Der vergessene Maestro - Rainer Bunz - E-Book

Der vergessene Maestro E-Book

Rainer Bunz

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Beschreibung

Eine Wiederentdeckung, zugleich die längst überfällige Würdigung eines zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Dirigenten – die erste Biographie Frieder Weissmanns entwirft das faszinierende Porträt eines außergewöhnlichen Menschen und Musikers und erzählt eine berührende deutsch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert. Der in Frankfurt a. M. aufgewachsene jüdische Kantorensohn Frieder Weissmann (1893-1984) war in den „Goldenen Zwanzigern“ des vorigen Jahrhunderts einer der bedeutendsten deutschen Dirigenten der jüngeren Generation. Er arbeitete mit allen großen Stars aus Oper und Konzert zusammen und war ein Markenzeichen des damals größten europäischen Schallplattenkonzerns. 1933 von den Nazis zur Emigration gezwungen, gelang Frieder Weissmann im europäischen Ausland, in Süd- und Nordamerika eine zweite Karriere. Noch bis in die 1970er Jahre war er dort ein gesuchter Orchestererzieher und Gastdirigent. In seiner deutschen Heimat blieb der im „Dritten Reich“ verfemte Dirigent nach 1945 weiter vergessen und für die Medien, die Musikwissenschaft und die Exilforschung bis heute ein unbeschriebenes Blatt. In jahrelanger Arbeit rekonstruierte der Autor die Biographie des verkannten Dirigenten Frieder Weissmann. Das gründlich recherchierte Buch entreißt das bewegte Schicksal des Künstlers, dessen Leben fast ein ganzes Jahrhundert umspannte, der Vergessenheit und erhellt ein bislang unbekanntes Kapitel deutscher Musik- und Exilgeschichte.

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Buch

Friedet Weissmann (1893-1984) war in den „Goldenen Zwanzigern“ und Anfang der dreißiger Jahre ein bedeutender deutscher Dirigent, bis ihn die Nazis zur Emigration zwangen. Während er danach in Deutschland in Vergessenheit geriet, konnte er seine Karriere als Orchestererzieher und Gastdirigent in den Niederlanden, in Süd- und Nordamerika, nach 1950 auch in Ländern wie Kuba und Italien erfolgreich fortsetzen. Aktiv als Dirigent noch im neunten Lebensjahrzehnt, verkörpert Frieder Weissmann eine ganze Epoche. Er arbeitete auf drei Kontinenten mit den seinerzeit größten Stars aus Oper und Konzert zusammen und war ein Zeitzeuge, dessen wechselvolles Schicksal nicht zuletzt deswegen im kollektiven Gedächtnis festgehalten zu werden verdient, weil es eine berührende deutsch-jüdische Geschichte erzählt. Vor dem Hintergrund der Wirrnisse und Katastrophen des vorigen Jahrhunderts entwirft Rainer Bunz das faszinierende Porträt eines außergewöhnlichen Menschen und Musikers. Sein gründlich recherchiertes, in jahrelanger Arbeit entstandenes Buch ist die erste Biographie des zu Unrecht vergessenen Maestros Frieder Weissmann.

Autor

Rainer Bunz, Jahrgang 1944, studierte Germanistik, Anglistik und Amerikanistik in München, Tübingen und Medford, Mass., USA. Nach beruflichen Stationen im deutsch-amerikanischen Kulturaustausch und in der evangelischen Publizistik wechselte er 1980 zum Ersten Deutschen Fernsehen (ARD) und war dort dreißig Jahre lang als Spielfilmredakteur tätig, zuständig u. a. für die erfolgreichen Verfilmungen von Henning Mankells Wallander-Krimis mit Krister Henriksson und Kenneth Branagh. Als Autor ist Rainer Bunz in jüngerer Zeit vor allem mit historischen Veröffentlichungen hervorgetreten.

Mit 95 Abbildungen.

„Als Künstler befindet sich der Dirigent in einer bevorzugten Position. Er verfügt über ein Orchester, das ihn kennt und mit ihm in endlosen Proben bereits alle emotionalen Höhen und Tiefen des aufzuführenden Werks durchlitten hat. Aber wie ein Bumerang kann sich auch das Orchester vom harmlosen Instrument zum Mordwerkzeug verwandeln. Bisweilen, wenn auch nur kurz, lässt sich das Publikum täuschen – ein Orchester aber niemals! Ein erfahrener Musiker eines der großen Orchester der Welt sagte einmal: ‚Bereits nach dem ersten Auftakt, wenn er nur den Dirigentenstab hochhebt, wissen wir schon, wer der Dirigent ist und ob wir auf seiner Seite sind.‘ Und falls nicht, wird der Dirigent immer verlieren. Aber wenn das Orchester mit dem Dirigenten mitgeht, dann kann er sich wie ein Mann in einer glücklichen Ehe fühlen, wo sich beide Partner ohne viel Getue verstehen, sich gegenseitig respektieren und immer gemeinsam bestrebt sind, alles zu einem guten Ende zu bringen.“

Frieder Weissmann

Für M. und S.

Inhalt

V

ORWORT

1. K

APITEL

: S

EMY

1893-1916

Herkunft und Kindheit

Schuljahre 1899-1911

Lehrjahre 1911-1916

2. K

APITEL

: D

EBÜT

1916-1920

Am Stettiner Stadttheater

Konzertkapellmeister und Komponist

3. K

APITEL

: B

EWÄHRUNG

1921-1925

Berliner Staatsoper 1921-24

Schallplatten: Die große Chance

In der westfälischen Provinz

4. K

APITEL

: G

LÜCK 1925-1929

Macht des Schicksals

Im Aufwind

Im Mikrophon-Zeitalter

Im Florenz an der Elbe

Im Lindström-Studio 1927-29

„Wir können auf diesen Kapellmeister stolz sein!“

Tod und Verklärung

5. K

APITEL

: E

RFOLG

1930-1933

Nach dem Börsenkrach

Radio- und Konzertdirigent

Schwierige Zeiten

Unter Furtwängler

6. K

APITEL

: T

RANSIT

1933-1939

Zu Gast in den Niederlanden

Zwischen Europa und Argentinien

Aufbruch zu neuen Ufern

Zwischen USA und Europa

7. K

APITEL

: A

MERIKA

1939-1958

Vor Pearl Harbor 1939-1941

„Homefront“ 1941-1945

Nachkriegsjahre

Musik für alte Geigen und junge Leute

Karibikträume

Ende mit Dende

8. K

APITEL

: E

UROPA

1953-1984

Hinwendung nach Europa

Alla Tzigane

Finale

A

NHANG

Anmerkungen

Quellen

Diskographie

Danksagung

Bildnachweis

Personenverzeichnis

VORWORT

Eine Biographie mit weit über vierhundert Seiten über einen Dirigenten, den heute fast niemand mehr kennt – ist das nicht ein bisschen zu viel des Guten? Wenn sein Schaffen es nicht verdiente und sein Leben mausgrau und alltäglich geblieben wäre, gewiss. Aber beides trifft bei Frieder Weissmann nicht zu. Während der Weimarer Republik war er einer der bekanntesten jüngeren deutschen Dirigenten. Erfolgreich als Opern- und Konzertdirigent, leitete er viel beachtete Konzerte der Dresdner Philharmoniker, des Berliner Sinfonie-Orchesters und der Berliner Philharmoniker. Als „Hausdirigent“ der Berliner Lindström AG war er ein Markenzeichen des damals größten Schallplattenkonzerns in Europa und – lange vor seiner ersten Auslandsreise – eine in der Musikwelt international anerkannte Größe. Er war ein Schallplattenpionier und seinerzeit im Bereich der E-Musik wohl der produktivste Schallplatten-Dirigent Deutschlands. Er wagte viele Schallplattenpremieren, u. a. die erste Gesamtaufnahme aller Beethoven-Sinfonien, und arbeitete bis 1933 mit allen großen Stars von Oper und Konzert zusammen, hießen sie Lotte Lehmann, Meta Seinemeyer, Lauritz Melchior, Richard Tauber, Josef Schmidt, Emanuel Feuermann, Josef Wolfsthal oder Moriz Rosenthal.

Die Machtübernahme der Nazis setzte seiner Karriere in Deutschland ein jähes Ende. Dank internationaler Bekanntheit und gut funktionierender Kontakte ins Ausland gelang ihm – im Unterschied zu manch anderen Musiker-Emigranten – relativ leicht in der Fremde eine zweite erfolgreiche Karriere als Dirigent und Orchestererzieher, zunächst in Holland und Argentinien, später auch in Nord- und Lateinamerika. Aber auch da legte ihm die Politik wiederholt Steine in den Weg: 1939 wurde er infolge des Kriegsausbruchs von seinen Wirkungsstätten in den Niederlanden und Argentinien abgeschnitten, 1953 führte das Regime des kubanischen Diktators Batista zur Trennung von seinem Orchester in Havanna. Trotz vieler Widerstände, nicht zuletzt auch von mächtigen US-Künstleragenten, behauptete sich Frieder Weissmann im Musik-Business und war noch im neunten Lebensjahrzehnt als Dirigent aktiv.

Die Lebensleistung Frieder Weissmanns, der mit weit über 2.000 zwischen 1921 und 1950 eingespielten Schallplatten und zahlreichen Rundfunkaufnahmen ein umfangreiches Oeuvre wie nur wenige Dirigenten hinterließ, ist in der Tat beachtlich und verdient auch heute noch Interesse. Darüber hinaus verkörperte er eine ganze Epoche. Musikalisch schlug sein Leben eine Brücke von der Spätromantik zur Seriellen Musik, von der Operette bis zum Jazz und der Beatund Popmusik der 1980er Jahre. Mediengeschichtlich durchmaß er eine Strecke, die von der frühen Tonaufzeichnung mit Schalltrichter bis zur digitalen Bild- und Tontechnik reichte und in deren Verlauf das Kino, der Rundfunk und das Fernsehen entstanden und zu dominierenden Massenmedien wurden. Er war ein Zeitzeuge, der in seinem wechselvollen Leben auf drei Kontinenten hautnah die Wirrnisse und Katastrophen des 20. Jahrhundert erlebte. Er überstand zwei Weltkriege, Hungerjahre, Revolutionszeiten, wurde vom Trubel der gar nicht so „Goldenen Zwanziger“ mitgerissen und vom Niedergang der Weimarer Republik enttäuscht. Hinzu kamen private Schicksalsschläge: der Soldatentod seines geliebten Bruders 1917, der frühe Tod der legendären Sängerin Meta Seinemeyer 1929, seiner großen Liebe und ersten Ehefrau, der Tod des Vaters wenige Wochen nach den Novemberpogromen von 1938, die Ermordung der Mutter in Auschwitz 1942, der überraschende Tod seiner zweiten Ehefrau Rosa Edna Chevallier-Boutell 1980.

Musikalisch geprägt wurde Weissmann vom 19. Jahrhundert, insbesondere von der Musik der Hoch- und Spätromantik. Deren Komponisten waren für ihn keine entrückten Klassiker, sondern Schöpfer von Gegenwartsmusik. Bei seiner Geburt war Richard Wagner erst zehn Jahre tot, dessen italienischer Antipode Giuseppe Verdi (1813-1901) lebte noch und präsentierte seine letzte Oper FALSTAFF. Johannes Brahms (1833-1897) und Anton Bruckner (1824-1896), die großen Sinfoniker der Romantik, kosteten den verdienten Ruhm aus, den ihr in diesem Jahr verstorbener russischer Kollege Peter I. Tschaikowsky (1840-1893) sich mit einer in wenigen Wochen kurz vor seinem Tod komponierten „PATHÉTIQUE“-Sinfonie zwar für immer sichern konnte, aber nicht mehr genießen durfte. Gustav Mahler (1860-1911) und Richard Strauss (1864-1949) waren lebende Vorbilder, die zu Fixsternen an Weissmanns musikalischem Himmel wurden. Sie markieren auch Leuchtpunkte in seiner Dirigentenkarriere, deren Anfänge alles andere als einfach waren. Der Vater, der für seinen Sohn einen anderen Beruf vorgesehen hatte, leistete jahrelang hinhaltenden Widerstand, und Teile der Presse reagierten auf seine ersten öffentlichen Auftritte als Dirigent und Komponist mit so ätzender Missbilligung, dass jeder andere Aspirant mit weniger Selbstbewusstsein aufgegeben hätte und für immer traumatisiert gewesen wäre.

Neben der Musik war für Weissmann der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anschwellende Antisemitismus, zu dessen Stimmungsmachern fatalerweise Richard Wagner zählte, von schicksalhafter Bedeutung. In seinem Geburtsjahr zog erstmals eine dezidiert antisemitische Partei in den Reichstag ein, die den Boden für Verhältnisse vorbereitete, die Weissmann vierzig Jahre später zur Aufgabe seiner Existenz in Deutschland zwangen. Schon vorher hatte er immer wieder antisemitische Ressentiments, Anfeindungen und Behinderungen erlebt, z. B. von den Behörden, die ihm, obwohl er gebürtiger Hesse war, einen deutschen Pass bis zu seinem siebenunddreißigsten Lebensjahr vorenthielten – und den er schon fünf Jahre später leichten Herzens gegen einen argentinischen Pass eintauschte, nachdem die Nazis die Nürnberger Rassengesetze erlassen hatten.

Zweifellos haben die Brüche in Weissmanns Karriere, sein unstetes Leben auf drei Kontinenten und in verschiedensten Sprachräumen dazu beigetragen, dass ihn die Medien, aber auch die Musikwissenschaft und die Exilforschung aus dem Blick verloren haben und ihm der verdiente Nachruhm nicht zuteil wurde. In Deutschland kam das Totschweigen durch die Nazis hinzu, das mitverantwortlich dafür war, dass ihm dort ein Comeback nach dem Krieg nicht gelang. Bis heute hat sich an der Missachtung von deutscher Seite kaum etwas geändert – was aktuell zwei wissenschaftliche Publikationen leider belegen. Die Berliner Dissertation (Lange, Peter. 2015. Ein amerikanischer Europäer: Die zwei Leben des Dirigenten Hans Schwieger. Berlin: Metropol-Verlag) über den ebenfalls hierzulande vergessenen, 1938 in die USA geflüchteten Dirigenten Hans Schwieger ist zweifellos verdienstvoll und ambitioniert, allein ihre Angaben zur Person Frieder Weissmanns, dessen Lebensweg wiederholt Schwiegers Laufbahn kreuzte, sind meistens falsch oder unvollständig, weil sie allein auf einer völlig überholten amerikanischen Quelle von 1957 basieren. Auch die Verdienste des via Internet vom Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg veröffentlichten „Lexikons verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit“ stehen außer Frage, doch ist der im September 2015 veröffentlichte und mit dürftigsten Personen- und Literaturangaben versehene Eintrag zu Frieder Weissmann absolut unzureichend, zudem auch fehlerhaft. So wird ihm die Berufsbezeichnung „Jurist“ angedichtet, obwohl er nie über ein einziges Semester Jurastudium hinausgekommen war. Darüber hinaus wird auch die Verbindung zu seinem – ebenfalls mit einem Kurzeintrag vertretenen – Vater Ignatz Isidor Weissmann unterschlagen.

Um dem Mangel einer dringend erforderlichen Biographie Frieder Weissmanns abzuhelfen, ist dieses Buch entstanden. Bis vor vier Jahren war auch mir sein Name völlig unbekannt. Folglich habe ich Frieder Weissmann auch nie kennengelernt, noch jemals vorher ein Konzert besucht, bei dem er dirigierte, oder Schallplatten gehört, die unter seiner musikalischen Leitung entstanden waren. Die Tatsache, dass er in der hessischen Stadt Langen auf die Welt kam, in der ich selbst mehr als zwanzig Jahre lang gewohnt und während dieser Zeit nie etwas von ihm gehört oder gelesen hatte, war für mich der Anlass, mich mit seiner Person näher zu beschäftigen. Nach Vortragstätigkeit und einem einstündigen, im Januar 2013 im Programm Bayern Klassik ausgestrahlten Radioessay über Frieder Weissmann reifte mein Entschluss, sein Leben und Werk mit einer ausführlichen Biographie zu würdigen.

Dass es ein schwieriges Vorhaben werden würde, ahnte ich, aber hätte ich von vornherein gewusst, welche Schwierigkeiten mich tatsächlich erwarteten, hätte ich es vielleicht doch nicht in Angriff genommen. Eine Biographie über einen Menschen zu schreiben, der ein so wechselvolles Leben in verschiedensten Sprachräumen auf drei Kontinenten führte, ist schon aufgrund der sich dabei ergebenden geographischen und sprachlichen Hindernisse keine einfache Sache. Erschwert wird sie noch dadurch, dass Weissmann nur wenig hinterlassen hat, um Biographen die Arbeit zu erleichtern. Bedingt durch die Flucht 1933, die Schiffskatastrophe 1934, den Weggang von Buenos Aires 1937 und die Aufgabe des USA-Wohnsitzes 1981 ist fast alles aus der Zeit vor 1934 und das meiste, was er danach besessen, komponiert, aufgezeichnet, gesammelt und dokumentiert hatte, verloren gegangen.

Geblieben ist ein schmaler Nachlass, der für die detaillierte Rekonstruktion seines Lebens oftmals kaum ergiebig ist. Tagebücher oder andere private Aufzeichnungen über sein Leben sind darin nicht zu finden. Enthalten sind eine kleine Fotosammlung, zwei Adressbücher, mehrere Pässe und nicht sehr viele Briefe, darunter eine Handvoll, die von den Eltern stammen, und ein kleines Bündel, geschrieben im heißen Sommer 1948, von seiner zweiten Frau. Ferner stößt man auf ein paar Interviews, z. T. auf CD festgehalten, bei denen sich Weissmann, wohl gewitzt durch frühe, nicht immer positive Erfahrungen mit den Medien, als ein sehr vorsichtiger Gesprächspartner erweist, der Interviewern nur selten Einblick in sein Privatleben gibt.

All diese Umstände und dazu noch eine in Bezug auf seine Person kaum existierende Sekundärliteratur erforderten eine jahrelange intensive Recherchearbeit in Archiven, Bibliotheken, im Internet, bei Arbeitgebern, Fachleuten und Weggefährten Weissmanns bzw. deren Nachkommen. Da das Projekt allein meiner Initiative entsprang und ohne finanzielle Förderung auskommen musste, blieben Vor-Ort-Recherchen aus Kostengründen auf Deutschland beschränkt. Dank eines mittlerweile vielfältigen digitalen Angebots konnte überraschend oft auf ausländische Zeitungen und Zeitschriften über das Internet zugegriffen werden, das niederländische Webportal „Delpher“ (http://www.delpher.nl/) muss man hier als vorbildlich sowohl hinsichtlich des Angebots als auch der Aufbereitung und Handhabung bezeichnen.

Mit dem bei den Nachforschungen zutage geförderten Material ließen sich viele, aber leider nicht alle biographischen Lücken mit wohl begründetem Material schließen. Nicht selten blieb mir dann nur der Ausweg der Vermutung, der sich durch Worte wie „vermutlich“, „wohl“, „anscheinend“ ankündigt. Sollten Leserinnen und Leser bessere Kenntnis über manche noch dunkel gebliebene Stellen in Weissmanns Biographie haben oder sonstigen Korrekturbedarf feststellen, wäre ich für entsprechende Hinweise dankbar.

Rainer Bunz

im Januar 2016

KAPITEL 1

Semy 1893-1916

Semy Weissmann im Alter von einem Jahr; rechts seine Geburtstagstasse.

Herkunft und Kindheit

Über seine Herkunft sprach er nur ungern. Wenn die Rede doch darauf kam, konnte der sonst stets Höfliche durchaus ungemütlich werden. Eine amerikanische Lokalreporterin sollte dies im Jahre 1968 zu spüren bekommen, als sie ein Interview mit dem damals 75jährigen Dirigenten damit beginnen wollte, dass sie nach seinem Geburtsort fragte. „Das interessiert doch niemand,“ fauchte er, „wo ich geboren wurde, hat absolut keine Bedeutung!“1

Im Grunde hatte er recht, denn von der hessischen Kleinstadt Langen, in der Frieder Weissmann am 23. Januar 1893 das Licht der Welt erblickte, dürfte wohl kaum ein Leser des im US-Staat Connecticut beheimateten Lokalblatts je gehört haben. Ganz abgesehen davon, dass er selbst von dem südlich von Frankfurt am Main auf halber Strecke nach Darmstadt gelegenen Geburtsort Langen nur eine vage Vorstellung hatte. Denn von der Stadt, die heute rund 37.000 Einwohner hat, damals aber nur 4.500 meist evangelische Bewohner zählte, dürfte er nicht mehr wahrgenommen haben, als ihm die Perspektive aus der Kinderwiege ermöglichte. Im November 1894, kaum dass er auf beiden Beinen stehen konnte, lebten er und seine Eltern schon nicht mehr in Langen, sondern in Frankfurt am Main. Hier verbrachte er seine Kindheit und Jugend, und weil ihn diese Stadt mehr als Langen prägte, hatte er auch kein schlechtes Gewissen, sie dem Herausgeber des 1929 erschienenen Deutschen Musiker-Lexikons als Geburtsort zu nennen.2

Bei gleicher Gelegenheit zögerte er auch nicht, sein Geburtsdatum zwei Jahre später anzusetzen, eine Verschleierungstaktik, die er bis ins hohe Alter praktizierte. Der bereits erwähnten amerikanischen Lokalreporterin machte er z. B. weis, er sei mit 21 Jahren promoviert worden und habe im Alter von 27 Jahren die Leitung des Berliner Sinfonie-Orchesters übernommen. Tatsächlich war er jedoch schon 27 Jahre alt, als er die Promotionsurkunde empfing, und gar 38, als er die Leitung des Berliner-Sinfonie Orchesters übernahm.

Nicht zuletzt wegen seines lange bewahrten jugendlichen, sportlichen Aussehens hatte er nie Hemmungen, sich mal um zwei, fünf oder sieben Jahre zu verjüngen. Selbst in seinen Pässen fummelte er am Geburtsjahr herum. Er kam damit stets durch alle Kontrollen, bis zwei Jahre vor seinem Tod ein – natürlich! – deutscher Grenzbeamter in München in seinem amerikanischen Pass die kleine Manipulation an der Endziffer des Geburtsjahrs entdeckte, durch die eine 3 in eine 8 verwandelt worden war. Ein deutscher Beamter konnte das natürlich nicht durchgehen lassen, und fast wäre der kleine alte Mann, der von seiner Freundin, der holländischen Malerin Sylvia Willink-Quiël, gestützt werden musste, als krimineller Urkundenfälscher festgenommen worden, hätte sie nicht durch gewaltige Überredungskünste und Bekundungen tiefster Reue den Grenzer so weit bringen können, dass er beide passieren ließ.

Kann man die Manipulationen am Geburtsjahr noch als eitlen Spleen abtun, so handelte es sich bei dem Vornamen Frieder bzw. Friedrich, den er sich ab etwa 1916 zulegte, doch um eine schwererwiegende Eigenmächtigkeit. Laut der am 25. Januar 1893 ausgefertigten Geburtsurkunde hatten ihm seine Eltern einen anderen Vornamen gegeben. Demnach war an diesem Tag der dem diensthabenden Standesbeamten Dröll „der Persönlichkeit nach“ bekannte „iraelitische Religionslehrer Isidor Weißmann, wohnhaft zu Langen, israelitischer Religion“ im Langener Rathaus erschienen und hatte zu Protokoll gegeben, „daß von der Auguste Weißmann, geborenen Löb, seiner Ehefrau, israelitischer Religion, wohnhaft bei ihm, zu Langen, in seiner Wohnung, am dreiundzwanzigsten Januar des Jahres tausend acht hundert neunzig und drei, Nachmittags um drei Uhr ein Kind männlichen Geschlechts geboren worden sei, welches den Vornamen Samuel, erhalten habe.“3

Den Vornamen Samuel wollte der neue Erdenbürger schon bald nach seiner Volljährigkeit nicht mehr beibehalten. Er hatte ihn zuvor auch kaum in der standesamtlichen Form, sondern meist in der Variante „Sem(m)y“ getragen. Zum „S.“ verkürzt, blieb er nach 1916 noch eine Weile als Mittelinitial bestehen, bis dieses um 1930 ganz verschwindet und gelegentlich einem dritten Vornamen „Peter“ Platz macht. Die Annahme des sehr „deutsch“ klingenden Vornamens Frieder war zweifellos eine Maske, die sich Weissmann in Zeiten wachsender antisemitischer Vorfälle zum eigenen Schutz aufsetzte, zum anderen aber auch eine Art Befreiungsschlag, der allen, die es anging, seine Emanzipation von dem Judentum, in dem er aufgewachsen war und das seine Eltern repräsentierten, signalisieren sollte.

Die Eltern: Isidor Ignatz Weissmann und Auguste Weissmann geb. Löb um 1935.

Die Eltern

Der Vater Isidor Weissmann stammte nicht aus Langen, sein Elternhaus stand auch nicht in Hessen oder in Deutschland, sondern in Klodawa, etwa achtzig Kilometer nordwestlich von Lodz. Heute der Woiwodschaft Großpolen zugeordnet, gehörte die Stadt damals mit ihren knapp 7.000 Einwohnern zu dem nach dem Wiener Kongress 1815 geschaffenen „Kongresspolen“, das zum Großteil aus dem früheren Herzogtum Warschau bestand. Von Beginn an durch Personalunion eng mit Russland verbunden, hatte „Kongresspolen“ 1832 nach einem gescheiterten Aufstand seine Autonomie verloren und war seitdem bis zum Untergang des Zarenreiches de facto ein russisches Protektorat oder „Gouvernement“. Die Bevölkerung von „Kongresspolen“ hatte infolgedessen nicht die polnische, sondern die russische Staatsbürgerschaft. Auch Isidor Ingnatz Weissmann – so sein voller Name – wurde ein Untertan des russischen Zaren, als er in Klodawa am 25. Januar 1863 geboren wurde.

In Klodawa gab es seit dem 15. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde, die 1860 rund 600 Mitglieder hatte, darunter Isidor Weissmanns Vater Szmul Wajsman Wojtowicz, der in deutschen Dokumenten Samuel Weissmann heißt. Er entstammte keiner alteingesessenen Familie, sondern war aus Posen zugezogen. Sein Name taucht erstmals 1852 in Dokumenten der jüdischen Gemeinde Klodawa auf. Genannt wird der damals 41-jährige bei drei Ereignissen: der Geburt eines Sohnes Szlama Enuch und dem Tod einer Tochter Hanna sowie dem Tod seiner – möglicherweise im Kindbett verstorbenen – Ehefrau Ryfka. Aus der Ehe mit Ryfka ging noch ein weiterer Sohn Moziek Jeyec hervor, der 1856 verstarb. Szlama Enuchs weiteres Schicksal ist unbekannt.

Bereits 1853 war Samuel Weissmann eine zweite Ehe mit der vierundzwanzig Jahre jüngeren Brane Surah Neifeld eingegangen, die in deutschen Dokumenten Bertha Neufeld heißt und angeblich einer alten Rabbiner- und Gelehrtenfamilie entstammte. Aus dieser Ehe gingen sechs Kinder hervor, vier Söhne Lejzer (* 1856), Isidor Ignatz (* 1863), Moziek Aron (* 1866) und Jozek Dawid (* 1872) sowie zwei Töchter Estera Gitel (* 1858) und Gene Brama (* 1876). Während Lejzers und Gene Bramas weiteres Schicksal unbekannt ist, wissen wir, dass nicht nur Isidor, sondern auch die Geschwister Estera Gitel, Moziek Aron und Jozek Dawid heirateten.4 Samuel Weissmann starb 1877, seine Witwe Bertha geb. Neufeld lebte 1892, als Isidor heiratete, offenbar noch in Klodawa. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.

Es waren eher einfache Verhältnisse, in denen die Weissmanns in Klodawa lebten. Aus Gemeindeunterlagen geht hervor, dass der um 1811 geborene Samuel Weissmann den Metzgerberuf ausübte, also zur Fleischversorgung Tiere nach den religionsgesetzlichen Vorschriften der koscheren Schächtung schlachtete. Möglicherweise diente er der jüdischen Gemeinde auch in der Funktion des Schächters, da er später das Amt des Kantors übernahm – eine Doppelfunktion, die in kleinen Gemeinden oft dieselbe Person ausübt.

Über Isidor Weissmanns Kindheit, Jugend und Ausbildung wissen wir nichts Genaues, doch ist anzunehmen, dass er eine höhere Schule besuchte, denn er beherrschte neben Deutsch und Russisch auch die französische Sprache. Spätestens nach dem Stimmbruch und der Herausbildung seiner klangvollen Bassbaritonstimme stand für ihn fest, dass er wie sein Vater Kantor werden würde. Auch sonst in musikalischer Hinsicht begabt, war er ein passabler Klavierspieler, der sich später sogar einen eigenen Flügel zulegte.5

Wohl Anfang der 1880er Jahre verließ Isidor Weissmann sein Elternhaus und seine Geburtsstadt Klodawa, um sein Glück in Deutschland zu suchen. Auslöser seines Entschlusses könnten die nach der fälschlicherweise Juden zugeschriebenen Ermordung des Zaren Alexander II. im März 1881 einsetzenden antijüdischen Repressalien und eine von Südrussland auch nach „Kongresspolen“ überschwappende Welle von Juden-Pogromen gewesen sein, in deren Folge eine regelrechte Massenflucht osteuropäischer Juden nach Westen einsetzte. Welchen Weg er einschlug und wo er in Deutschland Station machte, liegt im Dunkeln. Erst im März 1888 stoßen wir im Großherzogtum Hessen wieder auf seine Spuren und zwar in dem Dorf Erfelden, heute ein Ortsteil von Riedstadt im Kreis Groß-Gerau. Bei der dortigen jüdischen Gemeinde, der damals 50 der insgesamt 866 Dorfbewohner (5,8 Prozent) angehörten,6 versah Isidor Weissmann bis August 1889 die Ämter des Vorbeters und Religionslehrers. Als Religionslehrer bezog er dabei ein jährliches Gehalt von 244 Mark und 48 Pfennigen. Hinzu kamen 50 Mark für seine Dienste als Vorbeter. Außerdem musste ihm die Gemeinde pro Tag ein Kostgeld in Höhe von 70 Pfennigen zahlen. Gesondert abgerechnet wurden ferner gelegentliche „besondere Belohnungen“ für beispielsweise das „Vorlesen des Buchs Esther“ in Höhe von 2 Mark.7

Mit solch mageren Einkünften ließ sich freilich ein junger, gebildeter und aufstrebender Kantor nicht lange halten. Man hatte sich in Erfelden daran gewöhnt, dass die Kantoren in rascher Folge wechselten, und niemand war daher erstaunt, als Isidor Weissmann im September 1889 kündigte, um bei der jüdischen Gemeinde im dreißig Kilometer entfernten Langen die frei gewordene und mit einem jährlichen Gehalt von 600 Mark „bei bedeutendem Nebeneinkommen“ ausgestattete „Stelle eines Religionslehrers, Vorbeters u. Schächters“ zu übernehmen.8

In Langen hatten sich Juden schon im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts niedergelassen. Ende des 19. Jahrhunderts zählte die Gemeinde achtzig Köpfe, was einem Bevölkerungsanteil von weniger als zwei Prozent entsprach. „Die Juden in Langen lebten allgemein in wirtschaftlich guten Verhältnissen und waren zum größten Teil angesehene Geschäftsleute.“9 Eine Synagoge konnte sich die Gemeinde erst Anfang des 20. Jahrhunderts leisten.10 Bis dahin begnügte man sich mit einem Betsaal in einem heute nicht mehr existierenden Gebäude (Borngasse 10) unweit des Ludwigsplatzes (heute Wilhelm-Leuschner-Platz), das der jüdischen Gemeinde gehörte. Diese besaß auch eine Religionsschule, ein rituelles Bad sowie seit 1876 einen eigenen Friedhof. Für die religiösen Aufgaben beschäftigte die Gemeinde einen Vorbeter bzw. Kantor, der zugleich als Religionslehrer und Schochet, d. h. als Schächter, fungierte. „Der Kantor, hebr. Chasan, ist der Vorbeter der Gemeinde. Er sollte eine gute Stimme haben, verheiratet, untadelig und vollkommen mit der Liturgie vertraut sein. Beim synagogalen Gottesdienst spielt der Kantor eine bedeutende Rolle. Er steht an einem Lesepult, das sich vor dem Toraschrein befindet. Von hier aus führt er durch den Gottesdienst. Bei den sehr langen Festtagsgottesdiensten teilen sich in den meisten Fällen zwei Kantoren diesen Dienst oder der Chasan wechselt sich mit dem Rabbiner ab. Größere und wohlhabende Gemeinden beschäftigen einen hauptberuflichen Kantor. Im Prinzip kann aber jedes fähige (männliche) Mitglied ab dreizehn Jahren gebeten werden, den Gottesdienst zu leiten. Der Kantor wirkt außer bei den Gottesdiensten bei allen Ereignissen mit, bei denen ein passender Gesang notwendig ist, wie bei Hochzeiten oder Beerdigungen.“11

1892 heiratete der mittlerweile 29jährige Isidor Weissmann die gerade volljährig gewordene Auguste Loeb (1871-1942). Sie stammte aus Monsheim, einem Dorf in der Nähe von Worms, das, heute in Rheinland-Pfalz gelegen, damals zu einem Gebiet gehörte, das „Rheinhessen“ genannt wurde und 1815 durch Beschluss des Wiener Kongresses dem (bis 1918 bestehenden) Großherzogtum Hessen zugeschlagen worden war. Die in Monsheim seit dem 18. Jahrhundert existierende jüdische Gemeinde zählte um 1890 knapp vierzig Mitglieder, was etwa vier Prozent der rund 900 Einwohner ausmachte.12 Eine der alteingesessenen jüdischen Familien war die Familie Löb, die sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als Metzger und Viehhändler betätigte. Dies hatte auch der 1885 im Alter von 64 Jahren verstorbene Josef Loeb II. getan und zwar mit solchem Erfolg, dass er z. B. beim großen Viehmarkt in Grünstadt im September 1864 zwei „Ehrenpreise für Käufer von preiswürdigem Vieh“ erhielt.13 Josef Loeb II. war mit der Metzgertochter Johanna geb. Reinach (1834-1923) verheiratet, die aus dem pfälzischen Winzerdorf Essingen bei Landau stammte, wo sich Juden schon um die Mitte 16. Jahrhunderts niedergelassen hatten. Das Paar hatte sieben Kinder, zwei Söhne und fünf Töchter, von denen wohl nur der Sohn Ferdinand (1864-nach 1932), der das Metzgergeschäft weiterführte, und die Töchter Rosalie (1866-1918), Auguste (1871-1942) und Regina (1873-1942) das Erwachsenenalter erreichten.14 Da Rosalie bereits verheiratet war,15 sollte Auguste als nächste unter die Haube kommen. Isidor Weissmann war damit einverstanden, und so schloss er mit Auguste Löb den Bund fürs Leben.

Am 24. Oktober 1892 erschienen – laut Monsheimer Eheregister – der „israelitische Lehrer Isidor Weissmann, Sohn des verstorbenen Lehrers Samuel Weissmann, zuletzt wohnhaft zu Klodawa und seiner Ehefrau Bertha Weissmann geborene Neufeld wohnhaft zu Klodawa“ und die „Auguste Loeb, israelitischer Religion, Tochter des verstorbenen Metzgermeisters Josef Loeb des Zweiten, zuletzt wohnhaft zu Monsheim, und seiner Ehefrau Johanna Loeb, geborene Reinach wohnhaft zu Monsheim“ vor dem Monsheimer Standesbeamten Schäfer „zum Zwecke der Eheschließung“, bei welcher zwei Zeugen, der 28jährige Bruder der Braut, der Metzger Ferdinand Loeb aus Monsheim,16 und ihr 68jähriger Onkel, der Metzger Cornelius Mann (1825-1896) aus Pfiffligheim bei Worms,17 zugegen waren.18

Was das Monsheimer Eheregister nicht erwähnt, war die Tatsache, dass die Braut im sechsten Monat schwanger war. Eine sozusagen in letzter Minute erfolgte „Mussheirat“ war die Eheschließung wohl dennoch nicht. Höchstwahrscheinlich hatte eine – leider nicht überlieferte – Trauung des Paares nach jüdischem Ritus bereits sehr viel früher stattfgefunden. Im Judentum gilt nur das Paar als verheiratet, das die Ehe nach jüdischem Ritus geschlossen hat, indem es gemeinsam den Segen des Rabbiners unter dem Traubaldachin, der Chuppa, empfing. Eine zivile Trauung gilt aus jüdisch-religiöser Sicht nicht als Eheschließung. Vermutlich waren die beiden spätestens im Mai 1892 von einem Rabbiner in der Synagoge von Monsheim getraut worden. Die standesamtliche Hochzeit dürfte für das Brautpaar Weissmann nur eine rein formale Angelegenheit gewesen sein, um die Ehe und die Zukunft des noch ungeborenen Kindes nach gültigem deutschen Recht abzusichern.

Schon bald nach der Geburt des nach dem Großvater väterlicherseits benannten Semy war seine Mutter wieder schwanger geworden. Die Aussicht, bald noch für ein weiteres Familienmitglied verantwortlich zu sein, zwang Isidor Weissmann dazu, sich umgehend nach einer besser besoldeten Stelle umzusehen. Denn mit seinem Jahresgehalt von 600 Mark – etwa so viel wie damals ein unverheirateter protestantischer Vikar verdiente – hatte er schon jetzt die dreiköpfige Familie kaum angemessen versorgen können. Dass er bei seiner Stellensuche den Blick vor allem nach Frankfurt am Main richtete, kann nicht erstaunen. Schließlich war die Mainmetropole Ende des 19. Jahrhunderts nach Berlin die Großstadt mit den meisten jüdischen Einwohnern, deren Anteil an der Stadtbevölkerung im Vergleich zu Berlin sogar mehr als doppelt so hoch war.19 Die Berufsaussichten für einen Kantor waren bei einer solch zahlreichen jüdischen Einwohnerschaft natürlich viel besser als in dem kleinen Langen. Hinzu kam, dass in Langen – wie eigentlich in den meisten Landgemeinden um Frankfurt herum – die jüdische Gemeinde der orthodoxen Glaubensrichtung anhing und sich im Gottesdienst an die althergebrachten Riten und die traditionellen Gebote hielt. Frankfurt hingegen hatte sich im 19. Jahrhundert zu einem Zentrum des liberalen Reformjudentums entwickelt. Allein deswegen war die Stadt ein erstrebenswertes Ziel für Isidor Weissmann, der, glatzköpfig und glatt rasiert, schon von seinem Äußeren her – wie die wenigen erhalten Fotos belegen – so gar nicht dem Bild des typischen orthodoxen Juden mit wallendem Bart entsprach.

Im jüdischen Frankfurt am Main

Isidor Weissmanns Stellensuche hatte noch zu keinem positiven Ergebnis geführt, als seine Frau am 23. Juli 1894 einen zweiten Sohn zur Welt brachte. Er sollte den Vornamen Josef nach dem mütterlichen Großvater erhalten, war aber so schwächlich, dass er noch am selben Tag verstarb.20 Den Schmerz über den Verlust des Kindes hatte das Ehepaar Weissmann noch nicht überwunden, da erhielt Isidor die Zusage zur Übernahme einer Kantorenstelle an der Frankfurter Hauptsynagoge. Das 1860 in der Börnestraße, der früheren Judengasse, errichtete Gebäude, dessen eindrucksvolle Architektur gotisch-maurisch-orientalische Stilelemente verquickte, diente der liberalen jüdischen Hauptgemeinde, genannt Israelitische Gemeinde, als Synagoge und war bis zur Zerstörung im November 1938 – nach den Worten des deutsch-jüdischen Historikers Paul Arnsberg – das „Zentrum des jüdischen Lebens in Frankfurt“.21

Dort übte nun Isidor Weissmann während der nächsten vier Jahrzehnte und bis zur Versetzung in den Ruhestand das Amt eines Kantors aus. Bis zuletzt widmete er sich dieser Aufgabe mit vollem Einsatz und tiefster Überzeugung. Selbst dann, als seine Kräfte infolge Alters nachließen, ließ er es sich nicht nehmen, am letzten Tag des Laubhüttenfests, dem Simchat Tora genannten Tag der Gesetzesfreude, die schwerste Thorarolle aus der heiligen Lade an sich zu nehmen und bei den sieben langen Umzügen durch das Gotteshaus stolz vor sich her zu tragen.22 Für seine physische Einsatzbereitschaft schätzte man ihn ebenso wie für sein „bemerkenswertes hebräisches und talmudisches Wissen“.23 Am meisten aber beeindruckte seine „umfangreiche, kraftvolle Baß-Baritonstimme“.24Isidor Weissmanns Ruf als Sänger soll so beachtlich gewesen sein, dass Mitglieder des Frankfurter Opernensembles allein seiner schönen Stimme wegen die Gottesdienste in der Hauptsynagoge besuchten, auch wenn sie nicht dem jüdischen Glauben anhingen.25

In seinem Sänger-Nachschlagewerk GROSSE STIMMEN hat Jens Malte Fischer in einem eigenen Kapitel die Gesangskunst jüdischer Kantoren ausführlich gewürdigt und auf „die enge Verbindung des jüdischen Kantorengesangs zur Gesangskunst europäischer Tradition“ hingewiesen.26 Im Falle des kleinen Semy Weissmann dürfte die Gesangskunst des Vaters, der selbst gerne Opernaufführungen besuchte, zweifellos die in ihm schlummernde musikalische Saat bereichert haben, die dann später mit ihm als Komponisten und Dirigenten aufgehen sollte. Nicht umsonst schätzten die berühmtesten Gesangskünstler die Zusammenarbeit mit ihm. Denn er wusste intuitiv, was sie wollten und was sie auch benötigten. Vom großen Wagner-Bariton Friedrich Schorr, auch er übrigens Sohn eines jüdischen Kantors, stammt das Lob, Frieder Weissmann habe ein Gefühl dafür, wie Sänger atmeten.27

Noch stärker als der väterliche Gesang war aber die Anziehungskraft des väterlichen Klaviers. Kaum, dass der kleine Semy angefangen hatte, die Welt um sich herum zu begreifen, war er fasziniert von dem merkwürdigen Instrument, dem der Vater so behende magische Klänge entlocken konnte. Offenbar handelte es sich dabei nicht um ein normales Pianino, sondern um einen veritablen Flügel, unter den sich der kleine Semy, wann immer er konnte, zurückzog, um dem Vater beim Klavierspiel zuzuhören. Gleichzeitig bot ihm der große Flügel auch Schutz immer dann, wenn er etwas angestellt hatte und vor dem aufbrausenden Vater die Flucht ergriff.

Die Familie Weissmann hatte nach ihrem Wegzug von Langen zunächst eine Wohnung im nordöstlichen Stadtteil Bornheim in der Pestalozzistraße 6 bezogen. Anscheinend war diese Wohnung aber nicht sehr geräumig, denn schon Ende Oktober 1896, als sich weiterer Nachwuchs ankündigte, zog die Familie in eine andere Wohnung. Sie befand sich im zweiten Stock des Hauses Mauerweg 3, nahe des Bethmann-Parks. Von hier aus hatte Isidor Weissmann einen viel kürzeren Weg zu seinem Arbeitsplatz, der Hauptsynagoge. Hier erblickte auch am 3. April 1897 Semys Bruder Richard das Licht der Welt.

Der Mauerweg verlief in einer Gegend nahe der Innenstadt, wo Nord- und Ostend zusammenstießen. In beiden Bezirken lebten damals zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung Frankfurts. Bis zur Zerstörung im „Dritten Reich“ und Zweiten Weltkrieg existierte dort jüdisches Leben in einer Vielfalt und Lebendigkeit, von der sich heute nur noch wenige eine Vorstellung machen können. Damals gab es dort „unzählige jüdische Institutionen, wie Waisenhaus, Siechenhäuser, Altersheime, Suppenanstalt (Theobaldstraße), das Krankenhaus in der Königswarter Straße, die Männer- und Frauen-Krankenkasse in der Rechneigrabenstraße sowie die Realschule der Israelitischen Religionsgesellschaft am Tiergarten, neben dem damaligen Kaiser-Friedrich-Gymnasium, und auch bis zum Jahre 1908 das Philanthropin in der Rechneigrabenstraße.“28 Hier befanden sich die jüdischen Metzgereien, Bäckereien und viele jüdische Gaststätten, und im „Herbst, zur Zeit des Laubhüttenfests, sah man in dieser Gegend hunderte von Laubhütten in den Gärten und den Veranden der Wohnungen entstehen.“29 Geprägt war die Gegend vom jüdischen Kleinbürgertum, von Handwerkern und Kaufleuten. Die Mehrheit der jüdischen Bewohner war im osteuropäischen Judentum verwurzelt und tendierte zur orthodoxen Glaubensrichtung. Die Anhänger eines liberalen, reformierten Judentums bildeten „in diesem Stadtviertel eine kleine Minderheit, die nicht dem ‚genius loci‘ dieses Milieus entsprach. Man sah auf diese liberalen ‚Häretiker‘ von oben herab; sie galten als Fremdkörper. Die Liberalen ihrerseits betrachteten die ‚Frommen‘ als Fanatiker und für rückständig. Gesellschaftsbildend war dieses ‚liberale‘ Element im Ostend nicht und immer mehr verstärkte sich aus diesen Kreisen der Wegzug nach dem Westen, Nordend oder Nordwesten.“30

Semys Eltern neigten zwar der liberalen Richtung zu, doch hatten sie überhaupt kein Verlangen, die bunte Lebendigkeit ihres Viertels gegen das feinere Westend einzutauschen. Sie fühlten sich im Nord- und Ostend zuhause, auch weil dort so vieles sie an ihre Herkunft erinnerte. In diesen kleinbürgerlichen Stadtteilen „kannte einer den anderen. Es war eine Kleinstadt im Rahmen der Großstadt.“31 Kinder konnte man draußen gefahrlos unbeaufsichtigt lassen, „man ‚verlor‘ sich nicht in diesem jüdischen’ Ostend.“32

Diese Gefahr mussten Semys Eltern freilich nicht befürchten, weil ihr Erstgeborener offenbar nur wenig Interesse am üblichen Spiel mit anderen Kindern zeigte. Stattdessen war er geradezu fixiert auf das magische Tasteninstrument im Wohnzimmer der Familie. So bald er es konnte, wagte er sich an die Klaviatur und begann, nach Herzenslust darauf herumzuspielen. Vater Isidor hatte das musikalische Talent des Sohnes schnell erkannt und gleich nach Kräften dadurch gefördert, dass er Semy in die Geheimnisse des Klavierspiels einwies. Er war ihm auch solange ein guter Musiklehrer, bis er erkennen musste, dass ihn der Knirps als Klavierspieler überholt hatte. Laut Weissmanns eigener Aussage hatte er sich schon vor der Jahrhundertwende, also im Alter von etwa sechs Jahren, als geborener Pianist erwiesen, den der Vater nun zur weiteren Vervollkommnung seines Spiels einem fähigen (namentlich nicht bekannten) Klavierlehrer anvertraute.33

Das Frankfurter Goethe-Gymnasium um 1910, zeitgenössische Postkartenansicht.

Schuljahre 1899-1911

Am Frankfurter Philanthropin

Im Frühjahr 1899, nach Ostern, begann für Semy Weissmann die Schulzeit. Eine der prägendsten Phasen im Leben eines Menschen, liegt sie in seinem Falle leider ziemlich im Dunkeln. Alle seine Schulzeugnisse hatte er – falls er sie je aufgehoben hatte – bei seiner Emigration 1933 zurücklassen müssen oder im Laufe seines wechselvollen Lebens verloren. Im Nachlass ist davon jedenfalls nichts zu finden. Mit Sicherheit wissen wir nur, dass er von 1905 bis 1911 das Frankfurter Goethe-Gymnasium besuchte und dort auch das Abitur machte.

Über seine Schulzeit davor können wir uns auf keine Quelle berufen. Vermutlich besuchte er jedoch in den Jahren 1899 bis 1905 das Frankfurter Philanthropin. Diese 1804 gegründete und seit 1867 staatlich anerkannte private Lehranstalt der liberalen Israelitischen Gemeinde Frankfurts stand Schülern aller Konfessionen offen. Zu ihr gehörten eine Realschule (für Jungen) und ein Lyzeum (für Mädchen), d. h. zwei höhere Schulen, die zur mittleren Reife führten, ferner eine Vorschule, die dreijährigen Grundschulunterricht bot. Im Gegensatz zur vierjährigen staatlichen Volksschule konnten Schüler damals schon nach drei Jahren auf höhere Schulen wechseln, wenn sie eine Vorschule besucht hatten – eine besondere Einrichtung, die nur an Privatschulen existierte und mit dem Ende des Kaiserreiches 1918 unterging.

Unterlagen zu einzelnen Schulklassen des Philanthropins aus der Zeit um 1900 sind heute nicht mehr vorhanden. Erhalten haben sich lediglich die Jahresberichte der Schule, die im Internet zugänglich sind.34 In ihnen werden allerdings nur diejenigen Schüler namentlich erwähnt, die von dort mit der mittleren Reife abgingen. So entdeckt man im Jahresbericht 1912 den Namen von Semy Weissmanns jüngerem Bruder Richard, der die gesamte Schulzeit am Philanthropin verbrachte und dort im Frühjahr 1912 die mittlere Reife erlangte.35 Demzufolge kann man davon ausgehen, dass auch Semy Weissmann diese Lehranstalt besuchte. Zunächst wird er dort drei Jahre lang Vorschulunterricht in den Fächern Deutsch, Rechnen, Religion (mit Unterricht in biblischer Geschichte und hebräischer Sprache) sowie ab der zweiten Klasse Schreiben, Turnen und Gesangsunterricht erhalten haben. 1902 wechselte er dann an die Philanthropin-Realschule, wo der Unterricht um folgende Fächer erweitert wurde: Französisch, Geschichte bzw. Erdkunde und Naturbeschreibung bzw. Chemie.

Die Schulferien verbrachten Semy und sein Bruder Richard häufig bei der mütterlichen Verwandtschaft in Monsheim. Noch im hohen Alter erinnerte sich Weissmann gerne an diese Besuche beim Onkel Ferdinand, in dessen Haus die schon lange verwitwete Großmutter Johanna und die unverheiratete Tante Regina wohnten. Besonders begeisterte die beiden Jungen der Viehreichtum der Verwandten, und der junge Semy entdeckte wohl schon damals jene Tierliebe, die ihm zeitlebens eigen war und vor allem „hoch zu Ross“ größte Glücksgefühle bescherte.36

Am Frankfurter Goethe-Gymnasium

Wie beim jüngeren Sohn Richard, der nach der Realschule Kaufmann wurde, dürfte Vater Ignatz auch für seinen erstgeborenen Sohn Semy eine Schulbildung vorgesehen haben, die diesen später einmal für einen eher praktischen Beruf befähigen sollte. Wahrscheinlich hatte er auch bei Semy zunächst einen kaufmännischen Beruf als Händler, Unternehmer oder Angestellter im Bankwesen im Auge gehabt, bis er schließlich feststellen musste, dass dieser – im Unterschied zu Richard – überhaupt kein Talent zum Kaufmann hatte. Semys unbestreitbare musikalische Begabung erschien ihm jedoch keine gute Alternative zu bieten. Zum einen sah Vater Weissmann, wie der Sohn später einem amerikanischen Journalisten erklären sollte, in Musikanten immer noch das „fahrende Volk“, dessen zigeunerhafter Lebensstil seinen bürgerlichen Wunschvorstellungen zuwiderlief.37 Zum anderen hielt er aber seinen Sohn für eine Musikerkarriere auch gar nicht befähigt. Zwar stand Semys Talent außer Frage, aber Ignatz Weissmann glaubte, hinsichtlich der täglichen Klavierübungen doch eindeutige Anzeichen mangelnden Eifers feststellen zu können. Edgar Sarton-Saretzki, Ignatz Weissmanns 1922 geborener Patensohn, erinnert sich noch heute mit Schmunzeln, dass sich der Patenonkel über die angebliche Faulheit seines Sohnes selbst dann noch aufregen konnte, als dieser längst ein anerkannter Dirigent war.38

Da er der Meinung war, Semy tauge weder zum Kaufmann noch zum Klaviervirtuosen, sah Ignatz Weissmann nur im Beruf des Anwalts eine Zukunft für seinen Sohn. Für diese Entscheidung sprach nicht nur die in der Regel finanzielle Einträglichkeit dieses Berufs. Wie kaum eine andere Religion gründet sich das Judentum auf Gesetze. Zum Gottesdienst gehört die ständige Vergegenwärtigung der traditionellen Gesetze, deren Erlernen und Auslegung eine von früh an eingeübte Praxis ist. Zweifellos begünstigte dies die Verbreitung des Anwaltsberufs bei der jüdischen Bevölkerung, die im Kaiserreich bei einem Anteil von etwa einem Prozent an der Gesamtbevölkerung mehr als zehn Prozent der Jurastudenten stellte.39 Zur jüdischen Präferenz des Anwaltsberufs trugen aber auch noch andere Gründe bei, z. B. die Erfahrung, dass Juden, obwohl rechtlich gleichgestellt, auch noch Anfang des 20. Jahrhunderts von vielen Berufen ausgeschlossen waren. Als Beamte hatten sie überhaupt keine Chance, auch nicht als Angehörige von Berufen, die der Gewerbeordnung unterlagen. Geduldet waren sie als Kaufleute und als Angehörige sogenannter „freier“ Berufe wie Anwalt, Arzt, Zahnarzt, Journalist oder Künstler.

Eine Ausbildung zum Anwalt erforderte freilich ein akademisches Studium, für die wiederum ein Abitur an einem Gymnasium Voraussetzung war. Als Realschüler konnte Semy nicht auf ein normales humanistisches Gymnasium wechseln. Glücklicherweise gab es aber damals schon die ganz junge Einrichtung des Reformgymnasiums, die kein Gegenentwurf, sondern eine zeitgemäße Ergänzung des bis dahin in Preußen dominierenden humanistischen Gymnasiums sein sollte. Der Lehrplan des Reformgymnasiums begann in der ersten Klasse (Sexta) nicht mit Latein, sondern mit einer modernen Fremdsprache, meist Französisch. Latein wurde erst ab der Untertertia (heute siebte Klasse), Griechisch bzw. Englisch erst ab der Untersekunda (heute neunte Klasse) unterrichtet. Dieser Lehrplan, der zuerst in Frankfurt am Main im 1897 neu gegründeten Goethe-Gymnasium entwickelt und in die Praxis umgesetzt worden war, hieß „Frankfurter Modell“ und war das Vorbild für alle danach in Preußen errichteten Reformgymnasien.

Dem Wunsch des Vaters folgend, wechselte Semy Weissmann also nach drei Klassen an der Philanthropin-Realschule mit Beginn des Schuljahres 1905 in die Untertertia des Goethe-Gymnasiums, gerade noch rechtzeitig, um dort mit Latein als zweiter Fremdsprache weitermachen zu können.40 1905 wechselte auch der gleichaltrige Selmar Spier (1893-1962) ans Goethe-Gymnasium, der zuvor nicht das Philanthropin, sondern die Samuel Hirsch-Realschule der orthodoxen Religionsgesellschaft besucht hatte. Der Kaufmannsohn, dessen Familie ein bekanntes Frankfurter Schuhgeschäft („Schuh-Spier“) betrieb, saß in der Parallelklasse und machte wie Weissmann 1911 das Abitur am Goethe-Gymnasium. Später wurde er Anwalt, der 1936 nach Palästina emigrieren musste. In den 1950er Jahren kehrte er nach Frankfurt zurück, arbeitete als Sachbearbeiter der United Restitution Organisation und veröffentlichte 1961 ein schmales Buch unter dem Titel VOR 1914, in dem er seine Frankfurter Kindheits- und Jugenderinnerungen festhielt.41

Spiers Erinnerungen sind sehr lesenswert nicht nur, weil sie anschaulich das damalige Leben im „jüdischen“ Frankfurter Ostend, sondern auch ganz unmittelbar die Befindlichkeit eines jüdischen Heranwachsenden in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beschreiben. Für uns sind Spiers Erinnerungen aber vor allem deswegen aufschlussreich, weil sie von einem Zeitgenossen stammen, der Weissmann aufgrund seiner Herkunft aus dem gleichen jüdischen Milieu, des gleichen Alters und des Besuchs der gleichen Schule relativ nahe gestanden hatte. Beide studierten nach dem Abitur nicht nur in Heidelberg, sondern auch in München, und beide haben sich auch später noch getroffen. In seinem Buch erwähnt Spier eine Begegnung mit Weissmann in Frankfurt in den 1920er Jahren.42 Spiers Namenseintrag in Weissmanns Adressbüchlein belegt zudem eindeutig, dass die beiden noch in den 1950er Jahren Kontakt hielten, als Weissmann nach Frankfurt kam und beim Verfahren zur Wiedergutmachung nach dem Bundesentschädigungsgesetz die fachliche Hilfe seines alten Schulkameraden in Anspruch nahm.

Sehr ausführlich geht Spier in seinem Buch auf die Schulzeit am Goethe-Gymnasium ein, welches damals „jedenfalls das modernste an Schule [war], das geboten wurde, – von gewissen Landerziehungsheimen abgesehen. Schon das Gebäude war neu, die Klassenräume in einem Trakt nach Südwesten orientiert, mit weiten Fensteröffnungen, so daß das Licht frei hinduchfluten konnte. Unten lag die breite Allee, die inzwischen die Ausfallstraße der Stadt nach dem Westen, nach Main und Wiesbaden, geworden ist. An ihrem Ende wuchs ein für damalige Verhältnisse riesiger Bau aus dem Boden: die Festhalle, die mit einem aus ganz Deutschland besuchten Sängerfest vom Kaiser persönlich eingeweiht wurde.“43 Unter der sehr heterogenen Lehrerschaft gab es – so Spier – „keine eigentliche Fehlbesetzung“.44 Statt dessen zählte dazu manche Koryphäe wie der Direktor und klassische Philologe Ewald Bruhn (1862-1936), der in den 1920er Jahren mit Weissmanns Klassenlehrer, dem Germanisten Julius Schmedes (* 1864), ein weit verbreitetes Lateinisches Lesebuch veröffentlichen sollte. Zu nennen wären ferner der Biologe Max Flesch oder der Philologe Hans Merian-Genast, der ein Verehrer Richard Wagners war und 1902 zu dessen Todestag einen „Richard Wagner als Flüchtling in und bei Weimar 1849“ betitelten Aufsatz in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht hatte.

Auch die Zusammensetzung der Schülerschaft war nicht homogen. Wie sich Selmar Spier erinnerte, stammten die Mitschüler vielmehr „aus allen Schichten der Frankfurter bürgerlichen Bevölkerung, ein kleiner Prozentsatz bestand aus Söhnen von zugezogenen Offizieren und Beamten. In der Klasse gab es eine Art von sozialer und regionaler Gruppierung. Es ist bemerkenswert, daß diese Gruppierung nichts mit der Religion zu hatte. […] Das Elternhaus, seine Lage im bevorzugten Viertel oder in einem der gewöhnlichen Stadtteile, bestimmte die Gruppierung. Es gab Häuser im Westen oder in der Gegend des Stadtwalds mit Dienerschaft und Wagen, und es gab kleine Wohnungen der Innenstadt, wo die Mutter so gut wie alles machte.“45

Die Erfahrung sozialer Grenzen und Unterschiede war für den im jüdischen Kleinbürgertum des Nord- und Ostends aufgewachsenen Kantorensohn Weissmann eine Lektion, die ihn ebenso nachhaltig prägen sollte wie die liberale Geisteshaltung in dieser Schule. Wohl schon bald, nachdem er mit dreizehn Jahren die Bar Mitzwa erreichte, hatte er begonnen, sich vom überkommenen jüdischen Glauben und von dem Milieu zu lösen, das der Vater und die Mutter personifizierten. Gleichzeitig weckte die Begegnung mit Schulkameraden, die der wohlhabenden bürgerlichen, mitunter auch adligen Oberschicht angehörten, in ihm ein zeitlebens virulentes Faible für diese gesellschaftlichen Kreise, deren Lebensstil nicht nur die Haltung von Hunden erlaubte, sondern auch von Reitpferden, die so viel eleganter waren als die Arbeitsgäule seiner mütterlichen Verwandtschaft, auf denen er seine ersten Reitversuche gewagt hatte.

Wenn Weissmann zur Schule ging oder dorthin mit der Straßenbahn fuhr, kam er noch vor dem Westend zuerst am Saalbau in der Junghofstraße und am Platz mit dem prächtigen Opernhaus vorbei. Beide Gebäude faszinierten ihn kaum weniger als das Westend, hatte er doch schon bald nach seinem Wechsel ans Goethe-Gymnasium angefangen, sich für die Oper und die im Saalbau veranstalteten Konzerte der Frankfurter Museums-Gesellschaft zu interessieren. Seit 1907 war der Holländer Willem Mengelberg (1871-1951) der Chefdirigent der Museums-Konzerte, die er bis 1920 leiten sollte. Ihn würde Weissmann später einmal als eine Persönlichkeit bezeichnen, die ihm jahrelang Vorbild gewesen sei.46 Er selbst hatte wohl damals auch begonnen, sich an erste Kompositionen zu wagen, die – wie alle seine Schöpfungen – heute verschollen sind. Vermutlich fing er zunächst mit kleineren Formen an, z. B. mit Vertonungen von Gedichten, die meistens von der Liebe handelten. Denn inzwischen hatte sich Semy Weissmann heftig in ein Mädchen verliebt, von der er 1982 nur noch den Vornamen Lotte wusste. Allerdings erinnerte er sich dabei noch an einen Dialog mit Lottes Schwester, der seine damalige Unbedarftheit in Sachen Liebe köstlich illustriert: „Liebst Du sie denn?“ fragte die Schwester. „Ja, ich liebe sie.“ „Hast Du sie geküßt?“ „Ja, ich küsste sie.“ „Und sonst nichts?“ „Nein, gar nichts. Was sollte denn da noch sein?“47

Zielgerichteter als die Annäherungsversuche ans andere Geschlecht waren seine Anstrengungen auf musikalischem Gebiet. Neben weiteren Kompositionen wagte er sich jetzt auch auf das Gebiet der Kammermusik, indem er sich in den letzten Schuljahren mit zwei Klassenkameraden, dem jüdischen Arztsohn Hans Mayer (* 1893) und dem protestantischen Kaufmannsohn Hermann Kloos (*1892), zu einem Klaviertrio zusammentat, das zunächst nur zum eigenen Vergnügen spielte. Hans Mayer, dessen Vater die Israelitische Kuranstalt in Bad Soden leitete, spielte Cello und gehörte mit dem Geiger Hermann Kloos schon seit Jahren zum Schulorchester des Goethe-Gymnasiums. Weissmann selbst hat in dem Orchester, das sein Mathematik- und Physiklehrer Franz Wünnenberg leitete, allem Anschein nach nie mitgewirkt, vielleicht weil Hermann Schmidt-Fellner (1892-1940) aus der Parallelklasse, der später Direktor der Frankfurter Metallgesellschaft wurde und im Konzentrationslager Mauthausen ums Leben kam, seit 1906 den Platz des Pianisten einnahm.

Nachdem er sich als Unterprimaner in einer „größeren Studientagsarbeit“ auch musikwissenschaftlich betätigt und mit dem Thema „Wagners Vorläufer in der Gestaltung des Musikdramas“ auseinandergesetzt hatte,48 trat der Oberprimaner Weissmann am 9. und 10. Dezember 1910, wenige Wochen vor dem Abitur, mit seinen Triokameraden Kloos und Mayer bei einer „musikalischtheatralischen Aufführung“ des Goethe-Gymnasiums vor Publikum auf. Als Pausenmusik bei der Schüleraufführung der Molière-Komödie LES FOURBERIES DE SCAPIN (SCAPINS STREICHE) spielten sie zwei Sätze eines Klaviertrios, das der zu seiner Zeit vor allem für seine Plagiate berüchtigte italienische Klaviervirtuose Giovanni Luigi Lodi gen. Sterkel (1690-1754) komponiert hatte – zweifellos schon damals eine nur Musikhistorikern geläufige Rarität.

Unverkennbar waren Semy Weissmanns Ambitionen längst auf eine musikalische Zukunft ausgerichtet, als er sich Anfang 1911 auf die Abitursprüfungen vorbereitete. Das war natürlich auch seinem Vater nicht entgangen, der aber wenig davon wissen wollte. Stur hielt er an seinem einmal gefassten Plan fest, der den Sohn zum Beruf des Anwalts bestimmt hatte. Als väterliches Erbteil besaß Semy Weissmann auch eine gewisse Sturheit, doch in diesem Fall nützte sie wenig, weil der Vater finanziell am längeren Hebel saß. So fügte er sich und meldete der Schulleitung, dass er nach dem Abitur das Studium der „Rechtswissenschaft“ aufnehmen werde.49

Nach bestandenen Prüfungen wurden die Abiturienten, unter ihnen Weissmann, am Morgen des letzten Schultags, Mittwoch, 5. April 1911, in einer festlichen „Progressions-Feier“ von der Schule verabschiedet. „Ein Jahrgang von Oberprimanern stand im schwarzen Examensrock in der ersten Reihe,“ erinnerte sich Selmar Spier. Chor und Schulorchester brachten Händel, Mozart und Haydn zu Gehör als Zwischenmusik bei der vom Direktor vorgenommenen Preisverteilung und Vorträgen zweier Primaner. Beide waren jüdischer Herkunft, der eine, der im Ersten Weltkrieg gefallene Ernst Adler, Sohn des Philanthropin-Direktors Salo Adler, hielt einen Vortrag in griechischer Sprache, der andere, Friedrich Flersheim, später Teilhaber des Bankhauses J. Dreyfus & Co. und vor dem Zweiten Weltkrieg in die USA ausgewandert, hielt eine „Deutsche Rede“ über Napoleons Außenpolitik. Letzter Programmpunkt war Felix Mendelssohn-Bartholdys KOMITAT, gesungen vom dreistimmigen Knabenchor mit Begleitung. „Das Lied hatte nur drei Strophen,“ schreibt Selmar Spier, „aber die waren ziemlich lang. Ich weiß sie heute noch auswendig. Fünf Jahre lang hatten wir, laut oder leise, den andern sie gesungen. Eines Tages sang man sie uns. ‚Wandern müssen wir auf Erden/ unter Freuden und Beschwerden/ geht hinab, hinauf/ unser Erdenlauf./ Das ist unser Los auf Erden.‘ Ich verließ mit meinen Freunden leicht betäubt die Aula. Es war schwer begreiflich, aber es war Wirklichkeit: Die Schulzeit war vorüber, das Leben begann.“50

Die Heidelberger Universität um 1910, zeitgenössische Postkartenansicht.

Lehrjahre 1911-1916

Student in Heidelberg 1911

Mit Ausnahme von gelegentlichen Besuchen bei der mütterlichen Verwandtschaft in Monsheim bei Worms war der 18jährige Semy Weissmann bislang nicht über Frankfurt am Main hinausgekommen. Behütet, mit zunehmenden Alter sich aber immer mehr eingeengt fühlend, war er dort aufgewachsen und sah nun nach bestandenem Abitur mit großen Erwartungen der Freiheit des Studentenlebens entgegen. Indem er sich anscheinend willig dem Wunsch des Vaters nach einem Jurastudium beugte, fuhr Weissmann drei Wochen nach der Abiturfeier nach Heidelberg. Schließlich besaß die von romantischen Dichtern wegen ihrer reizvollen Lage, ihrer „Burschenherrlichkeit“ und biederen Gemütlichkeit viel besungene Neckarstadt mit der Universität nicht nur die älteste Alma mater des Deutschen Reiches, sondern galt auch als eine der besten Ausbüdungsstätten für Juristen. Dort immatrikulierte sich „Weißmann, Semi […] Staatsangehörigkeit Russland […] Rel. mosaisch“ bei Semesterbeginn, am 25. April 1911, als Student der Rechtswissenschaft.51

Gleich fünf Mitabiturienten vom Frankfurter Goethe-Gymnasium hatten ebenfalls in Heidelberg das Studium aufgenommen. Neben dem schon früher erwähnten Selmar Spier waren dies die Kaufmannsöhne Arthur Nawratzki (1892-nach 1940) und Menny Rapp (1892-1974), die beide vor dem Zweiten Weltkrieg in die USA emigrierten, der 1939 vor den Nazis nach Australien geflohene Erich Ulimann (1892-1974), dessen Vater Direktor der Frankfurter Chemiefabrik Cassella war, und Walter Sternberg (1892-1918), der im Ersten Weltkrieg gefallene Sohn eines Frankfurter Lederfabrikanten. Mit Ausnahme von Menny Rapp, der Medizin studierte und später bis zur Emigration als Chirurg in Frankfurt arbeitete, wählten sie alle Jura als Studienfach.

Über Weissmanns Jurastudium ist manch Falsches gesagt worden. Er selbst war daran nicht ganz unschuldig, schließlich hatte ihm schon das DEUTSCHE MUSIKER-LEXIKON von 1929, dessen Einträge in der Regel auf den Angaben der betroffenen Personen basieren, einen juristischen Doktortitel zuerkannt -eine Fehlinformation, der auch die nationalsozialistische Propaganda aufsaß. Leider hat Weissmann nach 1945 nichts unternommen, um diese Legende, die noch heute in bundesdeutschen Nachschlagewerken weiterlebt, zu korrigieren.52 Im Gegenteil, später schmückte er sich (bzw. sein amerikanischer Agent ihn) gelegentlich sogar mit zwei Doktorhüten, dem richtigen von der Münchner philosophischen und einem falschen von der Heidelberger juristischen Fakultät.53

Nicht genug damit, erfand er 1930 eine ziemlich rührselige Geschichte über seine Studentenzeit, als der amerikanische Journalist Richard J. Magruder ihn für ein längeres, in der ersten Nummer des anspruchsvollen, aber kurzlebigen Schallplattenjournals Disques erschienenes Porträt interviewte. Ihr zufolge hatte Weissmann sich mehrere Jahre lang schier verzweifelt an juristischen Studien abgemüht, bis ihm eines Tages ein älterer Student den Rat gab, sich um seines Glückes willen zu seiner wahren Berufung als Musiker zu bekennen – ein Rat, den Weissmann sogleich befolgt und der ihm auch alsbald die Anerkennung des Vaters eingebracht habe.54

Wenn es denn je diesen älteren Studenten gab, dann hatte dieser ihn schon gleich nach der Immatrikulation davon überzeugt, das Jurastudium an den Nagel zu hängen. Denn in Weissmanns Studentenakte entdeckt man dort, wo üblicherweise besuchte Vorlesungen und Übungen dokumentiert werden, nur gähnende Leere – ein ziemlich starkes Indiz dafür, dass er nach der Immatrikulation wohl nie mehr den Weg in die juristische Fakultät gefunden hatte. Dass er sich damit dem Diktat des Vaters widersetzte, muss ihm ebenso bewusst gewesen sein wie die Gewissheit eines heftigen Streits mit dem Vater, der zu Semesterende unweigerlich von seiner Eigenmächtigkeit erfahren würde. Weissmann nahm dies offenbar in Kauf, denn er war bereits jetzt fest entschlossen, seinen eigenen Weg als Musiker zu gehen.

Statt mit juristischen Vorlesungen verbrachte er seine Zeit lieber damit, an eigenen Kompositionen weiterzuabeiten und sich zur Verbesserung seines Könnens an den großen Vorbildern der Musik zu schulen. Mit Rat und Hilfe stand ihm dabei ein Mann zur Seite, der damals die prägende Persönlichkeit des Heidelberger Musiklebens war. Er hieß Philipp Wolfrum (1854-1919), war einer der bedeutendsten Orgelspieler seiner Zeit und als intimer Kenner des Werks von Johann Sebastian Bach eine Koryphäe auf dem Gebiet der Kontrapunktik. Seitdem er 1884 an die Heidelberger Universität berufen wurde, hatte sich Wolfrum als Gründer des akademischen Gesangsvereins, des Bach-Chors und des städtischen Philharmonischen Orchesters, als Mitgründer einer 1909 errichteten Musikakademie und als Generalmusikdirektor größte Verdienste erworben. Rührig auch als Komponist war Wolfrum ein Förderer von Talenten, der einen weitgespannten Freundeskreis unterhielt. Zu seinen Freunden zählten Engelbert Humperdinck (1854-1921), Richard Strauss (1864-1949), Max Reger (1873-1916), ferner der im Juli 1911 verstorbene, als Wagner-Dirigent berühmte Österreicher Felix Mottl und – last but not least – der wenige Wochen vor Mottl verstorbene Gustav Mahler.

Den heute wohl nur noch Fachleuten geläufigen Professor Wolfrum könnte Weissmann schon als dreizehnjähriger Gymnasiast erstmals zu Gesicht bekommen haben, als Wolfrum am 14. Dezember 1906 ein Museums-Konzert mit dem Frankfurter Opernhausorchester dirigierte. Das umfangreiche, für Wolfrums Vorlieben typische Programm präsentierte Symphonisches von Stamitz und Haydn, Weihnachtslieder von Cornelius und Ausschnitte aus Oratorien von Bach (WEIHNACHTSORATORIUM), Liszt (CHRISTUS) und Berlioz (DIE FLUCHT NACH ÄGYPTEN).55 Danach dürfte Semy Weissmann immer wieder auf Wolfrums Namen gestoßen sein, sei es bei der Aufführung seiner Werke in Frankfurt oder sei es durch Veröffentlichungen wie zuletzt 1910 seines zweibändigen Werkes über Johann Sebastian Bach.

Als Professor am Evangelischen Theologischen Seminar bereitete Wolfrum die Theologiestudenten mit Vorlesungen zur Geschichte des evangelischen Kirchenlieds und Übungen zur Elementarmusik- und Harmonielehre sowie Chorgesang auf den Pfarrerberuf vor. Diese in seiner Wohnung Neuenheimer Landstraße 32 „privatissime und gratis“ abgehaltenen Vorlesungen und Übungen waren – laut Vorlesungsverzeichnis – „nur für die ordentlichen Mitglieder des [Evangelisch-Theologischen, Anm. d. Verf.] Seminars“ zugänglich.56 Wie Weissmann es schaffte, dass ihn Professor Wolfrum dennoch unter seine Fittiche nahm und ihn in die Geheimnisse des Kontrapunkts und der Harmonielehre einweihte, bleibt unserer Vermutung überlassen. Das Geldproblem könnte er kühn dadurch gelöst haben, dass er die ihm vom Vater für das Jurastudium mitgegebenen Kolleggelder so „umwidmete“, dass sie schließlich bei Professor Wolfrum landeten und ihm zwar nicht zu „gratis“, aber immerhin „privatissime“ dargebotenen Unterricht verhalfen. Möglicherweise bedurfte es aber gar nicht dieser Maßnahme, weil Professor Wolfrum sein Talent erkannt und ihm – wie von Richard J. Magruder angedeutet – von vornherein kostenlosen Unterricht versprochen hatte.57

Mit welchen Beschäftigungen neben dem Wolfrumschen Unterricht sich der Student Weissmann in Heidelberg die Zeit vertrieb, wissen wir ebenso wenig wie mit welchen Studenten er dort Umgang hatte. Anzunehmen ist aber, dass er sich öfters mit seinen Klassenkameraden vom Frankfurter Goethe-Gymnasium traf, vielleicht auch mit Mitabiturienten anderer Frankfurter Gymnasien wie z. B. dem Volkswirt Arthur Ellinger (*1893).58

Ellinger, Selmar Spier und Arthur Nawratzki hatten beschlossen, ihr Studium in München fortzusetzen. Deren Entschluss könnte Weissmann auf den Gedanken gebracht haben, sich ebenfalls zu weiteren Studien nach München zu begeben. Vielleicht hatte ihm aber auch Professor Wolfrum diese Idee eingegeben, der sie schon deswegen für einleuchtend halten musste, weil viele seiner Komponistenfreunde in der Isarmetropole wohnten. Außerdem unterrichtete dort am musikwissenschaftlichen Institut der Universität auch ein gewisser Professor Kroyer, der ein großer Verehrer von Wolfrums Freund Max Reger war (und – was Wolfrum natürlich nicht wissen konnte – den nach seinem Tod in Heidelberg neu eingerichteten musikwissenschaftlichen Lehrstuhl 1920 als erster Inhaber übernehmen würde).

Bei Semesterende machte sich Weissmann auf den Weg nach Frankfurt, wo die Familie inzwischen nicht mehr im Mittelweg 50, sondern seit 3. Juli 1911 in der Bleichstraße 42 wohnte. Wie von ihm vorausgesehen, war der Vater ganz außer sich, als er ihn vor vollendete Tatsachen stellte. Irgendwann beruhigte sich Ignatz Weissmann aber wieder etwas und schluckte schließlich die „Kröten“, die Semy ihm vorgesetzt hatte: Aufgabe der Juristerei und Fortsetzung des Studiums in München. In einem Punkt ließ der Vater aber nicht mit sich reden: die Musik sollte niemals Hauptzweck des Studiums sein. Weil es zwecklos war, verbot er ihm nicht, sich musikalisch weiterzubilden. Doch hatte sich alles, was mit Musik zusammenhing, den Fächern unterzuordnen, die ihm als Vater vordringlich erschienen. Und weil er wünschte, dass sein Sohn wenn schon nicht als Anwalt, so doch immerhin als Geisteswissenschaftler beruflich und gesellschaftlich reüssierte, befürwortete bzw. bestimmte er jetzt, dass Semy Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie studieren sollte.

Notgedrungen, aber innerlich rebellierend, willigte Weissmann ein und wünschte sich, so schnell wie möglich von Frankfurt wegzukommen. Doch der Vater hielt den Deckel seiner Geldschatulle während der gesamten Semesterferien eisern zu und ließ ihn erst Anfang November bei Vorlesungsbeginn die Reise nach München antreten.

Student in München 1911-1914

„München leuchtete“ – mit diesen beiden, mittlerweile fast geflügelten Worten zur Eröffnung seiner 1902 erschienenen Erzählung GLADIUS DEI trifft Thomas Mann haargenau den Punkt, wodurch sich München um 1900 vor allen anderen deutschen Großstädten auszeichnete: Die Stadt war Leuchtfeuer und Lichtblick zugleich.59 Als der 20jährige Semy Weissmann Ende Oktober 1911 in München eintraf und sich für das kommende Semester an der Philosophischen Fakultät der Universität immatrikulierte, war er sogleich fasziniert von der Isarmetropole, die wie keine andere deutsche Stadt südländisches Flair verströmte und den Geist der Pariser Belle Époque atmete. München vereinigte Bodenständigkeit und kultiviertes Raffinement, vermengte Musenkuss, Lebenslust und Katholizismus zu bajuwarischer Gemütlichkeit. Die Stadt lockte mit geschäftigen Boulevards und stillen Seitenstraßen, glänzte mit tempelgleichen Bauwerken und weitete die Lungen durch ihre öffentlichen Parks. Ein reiches Kunstleben überstrahlte manch dunkles Loch im sozialen Gewebe und alle gesellschaftlichen Schranken fielen in der fröhlichen Geselligkeit der Biergärten. Schwabing war das Münchner Gegenstück zum Pariser Montparnasse, ein Parnass der deutschen Bohème (oder was sich dafür hielt) mit dem Dichter Stefan George als Hohepriester und der angesagtesten Kabarettbühne der „Elf Scharfrichter“ in der Türkenstraße als Komödiantentruppe. In Sachen Musik glänzte München kaum weniger als die Hauptstadt des Reiches. Dafür sorgten mehrere bedeutende Musiktheater, Orchester und Chöre sowie eine lebendige kammermusikalische Szene. Und eine aus der Freundschaft der drei Komponisten Richard Strauss, Max von Schillings und Luwig Thuille hervorgegangene „Münchner Schule“, die eine ganze Generation von – je nach Blickwinkel – Neu- bzw. Nachromantikern prägen und bis in die 1930er Jahre ein Begriff im deutschen Musikleben sein sollte.

1911 „leuchtete“ München immer noch wie zur Jahrhundertwende. Allerdings war im nasskalten Novemberwetter nicht viel zu spüren von der bezaubernden südländischen Atmosphäre, wie sie Thomas Mann eingefangen hatte. Weissmann hatte noch kein Zimmer und nahm daher in der Barerstraße 49 bei Dippert das erstbeste,60 hielt es aber dort nur einen Monat lang aus. Ab 9. Dezember 1911 wohnte er im dritten Stock des Hauses Adalbertstraße 33 bei Amalie Deschelmeyer,61 einer Tierarzt-Witwe, die darauf angewiesen war, Pensionsgäste bei sich aufzunehmen. Für einen Studenten war das Haus gut gewählt, denn im Erdgeschoss befand sich eine große Gastwirtschaft der Max Emanuel Brauerei samt Biergarten mit im Sommer schattenspendenden Kastanienbäumen.

Wie vom Vater verlangt, hatte er sich in der Philosophischen Fakultät immatrikuliert, zunächst mit Kunstgeschichte als Studienschwerpunkt, dann mit Geschichte im Sommersemester 1912. Daneben hörte er Vorlesungen über Literatur, Erkenntnistheorie und zur Geschichte der Philosophie. Im einzelnen lassen sich seine Münchner Studien nicht näher beschreiben, da alle Studienbücher verloren gegangen sind. Anzunehmen ist, dass er schon im Wintersemester 1911/12 damit begonnen hatte, sich im musikwissenschaftlichen Seminar umzusehen. Inhaber des dortigen Lehrstuhls war seit 1900 der Musikwissenschaftler und Komponist Professor Adolf Sandberger (1864-1943). Er war ein Schüler des Komponisten Josef Rheinberger und wurde 1887 mit einer Arbeit über Peter Cornelius, den Komponisten der komischen Oper DER BARBIER VON BAGDAD, promoviert. Obwohl er sich selbst mehr Bedeutung als Komponist zumaß, liegen Sandbergers Verdienste vor allem bei der Herausgabe der DENKMÄLER DER TONKUNST IN BAYERN und des NEUEN BEETHOVEN-JAHRBUCHS sowie seiner Beschäftigung mit den Werken von Orlando di Lasso. Als Lehrer von u. a. Werner Egk (1901-1983), Felix Raabe (1900-1996) und Hans von Benda (1888-1972) blieb der Antisemit Sandberger,62 der ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war, nicht ohne Einfluss auf eine Komponistengeneration, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus profilierte. Sandbergers Stellvertreter an der Universität war Professor Theodor Kroyer (1873-1945), früher als Musikredakteur der Münchner Allgemeinen Zeitung ein unermüdlicher Vorkämpfer für Max Reger und jetzt als Musikwissenschaftler eine Koryphäe auf dem Gebiet niederländisch-italienischer Musik des 16. Jahrhunderts.