade aufgehört hatten.

Mit ihren Männern „an der Front“ kommunizierten die jungen Frauen per „Feldpost“. Jeder Soldat hatte eine Feldpostnummer, an die zahllose Briefe aus der „Heimat“ gingen. Von der Front kamen ebenso viele Briefe zurück. Absender: Dienstgrad, Familienname, Feldpostnummer. So gerne hätten die Frauen gewusst, wo ihre Männer sich befanden. „In welcher Gegend bist Du, Geliebter?“ – „Hier sind Häuser, Bäume, und es wird gerade Frühling, Geliebte.“

In ihren Stuben raunten die verlassenen Frauen sich zu: