Episode Westberlin - Jürgen Dittberner - E-Book

Episode Westberlin E-Book

Jürgen Dittberner

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Beschreibung

Düstere und heitere Seiten des ehemaligen Westberlins werden aufgeschlagen. Während die Debatte im vereinten Deutschland sich überwiegend um „Ossis“ und „Wessis“ dreht, scheinen die ehemaligen „Westberliner“ in Vergessenheit zu geraten. Aber auch sie hatten einen eigenen Kosmos geschaffen. Stets war die Mauer präsent. Das war erschreckend und beruhigend zugleich. Erschreckend waren die Toten, Verletzten und Gescheiterten an der Grenze; beruhigend waren die kurzen Wege zu jedem gewünschten Ziel in der Halbstadt: Immer wieder tauchte die Mauer auf. Zitate gingen um den Globus: „Ihr Völker der Welt!“ – „Ich bin ein Berliner!“ – „Arm aber sexy.“ Sie alle hatten ihre Zeit und verloren bald wieder ihre Aktualität. Westberlin war eine Episode mit Transitstrecken, Transfers, Luftbrücke, M-Bahn, Alliierten, „APO“ und Freiheitsglocke. Für den „Osten“ waren das nur die westlichen Vororte von Berlin; für den Westen aber war es die Insel der Freiheit. Diese Insel wurde wieder Festland, zusammen mit der anderen Stadthälfte sogar Hauptstadt. Westberlin geriet in den Hintergrund. Aber es war mehr als nur „Goldkettchen und Trainingsanzüge“ und sollte in Erinnerung bleiben.

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

DAVOR Noch Krieg?

1. Bombenalarm

2. Versuchung

3. Nicht für Deutsche

DANACH Kriegsende

4. Aus

5. Hätte, hätte, Fahrradkette 1 (Das merkte später ein deutscher Kanzlerkandidat im Fernsehen in anderem Zusammenhang an.)

6. Aber so war es wirklich 1

7. Geografie oder Politik?

8. Ostberlin

Damals wars Westberlin

9. Blockade

10. Die Schnabels

11. Mitnahme

12. Eiserner Vorhang

13. Grenzerfahrungen

14. Die bequeme Mauer

15. Bundestagswahlen

16. Idyll

17. Seminarraum S 3

18. In den „Osten“

19. Hätte, hätte, Fahrradkette 2

20. Aber so war es wirklich 2

21. Karl

22. In der „Laube“

23. Arlington

24. Bevorratung

25. Hutschenreuther oder KPM?

26. Wie in Westdeutschland

27. Kriegsverbrechergefängnis

28. Ostgestank

29. Schwarzer Kanal

30. RIAS

31. Campus

32. Hätte, hätte, Fahrradkette 3

33. Aber so war es wirklich 3

34. Thomas Boden

35. Ende gut, alles gut?

36. APO

37. Flensburg

38. Amen

39. Kurras

40. Atze

41. Hätte, hätte, Fahrradkette 4

42. Polen

Auschwitz

Auschwitz lag in einem anderen Land. Vom deutschen Westen her war es nur mit Passierscheinen, Visa und dem Überschreiten zweier „Staatsgrenzen” erreichbar.

43. Die M-Bahn

44. Schöneberg

45. Westberliner Kosmos

46. „Waaahnsinn“

DAS EREIGNIS Die Vereinigung – Ein Prozess

47. 1989

48. Deutsche Oper Berlin

49. Scientology

50. Kiezpolizei

51. Tod einer Mutter und eines Babys

52. Gebietsreform

53. Krakau oder Kracauer?

54. Wessis und Ossis

55. Potsdam

56. Sachsenhausen

Vorbei

57. 2023

58. Träume und Schäume

59. Hätte, hätte, Fahrradkette 5

60. Aber so war es wirklich 5

61. Dinosaurier ohne Trauer

Vorwort

„Am 13. August, und keiner hat‘s gewusst!“

So schallte es 1961 höhnisch aus Ostberlin in den Westen. Die „DDR“ hatte die Mauer gebaut. Bis zum 9. November 1989 war Westberlin ab da ummauert – ein halbes Menschenleben lang! In dieser Zeit entwickelte sich in der Halbstadt ein eigenes Wertesystem und formte die meisten der etwa zwei Millionen, die darin wohnten. Sie wollten keine „Westdeutschen“ und schon gar keine „DDR-Bürger“ sein. Zwar lebten diese „Insulaner“ mit und gerne auch vom „Westen“, zahlten mit „D-Mark“ und kassierten Zuschüsse. Sie fühlten sich aber in erster Linie als gute Freunde in Paris, London oder Washington. „Westdeutschland“ war für sie Provinz. Sie meinten, in Deutschland etwas Besonderes zu sein.

An eine Wiedervereinigung Deutschlands glaubte in Westberlin kaum jemand. „Das machen wir nach der Vereinigung.“, lautete ein ironischer Spruch, wenn etwas an der Spree auf die lange Bank geschoben wurde – und das geschah ziemlich oft.

Da verkündete im November 1989 der „DDR“-Funktionär Günter Schabowski, dass die Mauer „…sofort, unverzüglich“ offen sei. Massen aus Ost und West überrannten daraufhin das plötzlich funktionslos gewordene Bauwerk. – Es war wie im Märchen: Der Kaiser hatte keine Kleider!

Es dauerte eine Weile, bis die Westberliner verinnerlichten, dass ihre Insel und ihr umgebendes Festland eins wurden. Ein gemeinsames Wertesystem entstand nach und nach. Als dies geschehen war, dominierten in der Öffentlichkeit „Ost-“ und „Westdeutschland“. Von den „neuen Bundesländern“ war die Rede und von der „alten Bundesrepublik“.

Westberlin schien in Vergessenheit zu geraten. Aber es hatte seine Menschen geprägt. Die erlebten gerade, wie ihre Stadt eine hippe Partymetropole werden wollte und wie ihr dabei das Geld ausging. Sie mussten erfahren, dass nicht einmal gutmütige Brandenburger mit ihnen zusammen in die Zukunft schreiten wollten.

Die kleine Westberliner Wurzel des vereinten Deutschlands sollte aber beachtet werden. Deren Suche nach Freiheit ist weiterhin aktuell.

Hoffentlich belegt dieses Buch das, und Westberlin wird nicht vergessen. – Ich danke meiner lieben Ehefrau Elke Dittberner für die Hilfe bei meiner Arbeit.

Berlin, 2023 Jürgen Dittberner

 

DAVORNoch Krieg?

 

1. Bombenalarm

Scheinbar geschützt und in Ruhe spielte der Fünfjährige in der Buddelkiste des Gartens hinter dem Wohnhaus. Das war ein dreistöckiges Mietshaus mit drei Aufgängen, und es stand an einer Ausfallstraße von Berlin nach Potsdam. Hier verbrachte der Knabe seine Tage, und mittags beorderte ihn seine Mutter – der Vater war „an der Front“ – vom Wohnzimmerfenster aus an den Tisch. Sofort nach dem Essen – Getränke gab es nicht – flitze der Junge wieder „nach unten“ zur Buddelkiste. Aus nassem Sand hatten er und seine Freunde eine Straße geformt, und danach sausten Spielzeugautos über die Piste. Das machte Spaß!

Da fuhr der Schreck den Kindern in die Glieder. Von den Dächern der umliegenden Häuser jaulten im sich ständig wiederholenden Rhythmus laut die Sirenen: „Bombenalarm“. Die Kinder wussten, was das bedeutete. Sie flohen panisch in einen Keller des Hauses. Das war der „Luftschutzbunker“. Kurz bevor auch er ins Haus rannte, sah der Knabe, wie von Westen her schwarze Bomberflugzeuge über den Horizont stiegen und bedrohlich angerückten. Angsteinflößend war das!

Im Keller kauerten sich alle – Alt und Jung – zusammen und bangten um ihr Leben. Manche beteten still vor sich hin. Da hörten sie das Dröhnen der Maschinen am Himmel, und plötzlich stürzten Kalk, Mörtel und Ziegelsteine auf sie herab, und die Erde schien zu beben.

Getroffen!

Der Einschlag schien eine Ewigkeit zu währen, dann lichtete sich der Staub langsam.

Ausgebombt!

Wie gelähmt saßen die Hausbewohner da. Stumm entfernten sie Staub und Dreck von ihren Körpern. Das war von oben auf sie herabgefallen. Da stöhnte einer: „Waren britische Brandbomben. Die wollten die Kasernen da nebenan treffen. Sind ja auch gleich hinter der Straße.“

Eine andere Stimme: „Oben unterm Dach brannte Licht.“

Dan entfuhr es einer Frau: „Der junge Mann da hinten ist tot.“

Stille.

Die Überlebenden schlichen an die Erdoberfläche. Sie sahen das schwarze Geschwader gegen Western fliegen. Schnell verschwand es hinter dem Horizont.

Im Mietshaus war Feuer. Kleine rote Flammen zündelten auf –‘mal hier, ‘mal dort.

Das Treppenhaus war noch begehbar. Die Mutter eilte in ihre Wohnung im 1. Stock. Die Möbel waren zerstört. Das Interieur war auf den Boden gestürzt und meist geborsten. Nur eine Porzellanfigur, ein Gitarre spielender Harlekin, lag heil zwischen dem Schutt.

Mutter, Sohn und Harlekin „übernachteten“ in der Mietswohnung einer Freundin irgendwo in der Innenstadt. Dort waren sie untergekommen.

Immerhin!

 

2. Versuchung

Noch immer hieß es: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“

Der nunmehr Sechsjährige ging mit seiner Mutter die Straße entlang. Da kam ihnen ein Trupp der „Hitlerjugend“ („HJ“) entgegen. Die Jungen waren kurzbehost, hatten ein „Fähnlein“ dabei, Musikanten ebenfalls, und sie marschierten zu flotter Musik.

Der Sechsjährige bettelte: „Da will ich hin!“ Doch die Mutter zerrte ihn: „Komm weiter!“

Zu Hause brachte der „Großdeutsche Rundfunk“ Nachrichten und berichtete von einer „Schlacht bei Budapest“. Die deutsche „Wehrmacht“ hätte einen großen Sieg errungen. Beim Großvater dann lief im verdunkelten Wohnzimmer der „Londoner Rundfunk“ und meldete, die Deutschen hätten eine vernichtende Niederlage erlitten.

Eine Tante aus dem „Bayerischen Viertel“ in Berlin hatte zuvor berichtet, in ihrem Mietshaus hätten sie wieder Juden „abgeholt“. Die Mutter gab der Tante ein Zeichen: „Nicht vor dem Jungen!“

 

3. Nicht für Deutsche

1945 war der Krieg formal zwar beendet, aber in den Herzen und Köpfen tobte er weiter. Kein Mensch kann von einem Moment auf den anderen aus einem „Gegner“ und „Feind“ einen „Verbündeten“ oder „Freund“ machen.

Ein Onkel des Sechsjährigen musste das am eigenen Leibe erleiden, denn er litt an „TBC“. – „TBC“, auf lateinisch „Tuberculosis“, war als „Schwindsucht“ bekannt und in Deutschland eine Nachkriegsplage.

In Bernau bei Berlin lag ein junger Mann in der vom Kochherd erwärmten Küche – die anderen Räume waren nicht geheizt – eines Siedlerhauses und litt an „Schwindsucht“. Er war leidend. Seine Eltern wussten, dass die „TBC“ – eine Infektion – ihn befallen hatte, und sie konnten ihm nicht helfen. Alle herkömmlichen Hausmittel – Bettruhe, Säfte, Obst, Wadenwickel – halfen nicht; die Krankheit schritt voran.

Mutter und Vater – sie ursprünglich aus Köln am Rhein, er aus Breslau in Schlesien stammend – hatten drei Kinder: Zwei Söhne und eine Tochter. Diese waren alle „erwachsen“. Der eine Sohn war in Kriegsgefangenschaft, die Tochter lebte mittlerweile in Hamburg, und der zweite Sohn lag da mit seiner Krankheit.

Diese galt als unheilbar – jedenfalls für die Eltern in Bernau bei Berlin. Wo der erste Sohn gefangen gehalten war, wussten sie nicht. Und von Hamburg nach Bernau zu reisen, war zu der Zeit unmöglich.

Der zweite Sohn, der Kranke, hatte die meisten Sorgen bereitet. Zwar gab es damals schon ein Medikament, das gegen die „TBC“ half. Aber das hatten die USA. Und die gaben es erst ´mal nicht weiter an Deutsche.

So wurde der junge Mann in Bernau immer hinfälliger, und schließlich starb er.

Später – längst war das Medikament gegen „TBC“ auch für Deutsche zugänglich – erfuhren die Eltern, dass die Besatzungsmacht es zunächst zurückgehalten hatte – als Strafe dafür, dass diese Deutschen einen fürchterlichen Krieg angefangen hatten.

Der junge Mann aus Bernau bei Berlin aber lebte nicht mehr.

 

DANACHKriegsende

 

4. Aus

1945 brach alles Organisatorische und Staatliche zusammen. Deutschland hatte den Weltkrieg verloren. Die Sowjetische Armee – die „Russen“ – standen vor der deutschen „Reichshauptstadt“.

Die Propaganda der nationalsozialistischen Herrscher hatte nicht aufgegeben. Spandau, der westlichste Bezirk von „Groß-Berlin“, war noch nicht eingenommen. Da behaupteten Reste des untergehenden Regimes, man könne „die Russen“ am Einmarsch in die Zitadellenstadt hindern, indem man auf der nach Spandau führenden „Heerstraße“ „Panzersperren“ errichte. „Panzersperren“, das waren quer zum Straßenverlauf aufgeschüttete Sandberge. Mit letzter Kraft wurden diese gebaut. Für einen winzigen Moment fühlte sich der westliche Rand Berlins vor den Fremden geschützt.

Da rollten die sowjetischen Panzer an und fuhren durch die gegen sie errichteten Sandberge wie durch Butter hindurch.

Die Nazi-Propaganda erlosch. Auch Spandau war eingenommen.

Aus Häuserzeilen entlang der einstigen Einkaufsstraßen wurden brennende Ruinen, Oberleitungen der einstigen „Elektrischen“ stürzten herab, auf den Straßen fuhren keine Autos mehr. Stattdessen lagen dort jetzt tote junge Soldaten in „Wehrmachts-“uniformen – neben ihnen ihren ebenfalls toten Pferde.

Fortan humpelten Einbeinige mit ihren Holzprothesen und Krücken durch den Bezirk. Auch Einarmige waren unterwegs. Sowjetische Militärlastwagen huschten vorbei. Sie hatten fröhliche junge Menschen „geladen“. Die lachten und winkten.

Eine junge deutsche Frau irrte umher. Da kam ein Sowjetsoldat – „ein Russe!“ – auf sie zu. Er drückte ihr einen Reisigbesen in die Hand und befahl: „Du Straße fegen!“

Sie fegte.

 

5. Hätte, hätte, Fahrradkette 1(Das merkte später ein deutscher Kanzlerkandidat im Fernsehen in anderem Zusammenhang an.1)

„Hätten“ die Alliierten nach 1945 – wie geschehen – nur Deutschland, nicht aber Berlin, aufgeteilt, wäre die alte Hauptstadt des besiegten Reiches als Ganzes der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen worden. Daraus „hätten“ sich wahrscheinlich – wie geschehen – zwei deutsche Staaten – die „Bundesrepublik Deutschland“ („BRD“) im Westen und die „Deutsche Demokratische Republik“ („DDR“) im Osten entwickelt.

Dann „hätte“ Deutschland – wie geschehen – zwei Hauptstädte gehabt: Bonn am Rhein im Westen und Berlin an der Spree im Osten. Neben Oder und Neiße wäre – wie geschehen – die Elbe zum Grenzfluss geworden.

Alles wie geschehen. Nur Westberlin „hätte“ es nicht gegeben. Präsident Kennedy „hätte“ sich nicht als „Biliener“ geoutet, und die „Volkskammer“ der „DDR“ „hätte“ womöglich im Reichstag ihren Sitz genommen, derweil mehrere „HO“s („Handelsorganisation“ der „DDR“) am Kurfürstendamm eröffnet „hätten“. Und der „Kurfürstendamm“ wäre sowieso umbenannt worden, vielleicht in „Liebknecht-Promenade“. Die Menschheit „hätten“ von der Existenz Ernst Reuters, Harald Juhnkes oder Paul Kuhns nichts erfahren. Ob Willy Brandt seine Karriere als Oberbürgermeister von Bonn gestartet „hätte“? Ganz sicher „hätte“ der Bundestag am Rhein ein schönes neues und teures Parlamentsgebäude errichtet, und der Architekt wäre vielleicht Renzo Piano gewesen. Der Flughafen „Köln/Bonn“ wäre in „Bonn/Köln“ umgetauft worden. „Hertha BSC“ in Berlin „hätte“ ebenfalls den Namen gewechselt – als „BFC Dynamo Charlottenburg“ „hätte“ der Club dafür weiterhin – mehr schlecht als recht im „Olympiastadion“ spielen dürfen. Über die „Friedensallee“ – früher „Heerstraße“ – „hätte“ man zu den Spielen fahren können.

Doch was wäre aus jenen geworden, die später und realiter in der Wolle gefärbte Freiheitsliebhaber Westberlins wurden? Sie wären vielleicht brave „DDR“-Bürgern geworden.

Der unten beschriebene Friedrich Schnabel „hätte“ in der Zeit zwischen Schule und Studium zur „Nationalen Volksarmee“ („NVA“) gemusst, um an der „Humboldt-Universität“ in der Straße „Unter den Linden“ Jura studieren zu können. Das „hätte“ er tun dürften, denn sein kleinbürgerliches Elternhaus entsprach den sozialstrukturellen Ansprüchen der „SED“-Führung. Als er das „Arbeiterkind“ Charlotte Mühsam ehelichte, „hätte“ er im Plattenbau eine 2 ½-Zimmer große Neubauwohnung in Berlin-Tiergarten zugewiesen bekommen. Dort „hätte“ das Ehepaar Schnabel lebenslang gewohnt.

Zum Jahrestag der Gründung der „DDR“ „hätte“ die „Freie Deutsche Jugend“ („FDJ“), deren Mitglied Schnabel gewesen wäre, ihn und viele andere Blauhemden2 zum Defilee vor der Ehrentribüne mit den Spitzen der „DDR“ – die meistens „SED“-Genossen waren – „verpflichtet“. Hinterher „hätte“ er vielleicht zusammen mit den anderen Junggenossen andachtsvoll das „Lied vom kleinen Trompeter“3 gesungen.

Das wäre die politische Realität gewesen: Nach dem 2. Weltkrieg„hätten“ sich zwei deutsche Staaten aus den ehemaligen Besatzungszonen der vier Sieger entwickelt. Irgendwann „hätten“ diese Staaten sachliche Beziehungen zueinander entwickelt. Global gehörten sie zwar verschiedenen „Blöcken“ an: Die zentralistische „DDR“ mit ihrer „Volksarmee“ dem „Ostblock“ und die föderalistische „BRD“ mit der „Bundeswehr“ dem „Westblock“. Ostdeutschland hätte sich ein wenig preußisch gefühlt – sozialistisch geläutert natürlich. Westdeutschland wäre stolz auf seine regionale Vielfalt gewesen. Der Nabel der Welt wäre für die „DDR“ Moskau, für die „BRD“ Washington geworden. Ost- und Westfernsehen und -Radio „hätte“ man überall empfangen können; die Schweiz und Österreich bereicherten zusätzlich das dargebotene Programm.

„DDR-Bürger“ sagten ihre politische Meinung zu Hause frank und frei, in der Öffentlichkeit dagegen lieber nicht. „BRD-Bürger“ hingegen hätten gelernt, ihre Meinung auch öffentlich zu äußern, denn ihr Staat wäre ja eine „Demokratie“.

Die Liebe zu Kleingärten wäre allen Deutschen geblieben: Die Sehnsuchtsorte im Osten wären die „Datschen“ geworden, und die Westler „hätten“ das „Laubenpieper“-Leben schätzen gelernt.

Die Deutschen in Ost und West „hätten“ sich spätestens ab dem Jahr 2000 an die zwei Staaten ihrer Nation gewöhnt. Anfangs hätte es noch Umzüge – meist von „Ost“ nach „West“ – gegeben. Allmählich jedoch hätte es sich bei Urlaubsreisen eingebürgert, dass Ostdeutsche mehr und mehr nach Bayern fuhren, und viele Westdeutsche es zunehmend in die Ostseebäder Ahlbeck, Heringsdorf oder Zinnowitz zog. Zwar wäre der Wohlstand in der „DDR“ nicht so ausgeprägt wie im deutschen Weststaat geworden, aber zu Essen und Trinken „hätten“ alle genug gehabt. Für ein „Bierchen“ „hätte“ es hüben und drüben immer noch gereicht.

Eine Fusion beider deutscher Staaten „hätte“ kaum jemand begehrt. Im Ausland wären sie froh gewesen, dass Deutschland nach dem Weltkrieg in die Weltordnung eingehegt gewesen wäre. Sowohl der Ostblock als auch der Westblock „hätten“ über ein Stück Deutschland verfügt, und das „hätte“ dem Frieden in der Welt gutgetan.

Alle „hätten“ Deutschland vielleicht sogar so sehr geliebt, dass sie es schön gefunden „hätten“, es nun zweimal zu haben!

Und Westberlin „hätte“ es nie gegeben!

„Hätte, hätte, Fahrradkette!“

 

1 SPD Kanzlerkandidat Peer Steinbrück in der „ARD“ am 12.4. 2013

2 Spitzname der „FDJ“-Mitglieder, anspielend auf ihre obligatorischen blauen Blusen

3 In der „DDR“ gepflegtes sentimentales Lied über eine Episode im 1. Weltkrieg. Der „kleine Trompeter“ starb im Feld, nachdem er noch Meldung gemacht hatte. Autor: Hannes Wader

6. Aber so war es wirklich 1

Liegt Potsdam bei Berlin oder Berlin bei Potsdam? War der Alte Fritz westlich an der Mühle bei Sanssouci zu Hause oder am Prachtboulevard weiter östlich? Führt die Glienicker Brücke über die Havel von Berlin nach Potsdam oder umgekehrt? Heißt der Ankunftsbahnhof in der Residenzstadt „Pirschheide“ oder „Hauptbahnhof“? Sind die „westdeutschen“ Studenten in Babelsberg eigentlich „hier in Berlin“ oder in „Brandenburg“? Fahren die Studies mit der S-Bahn oder mit dem ICC zur „Friedrichstraße“? Wo fährt es sich billiger und wo gar gratis?

Fragen über Fragen: Wie war es vor, wie nach 1945? Was geschah 1989? Liegt die Heilandskirche eigentlich noch in Brandenburg, oder gehört sie schon zu Berlin? War Westberlin ein Vorort von Potsdam, Berlin aber Hauptstadt? Residieren die Bürgermeister von Zehlendorf und Potsdam nebeneinander?

Die Politik dominierte fast fünfzig Jahre lang die Lage der Städte Potsdam und Berlin. Der Westen war im Osten und der Osten im Westen. Dann wurde Potsdam Landeshauptstadt eines der „Neuen“ Bundesländer Deutschlands, Westberlin und Ostberlin taten sich zusammen zur Stadt Berlin. Schließlich wurde das vereinigte Berlin sogar die Hauptstadt des ganzen Landes. Das im fernen Westen am Rhein gelegene Bonn musste zurück in die zweite Reihe. Sogar viele Potsdamer waren stolz, in der „Hauptstadtregion“ Deutschlands zu leben. Aber vereinigen mit Berlin wollten sie sich lieber nicht: Die Hauptstadt schien zu viele Schulden zu haben.

„Berlin-Brandenburg“ blieb ein Traum. Seitdem residiert ein Landtag an der Havel westlich von Berlin, der Bundestag jedoch an der Spree östlich von Potsdam. Noch weiter östlich tagt im „Roten Rathaus“ das „Abgeordnetenhaus“ – praktisch der Landtag von Berlin. Weiter dahinter liegen Frankfurt an der Oder und Polen, wesentlich weiter westlich hingegen Magdeburg, Hannover, Köln am Rhein und Frankreich.

Der Status des Kriegsverlierers Deutschland wurde nach 1945 von den Siegermächten nicht am Rhein, sondern in Brandenburg besprochen. Das geschah nicht an der Spree, sondern an der Havel – in Potsdam nämlich. Bei der „Potsdamer Konferenz“ trafen sich die damals Großen der Welt. Sie waren Herren über Deutschland, nahmen ihm seine Ostgebiete ab, teilten den Rest des Landes in „Zonen“ ein – nicht ohne obendrein das einstige Großberlin in Sektoren zu zerlegen und damit den Samen zu säen für das spätere Westberlin.

Zuvor – im März 1933 war der „Tag von Potsdam“. Am 21. dieses Monats verneigte sich der eben gewählte Reichskanzler Adolf Hitler in der Garnisonkirche zu Potsdam vor dem betagten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Der Präsident trug Pickelhaube und eine ordensübersäte Uniform. Der neue Kanzler war – sorgfältig gescheitelt – in Zivil erschienen. Die „Machtergreifung“ der „NSDAP“ in Deutschland begann an diesem Ort.

Vom 17. Juli 1945 bis zum 2. August desselben Jahres dann trafen sich – wieder in Potsdam und diesmal im „Schloss Cecilienhof“ – US-Präsident Harry S. Truman, der sowjetische Generalissimus Josef Stalin und der britische Premierminister Clement Attlee als Repräsentanten der Siegermächte über Deutschland. Stalin trug eine helle Uniformjacke; die beiden anderen Herren waren zivil gekleidet. Das war die „Konferenz von Potsdam“.

Bilder aus Potsdam bei Berlin gingen um die Welt.

Wer später – nach der Vereinigung Deutschlands – in der alten und neuen Hauptstadt Deutschlands weilte und einen Ausflug ins „Brandenburgische“ und in die Landeshauptstadt Potsdam machen wollte, konnte von Osten her Richtung Westen mit der S-Bahn von Berlin-Westkreuz aus über die Stationen Grunewald, Wannsee, Griebnitzsee und Babelsberg fahren oder mit dem Auto über die „AVUS“ in die gleiche Richtung: Potsdam war zwar zu „DDR“-Zeiten „Osten“, lag aber auf allen Landkarten stets westlich von Berlin.

Die Geografie hatte die Politik überlebt.

 

7. Geografie oder Politik?

Formal war Berlin noch eine Stadt, aber dass der Ostteil sich zur „Hauptstadt“, der allmählich heranwachsenden „DDR“ mauserte und der Westteil sich als „Westberlin“ zu entwickeln begann, war unübersehbar.

Wo die aus dem Süden kommende Spree in die vom Norden her fließende Havel mündet, hatte die Politik die Geografie ausgetrickst und neu definiert. „Osten“ stand jetzt für „sowjetisch“, „unfrei“, Russland, realen Kommunismus und materiellen Mangel. „Westen“ dagegen war das Synonym für „demokratisch“, „frei“, Amerika-England-Frankreich, Kapitalismus und Wohlstand.

Im Sprachgebrauch siegte die Politik über die Geografie: Sogar im Ortsteil Staaken von Berlin-Spandau wiederholte sich das, denn „Oststaaken“ blieb nach dem Willen der Sieger des Zweiten Weltkrieges bei Spandau, während Weststaaken in die „DDR“ abwanderte. Dafür durfte das weiter östlich in Berlin-Charlottenburg gelegene „Haus des Rundfunks“ im Westen sein.

Wahnsinn bürgerte sich ein.

Wer später als Westberliner in den Osten nach Potsdam wollte, besorgte sich einen „Passierschein“ aus dem Osten, der in einer ostverwalteten „Passierscheinstelle“ in Westberlin ausgehändigt wurde. Für ein paar Stunden dufte der Westberliner dann rein in den Osten. Er fuhr dazu nach Richtung Westen in den Osten nach Potsdam, wo er feststellen konnten, dass die einst glorreiche Residenzstadt über kein Stadtschloss mehr verfügte: Der „Osten“ hatte es abgerissen.

Wollte dagegen ein Ostberliner in die Havelstadt Potsdam, setzte er sich am besten im Bahnhof Alexanderplatz in die S-Bahn und fuhr westwärts nach „Potsdam Pirschheide“. Neben Wildtieren und einem Wald war er am Rande der einstigen Preußenmetropole angelangt und hatte dazu den Westteil seiner eigenen Stadt umfahren. Um danach in die „City“ Potsdams zu kommen, musste er noch eine kurze Strecke mit einem anderen Verkehrsmittel Richtung Osten fahren:

Aber nicht zu weit, denn da war auf der „Glienicker Brücke“ die Grenze nach Westberlin!

 

8. Ostberlin

Der „Tränenpalast“ in Ostberlin, am Bahnhof Friedrichstraße, war einst für „Einreisende“ aus dem politischen Westen das Tor in die Welt des real existierenden Sozialismus. Uniformierte des „Arbeiter- und Bauernstaates“ saßen in einem Anbau am alten Verkehrsknotenpunkt und erteilten „Visa“, die zum zeitlich begrenzten Aufenthalt im „Osten“ berechtigten. Die meisten Antragsteller kamen aus dem nahen „Westen“ – also aus Westberlin. Viele aber waren auch aus dem ferneren Westen angereist – aus der in der „DDR“ „BRD“ genannten Bundesrepublik, zu der die Berliner „Westdeutschland“ sagten. Die „DDR“-Bediensteten stießen immer wieder auf Schwierigkeiten. So hallte es einmal durch den Saal: „Hier ist ein ´BRD-Kind` mit einer ´WB-Mutter`!“ Zu derartigen Problemen führte die Tatsache, dass Westberlin später eine „selbständige politische Einheit“ sein sollte, Westgeld und Westgesetze hatte, aber trotzdem nicht zur „BRD“ gehörte.

In Nachbarschaft zum Tränenpalast lag der Friedrichstadtpalast. Man musste über die „Weidendamer Brücke“ – deren Mitte vom „preußischen Ikarus“ verziert ist – spazieren, danach die Friedrichstraße queren, und schon kam man in den weltberühmten Musentempel, als dessen Spezialität die langen Beine von in Reih und Glied tanzenden „Girls“ – pardon: „jungen Damen“ aus der „DDR“ – galten. Das hier – da waren sich alle Kritiker einig – war das zweitbeste Varieté der Welt nach Las Vegas in den USA. Nur befand sich der Friedrichstadtpalast im Zentrum der kommenden „Hauptstadt der DDR“ – also im Osten, und Las Vegas weit im West – im verhassten Amerika. Wer in Köln wohnte, lange Mädchenbeine mochte und wenig Geld hatte, reiste nicht über den Atlantik nach Westen, sondern lüftete lieber im Osten den „Eisernen Vorhang“, um sich in einer angehenden Hauptstadt des an sich ungeliebten Sowjetimperiums wie Bolle zu vergnügen. Der „Alte Fritz“, der hier einst herrschte, wäre wohl schnell westwärts nach „Sanssouci“ geflohen und hätte dort ein Flötenkonzert gegeben.

Wollte dagegen zu „DDR“-Zeiten einer aus Westberlin in offiziellem Auftrag nach Warschau reisen, so setzte er sich ins Flugzeug nicht Richtung Osten, sondern er flog nach Frankfurt am Main in den Westen, um dort eine Maschine nach Warschau zu besteigen: Sollen die im sozialistischen Polen ruhig sehen, wohin Westberlin tatsächlich gehörte!

„Ost“ und „West“ waren eben wichtiger als Ost und West.

 

Damals warsWestberlin

 

9. Blockade

Die „Blockade“1