Der verkannte Bürger - Hartmut Kaelble - E-Book

Der verkannte Bürger E-Book

Hartmut Kaelble

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Beschreibung

Die Geschichte der europäischen Integration sieht man oft als ein reines Elitenprojekt an. Die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union erscheinen daran als unbeteiligt und desinteressiert. Doch dieses Urteil trügt: Sie hatten oft nur andere, eigenständige Vorstellungen vom Zusammenwachsen Europas als die politischen Entscheider. Sie nahmen zudem, vor allem seit den 1980er-Jahren, über Wahlen, Referenden, Interessengruppen, Beschwerden, Eingaben und Klagen aktiv Einfluss auf Europa. Sie erlebten Perioden des Vertrauens in die europäischen Institutionen, aber auch Phasen des Misstrauens. Auf der Basis von bisher kaum ausgewerteten Quellen zeichnet Hartmut Kaelbles Buch ein neues Bild der Vorstellungen und der Partizipation der Bürgerinnen und Bürger der EU im historischen Wandel.

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Hartmut Kaelble

Der verkannte Bürger

Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die Geschichte der europäischen Integration sieht man oft als ein reines Elitenprojekt an. Die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union erscheinen daran als unbeteiligt und desinteressiert. Doch dieses Urteil trügt: Sie hatten oft nur andere, eigenständige Vorstellungen vom Zusammenwachsen Europas als die politischen Entscheider. Sie nahmen zudem, vor allem seit den 1980er-Jahren, über Wahlen, Referenden, Interessengruppen, Beschwerden, Eingaben und Klagen aktiv Einfluss auf Europa. Sie erlebten Perioden des Vertrauens in die europäischen Institutionen, aber auch Phasen des Misstrauens. Auf der Basis von bisher kaum ausgewerteten Quellen zeichnet Hartmut Kaelbles Buch ein neues Bild der Vorstellungen und der Partizipation der Bürgerinnen und Bürger der EU im historischen Wandel.

Vita

Hartmut Kaelble war von 1971 bis 1991 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der FU Berlin und von 1991 bis 2008 Professor für Sozialgeschichte an der HU Berlin.

Inhalt

1.Einleitung

Thema

Forschungsstand

Quellen, Raum und Zeit

Unionsbürgerschaft und nationale Staatsbürgerschaft

Die Dichte der Beziehungen zwischen Bürgern und europäischen Institutionen

2. Die europäischen Versprechen an die Bürger und ihre Einhaltung

Die zwei Versprechen der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

Die Versprechen der Europäischen Gemeinschaft in den 1970er und 1980er Jahren

Die neuen Versprechen der Europäischen Union von den 1990er Jahren bis zur Eurokrise

Die Eurokrise 2009–2012

Die Zeit seit der Eurokrise

3.Vertrauten die Bürger der Europäischen Union früher mehr?

Die 1950er bis 1960er Jahre

Die 1970er und 1980er Jahre

Die 1990er Jahre bis zur Eurokrise

Die Krisenjahre 2009–2012 und danach

Zusammenfassung

4.Die eigenen europäischen Erwartungen der Bürger

Die 1950er und 1960er Jahre

Die 1970er und frühen 1980er Jahre

Die späten 1980er Jahre

Die erste Hälfte der 1990er Jahre

Die späten 1990er Jahre bis zur Eurokrise

Die Krise 2009–2012

Die Zeit seit der Krise

Zusammenfassung

5.Der europäische Einfluss der Bürger

Die kollektive Einflussnahme: Wahlen, Referenden, Bewegungen und Interessengruppen

Die Europawahlen

Europareferenden

Europabewegungen

Interessengruppen

Die individuelle Einflussnahme der Bürger: Beschwerden, Klagen, Eingaben

Die Beschwerde bei der Europäischen Kommission

Die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof

Die Petition beim Europäischen Parlament

Die Beschwerde beim europäischen Bürgerbeauftragten

Die europäische Bürgerinitiative

Solvit

Zusammenfassung

6.Fazit

Anhang

Literatur

1.Einleitung

Noch am 50. Jahrestag der Römischen Verträge 2007 galt die Europäische Union als ein internationales Erfolgsmodell, in das nicht nur Politiker außerhalb Europas, sondern auch die eigenen Bürger der Europäischen Union (EU) viel Vertrauen setzten. Dieses Modell bekam in den vergangenen Jahren, in der Eurokrise und danach in der Flüchtlingskrise, starke Risse. Die Folgen dieser Krisen sind weiterhin spürbar. Es bleibt ein Teil der öffentlichen Erinnerung, dass die Europäische Union an Vertrauen ihrer Bürger verlor und in vielen Mitgliedsländern zeitweise sogar die Gegner der Union überwogen. Der Brexit verstärkt diese dunkle Erinnerung, auch wenn die Abstimmung über ihn sehr knapp ausging. Inzwischen ist das Vertrauen der Bürger in die Union zurückgekehrt, aber die EU hat sich weiterhin mit europafeindlichen Parteien im Europäischen Parlament, in vielen nationalen Parlamenten und in einigen nationalen Regierungen herumzuschlagen. Sie gab es vor der Krise weit weniger. Unter Experten und Intellektuellen stößt die Europäische Union weiterhin auf mehr Skepsis als vor den Krisen, auch wenn die unionsfreundlichen Veröffentlichungen in allerjüngster Zeit deutlich zunehmen. Umgekehrt bestehen unter den Europapolitikern häufig Irritationen und auch Misstrauen gegenüber den Bürgern. Aus ihrer Sicht sind die Bürger entweder schwer für die Union zu mobilisieren, wie etwa bei den Europawahlen, oder zu wenig widerstandsfähig gegen antieuropäische Angstkampagnen wie beim französischen und niederländischen Nein 2005 und beim Brexit 2016. Die Beziehung zwischen Bürgern und Europäischer Union, die früher eher als uninteressanter Seitenast der Geschichte der europäischen Integration angesehen wurde, ist inzwischen ein schwelendes Krisenthema geworden.

Vier Erklärungen für diese Entfremdung zwischen Bürgern und Europäischer Union findet man in den öffentlichen Debatten. Eine erste Erklärung: Die großen Versprechen, mit denen die europäische Integration in den frühen 1950er Jahren startete, vor allem die Versprechen von europäischem Frieden und Wohlstand, überzeugen immer weniger Bürger, da der Zweite Weltkrieg und der große Wirtschaftsboom in immer weitere historische Ferne rücken. Ein neues attraktives Narrativ, ein neues Versprechen der Europäischen Union müsste gefunden werden, damit die Bürger sich nicht enttäuscht von der Union abwenden. Eine zweite Erklärung: Über die Köpfe der Bürger hinweg verschaffte sich die Europäische Union seit den 1990er Jahren in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon eine Vielzahl neuer Kompetenzen. Sie versäumte es, die Bürger ›mitzunehmen‹ und sie vom Sinn dieser neuen Macht der Union zu überzeugen. Daher zerbrach der »permissive Konsens« zwischen den Bürgern und der Europapolitik, der vier Jahrzehnte gehalten hatte, und wurde ersetzt durch heftige öffentliche politische Diskussionen über die Europapolitik, verschärft noch durch die zahlreichen Europareferenden. Eine dritte, benachbarte Erklärung: Die Europäische Union lässt die Bürger zu wenig zu Wort kommen. Sie leidet unter einem Demokratiedefizit. Sie hält vor allem das Europäische Parlament und deren Kompetenzen zu klein. Die Bürger wenden sich ab, weil sie in der immer mächtigeren Europäischen Union und gegenüber der angeblich mächtigen europäischen Bürokratie zu wenig zu sagen haben und die Union die Bodenhaftung bei den Bürgern verliert. Nach einer vierten Erklärung schließlich hat die Europäische Union immer mehr mit der Rückkehr des Nationalismus zu kämpfen. Dieser Nationalismus ist ein neuer globaler Trend auch in großen außereuropäischen Nationen der Welt, in China und in den USA, in Russland und in der Türkei, die die internationale Integration immer häufiger ablehnen und daher die Europäische Union nicht mehr unterstützen, sondern bekämpfen. Anders als noch in den 2000er Jahren sieht sich die Europäische Union von Gegnern umgeben. Dieser neue Nationalismus erfasste auch schon einzelne Regierungen der Mitgliedsländer der Europäischen Union und fand in rechtsextremen Parteien in vielen europäischen Parlamenten – und damit auch unter Bürgern – Unterstützung. Alle diese Argumente suggerieren einen Niedergang der Europäischen Union unter den Bürgern. Alle diese Argumente haben daher eine historische Dimension und leben von der Idee, dass es in der Vergangenheit um die Beziehungen zwischen Bürgern und der Europapolitik besser stand.

Aber war dies wirklich so? Gibt es in diesen Beziehungen tatsächlich eine Art verlorenes Paradies, und besaßen die europäischen Institutionen in der Vergangenheit mehr Vertrauen, mehr Zustimmung und mehr Rückhalt unter den Bürgern? Die Antwort ist unklar. Die Geschichte der Beziehungen zwischen den Bürgern und der Europäischen Union ist bisher nur bruchstückhaft geschrieben worden.

Thema

Das vorliegende Buch nimmt sich dieses Themas an. Es untersucht die drei Kernfragen in den Beziehungen zwischen den Bürgern und der Europäischen Union: Vertrauen in Europa, Erwartungen an Europa und Einfluss in Europa.

Als Hintergrund für die drei Kernfragen geht das Buch zunächst auf die großen und zunehmend anspruchsvollen Versprechen der Europapolitik und ihre Verwirklichung seit den 1950er Jahren ein und verfolgt, wann sie eingehalten wurden und wann sie uneingelöst blieben. Diese Versprechen muss man kennen, um das Vertrauen, die Erwartungen und die Einflussnahme der Bürger einordnen zu können.

Danach wird als erste Kernfrage das Vertrauen der Bürger in die Europäische Union behandelt. Der Wechsel zwischen Zeiten des Vertrauens und Zeiten der Spannungen zwischen den Bürgern und der Europäischen Union wird seit den 1950er Jahren verfolgt. Die Eurokrise und die Flüchtlingskrise waren nicht die ersten und einzigen historischen Krisen des Vertrauens zwischen Bürgern und europäischen Institutionen. Auch in den 1950er Jahren, in den 1970er Jahren und in den 1990er Jahren gab es Zeiten des steigenden Misstrauens. Aber die Bürger überwanden dieses Misstrauen immer wieder, so wie sie es jetzt ebenfalls wieder zu überwinden scheinen.

Dann wird als zweite Kernfrage der Geschichte der Erwartungen, Hoffnungen und Forderungen der Bürger an die Europäische Union im Verlauf der vergangenen 70 Jahre nachgespürt. Wenn man die Europäische Union immer nur als Elitenprojekt betrachtet, die Bürger nur in apathischer Hinnahme oder in zukunftsblinder Widerständlerei gefangen sieht und sie damit an den Rand der Geschichte der europäischen Integration drängt, lassen sich diese Erwartungen und Hoffnungen nicht erkennen. Diese Erwartungen deckten sich oft nicht mit der Europapolitik. Sie haben ihre eigene Geschichte.

Schließlich wird als dritte Kernfrage der Einfluss der Bürger auf die europäischen Institutionen im Verlauf der Zeit behandelt und verfolgt, wie sich die kollektive Einflussnahme in Wahlen, Volksabstimmungen, sozialen Bewegungen und Interessengruppen verstärkte und wie die individuelle Einflussnahme der Bürger durch Eingaben, Forderungen, Beschwerden und Klagen zu europäischen Entscheidungen im Verlauf der Zeit zunahm. Auch das ist wenig untersucht. Die allmähliche Veränderung vom unbefragten europäischen Bürger der 1950er und 1960er Jahre zum abstimmenden Bürger seit den 1970er Jahren und zum individuell eingreifenden Bürger vor allem seit den 1990er Jahren wird hier dargestellt.

Insgesamt möchte das Buch die europäischen Bürger aus der Ecke des passiven oder widerborstigen Objekts eines angeblich reinen Elitenprojekts herausholen, in die sie oft gestellt werden. Es möchte eine ›andere‹ Geschichte der europäischen Bürger in dreierlei Hinsicht vorlegen. Die Bürger nahmen die Weichenstellungen der Europapolitik keineswegs immer passiv hin, misstrauten der Europapolitik in der Eurokrise nicht zum ersten Mal, überwanden aber die Spannungen mit der Europapolitik immer wieder, so wie sie auch die jüngsten Spannungen wieder zu überwinden scheinen. Die Bürger besaßen in ihrer Mehrheit von Anfang an weitreichende Zukunftsvorstellungen von Europa, die sich oft von der Europapolitik unterschieden. Die Mehrheit der europäischen Bürger war schließlich auch deshalb nicht passiv, weil sie seit langem mehr Einfluss auf die Europapolitik erhofften und kollektiv wie individuell durchaus auch Einfluss nahmen. Sie erwarteten, mehr Einfluss zu bekommen, aber verharrten derweil nicht in passiver Apathie.

Forschungsstand

Das Buch ist unter dem Eindruck der lebhaften und ideenreichen Debatte über die Europäische Union seit der Krise 2008–2012 geschrieben.1 Diese Debatte konzentriert sich jedoch weitgehend auf andere Themen – etwa auf die Abschaffung oder Weiterführung des Euro, auf die Beseitigung oder Beibehaltung des Nationalstaats, auf große revolutionäre Momente der internationalen europäischen Ordnung, auf die Flexibilität des europäischen Rechts, auf den Rechtspopulismus. Das sind wichtige Themen. Aber diese Diskussionen verfolgen die Beziehungen der Bürger zur Europäischen Union doch zu wenig, obwohl es am Ende an den Bürgern hängt, ob die Europäische Union weiter gedeiht oder verfällt. Die Bürger entscheiden dies nicht nur in Europawahlen, in Volksabstimmungen, in Debatten in sozialen Medien, durch europäische Interessengruppen, Demonstrationen, Eingaben und Klagen, sondern auch durch Desinteresse, Abwesenheit bei Wahlen und den Rücken, den sie der Europäischen Union zukehren. Dieses historische Buch soll den Blick dafür öffnen, welche anderen Einstellungen, Vorstellungen und Einflussnahmen die Bürger zur europäischen Integration entwickelten.

Über die Geschichte der Bürger in der Europäischen Union ist bisher nur wenig geforscht worden. Immerhin fünf Schneisen sind in dieses weitgehend unberührte Forschungsfeld geschlagen worden. Die Vertrauenskrise zwischen den Bürgern und der Europäischen Union seit den 1990er Jahren ist von einigen Politikwissenschaftlern und Historikern untersucht und die einflussreiche These vom Ende des permissiven Konsensus zwischen Bürgern und Europapolitik aufgestellt worden. Die Identifizierung der Bürger mit Europa und mit der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union wurde ebenfalls von Politikwissenschaftlern und Historikern behandelt. Sie ist wichtig für die Beantwortung der Frage, ob die Bürger sich wirklich vom klassischen europäischen Nationalismus abwandten und eine zweite, europäische Identität entwickelten. Mit den politischen und sozialen Werten der europäischen Bürger befassten sich darüber hinaus Soziologen und Historiker. Werte werden als tragende Säule der europäischen Integration zunehmend wichtig genommen. Über Klagen von europäischen Bürgern vor dem Europäischen Gerichtshof in den 1990er und 2000er Jahren arbeitete die Soziologin Monika Eigmüller und zog daraus Rückschlüsse auf die grundsätzliche Einstellung der Bürger zur Europäischen Union. Den historischen Wandel der Vorstellungen von Bürgern in der Europapolitik untersuchten mehrere Historiker. Alle diese Forschungen brachten viel ein. Aber das ganze Spektrum der Beziehungen der Bürger zur europäischen Integration seit dem Anfang der europäischen Integration in den 1950er Jahren wurde bisher nicht untersucht.2 Dieses schmale Buch ist ein Anfang.

Quellen, Raum und Zeit

Das Buch stützt sich überwiegend auf eigene Auswertungen der zahlreichen internationalen Umfragen zur Einstellung der Bürger durch das Eurobarometer und jüngst auch durch das sogenannte Parlameter, zudem auf die Durchsicht der Berichte der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Europäischen Gerichtshofs. Da diese Quellen in der Regel im Auftrag dieser europäischen Institutionen entstanden, sind sie in einer Untersuchung über die europäischen Bürger mit Umsicht zu benutzen. Man muss sie hinterfragen und überlegen, welche Fragen nicht gestellt oder aufgegeben oder abgeändert wurden. Es sollte sehr genau hingesehen werden, wenn mehrere Fragen zu demselben Thema gestellt wurden. Zur Einschätzung der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union durch die Bürger wurden tatsächlich oft mehrere Fragen gestellt. Man sollte sich auch genau ansehen, wie Eurostat die Antworten der Bürger deutet, was herausgehoben, was zur Seite geschoben wird. Man sollte schließlich genau berücksichtigen, in welchen historischen Kontexten die Antworten gegeben wurden. So hatten die Antworten auf Fragen nach dem Terrorismus in den 1970er Jahren, der Zeit der RAF und der brigadi rossi, für die Bürger eine andere Bedeutung als in den 2010er Jahren des islamistischen Terrors. Soweit das möglich ist, sollte man sich auch überlegen, wie die benutzten Begriffe in den unterschiedlichen europäischen Sprachen voneinander abweichen. Vertrauen, »confidence«, »trust« oder »fiducia« besitzen nicht ganz dieselbe Bedeutung. Historische Umfragen sind eine unverzichtbare, aber auch mit viel Bedacht zu benutzende Quelle.

Der Raum der europäischen Integration besaß keine fixen Grenzen, sondern weitete sich im Verlauf der vergangenen 70 Jahre stark aus, schrumpfte allerdings auch mit dem Ausscheiden Algeriens 1962, Grönlands 1985 und dem wahrscheinlichen Ausscheiden Großbritanniens 2019. Für die 1950er und 1960er Jahre werden nur die Bürger der sechs Mitgliedsländer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit rund 175 Millionen Einwohnern untersucht, um 2015 dagegen die Bürger der 28 Mitgliedsländer der Europäischen Union mit rund 500 Millionen Einwohnern. Der Wandel der Ansichten der Bürger hat deshalb oft auch mit den neu hinzugekommenen Mitgliedsländern, demnächst wahrscheinlich auch mit dem Ausscheiden Großbritanniens zu tun. Dass sich Grenzen eines historischen Untersuchungsgegenstands verändern, ist durchaus normal. Weder die Geschichte der USA noch die Geschichte Chinas noch die Geschichte Deutschlands oder der ostmitteleuropäischen Länder bezieht sich auf einen stabilen Raum in festen Grenzen.

Der Zeitraum der Untersuchung reicht von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart. Die Geschichtsschreibung zur europäischen Integration geht zwar aus guten Gründen in die Zeit vor der Gründung der Montanunion zurück. Aber für die Beziehungen der Bürger zur europäischen Integration ergibt es wenig Sinn, vor die 1950er Jahre zurückzugreifen, da erst seit den europäischen Verträgen allmählich das Konzept eines Bürgers der europäischen Institutionen entstand – am Anfang in der Montanunion und in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zwar nicht im heutigen Umfang, aber doch schon in ersten Elementen.

Unionsbürgerschaft und nationale Staatsbürgerschaft

Die Beziehungen der Bürger zur Europäischen Union haben viel mit der Unionsbürgerschaft zu tun. Diese Unionsbürgerschaft, die sich in den vergangenen sieben Jahrzehnten stark veränderte, ist weder eine Art Staatsbürgerschaft geworden noch bloß eine Bürgerschaft in einem Mitgliedsland eines internationalen Zweckverbands geblieben. Sie besitzt einen besonderen Charakter.3

Die Europäische Union blieb dabei nicht einfach eine internationale Organisation wie jede andere. Aus mehreren Gründen bedeutet es, EU-Bürger zu sein, weit mehr als Bürger eines Mitgliedslands der NATO, der UNO, der Internationalen Arbeits-Organisation (ILO), der OECD oder auch des immer noch besonders ähnlichen Europarats. (1) Von Anfang an versprachen die Vorläufer der Europäischen Union den Bürgern mehr, als andere internationale Organisationen dies taten. Sie wollten den Bürgern mehr Wohlstand, sichereren Frieden und mehr Völkerverständigung bieten. Sie standen damit von Anfang an für bestimmte Werte. Schon kurz nach ihrer Gründung versuchte die Montanunion sich zu einer den Bürgern zugewandten politischen Union mit Grundrechten und einem gewählten Parlament zu erweitern. Dieses Projekt der Europäischen Politischen Gemeinschaft scheiterte zwar 1954 mit Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Aber von Anfang an wollte die europäische Integration mehr sein als ein internationaler Zweckverband und für die Bürger mehr bedeuten, auch wenn in den ersten drei Jahrzehnten davon häufig nur wenig eingelöst wurde. (2) Die Europäische Union entwickelte seit dem Vertrag von Maastricht 1992 eine eigene Unionsbürgerschaft und wollte damit erheblich engere Beziehungen mit ihren Bürgern als die anderen internationalen Organisationen erreichen. Diese Unionsbürgerschaft wurde allmählich in den Verträgen von Amsterdam, Nizza und Lissabon weiter ausgefüllt und umfasste nicht nur Menschenrechte (wie sie auch der Europarat mit seinem Menschenrechtsgerichtshof zu sichern bot), sondern auch politische Rechte. Hierzu gehörten vor allem das schon seit 1979 praktizierte direkte Wahlrecht zum Europäischen Parlament, aber auch das kommunale Wahlrecht am Wohnsitz und seit der Grundrechtscharta von Nizza 2000 auch soziale Grundrechte. Hinzu kamen ferner das Recht, vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Entscheidungen der Europäischen Union zu klagen, und schließlich die vier ökonomischen Freiheiten, darunter auch die für Bürger besonders wichtige Freiheit der Niederlassung und Berufsausübung in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union. Nicht einmal der Europarat, ganz zu schweigen von NATO und UNO, besaß eine derartige Unionsbürgerschaft mit politischen, sozialen und bürgerlichen Rechten. (3) Diese Unionsbürgerschaft war kein juristisches Konstrukt im luftleeren Raum, sondern lebte von der zunehmenden Dichte der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Bürgern und Europäischer Union. Sie lebte auch von der Politisierung dieser Beziehungen seit den 1980er Jahren: für die große Mehrheit der Bürger eine zunehmend engere politische Beziehung, für eine etwas größere, verhärtete Minderheit der Bürger eine vehementere Ablehnung der Europäischen Union im Vergleich zu anderen internationalen Organisationen wie der NATO, der UNO und auch dem Europarat.

Die Unionsbürgerschaft entfernte sich also immer mehr von der Bürgerschaft in Mitgliedsländern internationaler Organisationen. Sie näherte sich der Staatsbürgerschaft in Nationalstaaten an, ist aber nicht mit ihnen gleichzusetzen. Der Unionsbürgerschaft fehlen vier entscheidende Elemente: (1) Der wichtigste Unterschied: Die Europäische Union entwickelte keine Repressions- und Disziplinierungsinstrumente gegenüber den Bürgern. Sie verfügte weder über eine Polizei noch über eine Strafgerichtsbarkeit, einen Geheimdienst, Schulen und Steuern (wie die Nationalstaaten). Unionsbürger besaßen bislang gegenüber der Union keine Pflichten, die von der Union notfalls zwangsweise einzufordern gewesen wären. Dieser Unterschied würde allerdings etwas eingeebnet, wenn eine europäische Polizei, ein europäischer Geheimdienst und europäische Steuern, über die derzeit diskutiert wird, eingeführt würden. (2) Die Europäische Union unterhielt auch keine eigene Armee, mit der sie Krieg führen und damit von Wehrpflichtigen oder Freiwilligen verlangen könnte, ihr Leben zu riskieren. Man kann für die Europäische Union nicht sterben. Ihre Beziehungen zu den Bürgern waren damit weit weniger existentiell als die Beziehungen der Bürger zu den Nationalstaaten. Auch dieser Unterschied würde abgemildert, wenn die Pläne einer eigenen europäischen Armee durchgesetzt werden sollten. Eine europäische Wehrpflicht ist freilich auch in diesen Plänen bisher nicht vorgesehen. (3) Die Union besitzt kein umfangreiches eigenes Budget aus eigenen Steuern, aus dem sie den Bürgern Subventionen oder sozialstaatliche Leistungen zukommen lassen kann. Die Unionsbürger hängen nicht am Tropf der Union. Eine Eurorente, ein europäischer Gesundheitsdienst oder eine europäische Sozialhilfe wurden nicht eingeführt. Nur ein schmaler Teil der Bürger, die Landwirte, hingen seit den 1960er Jahren finanziell von den Subventionen des Agrarfonds der Union ab. Dieser Unterschied könnte etwas geringer werden, wenn ein europäisches Budget mit europäischen Steuern eingeführt würde. (4) Für die Bürger war und ist die Europäische Union im Alltag nicht oder nur wenig sichtbar, dagegen sehr wohl der Nationalstaat durch die Präsenz in nationalen Krankenversicherungen und Rentenversicherungen, bei den nationalen Steuern, in nationalen Hauptstädten, im nationalen Fernsehen und Rundfunk, auf Nationalstraßen und nationalen Autobahnen, in Schulen und Kindergärten, durch nationale Post und Eisenbahn. Die Europäische Union verfügt nur über zwei solcher Alltagssymbole, die Farbe und Form des Passes, den man immer weniger benötigt, und vor allem den Euro, ihn aber nicht in allen Mitgliedsländern. Die Europäische Union ist deshalb bisher für den Bürger abstrakter, alltagsentrückter und weniger greifbar als der Nationalstaat. Sie ist gleichzeitig auch weniger repressiv, weniger auf ein bestimmtes Territorium fixiert, komplexer angesichts ihrer europäischen, nationalen und regionalen Ebenen, daher teilweise auch moderner. Die Unionsbürgerschaft ist jedenfalls nicht einfach eine bislang defizitäre Staatsbürgerschaft, sondern sie ergänzt und verändert die nationale Staatsbürgerschaft.

Es lässt sich freilich nicht übersehen, dass sich Unionsbürgerschaft und nationale Staatsbürgerschaft in den letzten Jahrzehnten ein Stück weit annäherten und verflochten. Fünf Annäherungen und Verflechtungen sind unverkennbar. (1) Die Unionsbürgerschaft umfasst zunehmend einen erheblichen Teil der bürgerlichen, politischen und sozialen Grundrechte, die in der Regel auch zur europäischen nationalen Staatsbürgerschaft gehören. Die Unionsbürgerschaft wurde dadurch gegenüber der nationalen Staatsbürgerschaft im Laufe der Zeit erheblich aufgewertet. In diesem Zusammenhang verflochten sich auch die Gerichte: Ein häufiger Klageweg der Bürger gegen die Europäische Union, die Vorabentscheidung, führt erst einmal zu den nationalen Gerichten, die dann die Klage an den Europäischen Gerichtshof weiterreichen. (2) Gleichzeitig schwächte sich die wichtige Besonderheit der nationalen Staatsbürgerschaft ab. In den meisten Mitgliedsländern der Europäischen Union wurde der Militärdienst abgeschafft oder ausgesetzt. Zudem ging die Repression des Nationalstaates in vielen Mitgliedsländern bei den Polizeieinsätzen gegen Bürger, in der Transparenz der staatlichen Verwaltungen und in der Schulpädagogik zurück. (3) Auch in den öffentlich sichtbaren Diensten wurden die engen Beziehungen des Bürgers zum Nationalstaat gelockert und ausgedünnt: mit der Privatisierung von Eisenbahnen, Fluggesellschaften, Post, Telefon, öffentlichen Banken, Autobahnen und Häfen, öffentlichen Dienstleistungen und sogar einigen polizeilichen Überwachungsaufgaben, auch mit der Zunahme von privaten Fernseh- und Rundfunkanstalten, von Schulen und Universitäten. (4) Darüber hinaus wurden die Kontexte der nationalen Staatsbürgerschaft blasser. Die nationale Abgeschlossenheit, die noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegeben war, wurde durchlässiger. Durch Konsum, durch Reisen, durch Heirat, durch internationale Ausbildung und Berufstätigkeit, durch Städtepartnerschaften, durch Alterssitze kamen die Europäer mit Europäern in anderen Ländern Europas weit häufiger in Kontakt. Doppelte Staatsbürgerschaften wurden zahlreicher. (5) Schließlich veränderte sich auch der politische Kontext. Die Europäische Union und die nationalen Mitgliedsländer verflochten sich stärker. Der Europäische Rat, immer mehr das Machtzentrum der Europäischen Union, bestand aus den besonders bekannten, nationalen Regierungschefs und nicht aus wenig bekannten, gewählten Mitgliedern einer Zweiten Kammer. Für die Bürger sichtbar beteiligten sich damit die Regierungschefs an den Entscheidungen der europäischen Politik. Auch bei einer Reihe von Symbolen wurde der Nationalstaat mit der Europäischen Union stärker verbunden: in der Beflaggung öffentlicher Gebäude mit der Nationalfahne und der Europafahne, in den Autokennzeichen mit nationalen Kürzeln auf der europäischen Flagge und in der nationalen und der europäischen Seite der Euro-Münzen. Auch in der Einstellung der Bürger verflochten sich nationale Politik und Europapolitik. Die Zeiten des Vertrauens oder des Misstrauens gegenüber der Europapolitik waren in der Regel auch Zeiten des Vertrauens oder des Misstrauens gegenüber der eigenen nationalen Regierung.

Trotzdem verschwammen die Unterschiede zwischen der Unionsbürgerschaft und der nationalen Staatsbürgerschaft nicht. Sie blieben für den europäischen Bürger eine wichtige Realität. Unionsbürgerschaft und nationale Staatsbürgerschaft lebten von der wechselseitigen Ergänzung. Die Unionsbürgerschaft war nicht ohne nationale Staatsbürgerschaft denkbar. Die nationale Staatsbürgerschaft erhielt durch die Unionsbürgerschaft einen anderen Sinn.

Die Dichte der Beziehungen zwischen Bürgern und europäischen Institutionen

Ein zweiter zentraler Kontext für die Bürger war die immer stärkere Dichte ihrer Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft und zur Europäischen Union. Ohne diesen Rahmen lassen sich Vertrauen, Hoffnungen und Einflussnahmen der Bürger nicht verstehen.

Die Beziehungen waren in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten weit entfernt von der heutigen Dichte. In den 1950er und 1960er Jahren unterstützten die Bürger zwar die europäische Integration, aber sie kannten die neu gegründete Montanunion und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft nur schemenhaft und spürten zudem noch kaum Auswirkungen auf ihr eigenes Leben. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gehörte irgendwie zur außergewöhnlichen wirtschaftlichen Prosperität, aber wie wichtig sie wirklich dafür war, konnte kaum jemand genau sagen. Ein erheblicher Teil der Europäer war sich auch nicht ganz im Klaren, was sie mit der europäischen Integration unterstützen. Viele waren dafür, aber gleichzeitig gegen eine freie Mobilität der anderen Europäer in ihrem eigenen Land; auch waren sie gegen eine unbeschränkte Zufuhr von Waren aus anderen europäischen Ländern. Gleichzeitig waren die Vorstellungen der Mehrheit der Europäer von einer europäischen Außenpolitik, von einer europäischen Wissenschaftspolitik, von einer europäischen Verteidigung noch weit entfernt von der Realität der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft. Die Amerikaner Lindberg und Scheingold, die in den USA zur europaskeptischen Strömung gehörten, sahen es 1970 nicht falsch, wenn sie für die Bürger der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den Begriff des »permissiven Konsenses« erfanden, eine Zustimmung, die viel hinnimmt und nicht dem Bild des modernen, aktiven, demokratischen Bürgers entsprach. Die Europäische Gemeinschaft war für die Bürger eine Art technokratischer Zweckverband: ohne sie gegründet, nicht leicht zu durchschauen, aber nützlich. Im Alltag spürbar wurde die europäische Integration nur durch die Lebensmittelpreise, die für die europäischen Landwirte durch die europäische Agrarpolitik festgelegt wurden. Aber in der Zeit der wirtschaftlichen Prosperität und der rasch steigenden Einkommen der 1950er bis frühen 1970er Jahre bedrängten diese Lebensmittelpreise die Bürger noch wenig.

Seit den 1980er Jahren änderte sich dies, ausgelöst durch die Krise der 1970er Jahre. Die Europäische Gemeinschaft machte sich auch für die Bürger auf den Weg zu einer anderen europäischen Integration. Seit der Mitte der 1980er Jahre wurde schrittweise der europäische Binnenmarkt geschaffen, der weit über eine Zollunion für Waren hinausgeht, nämlich auch einen gemeinsamen Kapitalmarkt, einen gemeinsamen Markt für Dienstleistungen und einen Raum der Freizügigkeit der Bürger schafft. Dieser Binnenmarkt war nicht nur ein technokratischer Umbau, sondern veränderte den Alltag der Bürger. Beim Einkauf sahen, schätzten oder kritisierten die Bürger die europäische Standardisierung und Qualitätskennzeichnung vieler Waren. Sie erlebten im Alltag die Vereinheitlichung der Führerscheine, die Senkung der internationalen Gebühren für internationale Telefonate, SMS und Banküberweisungen, die Vereinheitlichung und Kontrolle der Bankkredite, die Länge der Lastwagen, den Passagierschutz bei Flugreisen und mit dem Schengen-Abkommen den Wegfall der Grenzkontrolle ab 1995 an immer mehr nationalen Grenzen. Nicht in jeder Hinsicht nahm allerdings die Dichte der Beziehungen zu. Der dirigistische europäische Agrarmarkt, der seit den 1960er Jahren eingerichtet wurde und in der Europäischen Gemeinschaft immer stärker die Preise für Lebensmittel und damit auch die Lebenshaltung der Bürger spürbar beeinflusste, wurde seit den 1990er Jahren liberalisiert. Die Auswirkungen der Agrarpolitik auf den Alltag der Bürger nahmen eher wieder ab.

Ebenfalls seit den 1980er Jahren berührte auch das kulturelle und das soziale Europa den Alltag der Bürger: Die Bürger sahen fast täglich die europäischen Symbole, vor allem die blaue europäische Fahne mit den zwölf Sternen, zuerst als Fahne auf öffentlichen Gebäuden und später auf den Autokennzeichen, gelegentlich auch die europäische Hymne und die gemeinsame Form und Farbe des europäischen Passes. Die europäische Kulturhauptstadt wurde ebenfalls seit den 1980er Jahren populär. Junge Erwachsene profitierten seit den 1980er Jahren vom Erasmus-Programm für das Auslandsstudium in Europa, daneben von internationalen Studienprogrammen und Doktorandenschulen und vom Eurorail. Die milliardenschwere Forschungsförderung der Europäischen Union begann man vor allem nach 2000 in den europäischen Universtäten kennenzulernen und zu schätzen. Europäische Schüler lernten gelegentlich ebenfalls seit den 1980er Jahren europäische Schulbücher kennen, die deutsch-französische Fernsehanstalt Arte sendete seit 1992. Von dem sozialen Europa bekamen die Bürger im Alltag weit weniger mit. Aber die in den 1980er Jahren beschlossenen neuen Kompetenzen der Europäischen Union zur Regelung des Gesundheitsschutzes und der Arbeitsbedingungen lernten die Arbeitnehmer schon kennen. Hunderttausende von Europäern wurden vom milliardenschweren Europäischen Sozialfonds gefördert. Nicht zu unterschätzen, aber schwer genauer zu bestimmen war die Bestärkung gemeinsamer kultureller, sozialer und politischer Werte durch die Europäische Union. Nicht in den Alltag der Bürger eingedrungen waren zwar die besonders wichtigen europäischen Gipfel – so der Kopenhagener Gipfel von 1993 mit der Bestätigung gemeinsamer demokratischer und wirtschaftlicher Werte und die Gipfel von Paris 1972 und von Göteborg 2017 mit der Bestätigung von sozialen Werten. Aber die kontinuierliche Bekräftigung dieser Werte durch die Europapolitik war für das Alltagsverständnis der Bürger zunehmend wichtig. Dies galt vor allem in der wachsenden Konkurrenz mit den ganz anderen Werten der Regierungen Chinas, Russlands, der arabischen Welt, der Türkei und zumindest zeitweise auch der USA.

Seit dem Vertrag von Maastricht 1992 schuf (wie soeben erwähnt) die Europäische Union schrittweise die Unionsbürgerschaft. Aus dem Nutzer eines technokratischen Zweckverbands wurde allmählich der Bürger der Europäischen Union. Die europäischen Bürger nahmen diese Unionsbürgerschaft meist an, füllten sie unterschiedlich aus und veränderten sie dabei. Flankiert wurde die Entwicklung der Unionsbürgerschaft durch die allmähliche Politisierung der europäischen Öffentlichkeit seit den 1980er Jahren. Sie blieb nicht nur eine Angelegenheit von Intellektuellen, von Europaexperten in der Wissenschaft, von politischen Beratungsinstituten, von Lobbyisten und Europapolitikern. Das immer größere Gewicht der Europathemen in den Medien und die schärferen öffentlichen Konflikte berührten und mobilisierten die Bürger zunehmend nicht nur in Erfolgszeiten, sondern sogar eher in Krisenphasen der europäischen Integration. Die Europäische Gemeinschaft bzw. die Europäische Union versuchte diese Politisierung durch die Mobilisierung der europäischen Öffentlichkeit für den Binnenmarkt, durch die europäischen Symbole, die europäische Fahne, die europäische Hymne, später die europäischen Geldscheine und Münzen, auch die Einrichtung eines europäischen Museums, den Versuchen einer von oben gelenkten europäischen Geschichtsschreibung, schließlich auch durch den Bau des europäischen Viertels in Brüssel zu verstärken.4 Viele Bürger befassten sich daher mit der Europäischen Union im Alltag weit stärker als mit anderen internationalen Organisationen, erwarteten von der Europäischen Union mehr als von anderen internationalen Organisationen und fühlten sich auch als Europäer. Eine Minderheit der Bürger lehnte allerdings die Europäische Union vehementer als zuvor ab und wählte in Teilen unionsfeindliche, rechtsextreme oder linksextreme Parteien.

Mit der Einführung der europäischen Währung 2002 in der Eurozone wurden die Beziehungen zwischen Bürgern und europäischer Integration noch einmal erheblich dichter. Die Währung bescherte nicht nur der Wirtschaft, sondern auch den Bürgern im Alltag spürbare Vorteile, darunter das Ende des verlustreichen Geldumtauschs an den nationalen Grenzen. Im Süden Europas leitete der Euro im ersten Jahrfünft einen Wirtschaftsboom und eine Verbesserung des Lebensstandards ein. Die europäische Währung brachte freilich in der Eurokrise auch spürbare Nachteile für die Bürger der südlichen Mitgliedsländer mit sich, vor allem die Kürzungen öffentlicher Sozialleistungen, den Wegfall mancher Dienstleistung der Banken und im schlimmsten Fall sogar Geldknappheit am Geldautomaten, die Zunahme der Arbeitslosigkeit und die erzwungene Migration der Jungen in wohlhabendere Länder der Europäischen Union.

Die Präsenz der Europäischen Union im Alltag der Bürger verdichtete sich im Positiven wie im Negativen. Die Europäische Union rückte den Bürgern erheblich näher als in den 1960er Jahren. Diese Verdichtung ging nicht einfach glatt durch, sondern war umstritten und wurde teilweise unter Konflikten durchgesetzt. Sie hatte in den meisten Mitgliedsländern große Mehrheiten hinter sich, während sie in anderen auf viel Widerstand stieß. Der Brexit erscheint derzeit als ein Projekt, die Briten zur alten europäischen Integration des technokratischen Zweckverbands für Zollabbau zurückzuführen, dem viele Briten 1973 auch beizutreten glaubten. Aber in den meisten anderen Mitgliedsländern akzeptierte und wünschte die Mehrheit der Bürger die neue, weit dichtere, im Alltag präsente europäische Integration nicht nur, sondern beeinflusste sie auch mit. Das soll dieses Buch zeigen.

2. Die europäischen Versprechen an die Bürger und ihre Einhaltung

Welche Versprechen hat die Europapolitik den Bürgern gegeben? Und hat sie sie gegenüber den Bürgern gehalten? Diese Versprechen sind ein entscheidender Kontext für die drei Themen dieses Buches: für das Vertrauen oder Misstrauen der Bürger in die europäischen Institutionen, für die eigenen Erwartungen und Vorstellungen der Bürger von der europäischen Integration und schließlich für den Einfluss der Bürger auf die europäischen Entscheidungen. Deshalb behandeln wir diese Versprechen zuerst. Dabei reicht es nicht, sich die Versprechungen der Europapolitik anzusehen. Auch das Einlösen dieser Versprechen und die Gunst oder Widrigkeit der Umstände für deren Einlösung gehören zu diesem Kontext. Sie wird besonders eingehend behandelt.

Die Europapolitik ging seit den 1950er Jahren gegenüber den Bürgern hauptsächlich sechs Versprechen ein: (1) das Versprechen des Friedens in Europa anstelle der innereuropäischen Kriege; (2) das Versprechen des Wohlstandes auch für die ärmeren Mitgliedsländer der Europäischen Union; (3) das Versprechen der Demokratisierung der Europapolitik; (4) das Versprechen des sozialen Europas; (5) das Versprechen, die Demokratie in den Mitgliedsländern und im weiteren Sinne die europäischen Werte zu sichern; (6) das Versprechen der Sicherheit der Europäischen Union gegenüber Bedrohungen von außen; (7) schließlich nur in besonders schwierigen Situationen aktuell: das Versprechen der Rettung Europas aus tiefen Krisen.

Diese Versprechen gab die Europapolitik nicht alle von Anfang an. Sie waren nicht Teil eines von vornherein durchgeplanten Projekts, sondern wurden immer wieder neu ausgehandelt, an neue Kontexte angepasst und waren nie unumstritten. Die Europapolitik begann mit wenigen Versprechen, weitete sie im Laufe der Zeit aus, veränderte sie, konnte sie zeitweise halten und übernahm sich zeitweise mit ihren Versprechen. Diese Erweiterung und Veränderung der Versprechen der Europapolitik und besonders auch ihre Einhaltung werden in drei Zeitabschnitten vorgestellt: zuerst in der Gründungszeit der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft während der 1950er und 1960er Jahre; dann in der Zeit der Europäischen Gemeinschaft in den 1970er und 1980er Jahren mit ihren geographischen Erweiterungen zuerst nach Norden, dann nach Süden sowie ihren größeren wirtschaftspolitischen und politischen Ambitionen; und schließlich in der Zeit der Europäischen Union seit den 1990er Jahren mit ihren großen geographischen Ausweitungen nach Osten und mit ihren tiefgreifenden Vertragsreformen und erweiterten Versprechungen an die Bürger.5

Versprechen an die Bürger sind nicht einfach mit der Europapolitik gleichzusetzen. Viele europäische Entscheidungen vor allem über die Außenbeziehungen und über die Wirtschaft beruhten nicht auf solchen Versprechen. Versprechen waren vielmehr öffentlich angekündigte Grundlinien, mit denen um die Bürger geworben wurde und die sich in Präambeln und Grundsatzreden finden. Das folgende Kapitel sollte man deshalb nicht mit einer Synthese der Geschichte der europäischen Politik verwechseln.6

Die zwei Versprechen der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

Zwei große Versprechen gab die Europapolitik in der Gründungsepoche der 1950er und 1960er Jahre: den Frieden in Europa zwischen europäischen Gegnern des Zweiten Weltkrieges zu sichern und den Wohlstand für alle Europäer zu steigern. Diese Versprechen trug schon Robert Schuman in seiner berühmten Rede am 9. Mai 1950 zur Gründung der Montanunion vor. Die zukünftige Montanunion sollte »zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des Friedens beitragen«.7