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Appell für eine wirklich patientenorientierte Medizin! Krankenhäuser und Praxen haben sich in den letzten Jahren mehr und mehr zu Wirtschaftsunternehmen entwickelt – zum Nachteil der Patienten und des Personals. Das System ist strikt auf Gewinn ausgerichtet, gleichzeitig ist eine enorme Verschwendung an menschlichen und materiellen Ressourcen zu beobachten. Überversorgung und Mangel sind die beiden Seiten einer Medaille. Die Corona-Pandemie hat es wie unter einem Brennglas gezeigt: Einerseits sind wir enorm leistungsfähig, andererseits schlecht organisiert und unterfinanziert. Dr. med. Umes Arunagirinathan schlägt Alarm. Klar und authentisch benennt er die Missstände und zeigt auf, was sich ändern muss – damit das Wohl der Patienten im Mittelpunkt steht, nicht der Profit.
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Dr. med. Umes Arunagirinathan
Wie uns das Geschäft mit der Gesundheit krank macht
Krankenhäuser und Praxen entwickeln sich mehr und mehr zu Wirtschaftsunternehmen – zum Nachteil der Patienten und des Personals. Umes Arunagirinathan schlägt Alarm: Täglich erlebt er, dass Ärzte keine Zeit finden, sich in Ruhe um ihre Patienten zu kümmern. Bürokratisierung und ausufernde Dokumentationspflichten kosten Zeit, die dem Kranken vorenthalten wird. Rücksichtsloses ökonomisches Denken seitens der Geschäftsführung und enormer Zeitdruck machen es für Ärzte und Pflegepersonal immer schwerer, rein nach medizinischen Kriterien zu handeln. Klar und authentisch benennt Umes Arunagirinathan die Missstände und zeigt auf, was sich ändern muss, damit wieder das Wohl des Patienten im Mittelpunkt steht, nicht der Profit.
Dr. Umes Arunagirinathan wurde 1978 auf Sri Lanka geboren und kam als 13-jähriger unbegleiteter Flüchtling nach Deutschland. Er studierte in Lübeck Medizin und wurde an der Universität Hamburg promoviert. Er war Assistenzarzt am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und arbeitete in der Klinik für Kardiochirurgie in Bad Neustadt an der Saale sowie an der Charité Berlin. Er ist Facharzt für Herzchirurgie und heute als Funktionsoberarzt im Klinikum Links der Weser in Bremen tätig.
Alle dargestellten Erlebnisse und Ereignisse entsprechen der Wahrheit. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sind einige Schilderungen jedoch leicht abgewandelt und anonymisiert.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung Karin Desmarowitz
ISBN 978-3-644-00647-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Widmung
Motto
1. Warum ich mit Leib und Seele Arzt bin
2. Die Corona- Prüfung
Thesen unter Druck?
Risikoanalyse mit prophetischem Potenzial
3. Die Industrialisierung der Medizin
Ein Sündenfall: DRGs oder Fallpauschalen
Worum es in der Medizin geht
Das Ende der Individualtherapie
Gesundheit als Produkt
4. Das System Krankenhaus
Zu viel und zu wenig
Quantität bringt Qualität
Gegenstück: Corona und die Intensivbetten
Zuweiser: Woher wir die Patienten bekommen
Besonders clever: Medizinische Versorgungszentren
Frei nach Grimm: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten in die Kommune
Darf’s ein bisschen mehr sein?
Jedem seine Aufgabe: kleine und große Häuser
5. Ärzte am Limit
24 Stunden sind mein Tag
Zirkusreif: Jonglieren mit Zahlen und Ressourcen
Sparen, sparen, sparen! Und verschwenden!
Das knappste Gut: Zeit
Die unterschätzte Begegnung: Visite
Die Freiheit der Ausbildung
Herrenzirkel und Frauen im Bermudadreieck
6. Der mündige Patient
Wer hat das Steuer in der Hand?
Reparatur als Dienstleistung
Am liebsten gleich in die Notaufnahme
Die Kunst der Kommunikation
Wer kümmert sich um den Patienten?
Wofür zwei Klassen?
Das Ende des Lebens
7. Das ärztliche Gelöbnis und was für mich daraus folgt
Dank
Für mein Patenkind Lenni
Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht.
Aus dem Eid des Hippokrates, 5. Jahrhundert vor Christus
Ich liebe meinen Beruf. Aus voller Überzeugung bin ich Arzt geworden. Ich kann mir keinen schöneren Beruf vorstellen als diesen. Ich liebe die Menschen, und es ist für mich ein unglaublich erhebendes Gefühl, wenn ich ihnen helfen kann. Wenn jemand durch einen operativen Eingriff seine Lebensqualität zurückgewinnt, wieder Spaß am Dasein entwickelt und sich auf die kommenden Jahre freut, wenn ich für jemanden den Ehepartner rette oder einem Kind den Vater oder die Mutter erhalten kann. Dann bin ich glücklich, weil ich weiß, warum ich die Anstrengungen des Studiums auf mich genommen und mich durch die Assistentenzeit gekämpft habe. Und weil ich weiß, dass es sich gelohnt hat.
Das Studium ist mir nicht leichtgefallen. Als 13-jähriger unbegleiteter Flüchtling war ich aus Sri Lanka nach Deutschland gekommen, nach einer neun Monate dauernden Odyssee über Singapur, Dubai, Togo, Ghana, Benin und Nigeria. Mein Onkel und seine Familie, die in einer Hochhaussiedlung in Hamburg lebten, nahmen mich auf. Ich musste Deutsch lernen, mich in meiner neuen Heimat überhaupt erst einmal zurechtfinden und Wurzeln schlagen, trotz des Heimwehs. Das kostete sehr viel Kraft. Hätten mich mein Lehrer und meine Schulkameraden nicht so liebevoll und tatkräftig unterstützt – ich weiß nicht, ob ich es geschafft hätte. Es war schwer, weil es an vielem fehlte, oft auch am Geld für Bücher. Wir waren arm, mein Onkel hatte seine Familie und dann eben auch noch mich zu versorgen.
Schon während der Schulzeit und erst recht während des Studiums habe ich daher immer nebenbei gearbeitet, manchmal dafür sogar mehr Zeit aufwenden müssen als für das Lernen. Das Geld für den Schlepper, das meine Eltern zusammengekratzt hatten, indem sie sich hoch verschuldeten, zahlte ich noch jahrelang ab. Bafög erhielt ich nicht, denn dafür hätte ich Eltern haben müssen, die seit sechs Jahren in Deutschland arbeiteten. Doch meine Eltern lebten in Sri Lanka. Also: keine Eltern, kein Bafög. Die Logik des Systems ist an sich klar, aber es fällt einem schwer, sie auszuhalten, wenn sie einen so behindert.
Nach dem Abitur begann ich das Studium der Medizin an der Uni in Lübeck. Medizin war das einzige Fach, das für mich in Frage kam. Denn damals, beim Abschied, hatte ich meiner Mutter versprechen müssen: Wenn ich es schaffe, nach Deutschland zu kommen, würde ich Arzt werden. Das war ihr Herzenswunsch – und meiner war es auch. Auslöser war im Grunde die Nierenkrankheit meiner älteren Schwester. Ich war als kleiner Junge oft dabei, wenn meine Mutter mit ihr zur Untersuchung ins Krankenhaus fuhr. Der behandelnde Arzt dort imponierte mir enorm. Er wirkte souverän in seinem Kittel und mit all seinen Instrumenten, er wusste unendlich viel – die Hoffnungen der ganzen Familie ruhten auf ihm. Wahrscheinlich hätte meine Schwester geheilt werden können. Aber der Bürgerkrieg machte alles zunichte. Wir sind Tamilen und gerieten zwischen die Fronten der Rebellenarmee Tamil Tigers und der Regierungstruppen. Eine regelmäßige Versorgung meiner Schwester war nicht möglich. Sie starb, als sie zwölf Jahre alt war.
Ihr Tod prägte unsere Familie, einen jeden von uns auf ganz unterschiedliche Weise. Ich vermisste sie und konnte nicht begreifen, dass ihre Krankheit stärker gewesen war als sie, dass man sie nicht hatte retten können. In meiner Mutter reifte die Überzeugung, dass ich Medizin studieren sollte. Ich glaube, sie wollte auf diese Weise den Schmerz der Wunde, die der Tod ihrer ältesten Tochter geschlagen hatte, ein wenig lindern. Vielleicht erhoffte sie sich unbewusst auch, dass so etwas nie wieder geschehen könnte, wenn es einen Mediziner in der Familie gäbe. In Sri Lanka war es damals jedoch unmöglich, Medizin zu studieren, zumal ich als Jugendlicher Gefahr lief, von den Tamil Tigers als Kämpfer rekrutiert oder von Regierungssoldaten getötet zu werden. So kam meine Mutter auf die ihrer Ansicht nach einzige Lösung. Sie entschied, mich nach Deutschland zu meinem Onkel zu schicken. Allein. Für eine gemeinsame Flucht unserer großen Familie hätten meine Eltern das Geld niemals aufbringen können.
Obwohl die neun Monate unterwegs einerseits traumatisch waren, möchte ich sie andererseits nicht missen. Es gab in all der Härte und Grausamkeit und trotz der Gefahr auch viele gute Momente und herzliche Begegnungen, die mich tief beeindruckt haben und die ich niemals vergessen werde. Ich war glücklich, als ich es endlich hierher geschafft hatte, wobei mir noch nicht klar war, wie schwer es sein würde, gerade in der Anfangszeit. Ständig bangte ich darum, dass meine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert würde. Einmal stand ich sogar kurz vor der Abschiebung. Dennoch kam ich bis zum Abitur. Und zum Medizinstudium in Lübeck.
Das Pauken war wirklich hart. Dass ich mir das Geld fürs Studium verdienen musste, beschleunigte das Lernen nicht gerade. Jeden Freitagnachmittag fuhr ich nach Hause nach Hamburg, um bis Mitternacht in einem Restaurant Teller zu waschen, auch Samstag und Sonntag. Montags früh um 4 Uhr ging es zurück nach Lübeck zum Studieren. Nach dem dritten Semester bekam ich einen Job bei McDonald’s in Lübeck, sodass ich nicht mehr dauernd hin- und herfahren musste. Außerdem war ich studentische Hilfskraft, trat als Komparse in Fernsehserien auf, machte Promotion für eine Optikerfiliale und noch eine ganze Menge anderer Dinge, um mir den Lebensunterhalt zu verdienen und ab und zu noch etwas Geld nach Sri Lanka zu schicken. Das Arbeiten nahm viel Raum in meinem Leben ein – ich musste Jobs erst finden, sie dann ausführen und darüber hinaus alles mit dem Studium vereinbaren. Es wurde leichter, als ich einen Job im Krankenpflegedienst einer Klinik bekam. Mit den Diensten konnte ich einfacher planen, außerdem sammelte ich wertvolle Erfahrungen für meinen künftigen Beruf. Doch wenn man 90 Stunden im Monat mit anderen Dingen als dem Studium beschäftigt ist, schafft man einfach nicht so viele Scheine wie jemand, der Geld von zu Hause oder vom Staat erhält und seine ganze Kraft ins Lernen stecken kann. Ich habe mich durchgeboxt und brauchte zwei Jahre länger als der Durchschnitt. Nur zwei Jahre länger, muss ich sagen.
Ich glaube, etliche meiner Kollegen studierten Medizin, weil sie ein gutes Abitur haben, weil Arzt ein sehr angesehener, in der Regel lukrativer Beruf ist oder weil ihre Eltern schon Ärzte waren. Aber die allermeisten haben wohl ein ähnliches Motiv wie ich: Sie wollen Menschen helfen, gesund zu bleiben oder geheilt zu werden. Und wenn das nicht möglich ist, dann wenigstens dazu beitragen, dass ein Leben ohne Qual zu einem würdigen Ende gelangt. Das ist unser Ziel, dafür werden wir ausgebildet, dafür wollen wir arbeiten. Dass ich fachlich dazu in der Lage bin, das habe ich mir erkämpft. Und dass ich bei aller Kompetenz nie den Menschen aus den Augen verliere, ist Teil meines Wesens und meiner Biographie. Den Menschen im Auge zu behalten und für ihn zu arbeiten, zu seinem Nutzen, wie immer er im Einzelfall auch aussehen mag – das war und ist mir das Wichtigste. Denn genau das betrachte ich als die eigentliche medizinische Kunst. Natürlich muss ich dafür, gerade auch als Herzchirurg, das Handwerk im wörtlichen Sinne beherrschen und über das Fachwissen verfügen. Doch das sind nur die Fertigkeiten, die ich für meine Arbeit benötige, das ist nicht die Sache selbst. Es geht um den Menschen.
In diesem Sinne habe ich hohe Ansprüche an mich und an das System, in dem ich arbeite. Doch die Praxis ist enttäuschend. Oftmals kommen wir Krankenhausärzte uns vor wie Arbeiter in einer Fabrik. In langen Schichten und an schier endlos laufenden Fließbändern kümmern wir uns um – ja, worum eigentlich? Um Organe und Körperglieder, um Fallpauschalen, die Belegung von Betten und OP-Tischen, das Ausfüllen von Formularen, die diagnostische Abklärung, die Dokumentation von Dingen, die wir gemacht oder aus bestimmten Gründen abgelehnt haben etc. Und dazwischen quetschen wir den Kontakt zum Patienten, zu Angehörigen, zu den sogenannten Zuweisern, also den Ärzten, die ihre Patienten zu uns schicken, zum Chef, zu den Kollegen, den Schwestern, den Pflegern usw. Mir fehlt – mit den Jahren immer stärker – das, was eigentlich das Wesen der Medizin und der Heilung ausmacht: die Fürsorge für den Menschen. Für genau den Menschen, der vor mir sitzt oder liegt. Es ist der Mensch, den ich als Herzchirurg über seine Chancen und die Risiken eines großen Eingriffs aufklären soll, der verstehen will, was mit ihm geschieht, der existenzielle Fragen hat, die kaum zu beantworten sind, dem ich seine Angst nehmen möchte. Auch die Angehörigen will ich einbeziehen. Sie tragen wesentlich zum Erfolg einer Behandlung bei.
Um eine solche Fürsorge aufzubringen, muss ich diesen Menschen kennen, ihn einschätzen können. Denn die Labor- oder anderen Werte sagen niemals die ganze Wahrheit. Ob ein Patient eine große Behandlung überstehen kann, ob es ihm danach besser geht – das hängt noch von ganz anderen Faktoren ab als von den gemessenen Werten. Es kommt entscheidend auf ihn und seine Compliance an, wie wir Mediziner sagen. Hat er einen starken Willen, schätzt er die Situation richtig ein, besitzt er genügend Durchhaltevermögen, kann er Verantwortung für sich und seine Situation nach der OP übernehmen? Das sind die Fragen, die ich klären muss, sodass wir dann gemeinsam zu einer Entscheidung gelangen können.
Das braucht Zeit, wie man sich unschwer schon nach dieser kleinen Skizze vorstellen kann. Diese Zeit haben wir meist nicht, weil wir in einem enormen Tempo arbeiten müssen. Und es braucht vor allem Freiheit. Die Freiheit, rein nach gesundheitlichen, individuellen medizinischen Erwägungen zu entscheiden. Es braucht Freiheit, um wirtschaftliche Aspekte ausblenden zu können. Also nicht zu einer OP raten zu müssen, nur weil gerade Betten frei sind, die möglichst schnell wieder belegt werden sollen. Nicht eine Diagnose zu stellen und eine Therapie vorzuschlagen, nur weil sie höher vergütet wird als andere. Nicht an die Rendite zu denken, die der Gesundheitskonzern, in dessen Haus das Ganze stattfindet, seinen Aktionären versprochen hat. Zur Freiheit gehört übrigens auch, dass ich in meiner Facharztausbildung nicht von einem Chef abhängig bin, dessen Bonuszahlungen mit dem Umsatz der Klinik verknüpft sind.
Arzt ist ein freier Beruf, nicht nur im formaljuristischen, sondern auch im wörtlichen Sinn. In genau dieser Freiheit ist unsere große Verantwortung für das leibliche und seelische Wohl des Patienten begründet. Verantwortung ist der zentrale Begriff im Gesundheitswesen. Alle Beteiligten müssen Verantwortung übernehmen: die Ärzte für die Patienten, die Patienten für sich selbst und der Staat mit seiner Organisation für die Versorgung der Bürger. Die immer weiter fortschreitende Ökonomisierung des Gesundheitssystems steht dazu aber in scharfem Gegensatz. Sie macht Gesundheit und Heilung zu einem Produkt, uns Ärzte zu Dienstleistern und die Patienten zu Konsumenten. Wir Ärzte und Ärztinnen müssen immer häufiger nach Kriterien entscheiden, die nicht in unserem beruflichen Ethos begründet liegen, sondern gewinnorientiert sind oder zumindest wirtschaftlichen Regeln folgen.
Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, dass ökonomisch gewirtschaftet wird. Ich bin außerdem sehr damit einverstanden, dass kontrolliert wird, wie wir das Geld ausgeben, das die Versicherten und teilweise auch die Steuerzahler aufbringen. Es ist die Basis, damit jeder in Deutschland in den Genuss einer medizinischen Behandlung kommen kann. Ich bin außerdem absolut dafür, dass wir mit unseren Ressourcen verantwortungsvoll und sparsam umgehen. Ich stamme aus armen Verhältnissen und weiß den Wert eines Lebens und einer Gesellschaft zu schätzen, die nicht von Mangel geprägt sind. Doch möchte ich nicht dazu verpflichtet werden, als Arzt renditesteigernde Entscheidungen zu treffen.
Ich will niemandem Angst einjagen, sodass er sich womöglich nicht mehr traut, zum Arzt oder in die Klinik zu gehen. Das wäre die falsche Schlussfolgerung. Wir haben sehr viele Krankenhäuser, Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegekräfte in unserem Land, die hervorragende Arbeit leisten. Ich möchte jedoch aufklären über die Schwachstellen des Systems und die negative Entwicklung, die seit Jahren zu beobachten ist. Wir müssen umsteuern und den Patienten und seine Bedürfnisse wieder in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen.
Mein Ansatz ist konstruktiv. Ich will die Stärken und die Kompetenzen unseres Gesundheitswesens besser zur Geltung zu bringen. Dafür muss ich aber den Finger in die Wunde legen und den Akteuren, also Politikern, Medizinern und Patienten sagen, wo es meiner Ansicht nach in der Praxis hakt. Nur dann können wir erreichen, dass die Entwicklung wieder in die richtige Richtung geht – und uns der Patient nicht verlorengeht.
Im Frühjahr 2020 war die Arbeit an diesem Buch schon weit vorgeschritten. Meine Thesen hatte ich entwickelt: Die Industrialisierung des Gesundheitswesens ist schädlich für das System und für (fast) alle, die darin arbeiten oder behandelt werden. Es ist zwar extrem gewinnorientiert ausgerichtet, gleichzeitig beobachten wir jedoch eine enorme Verschwendung an menschlichen und materiellen Ressourcen. Überversorgung und Mangel sind, so paradox es sich im ersten Moment liest, tatsächlich die beiden Seiten einer Medaille. Der Werteverlust im Gesundheitswesen untergräbt die Fundamente, auf denen das Heilen basiert. Es bringt uns Mediziner an den Rand des Zusammenbruchs – und das System auch.
Mitten im Schreiben des Manuskripts für dieses Buch kam Corona. Abgesehen davon, dass etliche Tests und eine Verschärfung der Hygienemaßnahmen mir die Arbeit als Arzt im Krankenhaus teilweise sehr erschwerten, fragte ich mich natürlich: Was ist nun mit meinen Thesen? Halten sie der Wirklichkeit stand? Ist meine kritische Haltung noch aufrechtzuerhalten angesichts der unbestreitbaren Leistungen des deutschen Gesundheitswesens in dieser Krise? In sehr kurzer Zeit wurde die Zahl der Intensivbetten enorm gesteigert. Vor der Krise gab es bundesweit 28000 Intensivbetten, davon 20000 mit Beatmungsmöglichkeit. Mitte April 2020, also ungefähr zwölf Wochen nachdem ein mit Corona infizierter Mann in Bayern identifiziert wurde, standen 40000 Betten mit 30000 Beatmungsplätzen zur Verfügung.[1] Sogar Hotels und Messehallen wurden umfunktioniert, um bei Bedarf dort Kranke behandeln zu können. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Gesundheitsämtern und Pflegeheimen wuchsen über sich hinaus. In Windeseile entstand ein Netz an Informationskanälen, Personal wurde geschult, Forschungsteams widmeten sich auf internationaler Ebene der Entwicklung von Medikamenten und einem Impfstoff, jeden Tag versorgten uns das Robert-Koch-Institut und andere Institutionen mit den aktuellen Zahlen und Trends sowie Strategievorschlägen.
Wer diese Kapazitäten und diese Leistungen mit den Bildern aus anderen Ländern vergleicht, kann doch nichts anderes denken als: Unglaublich, wie das hier in Deutschland funktioniert, wie schnell wir auf eine unerwartete Pandemie reagieren und wie effizient wir sie bewältigen können. Wie viel weniger Infizierte und vor allem wie viel weniger Todesfälle wir bisher beklagen müssen als andere Länder: Bei uns in Deutschland «nur» 9200, in Italien über 35400, in Spanien 28600, in den USA 171800 (Stand Mitte August 2020).[2] Ist das nicht ein eindrücklicher Beweis für die Überlegenheit und Belastbarkeit unseres Gesundheitssystems?
Auch in Normalzeiten stehen wir sehr gut da. Man muss ja gar nicht auf afrikanische Staaten schauen, schon beim Vergleich mit europäischen Ländern können wir eine herausragende Versorgungsdichte feststellen. Deutschland verfügte 2017 über 33,9 Krankenhausbetten pro 100000 Einwohner, Spanien 2017 über 9,7 und Italien 2020 über 8,6.[3] Unglaublich schnell konnten wir diese Kapazitäten noch aufstocken und einen Teil des benötigten Materials organisieren, etwa Gesichtsmasken, Desinfektionsmittel, Testkits, Schutzanzüge. Ich fragte mich angesichts dieser Erfolge ernsthaft, ob meine kritische Haltung unter diesen Umständen noch relevant war. Ob ich mich vielleicht zu sehr auf die Mängel konzentriert hatte, die in normalen Zeiten sehr störend wirken, aber im Ernstfall vollkommen zu vernachlässigen sind.
Ich habe mir daher einiges noch mal genauer angeschaut. Die Ausgaben im Gesundheitswesen betrugen im Jahr 2018 (neuere Zahlen gibt es noch nicht) 390,6 Milliarden Euro. Der Anteil am Bruttosozialprodukt erreichte 11,7 Prozent. Jeden Tag geben wir in Deutschland somit sage und schreibe über eine Milliarde Euro für die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit aus.[4] Die privaten Belastungen, also der Erwerb von rezeptfreien Medikamenten oder die Finanzierung von persönlichen Fitnessmaßnahmen, sind darin noch gar nicht enthalten. Jeden Tag über eine Milliarde Euro – und trotzdem haben wir schon ohne Corona Ärzte und Ärztinnen, die am Limit arbeiten, Schwestern und Pfleger, die unterbezahlt sind, und oftmals zu wenig oder schlechtes Material. Krankenhäuser arbeiten defizitär, und Studien wie die der Bertelsmann Stiftung von 2019 kommen zu dem Schluss, dass die Hälfte der Häuser absolut ausreichen würde, man die andere Hälfte also schließen könne.[5] Die gigantischen Aufwendungen einerseits und der andererseits immer weiter steigende Druck, noch ökonomischer zu arbeiten, reichen nach Ansicht der Studienexperten offenbar nicht aus, um eine auf Dauer bezahlbare Versorgung zu erreichen.
Corona hat jedoch gezeigt, dass wir in kurzer Zeit sehr viel auf den Weg bringen und improvisieren konnten. Das ist schön und unterstreicht, wie leistungsfähig wir prinzipiell sind. Jedoch bleibt eins festzuhalten: Wir waren nicht vorbereitet. Zu hohen Kosten und unter äußerst schwierigen Umständen mussten wir Lücken stopfen: Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Kleidung, Handschuhe und Atemmasken für das medizinische Personal in Krankenhäusern und Arztpraxen, für das Personal in Alten- und Pflegeheimen organisieren, außerdem vor allem am Anfang den Mangel an verlässlichen Daten bei den zentralen Meldestellen kompensieren usw.
Nun kann man sagen: Wie will man sich denn auf so eine Pandemie vorbereiten, das geht doch gar nicht. Doch, das geht schon. Aber, und das ist der große Einwand, möglicherweise lohnt es sich nicht. Weil sie ja vielleicht gar nicht eintritt. Dann hätte man also ganz umsonst Hunderttausende von Masken, Schutzanzügen und Handschuhen sowie teure Beatmungsgeräte angeschafft und in irgendeinem Lager liegen, das jeden Tag Gebühren kostet. Und am Ende muss vielleicht sogar alles vernichtet werden, weil es überaltert und unbrauchbar geworden ist.
Ähnliches haben wir ja schon mal erlebt, als die Bundesländer 2009 in großen Mengen Impfstoff einkauften, weil unter anderem das Robert-Koch-Institut vor der sogenannten Schweinegrippe warnte. Jedoch zogen die Menschen nicht mit, nur wenige ließen sich impfen. Der Impfstoff lag wie Blei in den Regalen, und die Welle ging vorüber, ohne allzu großen Schaden anzurichten. 280 Millionen Euro hatten die Länder für den Impfstoff gezahlt. Zwei Jahre später mussten sie noch etliche weitere Millionen aufbringen, um den nicht verbrauchten Impfstoff sicher zu entsorgen.[6] Das Verfallsdatum war überschritten.
Vorratshaltung ist also risikoreich und teuer. Die großen Industrien haben das schon lange erkannt. Man produziert just in time. Laien benutzen im Alltag diesen Ausdruck gern, wenn sie damit ausdrücken wollen, dass etwas «pünktlich» geschieht. Das trifft es aber nicht ganz. Wenn Teile just in time in ein Werk geliefert werden, heißt das, dass sie zu einem genau vorherberechneten Zeitpunkt direkt in den Produktionsprozess eingefügt werden. Sie werden nicht Tage, Wochen oder Monate in einem Lager aufbewahrt, bis sie gebraucht werden, sondern sofort verarbeitet. Das spart Kosten, denn das Kapital liegt nicht kostentreibend vor den Werkstoren oder auf dem Gelände herum – es arbeitet, indem es punktgenau verwendet wird. Sich auf eine mögliche Pandemie unter anderem damit vorzubereiten, dass man eventuell benötigte Ausstattung auf Vorrat anschafft, ist in diesem Sinn absolut unökonomisch.
Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang unökonomisch gewesen – aber selbst wenn man auf dieser Ebene argumentieren will, kann man vermuten, dass es wahrscheinlich viel Geld gespart hätte. Denn auch das weiß jeder Kaufmann: Wenn der Bedarf groß ist, die Anbieter aber knapp sind, dann steigen die Preise. So war es auch im Frühjahr 2020, als die geringen Bestände an Schutzausrüstungen sehr rasch schmolzen und die Atemschutzmasken der höchsten Klasse im Wert rasant stiegen. Abgesehen davon sind das ja lediglich die messbaren Kosten für eine einzige Sache in diesem Zusammenhang. Die wirtschaftlichen Folgeschäden von Ausgangsbeschränkungen und produktivem Stillstand stehen auf einem ganz anderen Blatt. Dazu kommen noch «Kosten», die sich nur schätzen lassen. Damit meine ich zum Beispiel die physische Überbelastung des Personals in Krankenhäusern und Arztpraxen sowie den psychischen Druck durch die ständige Gefährdung, der sie ausgesetzt waren, auch aufgrund der schlechten Ausstattung.
Hätte man es wissen müssen? Vielleicht nicht, wann genau so eine Pandemie auftritt und mit welcher Wucht. Aber man hätte wissen können, wie so etwas im Fall der Fälle ablaufen würde und welche Vorbereitungsmaßnahmen sinnvoll gewesen wären, um die Folgen zumindest abzumildern. Ende 2012 nämlich hatte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) eine Risikoanalyse für zwei angenommene Katastrophenfälle erstellt: für ein extremes Schmelzhochwasser und eine Pandemie durch ein Virus aus der Familie der Coronaviren, das das Schwere respiratorische Syndrom auslöst (SARS).[7] Das Robert-Koch-Institut sowie weitere Bundesbehörden beteiligten sich an der Durcharbeitung eines rein hypothetischen «außergewöhnlichen Seuchengeschehens»[8]. Als Verursacher nahmen sie einen Erreger an, der ähnliche Eigenschaften wie das SARS-Virus aufwies; schon 2003 hatte man gesehen, dass SARS verschiedene Gesundheitssysteme unter Druck brachte, deshalb die Anlehnung daran.
Das BBK spielte 2012 ein Maximalszenario durch, das in vielem verblüffend nah an die Wirklichkeit im Jahr 2020 heranreichte. Natürlich ist diese Bundesbehörde kein Prophet, deshalb waren einige Aspekte auch völlig anders gelagert. Dennoch ist bestechend, wie ähnlich die Infektionswege und die Übertragung beschrieben wurden, dass man mehrere Wellen von vielen Infizierten annahm und davon ausging, über einen Impfstoff erst drei Jahre nach Ausbruch zu verfügen. In dem Szenario ist der Gesundheitssektor mit den vielen Erkrankten hoffnungslos überfordert, sodass «umfassende Sichtung (Triage) und Entscheidungen, wer noch in eine Klinik aufgenommen werden kann»[9], erforderlich sind. In einer Fußnote steht: «Bisher gibt es keine Richtlinie, wie mit einem Massenanfall von Infizierten bei einer Pandemie umgegangen werden kann. Diese Problematik erfordert komplexe medizinische, aber auch ethische Überlegungen und sollte möglichst nicht erst in einer besonderen Krisensituation betrachtet werden.»[10] Bei den sektorenspezifischen Betrachtungen heißt es zur medizinischen Versorgung, dass die personellen und materiellen Kapazitäten nicht ausreichen, um die gewohnte Versorgung aufrechtzuerhalten. «Arzneimittel, Medizinprodukte, persönliche Schutzausrüstungen und Desinfektionsmittel werden verstärkt nachgefragt. Da … die Industrie die Nachfrage jedoch nicht mehr vollständig bedienen kann, entstehen Engpässe.»[11]
Der nationale Pandemieplan wurde zwar 2017 überarbeitet, aber inwiefern er durchgreifende praktische Konsequenzen hatte, kann ich nicht erkennen. Tatsache ist, dass wir im Frühjahr 2020 kaum Vorräte in größerem Umfang hatten, auch bei sehr wichtigen Produkten abhängig von Lieferanten in teils weit entfernten Ländern waren und besonders exponierte Gruppen wie Kranken- und Altenpfleger, niedergelassene Ärzte und andere sehr schnell ohne ausreichende Schutzausrüstung dastanden. Auch ethische Überlegungen für den Extremfall wurden erst in der Krise formuliert.
Nun kann man sagen, dass man hinterher immer schlauer ist. Stimmt. Doch dieses Mal waren wir schon vorher schlauer. Es hat nur nichts genutzt. Das Robert-Koch-Institut selbst kann natürlich nichts entscheiden oder gar anordnen. Politiker und Volksvertreter, Verantwortliche in den Gesundheitskonzernen, kommunale Träger, Verbände usw. entscheiden, wie und in welchem Umfang man sich auf eine mögliche Katastrophe vorbereiten will. Aber es scheint nichts oder fast nichts geschehen zu sein. Welche Gründe im Einzelnen ausschlaggebend waren, kann ich nicht beurteilen. Insgesamt scheint mir für diesen Mangel an Vorausschau jedoch ein Grund essenziell zu sein: Das Gesundheitswesen wird im Gesamten und im Einzelnen wie ein Wirtschaftsbetrieb gesehen. Unsere Ressourcen gelten dann als gut eingesetzt, wenn wir rein zahlenmäßig mit wenig viel erreichen.
Scheinbar funktioniert das Prinzip wenigstens in normalen Zeiten gut. Aber das täuscht. Denn das Kardinalproblem besteht darin, dass sich die Anstrengungen zum großen Teil darauf richten, mittels dieser Effizienzidee nicht gesundheitlichen, sondern finanziellen Gewinn zu machen. Es geht nicht in erster Linie darum, die Betroffenen in der für sie besten Weise zu versorgen und zu therapieren. Die Zielsetzung ist also grundfalsch. Oder anders betrachtet: Die Methode passt nicht zum Gegenstand. Denn ärztliches Handeln und die Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit funktionieren nicht nach wirtschaftlichen Methoden und können demnach nicht mit solchen erfasst werden. Auch wenn Gesundheit Kosten verursacht, so ist sie dennoch kein wirtschaftliches Gut oder industrielles Produkt, das genormt und entsprechend kalkuliert werden kann.
Die angeblich so vorteilhafte Ökonomisierung führte daher meiner Ansicht nach 2020 auch dazu, dass wir weniger gut auf die Pandemie vorbereitet waren, als uns mit unserem großen, rationalisierten System angestanden hätte. Man erinnere sich an die Milliarde Euro, die wir Tag für Tag im Gesundheitswesen ausgeben. Ich will keinem Einzelnen einen Vorwurf machen, nicht Herrn Spahn, nicht den Ministerpräsidenten oder den Geschäftsführern von Klinikkonzernen und Krankenkassen oder sonst wem. Ich würde vielmehr sagen, sie sind Teil eines Systems, das ein vorausschauendes, interessenübergreifendes Planen und Handeln nicht per se belohnt. Erfolg verspricht das schnelle, kurzfristige und auf Einsparungen oder Gewinn angelegte Agieren. Fürsorge, ebenso wie Prävention, ist aber etwas vollkommen anderes. Da gibt es keine schnellen Erfolge, sondern nur das langfristige, werteorientierte Vorgehen. In diesem Sinn hat die Corona-Pandemie letztlich meine Thesen sogar untermauert – bedauerlicherweise. Ich hoffe aber auch gerade deshalb, dass diese Erfahrung, bei allen Problemen und bei allem Leid, die die Krise ausgelöst hat, wie ein Weckruf wirkt.
Wir sind leistungsfähig und verfügen über enorme Ressourcen an fachlicher und menschlicher Kompetenz. Wir müssen sie aber für die richtigen Ziele einsetzen. Diese Ziele will ich mit diesem Buch wieder deutlicher ins Bewusstsein rücken – nach den Erfahrungen aus der Corona-Krise umso mehr.
Früher war alles besser? So würde ich es nicht sagen. Aber manches war besser, davon bin ich überzeugt. Ich bin kein Gesundheitswissenschaftler, der vergleichende historische oder mathematische Untersuchungen anstellt. Ich bin Arzt im Krankenhaus und habe tagtäglich mit einem System zu tun, das so weit wie möglich standardisiert ist bzw. immer weiter standardisiert werden soll. Natürlich weiß ich nicht, wie es in jedem einzelnen der rund 1940 Krankenhäuser[12] in Deutschland zugeht. Aber ich habe in den 18 Jahren meiner Tätigkeit, zunächst als studentische Aushilfe in der Pflege und später als Arzt, den Betrieb in verschiedenen Häusern und Bundesländern erlebt. Ich habe in kommunalen Einrichtungen gearbeitet, in Konzernkrankenhäusern und in drei Unikliniken, also einen ganz guten Einblick in die unterschiedlichen Strukturen, die auf dem Markt vorhanden sind. Außerdem stehe ich natürlich in Kontakt mit Kollegen im In- und Ausland und erfahre zudem eine Menge über die Mitgliedschaft in Fachgesellschaften und Ärzteverbänden. Von daher kann ich auf jeden Fall ein differenziertes und gut begründetes Urteil abgeben.
Was mich tagein, tagaus und in fast jeder Minute meines Dienstes beschäftigt, ist ein Monster namens DRG. Es ist die Abkürzung für Diagnosis Related Groups, im deutschen Sprachgebrauch Diagnosebezogene Fallgruppen oder einfach Fallpauschalen genannt. Dabei handelt es sich um ein Abrechnungssystem für Krankenhausleistungen, das von 2003 an schrittweise eingeführt wurde, weil man eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen befürchtete. Rund 1940 Krankenhäuser rechnen seitdem Fallpauschalen gegenüber den rund 160 Krankenkassen ab. Die Abrechnung nach diesem System sollte von nun an Missbrauch begrenzen, unter anderem indem nicht mehr jede Leistung einzeln und individuell abgerechnet wird, sondern eben die pauschalen Kosten, die für einen bestimmten Fall bzw. eine Behandlung festgelegt sind. Die Hauptkriterien, die die Höhe der Pauschale bestimmen, sind Krankheitsart, Schweregrad der Erkrankung und Behandlung wie etwa eine Operation. Über die Fallpauschalen werden somit genau definierte Krankheiten und ihre Behandlung, inklusive der Aufenthaltsdauer im Krankenhaus, vergütet. Vorher wurden Leistungen sowie individuelle Pflegesätze abgerechnet, die je Tag des Krankenhausaufenthalts zu zahlen waren.