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Dr. Umes ist Herzchirurg, erfolgreicher Autor, engagiertes Mitglied der deutschen Gesellschaft – und dunkelhäutig. Wie viele andere farbige Menschen erlebt er immer wieder diskriminierendes Verhalten seiner Umwelt. Mal ist es nur eine dumme Bemerkung, mal ein gravierender Verstoß gegen seine Würde als Mensch. Gleichzeitig gibt es eine Debatte darüber, was man «eigentlich noch sagen darf», ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden. Umes klagt nicht an, sondern klärt auf. Anhand seiner Biografie beschreibt er pointiert, mit welchen Schwierigkeiten farbige Menschen zu kämpfen haben. Doch er sieht sich nicht als Opfer, sondern als Streiter für ein Zusammenleben, in dem das Gemeinsame die Hauptrolle spielt: die Grundfarbe Deutsch eben. Dazu gehören die deutsche Sprache, die Freiheit zur Selbstentfaltung, Gleichberechtigung und einiges mehr. Es ist das, was diese Gesellschaft für die Deutschen aller Hautfarben ausmacht. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Rassismus diese Werte zerstört.
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Seitenzahl: 274
Veröffentlichungsjahr: 2022
Dr. med. Umes Arunagirinathan
Warum ich dahin gehe, wo die Rassisten sind
Dr. Umes ist Herzchirurg, erfolgreicher Autor, engagiertes Mitglied der deutschen Gesellschaft – und dunkelhäutig. Wie viele andere farbige Menschen erlebt er immer wieder diskriminierendes Verhalten seiner Umwelt. Mal ist es nur eine dumme Bemerkung, mal ein gravierender Verstoß gegen seine Würde als Mensch. Gleichzeitig gibt es eine Debatte darüber, was man «eigentlich noch sagen darf», ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden.
Umes klagt nicht an, sondern klärt auf. Anhand seiner Biografie beschreibt er pointiert, mit welchen Schwierigkeiten farbige Menschen zu kämpfen haben. Doch er sieht sich nicht als Opfer, sondern als Streiter für ein Zusammenleben, in dem das Gemeinsame die Hauptrolle spielt: die Grundfarbe Deutsch eben. Dazu gehören die deutsche Sprache, die Freiheit zur Selbstentfaltung, Gleichberechtigung und einiges mehr. Es ist das, was diese Gesellschaft für die Deutschen aller Hautfarben ausmacht. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Rassismus diese Werte zerstört.
Umes Arunagirinathan wurde 1978 auf Sri Lanka geboren und kam als 13-jähriger unbegleiteter Flüchtling nach Deutschland. Er studierte in Lübeck Medizin und wurde an der Universität Hamburg promoviert. Nach seiner Assistenzzeit am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) arbeitete er in der Klinik für Kardiochirurgie in Bad Neustadt an der Saale sowie an der Charité Berlin. Er ist Facharzt für Herzchirurgie und heute als Funktionsoberarzt im Klinikum Links der Weser in Bremen tätig.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung Asja Caspari
ISBN 978-3-644-01389-6
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Widmung
Motto
1. Zweierlei
2. Der Krieg ist ein Dieb
3. Asylbegehren eines Kindes
4. Afrika
5. Ankunft
6. Hamburg-Mümmelmannsberg
7. Lebensschule
8. Den Raum vergrößern
9. Gewohnheiten
10. Konfrontationen
11. Schweben und springen
12. Abgelehnt
13. Gibt es keinen Platz für mich?
14. Statusfragen
15. Frau Schulze lernt Farbe
16. In neuen Kreisen
17. Grenzüberschreitungen
18. Geprüft
19. Steine ins Wasser werfen
20. Fremd sein
21. Deutscher werden
22. Deutscher sein
23. Durchbeißen
24. Überzeugen durch Leistung?
25. Ein Mangobaum im Eichenhain
26. Träume
Danksagung
Quellenverzeichnis
Für die Stadtteilschule Hamburg-Mümmelmannsberg, die sich so engagiert dafür einsetzt, allen Kindern, insbesondere denen mit Migrationshintergrund, Perspektiven für ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen. Ich verdanke ihr unendlich viel.
«Wer wären wir, wenn wir kein Mitgefühl für jene aufbringen könnten, die nicht wir selbst sind und die nicht zu uns gehören? Wer wären wir, wenn wir uns selbst nicht – wenigstens zeitweise – vergessen könnten? Wer wären wir, wenn wir nicht lernen könnten? Wenn wir nicht verzeihen könnten? Wenn wir nicht etwas anderes werden könnten, als wir sind?»
Susan Sontag in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2003
Flapp, flapp, flapp – der Hubschrauber nähert sich. Das klopfende, schlagende Geräusch der Rotoren wird immer lauter. Ihr Dröhnen erfüllt meinen Kopf. Schüsse knallen. Ich laufe, so schnell ich kann, um den Bananenbaum zu erreichen. Keuchend werfe ich mich auf den Boden, presse mich an den Stamm, genau so, wie meine Mutter es uns Kindern eingeschärft hat. «Wenn ein Hubschrauber kommt, sofort in Deckung gehen. Macht euch unsichtbar. Wenn ihr unter einem Baum liegt, seid ihr für den Hubschrauber gar nicht da.» Ganz knapp habe ich es geschafft, wieder einmal. Mein Herz klopft wie verrückt. Der Lärm ebbt ab, der Hubschrauber der singhalesischen Armee entfernt sich. Ich stehe mit wackeligen Beinen auf, klopfe den Staub aus meinen Sachen und setze meinen Heimweg fort.
Dreißig Jahre später. «Junger Mann, wofür sind Sie denn eigentlich zuständig? Sollen Sie das Zimmer sauber machen oder das Essen ausgeben?», fragt mich eine alte Dame, die auf der chirurgischen Station des Krankenhauses in Bad Neustadt liegt. «Ich kann sowohl putzen als auch Essen verteilen. Ich kann Sie aber auch ganz normal behandeln. Ich bin Ihr Arzt.»
Auch wenn ich in Sri Lanka geboren und aufgewachsen bin: Ich bin Deutscher. 1991 kam ich nach Deutschland – als 13-jähriger Flüchtling. Ich ging hier zur Schule, habe studiert, meine Assistentenzeit in zwei renommierten deutschen Herzkliniken absolviert, bin mittlerweile Funktionsoberarzt in Bremen und seit 2008 Deutscher mit Einbürgerungsurkunde und allem Drum und Dran. Aber: Ich bin ein sehr dunkelhäutiger Deutscher. Wieso «aber»? Ich sage das so, weil im Bewusstsein der meisten Menschen «deutsch» und «weiß» ein Begriffspaar bilden. Und das, obwohl seit vielen Jahren Menschen aller Hautfarben dauerhaft bei uns leben, oft in der zweiten, dritten, vierten oder sonst einer Generation. Sie gehören zu uns, Menschen mit hell- oder dunkelbrauner oder olivfarbener Haut, mit schwarzen, vielleicht stark gewellten Haaren, dem nicht ganz westeuropäischen Gesichtsschnitt.
Rund 26 Prozent der deutschen Bevölkerung haben einen sogenannten Migrationshintergrund, wahrscheinlich sind es noch mehr, weil sich nicht alle Herkünfte statistisch erfassen lassen. Wenn man bedenkt, dass eine Partei mit gut 25 Prozent der Stimmen schon die Regierungsmehrheit und den Kanzler stellen kann, dann sind 26 Prozent Deutsche mit Wurzeln, die außerhalb Deutschlands liegen, eine stattliche Größe. Trotzdem ist diese Tatsache noch immer nicht allen bewusst, trotzdem kommt es permanent zu mehr oder weniger offenen Herabwürdigungen – wie etwa der reflexhaften Annahme, ein Dunkelhäutiger könne nur zum Reinigungspersonal gehören, da die anspruchsvollen medizinischen Aufgaben ja wohl von hellhäutigen, von «richtigen» Deutschen wahrgenommen würden. Mit dunkler Hautfarbe ist man automatisch abgestempelt als Ausländer, egal welche Staatsangehörigkeit man hat.
Man kann sich darüber aufregen. Außer in Ausnahmefällen tu ich es jedoch nicht. Es ist sinnlos und kostet nur Nerven. Ich sehe mich auch nicht in der Opferrolle, besser gesagt: in der schon gar nicht. Ich bin kein Opfer, sondern ein erfolgreicher Immigrant, der seine Heimat gezwungenermaßen als Kind verlassen musste. Es war keineswegs leicht für mich, den Status zu erlangen, den ich heute habe. Doch ich habe es geschafft, aus eigenem Antrieb und Ehrgeiz, aber vor allem mit der Hilfe zahlreicher «bio»deutscher Unterstützer und Freunde. Deshalb stimme ich auch nicht in den Chor derjenigen ein, die überall systemischen oder strukturellen Rassismus am Werk sehen. Etwa wenn bei der Wohnungssuche Bemerkungen fallen wie «an Ausländer vermiete ich nicht» oder der (offensichtlich arabischstämmige) Türsteher eines Clubs sagt: «Von euch sind heut schon genug drin.» Es handelt sich um unangenehme, schmerzhafte Erfahrungen. Ich weiß es, weil ich sie selbst mehr als einmal gemacht habe. Trotzdem: Ich bin kein Opfer. Opfer ist jemand, der von anderen bestimmt wird. Ich aber bin frei, mich emotional und geistig zu bewegen und meine Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel, ob es sich lohnt, einen Versuch zu unternehmen, jemanden aufzuklären und von seiner ursprünglichen Ansicht abzubringen, oder nicht. Bei einer Vermieterin könnte das durchaus der Fall sein, beim Türsteher würde ich es wahrscheinlich sein lassen.
Meiner Ansicht nach gibt es gar nicht so viele echte Hardcore-Rassisten. Also Menschen, die glauben, dass sie aufgrund ihrer Hautfarbe etwas Besseres sind, klüger und überlegen, Urdeutsche eben. Und die aus dieser Überzeugung heraus bestimmte, exklusive Rechte ableiten, die sie mir verwehren wollen. Die vielen «normalen» Alltagsrassisten hingegen stecken in irgendwelchen Mustern fest und reflektieren ihr Handeln und ihre Einstellungen nicht. Die Übergänge von Erfahrungen zu Urteilen und Vorurteilen sind fließend. Diese Alltagsrassisten denken nicht darüber nach, worin der Wert eines Menschen besteht, wie sich eine Gesellschaft zusammensetzt und wer etwas zu ihrem Gelingen beitragen kann. Sie unterscheiden äußerst grob zwischen Vertrautem und Fremdem. Wenn möglich, halten sie sich das Fremde und «die Fremden» fern. Für sie bin ich ein «fremder Deutscher».
So wie mir geht es vielen oder vielleicht allen, die nicht dem Bild entsprechen, das die Biodeutschen von sich selbst und der Norm haben. Erfreulicherweise ist in der letzten Zeit eine Debatte entstanden, die die alltägliche Diskriminierung zum Thema macht. Die auf Missstände hinweist und einer breiten Öffentlichkeit endlich verdeutlichen will, was wir Deutsche und Nichtdeutsche mit Migrationsgeschichte täglich erleben.
Ich finde gut, dass eine solche Diskussion stattfindet. Was ich nicht gut finde, ist, wie sie stattfindet. Mich stört das Absolute daran. Es werden immer mehr Regeln aufgestellt, wie man über Rassismus reden darf oder muss, wer sich dazu und in welcher Weise äußern darf, welche Begriffe als verwerflich gelten, was als aggressiv oder mikroaggressiv zu bewerten ist und welche Haltung eingenommen werden muss, damit eine Äußerung überhaupt als diskutabel angesehen werden kann. Eine Menge Vorschriften soll sicherstellen, dass man Migranten, Migrierten, Immigranten, Schwarzen, Personen mit Migrationsgeschichte, ausländischen Wurzeln oder auch besonderer Herkunft respektvoll und politisch korrekt begegnet.
Das Vokabular und die Intentionen sind sicher gut gemeint – aber vielleicht auch nur das. Triggerwarnungen in Büchern, dass darin das «N*Wort» vorkomme, Begriffe wie «migrantisch-diasporisch» und Abkürzungen wie «BIPoC», kurz für Black, Indigenous und People of Color, sind für mich im wahrsten Sinne des Wortes unpassend. Ich sehe mich selbst nicht so, und ich will auch von anderen nicht so gesehen werden. Solche Definitionen sind abstrakt und abgehoben. Zweifellos ist richtig, dass auch scheinbar neutrale Alltagsbegriffe Missachtung enthalten können und man diese Wörter vermeiden sollte. Ebenso ist richtig, dass vielen Menschen gar nicht bewusst ist, welche Wirkung ihre Sprache oder ihr Verhalten auf ihr nicht weißes Gegenüber haben kann. Dennoch löst man dieses Problem meiner Ansicht nach nicht, indem man Verbote und Regeln zur «korrekten» Sprache aufstellt. Das Gespräch wird dadurch in die Zirkel von Eingeweihten abgedrängt, die angeblich Bescheid wissen und alles richtig machen. Die anderen trauen sich nicht mehr, «überhaupt noch was zu sagen». Im schlimmsten Fall wenden sie sich Parteien zu, bei denen man «noch sagen darf, was Sache ist».
Man sollte die Dinge beim Namen nennen, nur dann kann man klarmachen, was man meint. Ich beschreibe mich selbst nicht als Person of Color oder Person von Farbe. Nein, ich bin ein dunkelhäutiger Mensch, ein gebürtiger Tamile. Dass ich nicht weiß bin: Das ist nun mal genau das, was andere Menschen auf den ersten Blick an mir feststellen. Sie haben recht. Interessant wird es doch erst dann, wenn sie falsche Schlussfolgerungen daraus ziehen, und sei es unbewusst. Das ist das Entscheidende. Ganz konkret will ich auf bestehende Vorurteile hinweisen und sie auflösen. Dafür trete ich in jedem Gespräch und jeder Begegnung ein, sofern es Anlass dafür gibt, und dafür habe ich den letzten Jahren in über hundert Veranstaltungen und Lesungen vor Erwachsenen und Schülern geworben.
Die soziologischen Analysen über das gesellschaftliche Machtgefälle zwischen weißen und farbigen Menschen haben zweifellos ihre Berechtigung. Aber diese Herangehensweise ist nicht meine Sache. Ich bin Praktiker. Ich suche die Begegnung und das Gespräch, und zwar mit denen, die sich bisher noch keine oder wenig Gedanken darüber gemacht haben, wie sie mit Andersfarbigen umgehen, und erst recht mit denen, deren negative Ansichten scheinbar gefestigt sind.
An dieser Stelle noch eine Erläuterung zu den Wörtern, die ich in diesem Buch verwende: In interkulturellen Trainings oder seitens Antidiskriminierungsbüros und ähnlichen Institutionen gibt es Listen mit Begriffen, die Alternativen zu tatsächlich oder vermeintlich diskriminierenden Ausdrücken anbieten und ihre Verwendung empfehlen. So wird beispielsweise «dunkelhäutig» als problematisch angesehen, weil schwarze Menschen darin eine Hierarchisierung der Farbigkeit annehmen könnten, in der sie an letzter Stelle stehen würden. Stattdessen sei «Schwarzer Deutscher» oder «People of Color» oder «Menschen of Color» vorzuziehen, eine inzwischen international anerkannte Selbstbezeichnung von und für Menschen mit Rassismuserfahrungen. Will man weiße Menschen nennen, sollte man «weiße Menschen» schreiben, um klarzumachen, dass man sich des Problems bei der Verwendung bewusst ist. Möglich sei auch zu schreiben «Biografisch-Deutsche» oder «Deutsche ohne Migrationsgeschichte». «Farbig» solle man möglichst gar nicht mehr benutzen, weil es kolonial geprägt sei. Stattdessen sei «Schwarze Deutsche» angebracht. Es gibt noch zahlreiche weitere Empfehlungen, aber ich will es bei diesem Auszug belassen. Ich zweifele nicht daran, dass alle, die sich Gedanken über die richtige Ausdrucksweise machen, intensiv überlegt und gute Gründe für ihre Annahmen und Forderungen haben. Ebenso kann ich nachvollziehen, dass es Menschen gibt, die sich von Adjektiven wie dunkelhäutig, schwarz, weiß und so weiter falsch beschrieben fühlen. Ich verwende sie dennoch und sehe davon ab, den als Ersatz empfohlenen Ausdrucks- und Schreibweisen zu folgen. Erstens, weil ich sie nicht in jeder Hinsicht als konsistent empfinde. Zweitens, weil ich damit nicht immer genau das sagen kann, was ich möchte; sie sind oft einfach zu unkonkret, und dunkelhäutig beispielsweise ist für mich nicht dasselbe wie schwarz. Drittens spreche ich einfach nicht so, weder im Alltag mit meinen Kollegen, Freunden oder Nachbarn noch auf den Veranstaltungen, in denen ich aus meinen Büchern lese. Immer ergeben sich danach intensive Gespräche zwischen dem Publikum und mir, und nie geht es mir um das «richtige» Vokabular, sondern darum, sich über die eigenen Vorurteile klar zu werden und sein Verhalten zu überprüfen. Meinem Eindruck nach gelingt mir das so, wie ich darüber spreche, in der Regel ganz gut. Deshalb bleibe ich auch in diesem Buch dabei, ohne jede diskriminierende Absicht.
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind globale Phänomene. Sie sind überall auf der Welt vorhanden. Das Selbstbewusstsein vieler Völker basiert auf dem Gefühl zivilisatorischer Überlegenheit gegenüber anderen. Im Alltag hat Rassismus ein individuelles Gesicht. Der Einzelne verhält sich rassistisch. Übrigens tun das nicht nur hellhäutige, sondern auch farbige Menschen. Es gibt Antirassismus-Aktivisten, die behaupten, dass es Rassismus, der von schwarzen Menschen ausgeht, nicht gebe oder gar nicht geben könne. Aber das ist Blödsinn. Auch viele dunkelhäutige Menschen verhalten sich gegenüber noch dunkleren verächtlich oder ausschließend.
Einerseits ist diese Individualität des Rassismus ein Problem, weil er dadurch so vielfältig und schwer zu greifen ist. Andererseits liegt genau hier der Ansatzpunkt. Jeder und jede kann sich nämlich selbst befragen: Wo schnappt bei mir die Falle zu? Zum Beispiel, wenn ich einen kompliziert klingenden Namen höre und automatisch denke, dass das kein Deutscher sein kann? Oder wenn ich einen dunkelhäutigen Menschen bei einer Zufallsbegegnung sofort fragen will, wo er denn herkommt? Sich in diesen vielen Fragen des Alltags ein bewusstes Verhalten anzugewöhnen und überhaupt erst mal auf eine substanzielle Begegnung einzulassen – daran kann doch jede und jeder arbeiten, meine ich.
Ich versuche, es den Menschen leicht zu machen, auch wenn manche Erkenntnisse für den ein oder anderen vielleicht unbequem sind. Das heißt, ich nenne zum einen die Dinge beim Namen, und ich biete zum anderen einen persönlichen Zugang, indem ich meine Geschichte erzähle. Über die Flucht und die langjährige Trennung von meiner Familie, vom Ankommen hier, vom Durchbeißen, vom Glücklichsein. Ich halte das für den Weg, mit dem man Verständnis wecken kann und der letztlich dazu führt, dass die Hautfarbe tatsächlich nur als rein äußerliche Tatsache wahrgenommen wird. So wie man eben eher nebenbei feststellt, dass jemand blaue oder grüne Augen hat.
Die Erfahrung von Flucht, Vertreibung, Emigration, Migration existiert wahrscheinlich schon so lang wie die Menschheit selbst. Es sind oft große Ströme, ausgelöst durch Kriege, aber es gibt auch die vielen anderen Bewegungen, die nur nicht so deutlich wahrgenommen werden. Doch egal, ob es um große oder kleine «Zahlen» geht: Stets handelt es sich um individuelle, einzelne Schicksale. Es ist immer dieser eine Mensch, der eine solche Erfahrung macht, an ihr zerbricht oder sie zum Guten wenden kann. Und immer stößt dieser eine Mensch auf eine neue Gemeinschaft, die ihn aufnimmt, manchmal wohlwollend, häufig widerwillig, die ihn gelegentlich auch zurückweist. Wenn ich also anhand meiner eigenen Biografie davon erzähle, wie es ist, hier in Deutschland als dunkelhäutiger Mensch Deutscher zu werden und aus voller Überzeugung zu sein, dann tue ich das zwar stellvertretend für viele andere, aber gleichzeitig weiß ich, dass jeder Mensch sein eigenes Schicksal und seinen eigenen Zugang dazu hat.
Es braucht übrigens gar nicht viel, um als Fremder wahrgenommen zu werden. Es reicht schon, dass man nicht «von hier» ist. Es ist der Unterschied zwischen den «guten» Ansässigen und den «suspekten» Mobilen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die vielen vertriebenen Deutschen aus Ostpreußen, Schlesien oder dem Kaukasus in den Westen kamen, nahm man sie keineswegs freudig auf. Dabei waren sie genauso Deutsche wie die Hiesigen, nur eben über lange Zeit anderswo. Menschen mit anderer Hautfarbe wären demnach noch viel weniger von hier, selbst wenn sie schon in der zweiten oder dritten Generation hier leben. Aber muss das so sein? Ist das ein ungeschriebenes Gesetz? Oder ist es nicht doch möglich, den Panzer der Abwehr oder einfach nur der Unwissenheit aufzubrechen?
Ich meine, der Versuch lohnt sich. Ich unternehme ihn auf meine Weise: nicht durch Konfrontation, sondern durch energisches Werben um mehr Aufmerksamkeit und gedankliche Flexibilität auf «beiden» Seiten. Ich möchte denen Mut machen, die neu hier ankommen oder aufgrund ihrer Hautfarbe als (immer noch) nicht dazugehörig abgestempelt werden. Und genauso denen Mut machen, die sich vor «dem Fremden» fürchten, das sie verwirren oder bedrängen könnte.
Mein Ziel ist es, das Farbspektrum unserer Wahrnehmung zu erweitern. Dass Deutschsein nicht mehr automatisch mit Weiß verbunden wird, sondern wir uns auf das konzentrieren, was uns als Menschen in dieser Gesellschaft verbindet, auf die Werte, die das Leben hier so sicher, so frei und so reich machen. Ich möchte, dass wir uns auf das Gemeinsame einigen, auf die Grundfarbe Deutsch eben. Ich bin überzeugt davon, dass es unser aller Leben bereichern wird.
Ich bin Anfang vierzig, nicht verheiratet und habe keine Kinder. Dennoch bin ich verantwortlich für eine ganze Familie. Ich bin – nicht allein, zum Glück – dafür zuständig, dass es meinen beiden Schwestern, meinem Bruder und meiner Mutter gut geht. Als mein Vater noch lebte, schloss ihn das ebenfalls ein. Diese familiäre Fürsorge, vor allem in finanzieller Hinsicht, ist meine Aufgabe, weil ich der älteste Sohn bin. So ist das bei uns. Ich sage absichtlich «bei uns», weil diese tamilische Traditionsverbundenheit unabhängig von jeder Einbürgerung bestehen bleibt, solange ich lebe. Wenn ich in Sri Lanka lebte, würde ich diese Aufgabe vielleicht ein bisschen anders bewältigen, aber das lässt sich kaum genau sagen. Jedenfalls habe ich schon früh damit begonnen, Verantwortung zu übernehmen.
Ich bin das zweitgeborene Kind meiner Eltern. Zwei Jahre vor mir wurde meine Schwester Ruji geboren, nach mir kamen meine Schwester Vani, meine Schwester Nala und als Letzter mein Bruder Jana. Wir lebten in Puttur, auf der Halbinsel Jaffna im tamilischen Norden von Sri Lanka. Detaillierte Erinnerungen an meine frühe Kindheit habe ich nur vereinzelt, von Kinderspielen mit meinen Geschwistern, etwa wenn wir uns an den Hausputztagen auf den nassen Boden des großen Zimmers legten und Schwimmbad spielten, indem wir weit ausholend Arme und Beine bewegten wie die Frösche. Keiner von uns hatte je ein Schwimmbad gesehen, wir kannten so etwas nur aus den Erzählungen anderer Leute, die Filme angeschaut hatten oder deren Verwandte im Ausland lebten. Doch das spielte keine Rolle, wir vergnügten uns, indem wir der Fantasie freien Lauf ließen. So wie es Kinder eben machen, vor allem solche aus armen Haushalten. Mein Vater hatte eine schlecht bezahlte Stelle als Buchhalter in Thunukkai, ungefähr 100 Kilometer südlich von Puttur. Er wohnte im Haus seines Bruders und kam nur an den wenigen Urlaubstagen zu uns nach Hause, beladen mit Säcken voll Reis und Mangos. Uns gehörte ein kleines Stück Land in der Nähe seiner Arbeitsstelle, das ganz und gar mit Mangobäumen bepflanzt war, die wenig Arbeit verlangten, aber wunderbar schmeckende Früchte hervorbrachten.
Als Kind hat man, solange man nicht hungern muss, keine rechte Vorstellung von Armut oder Wohlstand. Wir Geschwister besaßen keine Alltagsschuhe und liefen barfuß herum, doch das machten alle anderen Kinder ebenso. Es gab nur selten Fleisch zum Essen, weil das sehr teuer war, dafür oft Fisch, der an der langen Küste Jaffnas leicht zu fangen war und auf den Märkten für wenig Geld verkauft wurde.
Als ich fünf Jahre alt war, begann im Norden Sri Lankas der Bürgerkrieg zwischen der singhalesischen Regierung und der tamilischen Minderheit. Die Konflikte zwischen Singhalesen und Tamilen reichen weit in die Geschichte zurück, wahrscheinlich bis zum Beginn der Besiedlung. Die Singhalesen waren aus dem Norden Indiens eingewandert, hatten die Ureinwohner verdrängt und sahen sich als die «Eigentümer» des Landes an. Vor allem gegenüber den Tamilen, die wohl ab dem 10. Jahrhundert nach Sri Lanka eingewandert waren. Die Geschichte der beiden Völker ist kompliziert, die Quellenlage teilweise dürftig. Die Sprachen gehören verschiedenen Familien an, und die religiösen Unterschiede spielen eine große Rolle. Die Singhalesen sind überwiegend Buddhisten, die Tamilen mehrheitlich Hindus. Die Ursachen für die lang andauernden Konflikte sind verwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkte sich das Unabhängigkeitsstreben der Tamilen, was wiederum heftige Unterdrückungsreaktionen der singhalesischen Zentralregierung nach sich zog. 1983 brach der Bürgerkrieg aus. Hauptgegner waren die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE), ein Zusammenschluss verschiedener paramilitärischer Gruppen, die unter anderem etliche Attentate verübten, und die Regierungstruppen.
Der Krieg raubt die Freiheit, vor allem die Entscheidungsfreiheit. Man kann sich nicht heraushalten, erst recht nicht aus einem Bürgerkrieg. Man gehört «zu denen», oder «die gehören zu uns». Die Regierung und ihre Truppen verdächtigten umstandslos jeden Tamilen, ein Terrorist zu sein, und verhafteten, töteten, vergewaltigten, annektierten und zerstörten die Existenzgrundlage Tausender Menschen. Der einzige Verbündete der Tamilen waren die Tamil Tigers – auch wenn die LTTE schreckliche Dinge anrichtete, die man nicht gutheißen konnte, nicht mal unter Kriegsumständen. Aber es gab eben niemanden sonst, der für uns Partei ergriff. Die tamilische Bevölkerung versorgte die Kämpfer mit Lebensmitteln, versteckte sie notfalls und half ihnen, sich Waffen zu besorgen. Was wiederum die Regierung in ihrer Ansicht zu bestätigen schien, dass jeder Tamile ein Terrorist sei.
Zu meinen frühen Kindheitsprägungen gehören also klare Feindbilder sowie die Erinnerung an Gespräche, wie man es am besten anstellen könne, das Land zu verlassen. Immer wenn die Erwachsenen zusammensaßen, kam früher oder später dieses Thema auf, und wir Kinder hörten häufig zu. In den meisten Familien der Nachbarschaft gab es mindestens ein Mitglied, das nach Indien, Europa oder Amerika geflüchtet war. Oft waren auch die Kinder allein verschickt worden, unter Zuhilfenahme von Schleppern. Mein Vater, der inzwischen seine Stelle als Buchhalter aufgegeben hatte, weil sie nichts mehr einbrachte, und wieder bei uns lebte, war skeptisch, wenn er solche Berichte hörte. Meine Mutter hingegen war erpicht auf alle Details und wollte genau wissen, warum der Versuch des einen gescheitert, die Flucht des anderen aber gelungen war.
Möglicherweise war sie anfangs nur vorsorglich interessiert. Dann wurde meine älteste Schwester krank, und der Fall der Fälle wurde tatsächlich eine ernst zu nehmende Option. Ruji hatte Blut im Urin, nicht nur einmal und nicht nur ein bisschen. Im Krankenhaus in Jaffna stellte man fest, dass sie an einer Nierenerkrankung litt. Heute weiß ich, dass man sie wahrscheinlich mit einer Antibiotikatherapie hätte heilen können. Damals jedoch gab es in Jaffna solche teuren Medikamente nicht, zumindest nicht für uns. Sie bekam irgendwelche Tabletten, die aber lediglich die Symptome milderten und keine wesentliche Verbesserung bewirkten.
Meine Mutter fuhr mit ihr in jedes erreichbare Krankenhaus, um irgendjemanden ausfindig zu machen, der vielleicht doch Heilung in Aussicht stellen konnte. Die Fahrten waren gefährlich, die Busse wurden oft beschossen, und in der Stadt war es eh unübersichtlicher als bei uns auf dem Dorf. Meistens begleitete ich meine Schwester und meine Mutter, weil das als sicherer galt. Alle Frauen fürchteten sich vor Misshandlungen und Vergewaltigungen durch die Soldaten, deshalb hatten sie meistens Kinder an der Hand. Ob es im Ernstfall wirklich geholfen hätte und was ich als Neun- oder Zehnjähriger hätte verhindern können, weiß ich nicht. Als ich einmal mitfuhr, brachte ein Krankenwagen gerade einen jungen Mann zum Krankenhaus, der blutüberströmt auf seiner Trage lag. Meine Mutter hielt mir die Hand vor die Augen und zog mich weg, aber ich hatte schon gesehen, wie schrecklich der Mann zugerichtet war. Er bewegte sich nicht mehr.
Ich erinnere mich nicht nur an meine immer schwächer werdende Schwester, sondern auch an die endlose Warterei in den Krankenhäusern. Rujis Krankheit und die letztlich erfolglosen Versuche, sie zu retten, beschäftigten mich sehr. Ich war machtlos, hilflos. Ich fühlte mich schlecht, weil ich meiner Schwester nicht helfen konnte. Der Einzige, der helfen konnte, war der Arzt. Aber der war oft nicht da.
Warten.
Warten.
Warten.
Als Kind ist man in der Regel sowieso nicht sehr geduldig, aber unter diesen Umständen war es erst recht unangenehm. Wir trafen morgens im Krankenhaus ein und saßen dann stundenlang in irgendwelchen Fluren – ohne jegliche Garantie, dass wir den Arzt überhaupt zu Gesicht bekämen. Ich weiß nicht, wie oft wir drei den ganzen Tag im Krankenhaus verbrachten, ohne auch nur einen Zipfel seines Kittels zu sehen. Und wenn er endlich auftauchte, dann nur für wenige Minuten, nie hatte er Zeit.
Einmal jedoch beschäftigte sich der Arzt auch mit mir. Es ging darum, ob ich eine Niere für meine Schwester spenden könnte. Es war zunächst mal nur eine Idee, wohl eine vollkommen unrealistische. Wir hätten in Colombo ins Krankenhaus gemusst, im Kriegsgebiet war eine solche Operation ausgeschlossen. Meine Mutter hätte also mit uns Kindern dorthin reisen müssen, eine meiner Nieren hätte entnommen und meiner Schwester eingesetzt werden müssen. Wie die Erfolgsaussichten wären, konnte kein Mensch wissen. Damals, vor 30, 40 Jahren, war die Medizin in Sri Lanka noch nicht sehr weit, heute wäre eine solche Operation möglich. Ich erinnere mich genau an die Begegnung mit dem Arzt, normalerweise wurde ich ignoriert, aber bei dieser Gelegenheit sprach er ein paar Minuten mit mir. Es war wunderbar. Er war Herr des ganzen Hauses, alle arbeiteten für ihn und assistierten ihm, er war mächtig – und er redete mit mir. Ich war sehr stolz darauf, dass ich ihm die Hand geben durfte.
Meine Mutter hatte mir schon vorher die Idee präsentiert, dass es schön wäre, wenn ich Arzt würde. Wir müssten nie mehr so lange warten, wir hätten einen Arzt zu Hause, es könnte uns allen nichts mehr passieren – wie Mütter solche Dinge ihren Kindern eben erklären. Ich fand das überzeugend und nach dieser Begegnung umso mehr. Seitdem beschäftigte mich diese Idee immerzu, mal mehr, mal weniger intensiv. Sie wurde ein Teil von mir.
Meine Voraussetzungen für eine medizinische Karriere waren allerdings denkbar ungünstig. Ich war mit sieben Jahren eingeschult worden und kein schlechter Schüler. Vor allem in Mathematik und naturwissenschaftlichen Fächern brachte ich gute Leistungen. Es ging streng in der Schule zu. Dass der Lehrer prügelte, wenn man Fehler machte, war üblich. Trotzdem erinnere ich mich gern an die Zeit. Mir bereiteten die meisten Fächer Freude. Und selbst heute bin ich mit dem ein oder anderen meiner Mitschüler von damals in Kontakt. Ich weiß noch die Namen sämtlicher Kinder und kann sie in der Reihenfolge ihrer Sitzplätze aufsagen. Wie auf einem Foto sehe ich sie alle vor meinem inneren Auge. Schon nach sechs Jahren war es allerdings aus mit der Schule. Aufgrund des Kriegs war kein geregelter Schulbetrieb mehr möglich.
Trotz aller Anstrengungen meiner Eltern, vor allem meiner Mutter: Ruji wurde nicht gesund. Jemand erzählte uns, dass es in Indien bessere Medikamente gebe, man solle das Kind dorthin bringen. Ein utopischer Vorschlag. Wir kannten niemanden in Indien, zu dem wir sie hätten schicken können. Der Flug würde ein Vermögen kosten, die neuen Medikamente ein weiteres – und dann war noch nicht mal klar, ob sie überhaupt helfen würden. Eine preiswertere, gleichwohl ebenfalls riskante Möglichkeit bestand darin, meine Schwester ins Krankenhaus nach Colombo zu bringen. Meine Mutter entschied sich für diese Lösung und verbrachte einige Wochen mit Ruji in Colombo, doch die Behandlung wurde von Tag zu Tag teurer, ohne zu wirken, und so kehrten die beiden nach Puttur zurück.
In Colombo hatten die Ärzte meiner Mutter von einer Therapiemöglichkeit in Deutschland erzählt. War Indien schon außer Reichweite, so befand sich Deutschland quasi auf einem anderen Stern. Eine Reise dorthin wäre irrsinnig teuer, eine Behandlung unbezahlbar. Man hätte gar nicht darüber nachzudenken brauchen, wenn nicht … Wenn nicht der Bruder meiner Mutter seit Jahren in Deutschland lebte. Er wäre der ideale Anknüpfungspunkt. Allerdings: Eine legale Einreise schied für Ruji aus, wegen einer Nierenkrankheit würde sie ganz sicher keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Schlepper müssten sie einschleusen.
Die Idee wirkt heute verrückt und war es sicher damals schon. Dass ein schwerkrankes Mädchen auch nur die Reise überstehen könnte, scheint nahezu ausgeschlossen. Abgesehen davon, dass wir alles verkaufen mussten, was wir hatten, und selbst das wohl nicht für die Behandlung ausreichte. Doch meine Mutter war so verzweifelt, dass sie auch nach diesem Strohhalm griff. Sie versuchte, mit meiner Schwester nach Colombo zu fahren, um einen Schlepper zu finden und sie auf den Weg zu schicken. Mittlerweile war es allerdings unmöglich geworden, in die Hauptstadt zu gelangen. Es gab Straßensperren, wegen Bombenschäden war die Zugverbindung in die Hauptstadt vorübergehend eingestellt worden. Unverrichteter Dinge kehrten die beiden zurück. Von nun an versorgten wir unsere Schwester zu Hause, mit Hausmitteln und dem, was an Medikamenten irgendwo übrig war. Selbst die Fahrten nach Jaffna waren zu gefährlich geworden.
Auch wenn kein Schulunterricht mehr stattfand: Es gab genug für mich zu tun. Der Krieg hatte die Preise für Lebensmittel in die Höhe getrieben. Anders als viele andere konnten wir uns noch regelmäßige Mahlzeiten leisten, allerdings mit deutlich weniger Fisch und Gemüse als vorher. Die Beilage, in erster Linie Reis, war nun die Hauptsache. Mein Vater hatte eine Zeit lang als Reisfahrer gearbeitet, das war jedoch zu gefährlich geworden. Um etwas Geld zu verdienen, bauten wir deshalb auf einem kleinen Stück Land Obst und Gemüse an. Den größten Teil brauchten wir zur Selbstversorgung, doch wir verkauften auch einiges auf dem nahe gelegenen Markt, vor allem Bananen. Meist fuhren mein Vater und ich gemeinsam auf einem Fahrrad dorthin, ich vorn auf der Stange, mein Vater auf dem Sattel, und auf dem Gepäckträger hatten wir die Kiste mit den Bananen festgezurrt. Richtig viel kam nicht dabei herum, und gefährlich war der Weg außerdem. Man wusste nie, was passieren könnte.
Mein Vater beschloss daher, Arbeit im Ausland zu suchen, am besten in Europa. Meine Mutter verkaufte ihre Hochzeitskette, eine Menge Geld liehen wir uns von Bekannten. Beim Abschied weinten wir alle. Mein Vater übertrug mir die Verantwortung für die Familie. Ich solle gut auf meine Geschwister achten und meiner Mutter eine Stütze sein. Ich versprach, alles so gut zu machen wie er. Mein Vater reiste mit einem Touristenvisum nach Singapur und wollte von dort aus weiter mit einem Schlepper nach Deutschland. Es klappte nicht. Er blieb in Malaysia stecken, das Geld war weg. Nach ein paar Monaten kehrte er zu uns zurück nach Puttur. Wir waren froh, dass er unversehrt war. Doch gleichzeitig sehr enttäuscht, dass der große Plan nicht funktioniert hatte. Wir hatten unser ganzes Geld sowie eine Menge fremdes Kapital in diese Hoffnung gesteckt. Und jetzt war diese Investition geplatzt, ohne dass auch nur der kleinste Ertrag dabei herausgekommen war. Ich glaube zwar nicht, dass sich mein Vater wie ein Versager fühlte oder dass er als solcher angesehen wurde. Die Erinnerung an die Enttäuschung über seinen missglückten Versuch verschwand aber auch nie ganz.
Eine Sache hatte sich verändert und blieb auch nach der Rückkehr meines Vaters bestehen: Er hatte mir vor seiner Abreise die Verantwortung für die Familie übertragen. Sie war von ihm zu mir gewandert. Und das sollte so bleiben. Mein Vater entzog sich keineswegs seinen Verpflichtungen, aber für wichtige Dinge war seither ich zuständig. Unter anderem für das Geld. Er gab mir die Einnahmen und wusste, dass ich diese sicher verwalten und sparsam einsetzen würde. Ich war geschäftstüchtig.
Da die Schule auf absehbare Zeit nicht mehr öffnen würde, zogen mein Vater und ich einen kleinen Handel auf. Ich stellte mich an den Straßenrand, drehte eine Kiste, in der normalerweise Tee transportiert wurde, auf den Kopf und bot auf dieser improvisierten Ladentheke ein wichtiges Alltagsgut zum Verkauf an: Benzin. Nicht das Motorenbenzin für die Autos, sondern eins, mit dem man zum Beispiel die Geräte für die Feldarbeit betrieb. Bei Bedarf nutzten es die Leute auch für die Beleuchtung und für tausend andere Dinge. Dieses Benzin war durch den Krieg immer teurer geworden, man verwendete es nur noch in kleinen Portionen. Ich kaufte also eine Literflasche Benzin, stellte sie auf meine Teekiste und füllte mit einem kleinen Messbecher die gewünschten Mengen ab. Im Einkauf zahlte ich 100 Rupien für die Flasche, im Verkauf erzielte ich, wenn es gut lief, 130 oder 140 Rupien. Und es lief gut. Zwischendurch kam mein Vater und brachte Nachschub. Wir stellten auf 5-Liter-Flaschen um.