Spricht das Kind - David Wagner - E-Book

Spricht das Kind E-Book

David Wagner

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Beschreibung

«Ein kleines Buch, von dem ein großer Zauber ausgeht.» (FAZ) David Wagner erzählt vom Glück, Vater und Kind zugleich zu sein: Er staunt über das magische Denken seiner Tochter, wundert sich über ihre Sprachspiele und berührt dabei die ganz großen Fragen: Was heißt es, auf der Welt zu sein? Was ist das Leben? Und warum geht der Kinderwagen immer dann kaputt, wenn wir ihn brauchen? «Das klügste, einfachste, kurzweiligste aller Bücher für angehende, praktizierende oder gewesene Familientiere.» (Die Zeit) «Mit David Wagner ist einer der scharfsichtigsten Beobachter des Alltags wieder da.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung) «Ein sehr zärtliches Buch über die Zumutungen der Vergangenheit.» (Kulturspiegel) «David Wagner hat ein im wahrsten Sinn des Wortes zauberhaftes Buch geschrieben über die Geheimnisse der Kindheit, über das Glück, ein Kind zu haben.» (Deutschlandradio) «Ein wunderbares Buch.» (Tagesspiegel)

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Seitenzahl: 150

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David Wagner

Spricht das Kind

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

KinderwagenRapunzelGäßchenStraßenbahnWachsenSpielplatzFragePotpourriOrdnungRegenwürmerKrokodilWölfeHänsel und GretelKinderbuchVorlesenLesenDie beiden TopflappenFaulenzerDurchschlagHauchdünne TäfelchenAuskunftTelefonAnrufbeantworterDas Bett ihrer UrgroßmutterNachtlichtHalbschlafAusziehspieleDie PlumeaubildhauerinEinschlafenTapeteÄhnlichkeitVerwandtschaftNicht so schlimmDie schöne LügeEnkelkindNur geliehenKinderrolleDu darfstBauchwehDie KleiderbügelSehnsuchtDas SchnickerhöschenBohrenBei deiner GeburtStrumpfPantoffelKrokusSchippeHöhere MannigfaltigkeitAuf der ZungeKüsseBöses SchafFleckenDicke Beine, StrubbelhaarSchlingelAngebenIch kaufeNeue SandalenDas SpringseilDie WesternstadtStofftiereNamenMatchboxSchweinebaumelnPuppenwindelTodesspritzeVersteckenElterngewitterFantaKopfhörerLuftwurzelZapfsäuleSie haben ihr Ziel erreicht (Verena erzählt)Der Riese und sein DäumlingAuf einem anderen KontinentBerufHöhleAlbumDie Schaukel im GartenDie SchreibtischschubladeKabäuschenFür dichKäseDurstBlaue LippenDie Wände der UmkleidekabinenAbdruckSchwimmstundeTag und Nacht, morgens, mittags, abendsLeuchtenSpuckeSchon so oftKörperteilLeibwächterDie Couch (Katja)Sonst nicht daJede SekundeIch habe mich nur umgeschautFreibierBlaue FleckenFortsetzungKompostBis baldTrostWeinenWackelbildSo ein MädchenSiamesische ZwillingeDuisburger WasserFrühsommertagGeheimnis
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Kinderwagen

Nummer eins wurde zu klein, das Kind wuchs heraus. Nummer zwei war zu schwer und ließ sich schlecht manövrieren. Wagen Nummer drei ging kaputt, Nummer vier wurde gestohlen. Nummer fünf blieb in Spanien, es lohnte sich nicht mehr, ihn mit zurückzunehmen, Nummer sechs verlor ein Rad, Nummer sieben fährt noch, gerade eben so. Jetzt kann das Kind laufen.

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Rapunzel

Als ich sie kämme, sagt das Kind, Jetzt mußt du sagen, hast du schönes Haar. Du mußt das jetzt sagen, du sagst das doch immer. Sie verlangt den Satz und seine Wiederholung. So geht das Ritual.

 

Dann kämmt das Kind mir die Haare, sagt, Halt schön still, und verlangt, daß ich sage, es ziepe. Und, wie gewünscht, beschwere ich mich, daß es ziepe, das Kind kämmt weiter, sagt, Halt still, halt schön still, Rapunzel – bis es auf einmal findet: Jetzt, jetzt bist du schön gekämmt.

 

Das Kind hat Haargummis in allen möglichen Farben, Haarreifen, Spängchen, Klämmerchen, Mädchenschätze mit Marienkäfern, Schmetterlingen, Glitter, Pünktchen, Straß.

 

Erst auf dem Kinderkopf entdecke ich, daß ich die Haare auf meinem eigenen Kopf seit Jahrzehnten auf die falsche Seite kämme, erst als ich mich entscheiden muß, auf welche Seite ich die Kinderhaare kämmen soll, und sehe, wohin ihr die Haare fallen, bemerke ich, daß meine auf die andere Seite gehören.

 

Ich träume, das Kind verliere eine Hand und erhielte dafür, in einer aufwendigen Operation, eine meiner Hände. Die Schlußeinstellung dieses Traums gleicht der aus Das Imperium schlägt zurück, dem Moment, als Luke Skywalker eine neue, in seinem Fall jedoch mechanische Hand angepaßt wird. Das Kind aber, dessen Haar mich manchmal, ohne daß es dazu gefönt werden müßte, an Skywalkers Fönfrisur erinnert, bekommt in diesem Traum meine Hand. Sie paßt ihr gut, sie kann sie gleich benutzen. Ich bin sehr froh und spüre gar nicht, merke nicht einmal, daß mir nun eine Hand fehlt.

 

Gib mir deine Hand, sagt das Kind.

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Gäßchen

Das letzte Jahr, sage ich, weil das Kind danach fragt, bin ich allein in den Kindergarten gegangen.

 

Ich bin durchs Gäßchen gegangen, ein schmaler Weg, der zwischen den Gärten hindurchführte und zwei Straßen miteinander verband. Krayer durfte da nicht hindurch, seine Mutter hielt den Weg für zu gefährlich. O., Se, Priller und ich sind jeden Tag hindurchgegangen, das letzte Stück, da, wo der Weg zwischen zwei Mauern hindurchführte, bevor er über vier Stufen wieder auf den Bürgersteig traf, sind wir immer gerannt. Dabei dröhnte der Boden unter dem groben Asphalt auf sonderbare Weise, als gäbe es da unter unseren trommelnden Kinderbeinen einen großen Hohlraum, einen Resonanzkörper, ich stellte mir vor, es befände sich dort ein weitläufiges Höhlensystem, Katakomben, in denen Haufen von Knochen und Totenschädeln lagerten, lange vergessene Grabkammern, die Unterwelt.

 

Dort, wo unser Haus stand, hatte vor dem Krieg schon einmal ein Haus gestanden, ein Stück weiter hinten im Garten, da, wo meine Schaukel und das Spielhäuschen standen. Eine Bombe war genau auf dieses Haus gefallen, Volltreffer. Die zwei oder drei Personen, die im Keller saßen – ein Ehepaar und noch jemand, der später nicht mehr zu identifizieren war –, seien, hieß es, sofort tot gewesen. Und ich stellte mir vor, sie lägen noch immer dort unten, unter unserem grünen Rasen, den mein Vater immer so sorgfältig wässerte, als müßten die Toten in der Erde auch zu trinken bekommen. Manchmal habe ich im Sandkasten nach ihnen gegraben.

 

Ich bin immer allein in den Kindergarten und immer durchs Gäßchen gegangen. Bilde ich mir ein.

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Straßenbahn

Unser Haus fährt weg, sagt das Kind, als die Straßenbahn anfährt und alles, was vor dem Fenster liegt, sich zu bewegen scheint. Alles fährt weg, sagt das Kind und hat ja recht. Die Zeit transportiert das alles davon.

 

Mache ich die Augen zu, ist es dunkel und die Welt nicht mehr da. Für wen oder was soll sie sonst denn dasein, wenn schon Mama und Papa nur für mich da sind? Habe ich das nicht auch einmal gedacht?

 

Das Kind winkt jeder Straßenbahn hinterher, jede Straßenbahn bekommt ihren Abschied. Einmal vergißt sie ihn, weil wir eine Straße überqueren müssen, fängt an zu weinen und schluchzt, Ich konnte der Straßenbahn gar nicht winken.

 

Ob da Freunde drin sind, fragt das Kind, als unter uns, wir stehen auf der Fußgängerbrücke, eine S-Bahn durchfährt. Und ich selbst habe die mir in diesem Augenblick gar nicht sonderbar anmutende Vorstellung, alle Menschen müßten Freunde sein oder könnten es doch wenigstens sein, und ich erinnere mich an den Kinderglauben, alle Welt könnte sich kennen und gut verstehen.

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Wachsen

Ich werde jeden Tag älter, sagt das Kind und erinnert mich daran, wie unvorstellbar es mir schien, eines Tages erwachsen zu sein. Ich konnte nicht glauben, daß Zeit verging. Alles ging doch so furchtbar langsam, als gäbe es gar keine Veränderung.

 

Bist du aber gewachsen, sagten die Tanten, nein, bist du groß geworden, ereiferten sie sich. Gewachsen zu sein schien etwas zu sein, für das man gelobt werden mußte. Etwas, das Belohnung und Vergütung in Form von Schokolade, kleinen Geldbeträgen oder Eis verdiente.

 

Zu wachsen hieß größer, endlich älter zu werden. Ferne Ziele zu erreichen. Fünf Jahre, sechs Jahre alt zu werden. In die Schule zu kommen, zehn Jahre alt, endlich zwölf zu sein, im Auto vorne sitzen zu dürfen, endlich vierzehn, fünfzehn, sechzehn, achtzehn zu sein. Dann hört es auf.

 

Größe 98, 110, 116, 128. Bist du da schon wieder rausgewachsen? Die Kleidergröße des Kindes ist eine Zeiteinheit. Bald ist das Kind hundertzehn Zentimeter alt. Zentimeter sind, ich hatte das vergessen, auch eine Zeiteinheit. Und das Kind ein Chronometer.

 

Eltern, so dachte ich mir das, ziehen einen langsam, aber sicher in die Länge. Von einer Kleidergröße in die nächste, nachts, auf einer Streckbank. Sie erziehen dich. Großeltern ziehen Gemüse, Eltern ziehen Kinder. Mama zerrt am einen, Papa am anderen Ende. Wir kriegen dich schon groß. Und das heißt dann Erziehung.

 

Ich war lange der Überzeugung, ich sei nicht erwachsen geworden. Zumindest wußte ich nicht oder hätte nicht sagen können, woran ich mein Erwachsensein hätte bemerken sollen. Worin bestand es denn? Darin, daß ich nicht mehr bei meinen Eltern wohnte? Mit einer Frau zusammenlebte? Regelmäßig Sex, ein Auto, Arbeit hatte? Alles das tun und lassen konnte, wovon ich als Kind geträumt hatte? Und nun, da ich es hätte tun können, nicht mehr unbedingt wollte?

 

Ohne nur allzu genau darüber nachdenken zu wollen: ich bin mir immer wie ein großes Kind vorgekommen.

 

Ich dachte, ich könnte gar nicht älter werden. Als sei ich die Ausnahme, die immer so bliebe, wie sie war, das Kind, das ich schon immer kannte, allein unterwegs durchs Gäßchen, auf dem Weg zum Kindergarten.

 

Das Kind macht mich wieder zum Kind. Und macht mich wieder kindisch. Älter werden heißt auch immer jünger werden.

 

Und aus der neu erworbenen oder bloß wieder angeeigneten Kindersicht wird die Welt wieder verständlich. Das Kind führt mich, an seiner Hand greife ich durch das Gestrüpp hindurch, das mir die Sicht so lange verstellt hat, und fasse die Wirklichkeit, die mir nun auf einmal, das hat so lange gedauert, wie die richtige vorkommt.[1]

 

Kommt mir so vor, als sei ich nie so alt gewesen wie damals, an dem Nachmittag, an dem ich, acht oder neun Jahre alt, mit dem Dolch in der Hand auf der grünen Frotteetagesdecke meines Bettes stand und überlegte, ob ich mich nicht mit diesem Dolch, den unsere Nachbarin Frau Ricotta mir aus Tunesien oder Marokko mitgebracht hatte, durch mein rotes Cordhemd hindurch erstechen sollte. Oder vielleicht doch nicht. Nie wieder habe ich mich so alt gefühlt.

 

Manchmal wundert es mich, daß ich nach so vielen Jahren noch immer diese Hand, dieselbe Haut, dieselben Füße habe. Seit so und so vielen Jahren. Immer hatte ich all das, was ich bin, dabei.

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Spielplatz

Für Spielplätze hatte ich mich länger nicht so interessiert. Nun sind sie wieder wichtig. Dabei ist der Spielplatz ein Ort, der die ganze Zeit da war, unbeachtet am Weg, im Park, mitten auf dem Platz, am Ende der Straße, in der Vergangenheit, verwaist seit zwanzig, fünfundzwanzig oder dreißig Jahren.

 

Wie alt ist das Kind denn? Samstag, gegen Mittag. Weit und breit nur Väter, keine Mutter auf dem Spielplatz. Wie heißt sie? Und, dritte Frage, Lebt ihr noch zusammen?

 

Hat nicht jedes Kind einen eigenen Papa? fragt das Kind auf dem Spielplatz, neben uns ein Vater mit drei Kindern. Haben die nicht jeder einen eigenen Papa?

 

Du mußt sagen, das ist meine, sagt der Vater zu seinem Sohn, er ist zu alt und viel zu engagiert, um weiter entfernt zu sitzen und das Kind alleine, in Ruhe spielen zu lassen. Du mußt sagen, das ist meine Schaufel, sagt er, aber das Kind will lieber weinen.

 

Hast du Apfelmus in deinen Beinen? Los, spring! Als ich so alt war, konnte ich hüpfen wie ein Gummiball.

 

Dann kommt das Kind mit Matsch in den Händen aus dem Sandkasten, knetet einen Schlammknödel und sagt, Papa, für dich. Und ich muß so tun, als äße ich den Schlammkloß auf. Und sagen Hhmm, hhmmmmm, wie lecker.

 

Spülplatz? – Ja, das ist der Platz, auf dem alle Menschen, die keine Spülmaschine haben, ihr schmutziges Geschirr, ihre dreckigen Töpfe und benutztes Besteck hintragen und dann abwaschen, spülen oder spülen lassen, von den Kindern, die große Spülräder drehen müssen. Stimmt das? fragt das Kind und zieht seine Stimme in die Höhe. Nein, sage ich. Nein, das war nur ein Witz.

 

Und an einem Wintertag, ich sitze auf einer Bank in der Sonne, sehe ich zwei Kinder, Fäustlinge über den Fingern, ihre Namen in den Schnee schreiben.

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Frage

Warum laufen die da? fragt das Kind, warum laufen die da im Kreis? Warum rennen Menschen auf einer Tartanbahn, eine Runde nach der anderen? Weiß ich auch nicht so genau. Kann ich nicht erklären. Und ich erinnere mich an den enttäuschenden Tag, an dem ich bemerkte, daß auch meine Mutter nicht alles wußte.

 

In der Turnhalle, in der der Turnunterricht stattfand – in den ersten Schuljahren hieß es noch Turnen, später dann Sport –, gab es diese verwirrenden, verschiedenfarbenen, sich mehrfach kreuzenden Linien auf dem Parkett, Spielfeldmarkierungen für Hallenfußball, Volleyball, Basketball und Handball. Ich muß an diese teils durchgezogenen, teils gestrichelten Linien denken, als ich in einer Ausstellung einen Film sehe, der zeigt, wie auf ein und demselben Spielfeld einer Sporthalle Fußball und Basketball gleichzeitig gespielt wird. Oben große Basketballspieler, weiter unten nicht ganz so große Hallenfußballer. Die Spiele verlaufen völlig unabhängig voneinander, beide Partien kommen sich beängstigend wenig, beinah gespenstisch wenig ins Gehege. Als könnte auch zwischen uns, zwischen all unseren Bewegungen, unserem Leben, noch ein ganz anderes stattfinden, von dem wir gar nichts bemerken.

 

Fernsehfußball ist ja viel einfacher zu verstehen. Sinn und Ziel des Spiels ist es, Tor zu rufen. Sobald das Torgehäuse ins Bild kommt, ruft das Kind Toooooor!

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Potpourri

Das Kind mischt die Melodien und Texte der Lieder, die sie schon kennt, singt Summ, summ, summ, Bienchen summ herum, über Stock und über Steine, aber brich dir nicht die Beine, Hopp, Hopp, Hopp, Jäger aus Kurpfalz. Und kommt von einem ins andere, da klappern die Mühle und der Kuckuck am rauschenden Bach und rufen aus dem Wald. Es tönen die Lieder.

 

Lieder, die ich jahre-, jahrzehntelang nicht gehört, nicht gesungen habe, höre ich nun jeden Tag. Ich singe es noch hundert Mal, dann fällt mir der Text vielleicht wieder ein, sagt das Kind und singt mit hoher, kräftiger Stimme. Ein Lied geht ins andere über.

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Ordnung

Seit ich ein Kind habe, trenne ich meinen Müll, bringe ich jede Batterie zur Sammelstelle und kaufe nur noch milde, umweltverträgliche, phosphatfreie Waschmittel.

 

Warum machst du denn nie den Deckel auf die Zahnpasta, beschwert sich das Kind, und ich weiß gar nicht, ob das noch eine Frage sein soll oder ob sie schon gar keine Erklärung mehr erwartet. Früher, könnte ich erklären, vor nicht gar zu langer Zeit, hätte das auch mich noch gestört. Heute ist es mir egal. Ich weiß nicht warum.

 

Ein Loch! Da ist ein Loch in deinem Strumpf! sagt das Kind. Und besteht darauf, daß ich die Socken wechsle.

 

Aufräumen! Aufräumen! ruft das Kind durchs Zimmer, hebt aber nichts auf, räumt keine Spielsachen zusammen. Das Wort aufräumen bezeichnet für sie keine Handlung, sondern ist eine Beschwörung, eine Aufforderung an die Dinge, doch bitte an ihren Platz zurückzukehren. Das Zimmer soll sich gefälligst aufräumen. Das faule Zimmer kann ja auch mal was tun.

 

Das Kind läßt alles liegen, fängt dann aber an zu putzen. Nimmt einen nassen Spülschwamm und wischt die Tapete im Flur, beschwert sich dann jedoch über nasse Ärmel.

 

Alles falsch, sagt das Kind vor dem offenen Kühlschrank. Räumt und stellt um, arbeitet, sagt, das gehört hierher, das gehört dahin. Und das soll da so bleiben, das Kind stellt seine Ordnung her, denn das Kind weiß, alles hat seinen Platz.

 

Ein paar Tage später heißt es: Du hast ja wieder alles falsch eingeräumt. Das Kind räumt wieder um. Die Äpfel kommen in die Kühlschranktür, der Käse ins Gemüsefach. Die Tomaten, weil sie rote Punkte machen, werden schön verteilt.

 

Seit das Kind da ist, wird geputzt. Seit ich ein Kind habe, ist alles sauber. Spüle ich schon abends, putze ich das Bad.

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Regenwürmer

Regenwürmer sind in der Dusche, sagt das Kind, lange, lange Regenwürmer. Und sie hat recht, denn sie hält den Duschkopf so, daß das Wasser aus seinen Düsen in einem Bündel dünner Strahlen an die Kachelwand spritzt. Sieht wirklich so aus, als wären es Regenwasserwürmer.

 

Schon als Kind habe ich Regenwürmer gerettet, ich wollte verhindern, daß Regenwürmer, die während eines Schauers auf das Bürgersteigpflaster gekrochen waren, zertreten wurden. Ich hob sie auf und brachte oder warf sie in den nächsten Vorgarten. Mein Mitleid mit den Würmern, die auf den Gehwegplatten festzutrocknen drohten, war immer größer als mein Ekel, ja ich vermute, ich freute mich jedesmal über die Überwindung des eigenen Ekels, ich genoß den Schauer, den so ein feuchter, klebriger Regenwurm, der an feuchte Lippen erinnerte, in meiner Hand auslöste.

 

Sah ich dann aber, nach dem Regen, eine Amsel mit einem Wurm im Schnabel, hatte ich kein Mitleid. Die Amsel verdient ihren Wurm, dachte ich, sie kann ja singen.

 

Einmal hörte ich von südamerikanischen Urwaldbewohnern, die unter Bäumen nach daumendicken, bis zu einem halben Meter langen Regenwürmern graben, sie kochen und gleich essen oder räuchern, um sie aufzubewahren, die Regenwürmer sichern ihre Eiweißversorgung. Und ich erinnere mich an ein obskures Apfelkuchenrezept, das vorschlug, zweihundert Gramm gehackte Regenwürmer unter einen Apfelkuchenteig zu mischen.

 

Aus Gras und Erde und Wasser baute ich den Regenwürmern im Sandkasten ein Haus. Später erinnerten Regenwürmer, ihrer Farbe wegen, nicht nur an Lippen, sondern auch an Schamlippen. Oder umgekehrt.

 

Da kommt Regen aus der Dusche, sagt das Kind, ein ganz langer Regenwurm.

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Krokodil

In der Dusche wohnt ein Krokodil, sagt das Kind und zeigt in die verkachelte Nische hinter der Dusche. Gegen das große, unheimliche, den Mund für seine zwei O so weit öffnende Wort mit dem messerscharfen K kann ein echtes Tier nur enttäuschen. Es reicht nicht an das Wort heran. Das Wort ist viel größer, hat schärfere Zacken und spitzere Zähne in seinem geöffneten Maul als das Tier im Aquarium des Zoologischen Gartens, wir sehen es von der Brücke aus, die über den Tropenteich führt. Das Krokodil schläft hinter den Gitterstäben, es sieht harmlos aus. Auf dem Strand aus Zement liegen seine Frühstücksreste. Es gab keine Menschenkinder. Es gab bloß, es riecht so, Fisch.

 

Ich bin ein Krokodil, ich will dich fressen, sagt das Kind und beginnt seine anthropophagischen Spiele. Dann aber, als auch ich den Mund öffne, sagt sie, Nicht beißen! Bitte nicht beißen!

 

Draußen auf dem Flur ist ein Krokodil! Die Krokodilkomödie geht weiter. Mach die Tür zu, damit es nicht hereinkommt. Ach, es ist ja nur ein kleines, krankes Krokodil. Es kann ruhig reinkommen. Das tut nichts. Es beißt nicht. Es kann gar nicht beißen. Weißt du, es hat seine Zähne nicht geputzt.

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Wölfe