Der vergessliche Riese - David Wagner - E-Book

Der vergessliche Riese E-Book

David Wagner

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Beschreibung

Eine Familie, die vielleicht nur mit Unterbrechungen eine war, erlebt einen Rollentausch: Der Vater, zweifach verwitwet, ist wieder Kind geworden. Er braucht Betreuung und wird sein Haus verlassen müssen, denn er vergisst, was gerade eben noch gewesen ist. Immer wieder erzählt er seine Liebesgeschichten, und manchmal phantasiert er. Nach dem Bestseller "Leben", ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, schafft David Wagner etwas, das sehr kostbar ist: Er zeigt einen Menschen, der – obwohl er nur noch in der Gegenwart lebt und allmählich verschwindet – unverwechselbar bleibt mit all seinen liebenswerten Eigenheiten und den Erinnerungen, die er noch hat. Die Zärtlichkeit, die der Erzähler ihm bei seinen Besuchen und auf zahlreichen Autofahrten zu Orten der Vergangenheit entgegenbringt – "hier haben wir gewohnt, Papa, hier hast du gearbeitet, hier bist du aufgewachsen" –, berührt tief, auch die Geduld, der Humor, das Ausbleiben von Hadern und Wut. Ganz leise, fast unmerklich, schreitet die Demenz voran, doch sie verläuft hier ohne Schrecken. Der alte Galan, den seine Brüder wie früher Valentino nennen, ist glücklich, obwohl er weiß, was mit ihm ist. Ein großes Thema unserer Zeit, das immer mehr Menschen betrifft. Und eine unvergessliche Erzählung.

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David Wagner

Der vergessliche Riese

Über dieses Buch

Eine Familie erlebt einen Rollentausch: Der Vater, zweifach verwitwet, ist wieder Kind geworden. Er braucht Betreuung und wird sein Haus verlassen müssen, denn er vergisst, was gerade eben noch gewesen ist. Immer wieder erzählt er seine Liebesgeschichten, und manchmal phantasiert er.

Nach dem Bestseller «Leben», ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, schafft David Wagner etwas, das sehr kostbar ist: Er zeigt einen Menschen, der – obwohl er nur noch in der Gegenwart lebt und allmählich verschwindet – unverwechselbar bleibt mit all seinen liebenswerten Eigenheiten und den Erinnerungen, die er noch hat. Die Zärtlichkeit, die der Erzähler ihm bei seinen Besuchen und auf zahlreichen Autofahrten zu Orten der Vergangenheit entgegenbringt – «hier haben wir gewohnt, Papa, hier hast du gearbeitet, hier bist du aufgewachsen» –, berührt tief, auch die Geduld, der Humor, das Ausbleiben von Hadern und Wut. Ganz leise, fast unmerklich, schreitet die Demenz voran, doch sie verläuft hier ohne Schrecken. Der alte Galan, den seine Brüder wie früher Valentino nennen, ist glücklich, obwohl er weiß, was mit ihm ist.

Ein großes Thema unserer Zeit, das immer mehr Menschen betrifft. Und eine unvergessliche Erzählung.

Vita

David Wagner, 1971 in Andernach geboren, debütierte mit dem Roman «Meine nachtblaue Hose». Es folgten der Erzählungsband «Was alles fehlt», das Prosabuch «Spricht das Kind», die Essaysammlungen «Welche Farbe hat Berlin» und «Mauer Park», die Kindheitserinnerungen «Drüben und drüben» (mit Jochen Schmidt), der Roman «Vier Äpfel», der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, und «Ein Zimmer im Hotel». 2013 wurde ihm für sein Buch «Leben» der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen, 2014 erhielt er den Kranichsteiner Literaturpreis und war erster «Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessor für Weltliteratur» an der Universität Bern. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.

1

«Was machst du denn hier, Freund?»

Mein Vater steht neben dem Obststand am Hamburger Hauptbahnhof, hinter ihm ist das Schauspielhaus zu sehen. Er hat den Mantel über dem Unterarm, Koffer und Tasche zu seinen Füßen. Sein Haar ist weiß, fast lang, und seine Haut im Gesicht ein bisschen rosig. Er lächelt.

«Wir sind verabredet», sage ich.

«Ach ja? Und woher kommst du?»

«Aus Berlin.»

«Mit der Bahn?»

«Ja, gerade eben.»

«Und was machen wir?»

«Wir fahren nach Bonn, Papa.»

«Mit dem Auto?»

«Nein, mit dem Zug.»

«Brauche ich eine Fahrkarte?»

«Du hast schon eine. Sie steckt in deinem Portemonnaie. Jedenfalls hat Miriam mir das am Telefon gesagt.»

Wie immer, wenn ich ihn sehe, wundere ich mich, dass er noch da ist, dass er doch noch da ist, dass es ihn noch immer gibt. Über Jahre, über zwei Jahrzehnte, haben wir uns kaum gesehen. Er hat sich nie sonderlich für mich und meine Familie interessiert – umgekehrt aber genauso, er war verheiratet, immer beschäftigt.

Wir kaufen Äpfel und Mandarinen für die Fahrt und schlendern in die Buchhandlung im überfüllten Bahnhofsgebäude. Er möchte die Sonntagszeitung und den neuen Spiegel lesen, obwohl der zu Hause auf ihn wartet, er hat ihn noch immer abonniert.

«Früher hast du ihn montagmorgens am Bahnhof in Andernach gekauft, abends habe ich ihn dir dann aus der Aktentasche geklaut», sage ich, weil ich möchte, dass er sich erinnert.

Unser Zug, ein Intercity, die Waggons sind unter der neuen Lackierung leicht verbeult, steht schon im Gleis. Meine Schwester Miriam ist sparsam und bucht immer die günstigste Verbindung, reserviert hat sie nicht. Wir finden zwei freie Plätze im Großraumabteil; mein Vater braucht Platz für seine Beine und setzt sich an den Gang, ich sitze lieber am Fenster.

«Wohin fahren wir?», fragt er.

Der Zug hat sich noch nicht bewegt.

«Nach Bonn, Papa.»

«Und wo sind wir gewesen?»

«Du warst in Hamburg. Bei Vivienne.»

Er schaut mich fragend an.

«Bei Claires Tochter. Die letzten beiden Wochen. Sie hat dich nach der Beerdigung mitgenommen.»

«Ach ja, sie wohnt in Hamburg.»

«Ihr Mann, dein Stiefschwiegersohn, hat dich vorhin zum Bahnhof gefahren.»

«Der Dings, wie heißt er?»

«Dirk.»

«Stimmt. Er hat mich in seinem Range Rover gebracht. Der Hund war dabei, der verliert überall seine Haare.»

«Weißt du, wie das heißt, wo du eben ausgestiegen bist?»

«Wie?»

«Kiss-&-Ride-Zone.»

«Hätte ich ihn zum Abschied küssen sollen?»

«Unbedingt.»

Er lacht. «Wohin fahren wir jetzt?»

«Nach Bonn.»

«Und ich war in Hamburg.»

«Ja, seit der Beerdigung.»

«Seit welcher Beerdigung eigentlich, Freund?»

Ich nehme seine Hand, die mir nun gar nicht mehr so groß vorkommt wie früher. Sie war mal riesig, jetzt fühlt sie sich an wie eine Kinderhand. Ich drücke sie, halte sie fest.

«Claire ist doch gestorben, Papa. Deine zweite Frau. Viviennes und Jonathans Mutter.»

«Die arme Claire. Und das war vor drei Wochen?»

«Ja.»

«Nun ist mir schon die zweite Frau weggestorben. Ich muss ja schwer auszuhalten sein.»

«Nein, eigentlich bist du ganz gut auszuhalten. Alle sind immer gern mit dir zusammen.»

Der Intercity schiebt sich aus dem Bahnhof, die Waggons quietschen und ächzen, als hätten sie keine Lust auf die Reise. Hamburg zieht vorbei, wir überqueren die Norder- und die Süderelbe. Mein Vater schlägt die Sonntagszeitung auf und pflückt sie auseinander, er liest, aber ich weiß nicht, ob er wirklich liest oder sich nur ein Wort nach dem anderen ansieht und sich an dasjenige, das er gerade vor Augen hat, beim nächsten schon nicht mehr erinnert.

Nicht weit hinter Wilhelmsburg schäle ich die erste Mandarine und beiße in das Brot, das ich aus Berlin mitgebracht habe.

«Möchtest du probieren?»

«Was ist da drauf?»

«Käse.»

«Nein danke.»

«Eine Mandarine?»

Er nimmt sich eine aus der braunen Papiertüte und lässt sie von einer Hand in die andere wandern. «Ich vergesse leider alles», sagt er und zieht die Nase hoch.

«Nicht alles. Ein paar Dinge weißt du schon noch. Du weißt, wo du wohnst und wie deine Kinder heißen.»

«Miriam und Hanna. Und du.»

«Siehst du.»

«Trotzdem, ich verblöde langsam. Tante Gretl hat gesagt, die Dublany sind sehr intelligent, im Alter aber werden sie alle blöd.»

«Hat sie das wirklich gesagt? Es gibt in deiner Familie doch einige, die sind nicht verblödet. Und so alt bist du noch gar nicht, Papa. Du bist erst einundsiebzig!»

«Die Dublany sind sehr intelligent, im Alter aber werden sie alle blöd.»

«Hast du kein Taschentuch, Papa?»

«Doch», sagt er, nimmt ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzt hinein.

Seine Stofftaschentücher. Hatte er immer. Früher hingen sie auf der Wäschespinne im Garten, in mehreren Reihen, weiß und hellblau, manche mit Monogramm. Fünf Minuten später, wir rollen durch die Nordheide, muss ich ihn wieder an sein Taschentuch erinnern.

«Hoffentlich ist es nicht so kalt im Haus», sagt er. «Das Haus kühlt aus, weißt du.»

«Du kannst doch ein Feuer im Kamin anmachen.»

«Habe ich die Heizung abgestellt, als wir abgefahren sind?»

«Hast du bestimmt.»

«Wie lange war ich weg, Freund?»

«Über zwei Wochen.»

«Und wo war ich noch mal?»

«Bei Vivienne, deiner Stieftochter, in Ottensen.»

«Ach ja. Stimmt.» Er schaut in die Zeitung und dann wieder in meine Richtung. «Und wohin fahren wir jetzt? Nach Berlin?»

«Nein, Papa. Nach Bonn.»

«Zeig mal deine Uhr», sagt er und greift nach meinem Arm. «Das ist doch meine!»

«Die hast du mir geschenkt.»

«Tatsächlich?»

«Vor über zehn Jahren.»

«Richtig, ich konnte sie nicht mehr lesen. Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich vergesse leider alles.»

«Nicht alles. Noch weißt du, wo du wohnst und wie du heißt. Und wie deine Kinder heißen. Und deine Enkelkinder.»

«Wie heißt deine Tochter noch mal?»

«Sie heißt Martha.»

«Und wie alt sie jetzt?»

«Vierzehn, Papa.»

«So groß? Hat sie schon einen Freund?»

Ich antworte nicht, sondern schaue aus dem Fenster. Die Norddeutsche Tiefebene ist aufregender, als ich dachte: Felder, Wiesen, Baumärkte, verfallene Bahnanlagen, Parkplätze, Kühe und Tankstellen wechseln sich ab. Mir fallen die Augen zu.

«Hier habe ich auch mal unterrichtet», sagt mein Vater, als wir in Bremen halten.

Da ich nicht wusste, dass ein Zug, der von Hamburg nach Bonn fährt, auch in Bremen hält, greife ich nach dem Zugbegleiter, dem Faltblatt der Deutschen Bahn, das in der Netztasche des Vordersitzes steckt. Als ich feststelle, dass es in einen anderen Zug gehört, befrage ich mein Telefon.

«Bevor wir nach Dortmund kommen, halten wir noch in Osnabrück und Münster», sage ich. «Eine kleine Tour de Deutschland, Papa.»

«Münster und Osnabrück klingen nach Dreißigjährigem Krieg», sagt er und zieht wieder die Nase hoch. «Und nach Westfälischem Frieden. Was für ein Telefon hast du da?»

«Ein iPhone, Papa.»

«Und was machst du gerade?»

«Ich schaue nach, wo wir sind und wie wir fahren. Und wie es im Fußball steht.»

«Dein Telefon weiß das?»

«Mein Telefon weiß alles.»

«Weiß es auch, wo du bist, was du gestern gemacht hast und was morgen passieren wird?»

«Es weiß immer, wo ich bin. Deshalb weiß auch ich immer, wo ich bin, ich muss es nur befragen. Und fotografieren kann es auch, sieh mal!» Ich mache ein Bild von ihm und zeige ihm dann neuere Fotos von Martha und andere, die ich in den letzten Wochen in Berlin und sonst wo aufgenommen habe.

«Ich glaube, ich kaufe mir auch so ein Telefon.»

«Papa, du hast eins. Und ein iPad hast du auch.»

«Ach ja? Wirklich? Wo?»

«Es liegt wahrscheinlich zu Hause. Du steckst es bloß nie ein.»

 

Es ist schon dunkel, als wir in Bonn ankommen. Wir steigen aus, gehen die Treppe hinunter, auf der anderen Seite wieder hinauf und setzen uns in eines der beiden Taxis, die vor dem Bahnhof warten. Es regnet, der Scheibenwischer macht sein Scheibenwischergeräusch. Als wir die Poppelsdorfer Allee hinunterfahren, sehe ich, wie viele Fenster erleuchtet sind an einem Sonntagabend im November. Gern würde ich etwas sagen über das goldgelbe, bernsteinfarbene Licht, das aus den Häusern auf die Straße fließt, aber mir fällt nichts ein. Mein Vater, bisher war er still, wundert sich über die Route, die der Taxifahrer eingeschlagen hat, und verdächtigt ihn, Umwege zu fahren. Erst als wir auf der Autobahn sind, kennt er sich wieder aus.

Schon im Windfang des Hauses merke ich, wie warm es ist. Nicht bloß warm, es ist heiß. Und das Haus riecht frisch geputzt.

«Erfrieren werden wir nicht», sage ich.

«War die Heizung etwa die ganze Zeit an? Habe ich die nicht ausgemacht?»

«Weiß ich nicht, Papa. Ich war nicht da, als du abgefahren bist.»

Er stellt seinen Koffer an der Garderobe ab, hängt den Mantel über einen Bügel, geht zu der Standuhr hinter der zweiten Glastür und zieht sie auf. Danach zieht er den Regulator neben dem Klavier und die Comtoise im Wohnzimmer auf. Das große Ticken hebt an, das Haus erwacht, bald schlägt die erste Uhr die Viertelstunde. Ich wasche mir die Hände und gehe in den Keller hinunter, schaue in die Schubfächer des Tiefkühlschranks, öffne eine Lade nach der anderen und finde eine Reihe Gefrierbehälter – Miriam hat vorgekocht und portionsweise eingefroren, als sie das letzte Mal hier war. Ich wähle einen, dessen Etikett sie mit «Curry (Tofu & Huhn)» beschriftet hat, und nehme ihn mit nach oben. Mein Vater kniet, der Fernseher läuft, vor dem Kamin und schichtet Holzscheite über dünne Äste und zusammengeknülltes Zeitungspapier, extralange Zündholzer liegen bereit.

«Ist dir kalt?», frage ich, ohne eine Antwort zu erwarten, und gehe in die Küche.

Ich setze Reis auf und halte die Tupperdose mit dem tiefgefrorenen Curry unter laufendes heißes Wasser, öffne sie und stelle sie in den Mikrowellenherd, denke dann aber daran, dass Mikrowellen ja nicht so gut sein sollen. Was bewirken sie noch mal? Ich nehme den Gefrierbehälter wieder heraus und befördere den noch immer gefrorenen, nun aber lose im Gefäß sitzenden Curry-Klotz in einen Topf, gebe ein wenig Wasser hinzu und stelle ihn auf den Induktionsherd. Mein Vater, er hat mitbekommen, dass ich koche, legt Sets aus hellem Stoff auf den Glastisch, nimmt frisch gebügelte Servietten aus der obersten Schublade der Anrichte, stellt Teller und Weingläser auf den Tisch und entkorkt eine Flasche Rotwein.

«Reis kochen kannst du nicht», sagt er, als wir essen.

Ich widerspreche ihm nicht. Der Reis ist zwar nicht angebrannt, aber matschig.

«Sonst schmeckt es sehr gut, Freund. Hast du das gekocht?»

«Nein, nur aufgewärmt. Miriam hat vorgekocht und eingefroren, damit du hier etwas zu essen hast.»

«Sie ist so ein liebes Mädchen.»

«Papa, sie ist kein Mädchen. Sie ist achtundvierzig Jahre alt und zweifache Mutter.»

«Ach so, stimmt. Sie ist ja schon groß. Sie ist die Älteste, sie kümmert sich um mich.»

Als wir aufgegessen haben, trägt er die Teller in die Küche, räumt sie in den Geschirrspüler und sortiert das Besteck in die Lade: Messer rechts, Gabeln links, der Platz für die Löffel ist dahinter.

«Scheißding, geh doch an!», höre ich ihn kurz darauf im Wohnzimmer fluchen.

Ich sitze noch im Esszimmer und spiele mit den Kreiseln, die zwischen den beiden dicken roten, eckigen Kerzen auf dem Glastisch gelegen haben. «So eine Scheiße!» Ich stehe auf und sehe ihn mit zwei Fernbedienungen auf den Bildschirm zielen, wie ein Revolverheld aus einem Sergio-Leone-Western, eine Waffe in jeder Hand. «Vorhin, vor dem Essen, ging er doch noch», sage ich.

Er drückt weiter auf den Fernbedienungen herum, schießt die Trommeln leer.

Es gibt, ich zähle sie jetzt, insgesamt vier Fernbedienungen: eine für den Fernseher, eine für den Satellitenreceiver, eine für den DVD-Spieler und eine für die Stereoanlage, über die der Ton des Fernsehers läuft. Ton ist zu hören, ein Bild jedoch ist nicht zu sehen. Er flucht weiter und drückt Tasten und Knöpfe, schließlich, o Wunder, erscheint ein gestochen scharfes Bild auf dem Schirm, der, das fällt mir jetzt erst auf, flach wie ein Gemälde an der Wand hängt und fast so groß wie eine kleine Kinoleinwand ist.

«Habt ihr den neu?», frage ich. «Wann habt ihr ihn gekauft?» An den Singular, daran, dass mein Vater nun allein ist, muss ich mich noch gewöhnen.

«Den Fernseher? Neu? Kann sein.»

Er geht zum Kamin, klappt das Schutzglas zur Seite, stochert ein wenig in der Glut, legt ein Scheit nach und starrt in die aufflackernde Flamme. Mittlerweile ist es so heiß, dass ich nach dem Pullover auch das Hemd ausgezogen habe.

 

Ich verschlafe den Wecker, vielleicht habe ich ihn aber auch gar nicht gestellt. Mein Vater kommt angezogen ins Zimmer, sagt, es sei schon halb neun, es gebe keine Brötchen mehr im Tiefkühler, er wolle nun welche kaufen fahren.

«Nein, warte!», sage ich und springe aus dem Bett. Ich schlüpfe in die Sachen, die ich gestern über den Stuhl geworfen habe, und folge ihm nach unten, weil ich befürchte, er könnte sich allein ins Auto setzen und einfach losfahren. Was er nicht mehr darf.

Vor dem Haus stellen wir fest, dass die Scheiben des Golfs völlig vereist sind.

«Nehmen wir halt den Mercedes», sagt mein Vater.

Wir gehen zurück ins Haus und durch den Gang mit den beiden Feuerschutztüren in die Garage. Stünden hier nicht so viele Räder und Mülltonnen herum, hätten beide Autos Platz.

«Wohin fahren wir?», fragt er, als das Tor sich hinter uns hebt.

«Brötchen kaufen», sage ich und setze zurück. Der Wagen, ein SUV, rollt wie von selbst hinaus, ich muss mich nicht einmal umdrehen, der Monitor in der Mittelkonsole zeigt die leere Einfahrt. «Habt ihr dieses Monstrum wegen der Rückfahrkamera gekauft?» Claire, erinnere ich mich, konnte den Kopf schlecht drehen, ihr tat das immer weh.

«Wegen der Kamera? Ich weiß nicht mehr, warum wir ihn gekauft haben. Toller Wagen eigentlich. Trotzdem ein Fehlkauf.»

Er lotst mich auf den frisch gepflasterten Parkplatz eines Supermarktes, dessen kümmerliche Begrünung in den schmalen, mit Betonelementen eingefassten Beeten den Winter nicht gut überstanden hat. Der Flachbau schimmert in der Morgensonne.

«Sieht ja alles sehr neu aus», sage ich,

«Der Edeka? Ja, der ist neu. Oder fast neu. Hat vor einigen Monaten eröffnet.»

Es ist noch nicht viel los. Ich parke in der Nähe des Eingangs und beginne, mich darüber zu ärgern, dass wir in einem SUV Brötchen kaufen fahren.

«Wie viel mehr Energie verbraucht das Auto auf dieser Strecke verglichen mit der, die wir uns durch Schrippen wieder zuführen können? Das steht in keinem Verhältnis. So geht es doch nicht weiter.»

«Es wird sowieso nicht mehr lange so weitergehen, keine Sorge», sagt er, da stehen wir schon am Backstand. Eine der Verkäuferinnen, eine ältere Dunkelblonde, sie scheint ihn zu kennen, lächelt ihn an. Er lächelt zurück und sagt: «Zwanzig Brötchen, bitte!»

«Zwanzig? Wir sind nur zu zweit, Papa!»

«Was wir heute nicht essen, frieren wir ein.»

Zurück im Haus, unsere Ausfahrt hat nicht länger als eine Viertelstunde gedauert, staune ich, mit welcher Sorgfalt er das Frühstück zubereitet. Er wärmt Milch und schäumt sie auf, stellt ein Stövchen auf den Tisch und zündet ein Teelicht an, bedient den Vollautomaten, füllt den Kaffee in eine Porzellankanne um und verteilt die Tischsets mit Filzunterseite auf dem Glastisch – sie zeigen englische Landsitze und Londoner Gebäude nach Abbildungen aus dem neunzehnten Jahrhundert. An meinen Platz legt er den alten Glaspalast, «Crystal Palace» steht unter der Reproduktion. Die Wanduhr, die Comtoise, die in den letzten Jahren nicht gehen durfte, weil Claire ihr Ticken nicht ertrug, schlägt hell und klar die volle Stunde.

«So viel Zeit haben wir ja schon lange nicht mehr miteinander verbracht», sage ich.

«Du hast dich auch nie sehen lassen, Freund.»

«Und du bist nicht mehr nach Berlin gekommen.»

«Ich muss dich mal wieder besuchen», sagt er und beginnt, mir etwas aus der Zeitung vorzulesen. Tief unter dem Laacher See soll es leichte Erdbeben gegeben haben. «Es ist anzunehmen», liest er, «dass die Magmakammer unter der Caldera sich langsam wieder füllt.»

«Wann ist der Vulkan zuletzt ausgebrochen?»

«Vor fast dreizehntausend Jahren.»

«Hier ist er jetzt schon ausgebrochen, der Boden glüht. Du machst Dörrobst aus mir!» Ich stehe auf und öffne die Terrassentür.

«Nein, nein, du kannst jetzt nicht lüften! Wenn du die Tür aufreißt, verlieren wir die Wärme. Das ist der Nachteil einer Nachtspeicherheizung.»

«Wie, wir können nicht lüften? Sollen wir etwa ersticken?»

«Wir könnten ja die Heizung runterdrehen», sagt er, und ich folge ihm zum Reglerkasten im Keller.

Er öffnet ein kleines, in die Wand eingelassenes Schränkchen, das Heizungstabernakel, in dem sich vier Reihen retrofuturistischer Drehregler befinden: ein hoffnungslos veraltetes Wunderwerk der Technik aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Als wir gerade den Sollwert für das Wohnzimmer senken, höre ich das Festnetztelefon klingeln und gehe wieder hinauf.

Miriam ist am Apparat. Sie ruft aus ihrem Büro in München an und fragt, ob das Treffen am Hamburger Hauptbahnhof geklappt habe, ob wir gut angekommen seien und so weiter.

«Ja, hat alles geklappt», sage ich. «Wir verstehen uns ganz gut eigentlich, und von Claire hat er kaum gesprochen. Einmal hat er sogar gefragt, von welcher Beerdigung die Rede ist.»

Sie bittet mich, doch einige von Claires Sachen wegzuräumen, damit er nicht dauernd an sie denken muss. Ich halte das für eine gute Idee. Noch während wir telefonieren – wir überlegen gemeinsam, wie es weitergehen soll mit ihm –, nehme ich zwei der aufgeschlagen daliegenden englischen Bücher, in denen Claire zuletzt gelesen hat, und klappe sie zu. In einem steckt eine unbeschriebene Ansichtskarte, auf der, die Bildunterschrift verrät es, die Basilika von Vézelay im Burgund abgebildet ist. Miriam sagt, sie werde übermorgen kommen, und erinnert mich an die Termine mit dem Amtsarzt und dem Neurologen.

Nachdem ich aufgelegt habe, trage ich den Stapel der englischen Wohnmagazine Homes & Gardens und Country Living zur Altpapiertonne, die in der Garage steht. Dort finde ich einen leeren Karton, mit dem ich dann durchs Haus gehe. Ich fülle ihn mit den Dingen, die meinen Vater an Claire erinnern könnten, ihrer Lesebrille und dem Etui, den Büchern aus dem Wohnzimmer, fast allem, was auf ihrem Nachttisch steht, Kosmetika, Shampoos, Parfüms, Fläschchen, Tiegel, ihrer Zahnbürste. In einen zweiten Karton packe ich die Schuhe, die unter dem Spiegel im Eingangsbereich stehen. Ich raffe ihre Wintermäntel und Übergangsjacken von den Garderobenstangen und bringe alles in den Keller.

Das Telefon klingelt wieder. Jetzt ist Vivienne am Apparat und fragt, ob er geduscht habe. Er denke nicht mehr an so etwas, ich müsse ihn daran erinnern.

«Heute Morgen habe ich nichts gerochen», sage ich, «aber vielleicht ist meine Nase nicht fein genug.»

Sie erzählt, wie anstrengend es mit ihm in Hamburg gewesen sei, weil er sich nichts mehr merken könne. Und dass sie mit ihm eine Wohnung im Augustinum angesehen habe, in einem früheren Kühlhaus an der Elbe, gleich am Heine-Park. Und dass er sich vorstellen könne, dort zu wohnen.

«In Hamburg?», frage ich. «Warum in Hamburg?»

«Irgendwo muss er doch hin. Er wird nicht allein in Meckenheim wohnen bleiben können.»

Wir legen auf. Ich höre, wie er die Spülmaschine ausräumt und dabei singt – «zu seiner Schwester schwang er sich her; die Liebe lockte den Lenz» –, seine Lieblingsverse aus der Walküre, er singt sie in Schleife, auf Wiederholung. Und fängt plötzlich, ich bin Richtung Küche gegangen und stehe nun hinter ihm, an zu weinen. Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und beginne, ihn mit der anderen zärtlich zu boxen, wie wir es immer gemacht haben, einige leichte Schläge auf die Brust – «in unsrem Busen barg sie sich tief; nun lacht sie selig dem Licht» –, ein paar in die Seite. Es macht keinen Spaß, er wehrt sich kaum.

«Du spinnst ja», sagt er. «Du bist total verrückt, pass auf, wenn ich dich –»

«Lass uns eine Runde drehen», unterbreche ich ihn.

«Warum? Wohin?»

«Bewegung tut not. Du musst dich ein bisschen bewegen.»

«Ich muss gar nichts», sagt er, «ich bin ein freier Mensch.» Zieht dann aber doch seinen Mantel an.

Zusammen verlassen wir das Haus und wandern durch das Neubaugebiet, das gerade dabei ist, sich in ein Altneubaugebiet zu verwandeln, vorbei an Einfamilienhäusern, Hütten und kleinen Palästen, für die Familien sich hoch verschuldet haben müssen, vorbei an schmiedeeisernen Hausnummern, getrimmten Hecken, Garten-Trampolinen und getöpferten Namensschildern. Westdeutschland, wie es wohnt – und ich frage mich nicht zum ersten Mal, wie ein Land so reich und zugleich so hässlich sein kann.

Wo die Bebauung mit neueren, jüngeren Häusern ausfranst, fangen die Obstwiesen an. Bevor wir die Bundesstraße überqueren, kommen wir an einem doppelt umzäunten Bürogebäude vorbei. Ich sehe drei Überwachungskameras an jedem Mast und zähle allein auf dieser Seite sechs Masten, auf dem riesigen Parkplatz noch einige mehr.

«Das Bundeskriminalamt», sagt mein Vater.

«Ja, Papa. Ich weiß.»

«Wir wohnen gut bewacht. Uns kann nichts passieren.»

Wir überqueren die Bundesstraße und gehen auf einem asphaltierten Wirtschaftsweg durch die Apfelkulturen.

«Um die Luft für den Obstbau rein zu halten, durften hier nur Häuser mit Elektroheizungen gebaut werden», erklärt mein Vater. «Das war in den Jahren, als Atomkraftwerke alle Energieprobleme lösen sollten.»

«Aber das war doch sehr ökologisch gedacht. Der Strom kam aus der Steckdose, nicht mehr aus der Braunkohle von Garzweiler.»

«Manchmal redest du richtigen Blödsinn, Freund.»

«Was ich nie verstanden habe: Wieso seid ihr damals überhaupt hierhergezogen? Aus Masochismus?»

«Claire wollte weg aus Andernach, weg vom Kleinstadtklatsch, die ganze Stadt sprach damals ja von ihrer Trennung. Sie wollte unbedingt in ein anderes Haus. Und groß sollte es sein. Und in Godesberg war es entweder zu laut oder zu teuer.»

«Und deshalb seid ihr in die Autobahnidylle gezogen?» Schon länger habe ich den Verdacht, dass er nie hierher wollte, er konnte es Claire nur nie sagen.

Eine Dreiviertelstunde marschieren wir durch in Reih und Glied stehende Armeen von Apfelbäumchen, dann erreichen wir die Apfelhauptstadt Alt-Meckenheim. Es gibt eine Apotheke, einen Juwelier, ein Elektrofachgeschäft, eine Schreibwarenhandlung, einen Ein-Euro-Shop und ein Spielwarengeschäft, in dem auch Fahrräder verkauft werden.

«Schau dich um, Freund: Big Apple und sein Broadway. Aber die Buchhandlung hat leider zugemacht.»

Wir sehen durch ein Schaufenster in einen Laden, in dem nur noch leere, jetzt verstaubte Regale stehen.

«Ein nettes Ehepaar hat das Geschäft geführt, dann ist einer der beiden krank geworden.»

«Eine neue wird wahrscheinlich nicht eröffnen, oder?»

«Eher nicht», sagt er und bleibt vor einem Uhrenfachgeschäft stehen. «Geschlossen. Hier habe ich die Uhr zur Reparatur abgegeben.»

«Welche denn?»

«Die Dings, die … die … – ich muss sie halt mal abholen.»

«Wann hast du sie dort abgegeben?»

«Weiß ich nicht mehr. Vor ein paar Wochen? Der Abholzettel hängt in der Küche.»

Wir gehen an zwei älteren Damen vorbei, die sich vor der Metzgerei unterhalten, dann kommt uns eine jüngere Frau entgegen, die einen Zwillingskinderwagen schiebt. Als wir zur Seite treten, um sie durchzulassen, schaut mein Vater interessiert in den Wagen.

«Das sind aber süße Kinder!», sagt er.

Die junge Mutter lächelt, bedankt sich und wünscht uns einen schönen Tag.

Wir sehen ihr hinterher.

«Nach seiner großen Karriere im Tausendjährigen Reich und den Jahren im Gefängnis hat mein Vater angefangen, Kinderwagen zu verkaufen. Manchmal auch Zwillingskinderwagen.»

«Na, Papa, mit so was kannte er sich nach neun Kindern doch sicher aus, oder?»

Weil alle Lokale geschlossen haben, setzen wir uns in die Konditorei und bestellen das Mittagsgericht, Spinatlasagne. Er möchte Weißwein trinken und greift nach der Zeitung, die auf dem Nebentisch liegt. Es ist der Generalanzeiger, den er am Morgen schon gelesen hat. Als das Essen kommt, legt er ihn wieder weg und sagt:

«Steht auch immer dasselbe drin.»

Am Ecktisch sitzen drei alte Damen und sprechen über Hausverkäufe, Pflegeheime und Betreutes Wohnen.

«Ich möchte», sagt er plötzlich, «nicht allein im Haus wohnen bleiben.»

Hat er, frage ich mich, mitbekommen, was ich vorhin mit Vivienne besprochen habe? Oder hört er, worüber die drei Damen reden? «Wo möchtest du denn wohnen, Papa? Im Augustinum? Hat es dir dort gefallen?»

«Augustinum? Wo ist das?»

«In Hamburg, gleich an der Elbe. Das Wohnheim, das du mit Vivienne besichtigt hast.»

«Das Altenkühlhaus, ach ja.» Er schüttelt den Kopf. «Schöne Wohnung und gleich am Wasser, aber da wohnen doch nur alte Leute.»

«Ja, das ist in Altenheimen so. Daher ihr Name.»

«So, so, Sohn ist heute wieder sehr schlau.»

Wir machen uns auf den Heimweg, gehen weiterhin zu Fuß. Er wird, der Wein hat geholfen, immer lustiger. Als wir im Wendehammer ankommen, sage ich, dass wir über sieben Kilometer gegangen seien.

«Sieben Kilometer? Woher weißt du das?»

«Das Telefon weiß alles. Es zählt jeden Schritt und merkt sich, wie viel und wohin ich mich bewegt habe. Es ist das perfekte Überwachungsinstrument.»

«Sieben Kilometer! Nicht schlecht.»

«Sieben sind fast zu wenig. Zehn sollten es am Tag schon sein. Du darfst einfach nicht mehr mit dem Auto Brötchen holen.»

 

Um kurz vor halb sechs klingelt es. Vor der Tür steht, er hatte sich angemeldet, ein Herr von der Pflegefirma, die meinen Vater betreuen könnte. Auch diesen Termin hat Miriam vereinbart.

Wir setzen uns an den Glastisch im Esszimmer, und er zählt auf, was möglich wäre – wie oft und für wie lange eine Pflegekraft vorbeischauen könnte. Er ist auch gekommen, um uns auf die Prüfung durch den Amtsarzt vorzubereiten, der gleich eintreffen wird und die Pflegestufe bestimmen soll.

Während wir uns unterhalten, ich habe Gläser und eine Flasche Mineralwasser auf den Tisch gestellt, wird mir klar, dass er für seine Firma ein Interesse an einer möglichst hohen Einstufung hat. «Soll ich ein bisschen Unordnung machen?», frage ich. «Leider war unsere Reinigungskraft gerade da.»

Der Amtsarzt, er kommt um sechs dazu, ist ein freundlicher Herr um die sechzig. Er beginnt ganz unmerklich mit seinem Test. Er will wissen, welchen Tag wir heute haben, welchen Monat, welches Jahr. Als mein Vater nach dem Datum gefragt wird, sieht er auf seine Uhr. Er kann sagen, an welchem Tag er geboren ist, er kennt mein Geburtsjahr, weiß, wie viel sieben mal sieben und wie viel siebzehn mal drei sind, er schreibt seinen Namen und seine Anschrift fehlerlos auf ein Blatt Papier, das der Arzt aus seiner braunen Ledermappe gezogen hat, aber auf die Frage, in welchem Bundesland wir uns befinden, weiß er keine Antwort. Er kommt nicht darauf, ja, für einen Augenblick sieht es so aus, als ob er gar nicht verstünde, was mit dem Wort Bundesland gemeint ist.

Später, als beide gegangen sind – beim Abschied an der Tür fragte mein Vater den Amtsarzt, wer er eigentlich sei und ob er nicht hereinkommen wolle –, stehe ich wieder vor dem Tiefkühlschrank im Keller. Ich wähle, Miriam hat die Etiketten auf den Gefrierbehältern so ordentlich beschriftet, «Kartoffel-Lachs-Gratin».

«Es fehlt der Salat», sage ich beim Essen.

Mein Vater hat den Tisch auch diesmal sorgfältig gedeckt und eine der dicken roten Kerzen angezündet. «Haben wir keinen gekauft?»

«Nein, Papa, habe ich nicht dran gedacht.»

Statt Salat essen wir Vanilleeis, das ich ebenfalls im Tiefkühlschrank entdeckt habe, dazu warm gemachte Kirschen aus dem Glas.

«Uns geht’s gut, Freund.»

«Stimmt», sage ich. «Apfelstrudel am Nachmittag und Eis mit heißen Kirschen am Abend.»

«Apfelstrudel hatten wir heute auch schon?»

«Ja, in der Konditorei. Nach der Spinatlasagne.»

«Tatsächlich? Habe ich zum Glück vergessen.»

Mit den Eisschälchen, wir sind erwachsen, wir dürfen das, wandern wir hinüber ins Wohnzimmer. Mein Vater setzt sich in den Sessel, ein Designermöbelstück, das weniger unbequem ist, als es aussieht, und ich fläze mich auf die breite Couch. Die Fernbedienung in der Hand, schalte ich hin und her und lande bei Robin Hood, es läuft die uralte Verfilmung mit Errol Flynn, die wir beide kennen. Wahrscheinlich haben wir sie auch einmal zusammen mit Miriam gesehen, irgendwann vor gefühlt hundert Jahren, an einem Samstag- oder Sonntagnachmittag – vielleicht hatte sie, das machte sie gern, die Ankündigung in der Programmzeitschrift angekreuzt. Wir amüsieren uns darüber, wie der immer strahlende Errol-Flynn-Robin-Hood und seine Geächteten in ihren Strumpfhosen durch den kalifornischen Studio-Sherwood-Forest hüpfen, und finden, dass es sich im Grunde um einen Tanzfilm handelt, ein Ballett zwischen Bäumen in Technicolor.

«Der Farbfilm», sagt er, «wurde für Errol Flynns grüne Strumpfhosen erfunden.»

«Ja, alles sieht so knusprig aus. Wie gemalt.»

«Und die Musik», sagt er, «ist das nicht Korngold? Sieht nicht nur aus wie Oper, hört sich auch so an.»

Ich schaue auf mein Telefon und lese, dass die Filmmusik tatsächlich von Erich Wolfgang Korngold komponiert wurde, und noch während ich vorlese, dass er lange nach seiner Wunderkindzeit und dem großen Erfolg mit der Toten Stadt als Filmkomponist in Hollywood lebte und für The Adventures of Robin Hood, wie der Film im Original heißt, 1938 seinen zweiten Oscar gewann, fällt mir ein, dass ich das alles schon einmal wusste.

 

Wir sitzen Zeitung lesend am Frühstückstisch, da klingelt es wieder. Ich gehe zur Haustür, öffne und sehe die Nachbarin vor mir stehen, sie und ihr deutlich älterer Mann wohnen schräg gegenüber.

«Mein Lieber! Da bist du endlich wieder!», ruft sie, strahlt mich an und versucht, mich zu umarmen – was nicht funktionieren kann, weil sie einen Teller in der Hand hält, auf dem fast ein Viertel eines Frankfurter Kranzes steht. «Mein Lieber, da bist du ja», wiederholt sie, als mein Vater neben mir auftaucht.

Sie dürfte in seinem Alter sein, eher etwas jünger, und offenbar hat sie mich mit ihm verwechselt. Später erfahre ich, dass sie im Besitz eines Hausschlüssels ist und vor unserer Ankunft die Heizung angedreht hat. Sie wusste also, dass wir kommen.

«Ja, ich glaube, sie schätzt mich», sagt mein Vater, als sie wieder gegangen ist und wir ihren Kuchen probieren, der das perfekte Krokantkleid hat. «Sie ist», die Haselnüsse knirschen zwischen unseren Zähnen, «eine sehr liebe Frau.»

Und ich höre Onkel Hermann, einen seiner Brüder, sagen: «Valentino, Valentino, pass mir ja auf!»

In der Post, die ich vom Briefkasten an der Haustür mitgebracht habe, finde ich zwei verspätete Beileidsschreiben und eine Karte des Wasserversorgers, es wird nach dem Zählerstand gefragt.

«Wo war noch mal die Wasseruhr, Papa? Wo ist der Zähler?»

«Na, im Keller natürlich.»

Wir steigen die Treppe hinab und wandern durch das Souterrain. Alle Wände sind verputzt und weiß gestrichen, die Decken neubauhoch.

«Wolltet ihr hier unten mal wohnen?», frage ich im größten Raum, der mit Teppichboden ausgelegt ist.

Die lange Wand ist vollgestellt mit den Büchern, die oben vor den Fenstern, das Haus besteht fast nur aus Glas, keinen Platz haben. Ich sehe eine Standuhr, eingerollte Perserteppiche und in der Ecke vor dem fünfflügeligen Kleiderschrank einen Klappsekretär, in dem sich, wie ich von Miriam weiß, Steuerunterlagen stapeln.

Mein Vater schaut sich um, als wäre er noch nie im Keller gewesen. «Alleine möchte ich hier nicht mehr wohnen.»

«Hier unten musst du auch nicht wohnen. Wir wollen nur den Wasserzähler finden.»

«Ach ja. Wo ist das Ding? Ich müsste es eigentlich wissen.»

Wir gehen in den Raum, in dem die Waschmaschine und der Trockner stehen. Der Estrichboden, der sich zu einem Abfluss hin leicht absenkt, ist grau gestrichen, einen Wasserzähler sehe ich nicht.

«Wo ist das Ding nur?» Er ist zurück in den Raum mit der Bücherwand gegangen. «Hier vielleicht?» Er öffnet den Heizungsreglerkasten.

«Nein, Papa. Das ist die Heizung, da haben wir gestern rumgedreht.»