Der Verrat - Xaver Engelhard - E-Book

Der Verrat E-Book

Xaver Engelhard

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Beschreibung

Karli fliegt im Sommer 1955 von der Schule und beschließt, auf einem Motorradgespann aus Wehrmachtsbeständen nach München zu fahren und seinen Freund Leo, mit dem er zehn Jahre zuvor aus Ostpreußen geflohen war, um Geld für eine Reise nach Italien zu bitten. Er gewährt der Gelegenheitsprostituierten Trixi in seinem Hotelzimmer Zuflucht vor dem Regen, verbringt anschließend die Nacht im Gefängnis, kommt am nächsten Tag bei einer Wahrsagerin in Schwabing unter und leiht sich den auffällig karierten Anzug eines Transvestiten. In einem Nachtclub trifft er endlich Leo, der für ihn eine Reise hinter den Eisernen Vorhang nach Polen organisiert, ohne ihm zu verraten, dass er ihn damit für die eigenen dubiosen Geschäfte einspannen möchte.

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Seitenzahl: 484

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Karli, der immer noch vom Anblick im Eis gefangener Rotarmisten gequält wird, fliegt im Sommer 1955 von der Schule. Er fährt auf einem Wehrmachtsmotorrad nach München, um Leo zu besuchen, mit dem er bei Kriegsende aus Ostpreußen geflohen war, und lernt im Lauf eines Wochenendes die junge Prostituierte Trixi kennen, wird von der Polizei verhaftet, von einem als Trachtler kostümierten Anwalt befreit, mit einer französischen Pianistin, einem italienischen Regisseur und einer Schwabinger Hellseherin bekannt gemacht und überhaupt in dunkle Geschäfte verwickelt, die sein Vertrauen in den ehemaligen Freund tief erschüttern.

Der Verrat

Xaver Engelhard

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Texte: © Copyright by Xaver Engelhard

Umschlag: © Copyright by Georg Engelhard Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Gesetzt aus der Malaga

Inhalt

Im Oberland 9

Im Straubinger Hof 47

Paris 87

Im Englischen Garten 109

Auf der Dult 137

In Schwabing 157

Beim Dom 167

Bei der Uni 177

Beim Schlachthof 193

In der Gruben 211

Im D151 229

Gangster 255

Flüchtlinge 293

Am Bahnhof 303

Wieder da 315

But I reckon I got to light out for the Territory

Im Oberland

Der nackte Oberkörper des Jungen ragte weiter über den Rand des Stegs hinaus, als gemäß den gängigen physikalischen Gesetzen möglich schien. Die Rippen zeichneten sich deutlich unter der gebräunten Haut ab, die Sehnen. Der Hinterkopf war kurz geschoren, beinahe militärisch; das Haupthaar fiel ihm gerade jetzt weit in die Stirn. Die Sommersonne glitzerte auf der fast reglosen Oberfläche des Sees, einem leicht gewellten, aus Silber gewebten Tuch. Eine Libelle zuckte zwischen den moosbehangenen Bohlen der Anlegestelle hin und her.

Der Junge winkte vorsichtig den drei Rotarmisten, die weiße Schneehemden über der Uniform trugen und zu ihm hoch blickten. Auf den Vorderseiten ihrer Fellmützen prangte jeweils ein roter Stern. Ledergurte, an denen Waffen, Munition und Taschen hingen, liefen über ihre Schultern. Sie erschreckten ihn nicht. Sie hatten ihn schon damals nicht erschreckt, als er neugierig ihrer Spur durch den Schnee und über das Eis des Flusses gefolgt war, durch das sie am Tag zuvor eingebrochen sein mussten und das in der Nacht wieder eine durchsichtige Schicht über sie gelegt hatte, unter der sie gefangen waren wie Schneewittchen in ihrem gläsernen Sarg. Sie hatten sich vermutlich den Umweg über die Behelfsbrücke am Eingang des geplünderten und abgefackelten Dorfs sparen wollen. Vielleicht waren sie auf Patrouille gewesen, vielleicht hatten sie nach ihm und seiner Schwester und Leo gesucht, die seit Wochen auf der Flucht waren und in einer verlassenen Bauernkate in der Nähe für ein paar Tage einen Unterschlupf gefunden hatten, vielleicht hatten sie nur die Frühjahrssonne und eine erste Ahnung vom Ende des endlosen Winters genießen wollen: Jedenfalls waren sie viel schwerer gewesen als er, der Fünfjährige auf den selbstgebastelten Schneeschuhen, mit denen er Trapper gespielt hatte, und standen auch jetzt noch im Wasser und starrten ihn an, reglos und ohne Vorwurf. Er wusste allerdings, dass Hübner sie nicht sehen würde. Hübner hatte für sowas keinen Sinn.

„Ist doch Kacke!“, schimpfte Hübner wie zum Beweis seiner mangelhaften Sensibilität. Auch er trug nur eine Badehose und war braun gebrannt von all den geschwänzten Latein- und Mathematikstunden, die er mit Karli auf dem Steg verbracht hatte. Er saß neben ihm, ließ die Beine über den Stegrand baumeln und schnitzte an einem Pfeil oder einem Speer, jedenfalls an irgendetwas Spitzem und Waffenartigem und ließ die Späne ins Wasser fallen, auf dem sie in einem fast unmerklichen Luftzug davonsegelten, eine ganze Armada exotischer, hoch aufgebogener Schiffe. „So kurz vor den Ferien!“

„Mitten im Schuljahr ist auch nicht besser!“ Karli wusste das aus Erfahrung. Er ließ einen großen Speicheltropfen in den See plumpsen. Von der Einschlagstelle breiteten sich konzentrische Wellen aus. Die Rotarmisten zerstoben.

„Warum hast du dir eigentlich ausgerechnet das Auto vom Schmelzer vorgeknöpft? Der ist doch ganz in Ordnung und der einzige, mit dem du einigermaßen ausgekommen bist. Die Chaise vom Senft, dem alten Nazi, das hätte ich ja noch verstanden, aber …“

„Es war eine Verwechslung“, knurrte Karli der Einfachheit halber. Er war gespannt, ob die Rotarmisten wieder auftauchen würden.

„Ja? Wie denn das? Der Senft fährt doch nen Kübelwagen. Zumindest innerlich!“

„Eher nen Tiger oder Panther!“ Karli erinnerte sich nur noch vage an den von ihm liebevoll Tigga getauften Holzpanzer, der im Krieg sein ständiger Gefährte gewesen war und den er in das Grab der von russischen Soldaten erschossenen Zwillinge geworfen hatte, damit sie im Himmel was zum Spielen hätten.

„Kam der Panther zu spät? oder Wie wir den Krieg im Osten doch noch hätten gewinnen können“, zitierte Hübner, der wie Karli in dem betreffenden Besinnungsaufsatz wegen Themenverfehlung eine glatte 6 erhalten hatte.

„Die Sache liegt im Fall des Panthers/Nun keineswegs entscheidend anders:/ Von vorne zwar unüberwindlich,/Doch Heck und Seiten sehr empfindlich“, stieß Karli, der immer noch über dem Wasser hing, gepresst hervor.

„Das ergreifendste Versepos seit den Nibelungen!“

„Handeln eigentlich beide von Verrat und Verwundbarkeit.“

„Beim Panther war’s Verrat durch Verwundbarkeit.“

„Verrat? Eher Rettung! Stell dir mal vor, der Panther wäre rechtzeitig aufgekreuzt und hätte gehalten, was der fiese Zwerg den Massen versprochen hat: dann wären wir jetzt in der HJ!“

„Und du würdest Marika Röck hören statt Bo Diddley. Was recht betrachtet vielleicht gar kein Nachteil wäre.“

„Direktor Lerchner hätt’s jedenfalls gefallen. Für den sind Jazz und Rock’n’Roll doch noch schlimmere Symptome galoppierender Seinsvergessenheit als Hitler und Stalin.“

„Ich möchte erklären, dass wir alle Waffenträger unseres Volkes, die im Rahmen der hohen soldatischen Überlieferung zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft gekämpft haben, anerkennen“, trug Hübner, der sonst schon daran scheiterte, sich vier Zeilen Gryphius einzuprägen, voll Inbrunst vor.

„Bei sowas kommt mir das Kotzen. Wirst sehen, Adenauer, Senft und Konsorten stecken uns noch in Uniformen und schicken uns an die Ostfront, damit wir ja nicht als Soffjetsklaven enden.“

„Und das alles mit melancholischer Untermalung durch unseren Direx, der leider keinen anderen Ausweg aus der allgemeinen moralischen Malaise sieht, als dem Bolschewiken mal wieder tüchtig eins aufs Haupt zu geben.“ Hübner kratzte sich die haarlose Brust. „Was machst du denn jetzt? Die Schule wechseln?“

„Frau Percher empfiehlt mir ein Handwerk. Oder irgendwas Musisches!“

„Dann hat sie als einzige noch nicht mitbekommen, was für Musik du die ganze Zeit hörst!“ Hübner schüttelte verwundert den Kopf. Er hatte schon oft genug Kritik an Karlis monomanischer Besessenheit geäußert, die ihn auf seinem tragbaren Plattenspieler immer und immer wieder „Pretty Thing“ spielen ließ, und zwar mit maximaler Lautstärke und ohne Unterbrechung wenigstens durch die B-Seite.

„Vielleicht hat ihr imponiert, dass ich beim Schulwerk mitgemacht habe!“ Die Aufführungen von Orff’schen Stücken an Weihnachten und kurz vor den Sommerferien bildeten die Höhepunkte im Kulturkalender der Schule und galten den Eltern als Beweis dafür, dass der Nachwuchs nicht nur für die spätere Berufsausübung nützliches Wissen erwarb, sondern auch das schmückende kulturelle Kapital, das sich hoffentlich in gesellschaftlichen Status und eine gute Partie auf dem Heiratsmarkt ummünzen lassen würde. Karli hatte beim letzten Konzert allerdings mehrmals den Einsatz verpasst und zwischendrin auch noch sein Instrument fallen gelassen.

„Das hättest du unsallen besser erspart, denn es braucht jahrelange Übung, bis man sich ganz in das Klangholz hineingefunden hat“, behauptete Hübner mit näselnder, belehrender Stimme. Er sprach nicht aus eigener Erfahrung, denn er lebte seine Begeisterung für Charlie Parker auf dem Saxophon aus.

„Ist bei der Geige nicht anders! Meine Schwester hat bei uns auf dem Gut ewig damit herumgequietscht; und am Ende ist nur die frisch gemolkene Milch davon sauer geworden.“ Karli gab die Hoffnung auf, dass die Rotarmisten sich noch einmal zeigen würden, und rutschte zurück auf den Steg.

„Bei uns auf dem Gut: Wie sich das anhört!“

„Wieso? Könnte doch sein, dass mein Vater Melker war!“

„Klar! Mit nem von im Namen!“

„Wir sind Vertriebene wie Millionen andere auch.“ Karli setzte sich neben Hübner und ließ ebenfalls die Beine baumeln.

„Vertriebene Millionäre! Ihr hattet bestimmt ein bisschen mehr Gepäck als die Grattler drüben bei Wolfratshausen.“

„Nix hatten wir bis zum Lastenausgleich! Und auch der reicht gerade für die Schule, hält mir meine Schwester immer wieder vor.“

„Dann wird sie bestimmt froh sein, dass sie sich die Schule in Zukunft sparen kann!“

„Sicher!“, brummte Karli düster und schleuderte einen Span von Hübners Stock ins Wasser.

Kleine Wellen brachen sich leise glucksend an den Bohlen des Stegs. Zwei Schwäne richteten sich das Gefieder. Im Wald rief ein Kuckuck. Die Schatten unter den Uferbäumen waren voll dunkelstem Grün und Rot und Blau, aber nicht schwarz. Ein paar Wolken wanderten wie von selbst über den Himmel, denn kein Wind war zu spüren, der sie hätte schieben können. Der Sommer wartete wie ein unerforschter Kontinent voll Abenteuer und sagenhafter Schätze.

„Hey, seid’s ihr ned die, wo da oiwei vom Turm obifliag’n tun?“

Karli und Hübner schraken auf, blickten sich an, seufzten blasiert und wandten sich aufreizend langsam um.

Zwei Nixen lächelten in kokettem Kontrapost. Die eine rieb die Sohle des Spiel- an der Wade des Standbeins; die andere zupfte am Träger des Badeanzugs. Sie hielten jeweils einen Holzstiel in der Hand und leckten ohne Arg an dem wässrigen Eis, das auf diesem steckte. Ihre Augen waren blau wie der Himmel dahinter, als wären die Gesichter nur Masken mit Löchern.

„Und was wenn ja?“ Hübner wölbte eine Braue und genoss sichtlich die ersten Anzeichen kommenden Ruhms.

„Dads ihr für uns fliag’n? So a bisserl?“

„Was würdet ihr denn dafür springen lassen, dass wir springen?“ Hübner musterte die beiden. Die Kleinere hielt eine sandverkrustete Blechschaufel in der Hand. Ihre Zehen krümmten sich auf den von der Sonne aufgeheizten Brettern des Stegs. Die andere schwenkte ein verbeultes Blecheimerchen. „In Acapulco werfen die Zuschauer den Klippenspringern Münzen ins Wasser.“

„Is des in Italien?“

Hübner nickte.

„In der Nähe von Rimini!“

Das eine Mädchen kräuselte die mit Sonnensprossen überzogene Nase; die andere versuchte, sich mit der Schaufel vor der blendenden Sonne zu schützen.

„Unser Geld is aba für’s Steckerleis draufganga.“

„Habt ihr vielleicht zwei große Schwestern, die euch aushelfen könnten?“

„Wia moanst?“

Hübner verdrehte die Augen.

„Nur so!“ Er wandte sich an seinen Freund. „Gratisvorstellung?“

Karli beachtete ihn nicht, sondern lächelte entrückt die Mädchen an.

„Wohnt ihr hier in der Nähe?“

Sie schüttelten synchron die Köpfe.

„Mir kemman von weita drobn.“

„Ihr werdet halt Engel sein.“

„Dann passt’s ja!“ Hübner rappelte sich schwerfällig wie ein von alten Kriegsverletzungen geplagter Veteran auf. „Wir fliegen wie welche.“

„Fia wahr?“ Die Mädchen sperrten die Münder auf und vergaßen ihr Eis. Klebriges Zuckerwasser tropfte von den Fingern.

„Mit feurigen Flügeln! Wie abgeschossene Messerschmidts!“

„Oder wie Chuck Yeager!“ Auch Karli stand jetzt auf und streckte sich ein wenig.

„Wia wer?“

„So’n Ami, den wir verehren!“ Hübner schnürte die Badehose fester.

„Der ist so schnell, der ist schon wieder weg, da hörst du ihn erst kommen.“

„Genau wie Bird!“, ergänzte Hübner wehmütig an seinen Freund gewandt. „Wir sollten den beiden unseren Sprung widmen.“

„Gerne!“ Karli blinzelte den sprachlosen Mädchen zu, folgte Hübner zum Rand des Stegs und mit einem Kopfsprung ins blaue Wasser ohne Gedanken an die Rotarmisten, die dort gerade noch gestanden waren, und kraulte hinter ihm her zu einer Badeinsel, die auf rostigen Blechfässern der US Army mit der Aufschrift 80 MOTORFUEL schwamm. Über eine Leiter erklommen die beiden das aus groben Brettern gezimmerte Deck und den improvisiert wirkenden und wegen seines rustikalen, kaum entrindeten Baumaterials an einen Jägerstand erinnernden Turm, der in der kaum spürbaren Dünung schwankte. Sie kletterten an einem Sprungbrett vorbei bis zu der Plattform ganz oben, die nur mit einem gewagten Klimmzug zu erreichen war und über kein Geländer verfügte. Sie bauten sich nebeneinander auf, glichen wie erfahrene Seeleute die rollende Bewegung der Konstruktion unter ihnen aus, verbeugten sich in Richtung der beiden Mädchen auf dem Steg, ihren einzigen Zuschauern außer ein paar neugierigen Enten, breiteten die Arme zur Seite, fassten einander an den Schultern, rannten ein paar Schritte auf den Rand der Plattform zu, stießen sich ab und segelten in das Blau hinaus, unbeschwert und unbekümmert, als gäbe es für sie keine Angst und keine Gravitation, schwebten über ihren Schatten, einem fahlen Doppelkreuz dort, wo sie gleich einschlagen mussten, lösten die Arme von einander, streckten sie nach vorne und gingen, jeder für sich, aber mit dem anderen unsichtbar verbunden, in einen beinahe senkrechten Sturzflug über, um wie zwei Pfeile die glitzernde Oberfläche des Sees zu durchstechen. Es dauerte eine Weile, bis sie lachend und prustend wieder auftauchten. Die Mädchen steckten die Holzstiele in die verschmierten Münder, legten Eimer und Schaufel weg und klatschten mit kleinen, unförmigen Händen. Die Enten im Schilf quakten.

„Und ihr seid auf dem Ding wirklich mitten im Winter aus Ostpreußen geflohen?“ Hübner musterte das wehrmachtsgraue BMW-Gespann argwöhnisch, das Karli mit einiger Mühe auf dem Feldweg hin und her schob, um zu wenden.

„Gestartet sind wir mit einem Pferdeschlitten. Auf das Motorrad sind wir erst im Sommer umgestiegen. Es hat einem Polen gehört, der uns damit bis zur Elbe gebracht hat. Wir haben verhindert, dass ihn die Amis zurückschicken; und er hat uns dafür die Maschine geschenkt, damit wir damit weiter zu unserer Tante nach München fahren können.“ Karli erzählte diese Geschichte nicht zum ersten Mal und fragte sich schon längst nicht mehr, ob sie wahr war. Er wusste nicht einmal mehr, von wem er sie hatte, von Walli oder Leo.

„Feiner Kerl!“

„Er hat Soldatengräber geplündert, um Ringe und Zähne einzuschmelzen und die Wehrmachtsinsignien und Naziabzeichen an die Amis zu verschachern.“

„Ich nehm alles zurück.“ Hübner sah zu, wie Karli eine Lederkappe überstülpte und den Anlasser der BMW ausklappte. „Was machst du eigentlich, wenn die Polente dich auf dem Ding stoppt?“

„Ich sag ihr, dass es ein landwirtschaftliches Nutzfahrzeug ist. Immerhin klingt und stinkt es wie’n Bulldog.“ Zum Beweis stieg er auf den Anlasser, trat ihn mit ganzem Gewicht nach unten und produzierte nach drei Versuchen eine beißende Abgaswolke und ein ungehobeltes, geradezu bäuerliches Bollern. „Soll ich dich mitnehmen? Wenn du ein bisschen grunzt, gehen wir vielleicht als Viehtransport durch.“

„Danke für die Einladung, aber ich hab mein Radl hinten im Gebüsch liegen und wollte noch beim Lengwirt vorbeischauen.“

„Wegen der hübschen Bedienung?“

„Sie hat gesagt, sie arbeitet heute.“

„Na dann viel Glück!“ Karli hob die Hand zu einem lässigen Gruß, legte den Gang ein, gab Gas und brauste eingehüllt in Lärm, Gestank und juvenile Verbitterung den Uferweg entlang, an dessen einer Seite sich seichte, nur an den Wochenenden von Badegästen genutzte Buchten und undurchdringliches Schilfgestrüpp abwechselten, während gegenüber Fichten eine hohe Palisade bildeten. Karli bog ab und kletterte über eine Forststraße aus der Senke, in der der See lag, rollte bald an Weiden voll Fleckvieh und Feldern voll wogendem Weizen vorbei und steuerte, kaum kam die auf einem Hügelkamm gelegene Schule, eine ehemalige Napola, in den Blick, auf einen kleinen, leicht verwahrlosten Bauernhof und durch gackernde Hühner und schnatternde Enten und blieb vor dem gedrungenen, Geranien-geschmückten Haus und einem alten Mann stehen, der auf einer Bank in der Sonne saß und eine langstielige Gesteckpfeife mit einem Porzellankopf schmauchte.

„Servus Wastl-Bauer!“ Karli stellte den Motor ab, blieb aber sitzen und hob die Hand, damit deren Schatten auf das Gesicht des Greises fiel und dieser nicht mehr von der Sonne geblendet wurde. „Ich werd deinen Schuppen nicht mehr brauchen.“

Der Bauer nahm die Neuigkeit mit einem gelassenen Nicken zur Kenntnis.

„Lassens di endlich mit der Maschin bis ’nauf zur Schui fah’n?“

„Sie haben mich rausgeschmissen.“

„Ah geh weida! Weg’n dem bisserl Motorradl-Fah’n? I dacht, die hätten die Nazis dort drob’n ausg’reichert.“

„Schön wär’s! Die treiben bei uns weiter ihr Unwesen. Jetzt sind sie halt nur noch Nationalisten und verteufeln die Sozis, damit keiner was merkt.“

„Ja mei, Großkopferte mit g’spinnerten Ideen hoid! Wann’s nach mir gangad, hätten’s des greisliche Ding einfach abg’fackelt, damit wir unsere Vicha wiada weiden kenna dort drob’n.“ Er rieb sich den grauen Schnurrbart. „Hat ois am Kloster g’hert, aber des hat an Hitler ned g’schert. Hauptsach, er kriagt an strammen Nachwuchs!“

„Wenn Sie wollen, versuche ich noch, ein Feuer zu legen. Kommt eh nicht mehr darauf an!“

„Is scho guat! Solangs unsere Eier kaffa, soins ma recht sein.“ Der Wastl-Bauer schob seinen grauen Filzhut nach hinten und warf Karli einen verschmitzten Blick zu. „Außadem is Johanni eh scho lang durch.“

„Was schulde ich Ihnen denn noch?“

„Gar nix!! Du host doch eh scho zoid für den Monat.“

„Wenn Sie meinen…“ Karli kämpfte gegen das Verlangen an, sich neben den Bauern auf die sonnenbeschienene Bank zu setzen und die Beine von sich zu strecken. Er wusste, er musste so tun, als kümmere ihn seine Zukunft. „Keine Ahnung, wo’s mich hinverschlägt, aber ich werd sie besuchen, wenn ich mal wieder in der Gegend bin.“

„Scho recht! Dann trinkst a Hoibe mit dem oiden Wastl-Bauer und verzählst eam, wias ausschaugt in dera weiden Welt, von der a nix mehr wissen wui.“ Der Greis paffte an seiner Pfeife. Die Augen unter den buschigen Brauen blitzten, obwohl sie immer noch im Schatten von Karlis Hand lagen.

Karli startete den Motor, fuhr mit dem Gespann vorsichtig durch das Federvieh hinaus auf die Straße zurück und gelangte über drei elegante, weit geschwungene Kurven hinauf zu dem Internat, das auf einem Hügel mit Blick auf zwei Seen thronte und sich mit Giebeln und viel Holz und Lüftlmalerei um eine oberbayrische Anmutung bemühte. Im Süden standen die Berge, auf deren Gipfeln noch Schneereste glitzerten. Ein paar Wolken klebten am Himmel, damit dessen tiefes Blau besser zur Geltung kam.

Das lange Wohngebäude war in verschiedene Abschnitte und fünf Aufgänge unterteilt, über die die Zimmer der Schüler und derjenigen Lehrer zu erreichen waren, die es vorzogen, hier zu wohnen, anstatt jeden Tag aus den umliegenden Dörfern und Städtchen anzureisen, was im Winter wegen der Schneeverwehungen rund um den exponierten Hügel gelegentlich schwierig oder sogar unmöglich war. Über jeder Tür stellte ein Fresko treudeutsche, mit einem kantigen Kinn, blauen Augen und blondem Haar begabte Bauern, Handwerker und Soldaten dar, die entschlossen die Sense, den Hammer oder den Karabiner schwangen, Garben banden, Balken sägten oder durch ein Fernglas nach Feinden und neuem Lebensraum spähten. Ein weiteres, ganz ähnlich verziertes Gebäude beherbergte die Unterrichtsräume. Für den Direktor gab es ein wenig abseits, durch Buchsbaumhecken abgetrennt, eine Villa, die mit zwei Säulen und einem kümmerlichen Portikus vorgab, antiken Idealen zu gehorchen. Karli stellte das Gespann auf dem eigentlich dem Lehrpersonal vorbehaltenen Parkplatz ab, der an diesem Freitagnachmittag kurz vor den Sommerferien bereits weitgehend leer war, hängte das Handtuch und die Badehose, die er nicht mit hoch in seine Stube nehmen wollte, nur um sie gleich darauf mit dem Rest seiner Habseligkeiten wieder hinunter zu tragen, über den Lenker und stapfte in seinen schweren Stiefeln zu den in die Böschung eingelassenen Treppenstufen, die zu dem Wohngebäude führten.

„Jerichow, was soll das?“, rief eine Karli vertraute Stimme. „Sie glauben doch wohl nicht, dass Sie sich jetzt, da Sie der Schule verwiesen worden sind, alles erlauben dürfen? Ich hatte ja schon Gerüchte gehört, was dieses ungeheuerliche Fortbewegungsmittel angeht, wollte diesen aber Ihrer Abstammung wegen keinen Glauben schenken. Um so erschütternder, sie auf derart dreiste Art und Weise bewahrheitet zu sehen! Noch dazu auf dem Lehrerparkplatz! Wie alt sind Sie eigentlich? 15? 16? Da darf man so ein Höllengefährt doch noch gar nicht fahren.“

„Es ist ein Erbstück.“ Karli kehrte auf den Parkplatz zurück und schlurfte zu Dr. Lerchner, dem Schuldirektor, der den sommerlichen Temperaturen zum Trotz Tweed trug und überhaupt auf ein angelsächsisches Erscheinungsbild Wert legte. Wie anstrengend das war, bewies der Schweiß auf seiner hohen Stirn. „Bei uns in Ostpreußen wächst man, weil die Güter so groß sind, praktisch auf Motorrädern auf. Oder halt auf Pferden, wenn man ein Mädchen ist und altmodisch eingestellt wie meine Schwester!“

„Was reden Sie denn da für Blödsinn! Erstens gibt es ihr Ostpreußen schon lange nicht mehr, zweitens waren Sie bei Kriegsende doch viel zu jung, um sich an irgendwas zu erinnern, und drittens ist das doch nur wieder völliger Humbug. Wenn man all das, was Sie bei jeder Gelegenheit über Ihre angebliche Heimat erzählen, glauben wollte, wäre die das reinste Märchenreich voll haarsträubender Zügellosigkeit und einer gigantischen Fauna gewesen.“

„Es kommt mir rückblickend tatsächlich so vor, Herr Direktor. Und wenn ich bei meinen Schilderungen übertrieben haben sollte, dann ist das nur Ausdruck meines Heimwehs. Ich bin nun mal traumatisiert und durch den schrecklichen Sowjet entwurzelt, da trügt die Erinnerung manchmal.“

„Schon gut, schon gut! Ich habe Ihre schamlosen Appelle an unser aller Mitleid und Ihre leicht zu durchschauenden Versuche, meine Empörung über das Gebaren unseres ideologischen Todfeinds weiter zu schüren, oft genug erlebt. Allmählich können Sie sich das sparen, zumal es Ihnen letztendlich ja nichts genutzt hat!“

Karli setzte seinen treuherzigsten Blick auf.

„Das mit Göring und den Bären ist aber wirklich wahr, dafür verbürge ich mich. Und vom Parkplatz bin ich auch gleich wieder weg. Ich wollte nur schnell meine Sachen holen, weshalb ich mir ausnahmsweise erlaubt habe, hier oben zu parken. Das soll kein Ausdruck der Respektlosigkeit sein, sondern ist nur einfach viel praktischer, weil ich doch unter anderem meinen Plattenspieler abtransportieren muss, der ziemlich schwer und unhandlich ist.“

„Erinnern Sie mich bloß nicht an diese Radauquelle, die uns mehr als genug Ärger bereitet hat! Ich bin froh, dass Sie sie nicht einem Ihrer Mitschüler vermacht haben. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass sich unter diesen noch einer mit einem derart derangierten, von unseren Besatzern korrumpierten Musikgeschmack gefunden hätte.“

„Stefan Hübner ist auch ziemlich schlimm, wenn ich mir diese denunziatorische Bemerkung erlauben darf. Allerdings steht er eher auf Jazz. Sein großes Idol ist ein drogensüchtiger Saxophonist namens Charlie Parker. Wenn Sie den hören, sehen Sie meinen unschuldigen Rock’n’Roll plötzlich mit ganz anderen Augen.“ Karli räusperte sich kurz. „Sozusagen!“

„Lassen Sie mich doch mit diesem Gequietsche in Ruhe! Man kann den armen Negermusikern wegen ihrer mangelnden Bildung und der bedrückenden Verhältnisse, in denen sie gemäß dem Willen unserer neuen moralischen Zuchtmeister aufwachsen, sicher gewisse Zugeständnisse machen, aber deshalb muss man doch noch lange nicht aus solch bedauerlicher Deprivation geborene Lautgebung als Musik verherrlichen.“ Direktor Lerchner versuchte, den Knoten seiner bereits tadellos sitzenden Krawatte noch höher zu schieben. „Aber da ich Ihrer nun habhaft geworden bin, kommen Sie doch bitte gleich mit in mein Büro, dann überreiche ich Ihnen Ihre Papiere, die Sie bitte auch Ihrer verehrten und leidgeprüften Frau Maman aushändigen möchten!“ Er drehte sich um und winkte Karli, damit dieser ihm folgte.

„Sie wissen, dass meine verehrte Frau Maman nicht mehr viel mitkriegt von dem, was um sie herum passiert?“ Karli schloss zu Dr. Lerchner auf und schritt mit diesem über einen Kiesweg. Die Rasenflächen zu beiden Seiten wurden durch allerlei Unkraut verunstaltet.

„Das ist sehr bedauerlich, hat aber in diesem speziellen Fall vielleicht auch sein Gutes, weil ihr da einiges erspart bleibt. Wie wäre es denn, wenn ausnahmsweise Ihr werter Vater …“

„Mein werter Vater ist an einem der letzten Kriegstage gefallen.“

„Ach ja, ich erinnere mich, davon gehört zu haben.“ Dr. Lerchner betupfte die Stirn mit einem Taschentuch und verstaute dieses in seiner Hose. „Sehr bedauerlich! Ich bräuchte nämlich eine Unterschrift.“

„Meine Schwester macht sowas normalerweise.“

„Nun, es müsste schon ein Erziehungsberechtigter sein.“ Dr. Lerchner lachte künstlich. „Und Ihre eigene Unterschrift reicht da leider immer noch nicht, auch wenn Sie es oft genug versucht haben.“

„Falls Sie damit auf den Verweis wegen der Reifen anspielen, den habe ich aus rein praktischen Erwägungen selbst gegengezeichnet. Es ist ja so …“

„Jerichow, wenn es Ihnen wider Erwarten doch einmal gelingen sollte, die Hochschulreife zu erwerben, sollten Sie sich unbedingt der Jurisprudenz zuwenden. Sie haben bereits viele Jahre Ihres jungen Lebens darauf verschwendet, Ausflüchte für Ihre zahllosen Verfehlungen zu erfinden. Wären Sie doch nur halb so einfallsreich, wenn es darum geht, ein Streben nach Bildung und Tugend zu begründen!“

„Sie haben völlig recht, Herr Direktor.“ Karli gab sich geknickt. „Da mir ein Vater als Vorbild fehlt, gerate ich leicht auf Abwege.“

„Es gibt ja durchaus noch andere, die Ihnen nicht nur Lebensjahre, sondern auch Lebensweisheit voraushaben und bei der moralischen Orientierung behilflich sein könnten.“

„Sie meinen Menschen wie Sie oder der verehrte Herr Senft, der dem Sowjet noch im Panzer des Panthers entgegentreten durfte? Das stimmt natürlich, auch wenn …“

„Jetzt lassen Sie doch endlich Ihr ständiges aber, allerdings oder auchwenn und überhaupt alle Einschränkungen weg, die Sie sofort von jeglicher Verpflichtung befreien!“ Dr. Lerchner warf in gut gespielter Verzweiflung die Hände gen Himmel. „Außerdem war Senft, wie Sie sehr gut wissen, nicht selbst Panzersoldat, sondern hat nur an der Fibel mitgewirkt, die den Rekruten gereimt und spielerisch eine erste technische und taktische Unterweisung bieten sollte.“

„Aber diese Verse sind so ergreifend, da denkt man glatt, er wäre selbst auf dem Schlachtfeld dabei gewesen!“

„Ich werde aus Ihnen einfach nicht schlau, Jerichow: Einerseits der beflissene Schmeichler, andererseits …“

„Sehen Sie, ich bemühe mich redlich, scheitere nur gelegentlich an den Umständen.“

„Sie nennen vier aufgeschlitzte Reifen ein gelegentliches Scheitern an den Umständen?“

„Das alles geschah in einem Anflug geistiger Umnachtung. Es schmerzt …“

„Und sich dann auch noch dazu bekennen! Wie gesagt, ich werde aus Ihnen nicht schlau und bin froh, mich in Zukunft mit diesem Rätsel nicht mehr befassen zu müssen.“ Direktor Lerchner schlug wieder einen geschäftsmäßigeren Ton an. „Doch zurück zur Unterschrift Ihrer Mutter, um die wir all Ihren Einwänden zum Trotz nicht herumkommen werden!“

„Ich will ihr die Dokumente gerne vorlegen, gebe aber zu bedenken, dass ihre Unterschrift nicht viel wert ist. Sie versteht nicht, was um sie herum passiert, und lebt in gewissem Sinn immer noch auf dem Gut.“

„Sehr bedauerlich bei so einer eleganten Dame, aber es ist eh nur eine Formalität! Dass Sie sich aus unserer Mitte entfernen werden müssen, steht ja längst fest.“ Der Direktor und sein Schüler erreichten die Villa; Dr. Lerchner sprang in einem Anfall von jugendlichem Elan die drei Stufen unter dem Portikus hinauf, öffnete die Haustür und bat Karli hinein, führte ihn über den Flur in ein dunkles, vollständig getäfeltes Arbeitszimmer, forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich auf einem Bugholzstuhl mit geflochtener Sitzfläche niederzulassen, und nahm selbst hinter einem gewaltigen, aus dem gleichen Holz wie die Täfelung gefertigten Schreibtisch Platz. Er ließ die Hände auf die gepolsterten Armlehnen seines Drehsessels klatschen. „Ich muss sagen, obwohl die ganze Angelegenheit mit Ihrem Rauswurf für mich eigentlich erledigt ist, beschäftigt mich als Pädagogen aus rein akademischem Interesse doch die Frage, wie sich ein junger, gebildeter Mensch aus bester Familie zu solch einer absurden Tat hinreißen lassen kann? Ausgerechnet Herrn Schmelzer gegenüber, einer allseits beliebten, stets um verständnisvolle Nähe zur Jugend bemühten Lehrkraft!“ Noch ehe Karli darauf hinweisen konnte, dass Herr Schmelzer diese angeblich verständnisvolle Nähe zu seinen Schülern teilweise auch ganz konkret und körperlich gesucht hatte, gebot ihm der Direktor mit erhobener Hand Einhalt und rief laut „Mutti!“, und es dauerte nicht lange, da erschien eine kleine Dame unbestimmbaren Alters: Elvira Lerchner, seit vielen Jahren Ehefrau des Direktors und in minderschweren Fällen auch Schulsanitäterin und als solche mit Karli und dessen beim Fußball von einem Stein aufgeschnittenem Knie und seinen gelegentlichen Migräneattacken, die besonders bei intensivem Sonnenschein einen Unterrichtsbesuch unmöglich machten, vertraut. „Könntest du mir und dem jungen Jerichow bitte etwas von deinem hervorragenden Eistee bringen?“ Karli war aufgesprungen und hatte sich mit ausgestreckter Hand nach der Frau Doktor, wie sie in dem Städtchen, in dem sie ihre Besorgungen machte, respektvoll genannt wurde, umgedreht, aber sie war schon wieder verschwunden, weshalb er unverrichteter Dinge erneut Platz nahm. Dr. Lerchner wandte sich wieder Karli zu. „Nun? Sie sind doch nicht auf den Kopf gefallen.“

„Das nicht, auch wenn ich mir schon ein paar Mal von ihrer Frau Tabletten wegen dieser Schwindelgefühle geben lassen musste, die die ultraviolette Strahlung bei mir hervorruft!“ Karli schob die Hände unter die Oberschenkel. „Es ist halt so, und ich wiederhole mich in diesem Punkt nur ungern, dass Herr Schmelzer nicht ganz der ist, für den Sie ihn halten, und mich durch seine Zudringlichkeit zu einer reflexhaften und sicherlich übertriebenen Handlung veranlasst hat.“ Karli schämte sich der ganzen Angelegenheit längst: seiner Tat und des Zwischenfalls, der den Anlass für diese abgegeben hatte, und der Empörung, die er in jener Nacht empfunden hatte. Sie kam ihm seltsam und fremd vor; und er fragte sich, woher sie rührte.

„Fangen Sie nicht wieder damit an! Das haben wir doch schon alles besprochen; und es hat sich in meinen Augen längst erwiesen, dass das völlig haltlose Unterstellungen sind. Rufmord geradezu! Und ich möchte Sie zum Abschluss nachdrücklich davor warnen, diese Anschuldigungen irgendwann außerhalb unseres Instituts zu wiederholen, denn das könnte herbe strafrechtliche Konsequenzen für Sie haben. Nicht nur Herr Schmelzer, sondern auch die Schulleitung könnte sich gezwungen sehen, gegen Sie vorzugehen, um die tadellose Reputation unseres Instituts zu schützen. Und wenn ich Ihnen noch einen gut gemeinten Rat mit auf den Weg geben darf: Wenden Sie sich an einen Psychiater! Mitschüler von Ihnen haben zum Beispiel mit Frau Dr. Frasi in München gute Erfahrungen gemacht. Die arbeitet sehr diskret und ohne Gefühlsduselei und legt den Fokus darauf, das Verhalten ihrer Patienten zu korrigieren und mit den Normen unserer Gesellschaft in Einklang zu bringen. Bevor andere Institutionen dies übernehmen müssen!“

„Aber was ich gesagt habe, stimmt!“

„Ich bin mir sicher, dass Sie davon überzeugt sind und nicht bewusst lügen. In diesem einen Fall zumindest! Nur macht das die Sache um keinen Deut besser! Im Gegenteil! Alles wäre einfacher, wenn Sie nicht derart wahnhaften Vorstellungen ausgeliefert wären.“ Dr Lerchner setzte eine schwarze Lesebrille auf, beugte sich nach vorne und zog ein Blatt aus einem Stapel Papier, der sich auf dem Schreibtisch türmte. „Und dann wäre da auch noch ihr Zeugnis.“

Es klopfte an der Tür; und Frau Lerchner kam mit einem Tablett herein, auf dem zwei mit Pfefferminzblättern garnierte, mit kaltem Tee und klingelnden Eiswürfeln gefüllte Gläser standen, von denen sie eines dem Gast und das andere ihrem Mann reichte. Sie lächelte Karli scheu und wortlos zu und verschwand wieder. Dr. Lerchner ignorierte die Unterbrechung mit der ganzen Routine eines durch langjährige Lehrtätigkeit abgehärteten Oberstudienrats.

„Auch nicht sonderlich erfreulich!“ Er musterte das Blatt, das er in den Händen hielt, kopfschüttelnd. „Bei Ihnen hat es, obwohl Herr Behnisch normalerweise die bloße Teilnahme an einer seiner musikalischen Darbietungen schon eine drei wert ist, in keinem Fach auch nur zu einer vier gereicht. Da wären eine Versetzung und ein Verbleib an unserer Schule auf jeden Fall schwierig geworden.“

„Vermutlich bin ich einfach nicht der akademische Typ.“

„An eine akademische Laufbahn ist bei solchen Leistungen natürlich überhaupt nicht zu denken; und die erwartet hoffentlich auch keiner von Ihnen. Ein gewisses rabulistisches Talent, das Sie zu Ihrer Verteidigung immer wieder erkennen lassen, genügt da bei Weitem nicht.“ Direktor Lerchner studierte weiter das Dokument in seiner Hand. „Haben Sie mal an etwas Kaufmännisches gedacht? Wobei das wiederum Kenntnisse im Rechnen voraussetzen würde, für die es hier keinerlei Anzeichen gibt.“

„Herr Blume hat mit uns dieses Jahr die irrationalen Zahlen durchgenommen. Die liegen mir nicht. Ich weiß aber eh nicht, ob sie mir in der beruflichen Praxis viel genützt hätten.“

„Sie wissen sehr viel nicht, das immerhin steht fest. Und unser Institut hat dieser ihrer Unwissenheit leider keinen nachhaltigen Schaden zufügen können.“ Direktor Lerchner legte die Lesebrille beiseite, nippte an dem Eistee und lehnte sich zurück. „Macht Ihnen Ihre familiäre Situation zu schaffen? Sie dürfen dabei nicht vergessen, Sie sind allen Verwerfungen in Ihrem Lebenslauf zum Trotz immer noch ein sehr privilegierter Mensch. Viele wünschen sich, sie könnten unsere Schule besuchen, aber nur wenigen ist es vergönnt. Die allermeisten profitieren von dem Abschluss, den sie bei uns erwerben, in hohem Maße, finden hier Freunde fürs Leben, setzen ihre Ausbildung an einer renommierten Universität fort und üben letztendlich einen so angesehenen wie lukrativen Beruf aus. Schätzen Sie diese übliche Karriere unserer Eleven für gering?“

„Überhaupt nicht, Herr Direktor! Wirklich! Ich wünsche meinen Kameraden auf ihrem weiteren Weg nur das Allerbeste. Und ich wäre auch gerne wie sie und ein besserer Schüler, aber ich leide an Konzentrationsschwäche und kann mir Vokabeln und Formeln einfach nicht merken.“ Karli hielt das Glas Eistee weiter in der Hand, ohne daraus auch nur einen Schluck getrunken zu haben.

„Um von anderen, charakterlichen Schwächen zur Abwechslung mal zu schweigen!“ Dr. Lerchner schüttelte sinnend den Kopf. „Nur, was soll aus Ihnen jetzt werden?“

„Früher wollte ich Trapper werden. Ich finde die Vorstellung immer noch interessant, aber dazu müsste ich wohl nach Kanada auswandern oder Finnland oder irgendwohin, wo es noch wilde Pelztiere gibt.“

„Eine originelle Idee!“ Direktor Lerchner stieß resignierend Luft durch die Nase aus. „Auch wenn diese Tiere sicherlich längst irgendwo zu Tausenden gezüchtet, geschlachtet, gehäutet und in kleinen Stücken an die nachfolgende Generation verfüttert werden.“

„Oh!“ Karli erbleichte. „Das wusste ich noch gar nicht.“

„Naja, noch ist es glücklicherweise nicht zu spät, Ihre Zukunftsplanung den modernen Entwicklungen anzupassen.“ Direktor Lerchner beugte sich nach vorne, öffnete eine Schreibtischschublade, entnahm ihr einen großen Umschlag, steckte das Zeugnis und einen Begleitbrief hinein, hob den Umschlag vor das Gesicht und leckte mit sichtlichem Genuss an der Gummierung. Den zugeklebten Umschlag legte er vor sich und richtete ihn parallel zu den Schreibtischkanten aus. Er setzte die Brille wieder auf, griff nach einem Füllfederhalter, der in einer Wanne aus Onyx lag, und blickte mit großen, wie verquollene Mollusken hinter den dicken Gläsern lauernden Augen zu Karli. „Wer soll denn jetzt der Adressat dieses wenig erbaulichen Schriftstücks sein?“

„Frau Jerichow?“

„Sie meinen doch sicherlich Frau Gräfin von Jerichow.“

„Da würde meine Mutter vermutlich Wert drauf legen!“

Direktor Lerchner malte große, teilweise an Sütterlin gemahnende Buchstaben auf den Umschlag, begutachtete sein Werk zufrieden und trocknete es mit einem Löschroller. Er erhob sich und hielt Karli, der den Eistee, ohne von ihm probiert zu haben, wegstellte, den Brief hin.

„Ich wünsche Ihnen alles Gute auf Ihrem weiteren Weg, der, so viel kann man wohl jetzt schon sagen, kein konventioneller sein wird.“

„Vielen Dank!“ Karli stand auf und nahm den Umschlag entgegen. „Ich hoffe, es wird sich etwas finden.“

„Das wird es, mein Lieber. Nur was, das ist die Frage.“ Dr. Lerchner kam um den weitläufigen Schreibtisch herum. „Ich würde mich freuen, wenn Sie mir gelegentlich Bericht erstatten darüber, wie es Ihnen geht.“

„Dem Wastl-Bauer habe ich auch schon versprochen, ihn auf dem Laufenden zu halten.“ Und als er Dr. Lerchners verwirrten Blick sah, ergänzte Karli: „Das ist der Bauer unten an der Straße, von dem die Schule die Eier kriegt. Ich parke bei ihm.“

„Na, Jerichow, hast du den Einlauf genossen?“ Ferdinand Schlier, Karlis Zimmergenosse, stand am Fenster und schnitt sich die Fingernägel. Er war lang und dünn, ein Schattenriss nur gegen das Licht des verdämmernden Tags.

„Hat sich schnell rumgesprochen.“ Karli beobachtete angewidert, wie weißliche Hornschnipsel durchs Zimmer flogen und teilweise auf seinem Bett landeten. Es wäre zwecklos gewesen, Schlier zu bitten, die Maniküre ins Bad oder nach draußen zu verlegen. Genauso zwecklos wie eine Erinnerung dran, dass er sich mal wieder mit naturwüchsiger Anmaßung aus Karlis Toilettenbeutel bedient hatte, weil der eigene gerade nicht griffbereit war. Karli musste sich eingestehen, dass er als Pädagoge gescheitert war. Er würde aus Schlier keinen rücksichtsvollen Menschen oder lohnenden Gesprächspartner mit anderen Interessen als einer Systematik aller gängigen BH-Verschlüsse und der Verbesserung seines Rückhand-Slice mehr machen. Er hatte es versucht; und unter diesen gelegentlichen, immer halbherzigen Versuchen hatte eine Beziehung weiter gelitten, die ohnehin nie eine zwischen Gleichgestellten, einem nämlichen Schicksal Unterworfenen gewesen war, sondern gerade in Schliers Augen die zwischen einer Majestät und ihrem Hofnarren oder zumindest die zwischen einem Brauereierben und einem beinahe mittellosen Flüchtling.

„Ich hab zufällig gesehen, wie der Alte dich für ein Privatissimum abgeschleppt hat.“ Schlier begutachtete seine Nägel im Licht des Abendrots, das ihnen einen warmen Schimmer verlieh, der ihm zu behagen schien. „Was wollte er denn? Um den Tacitus, den du letzte Woche verhunzt hast, ging es bestimmt nicht mehr. Hat er dir geraten, in Zukunft deine schmutzigen Wichsgriffel von unserem unbefleckten Lehrkörper zu lassen?“

„Er hat mich beim Falschparken erwischt und die Gelegenheit genutzt, um mich von der Schule zu schmeißen.“ Karli stieg auf einen Stuhl und zog einen Koffer herunter, der oben auf dem Schrank gelegen war. Er versuchte, die Gedanken auf die Atombombe zu richten, insgesamt ein wesentlich größeres Ärgernis als ein Idiot wie Schlier. Dieser Trick, der ihm schon oft geholfen hatte, Gemütsruhe zu bewahren, war aber abgenutzt und wollte nicht mehr recht wirken.

„Bewundernswerte Strenge! Ich denke, er wollte an dir ein Exempel statuieren und damit andere davor bewahren, wie du auf die schiefe Bahn zu geraten.“ Schlier nahm jetzt die Schere in die linke Hand und widmete sich den Nägeln an der rechten und runzelte bald missbilligend die Stirn. „Was ist mit der Krawatte? Willst du die zurückhaben? Für die wirst du doch in Zukunft kaum mehr Verwendung haben. Und für deinen Stowasser auch nicht! Ich finde das mit den Buchstaben, die du da drauf gemalt hast, nämlich ganz praktisch.“

„Das Register auf dem Seitenschnitt?“ Karli legte den geöffneten Koffer auf sein Bett und begann, den Inhalt seines Schranks hinein zu räumen.

„Hilft einem wirklich beim Nachschlagen, finde ich.“ Schlier kramte in der Ledertasche, in der Karli Zahnbürste, Seife und Ähnliches aufbewahrte, und suchte nach einer anderen Nagelschere. „Und was ist mit dem Mädel, das du zur Sonnwendfeier mitgebracht hast?“

„Friederike?“ Karli hielt mit einem Stapel Pullovern in der Hand kurz inne.

„Genau! Die Dunkelhaarige mit dem Pferd von deiner Schwester! Von dir lässt die sich jetzt bestimmt nicht mehr reiten; und da könnte ich sie doch mal anrufen, so zum Trost. Musst mir nur ihre Nummer verraten! Und vielleicht ihre Körbchengröße, denn sie hat auf der Feier die ganze Zeit diese blöde Jacke anbehalten und ich weiß gerne im Voraus, was mich erwartet! Oder hast du sie noch gar nicht befingert? Als dem Schmelzer sein Buhlknabe?“

Karlis Mutter widmete sich seit ihrer Flucht den hausfraulichen Pflichten, die sie in der ersten Hälfte ihres Lebens selbstverständlich und gedankenlos an ein Heer von Bediensteten delegiert hatte, mit der fanatischen Hingabe einer reumütigen Sünderin, die glaubt, mit Verlust von Heimat, weltlichem Besitz und Ehemann noch nicht genug gestraft worden zu sein und in dauernder Buße den einzigen Inhalt der ihr noch verbliebenen Lebenszeit sieht. Die von ihr auf das Sorgfältigste gebügelten Hemden waren für Karli Werke der Andacht und Ausdruck einer verzweifelten, ihm unbegreiflichen Demut, einer inbrünstigen Unterwerfung unter ein vielleicht von Gott, vielleicht auch nur von seinen ruchlosen Statthaltern in Rom, Bonn oder Moskau bestimmtes Schicksal und hatten ihn manchmal, wenn er den von zu Hause mitgebrachten, nach dem vertrauten Persil riechenden Stapel im Internat in seinen Schrank geräumt hatte, zu Tränen gerührt. Er schichtete die drei noch unbenutzten Hemden vorsichtig in den Koffer, als wären sie groß geratene Oblaten und er ein mit den Vorbereitungen fürs Abendmahl beschäftigter Messdiener, dann packte er ein Säckchen, in dem sich Münzen und Manschettenknöpfe angesammelt hatten. Er richtete sich langsam auf, holte aus und schlug Schlier nur deshalb mit der zusätzlich beschwerten Hand nicht die Nase ein, weil ihn Leo einmal gewarnt hatte, dass man sich dabei leicht selbst die Knöchel brach. Stattdessen rammte er die Faust in Schliers weichen Solarplexus. Schlier, der sich ihm ahnungslos zugewandt und keine Zeit mehr gehabt hatte, die Bauchmuskeln anzuspannen, stöhnte dumpf auf und sackte in sich zusammen. Karli hob die Nagelschere auf, die zu Boden gefallen war, und packte sie zusammen mit seinem Kulturbeutel zu den Hemden in den Koffer. Dann ging er zu Schliers Schreibtisch und holte sich von dort das lateinische Wörterbuch, das Schlier sich angeeignet hatte, und eine zerfledderte, mit Unterstreichungen und handschriftlichen Anmerkungen und einer Widmung in Mädchenhand versehene Ausgabe von A Farewell to Arms und verstaute beides zwischen den Socken und der Unterwäsche. Er nahm seine letzten dort verbliebenen Besitztümer aus seinem Schrank und von seinem Schreibtisch, ohne auf Schliers Wimmern und Fluchen zu achten, und schenkte seinem Zimmergenossen auch dann noch keine Aufmerksamkeit, als dieser sich endlich vom Boden aufrappelte und zu seinem Bett schleppte und auf diesem niedersank.

„Ich kann’s gar nicht abwarten, dass du Arschloch von hier verschwindest“, stieß er kurzatmig hervor. „Wie bescheuert muss man sein, um sich bei deinen Noten für ein Genie zu halten?! Alle finden, du bist ’nen Dummschwätzer und Angeber. Und wenn du auch nur eine von deinen schrecklichen Schallplatten vergisst, mach ich sie kaputt, das schwör ich bei Gott.“

Karli hielt zwei Tennisschläger in der Hand, die jeweils in ein Stahlkreuz eingespannt waren, wog sie und schien zu überlegen, mit welchem er Schliers Schädel zertrümmern sollte. Dann warf er sie beide auf Schliers Bett.

„Da! Dafür nehme ich deine Tasche.“ Karli ging zu dem anderen Schrank, öffnete ihn und holte eine lederne Reisetasche hervor, die er mit einer Jacke, seinen restlichen Büchern und einem Haufen Schallplatten füllte. Er verschloss seinen tragbaren Plattenspieler mit dem Deckel, der auch als Lautsprecher diente, klemmte ihn sich unter den Arm, nahm in die eine Hand den Koffer, in die andere Schliers Tasche und ging hinaus, ohne Schlier auch nur eines Blicks zu würdigen oder die Tür hinter sich zu schließen.

Karli stopfte den Plattenspieler und die Tasche in den Beiwagen der BMW und schnallte gerade den Koffer auf dem Gepäckträger fest, als eine Frau in einem mintgrünen Kostüm über den Kies des Parkplatzes gestöckelt kam. Blondes Haar türmte sich auf dem Kopf. Eine Handtasche aus schwarzem Krokodilleder baumelte vom linken Ellbogen. Die rechte Hand trug die Papiertüte eines Konditors in Starnberg.

„Aber das sind ja Sie, Karl! Beinahe hätte ich Sie nicht erkannt mit diesem Motorrad und in dieser Jacke. Fast wirken Sie wie ein Halbstarker, wenn Sie mir die Bemerkung verzeihen wollen. Aber Ihnen steht das! Ferdinand hat ja schon davon erzählt, dass Sie seit Neuestem wie dieser amerikanische Filmstar aussehen.“

„Das ist sehr freundlich von ihm.“ Karli ließ von seinem Koffer ab und reichte der Frau die Hand. „Besuchen Sie den Herrn Sohn?“

„Ich weiß, ich weiß, Elternbesuch unter der Woche ist nicht gern gesehen, aber ich dachte mir, an einem Freitagabend gegen Ende des Schuljahrs ist der strenge Herr Direktor vielleicht ein wenig nachsichtiger: Ich war bei einer Freundin hier in der Gegend, und da dachte ich mir, ich bringe meinem Purzelchen eins von den Eclairs, die übrig geblieben sind. Die liebt er über alles. Und außerdem muss ich doch wissen, was der junge Herr in den Ferien alles nach Hause abzutransportieren gedenkt und ob mein Volkswagen dafür reichen wird oder ob der Herr Papa mit dem Mercedes anrücken muss.“

„Im Moment wäre vermutlich ein Krankenwagen das Beste.“

„Um Gottes Willen, was sagen Sie da?“ Frau Schlier schlug eine Hand vor den Mund.

„Nur ein Witz!“ Karli winkte ab. „Er klagt über Bauchschmerzen.“

„Oh je, der Ärmste! Er hat einen fürchterlich nervösen Magen, der ihm immer wieder zu schaffen macht. Er kommt da leider ganz nach mir. Ich hab jetzt schon wieder ein flaues Gefühl, weil ich mich um ihn sorge. Sie hätten mir wirklich nicht solch einen Schreck einjagen dürfen!“ Frau Schlier tat, als rüge sie Karli, wedelte mit dem erhobenem Zeigefinger und wandte sich dem beladenen Motorrad zu. „Fahren Sie denn jetzt schon in die Ferien?“

„Ich beginne meinen Urlaub wegen außerordentlicher Leistungen ein bisschen früher und reise nach Italien. Wenn Sie wollen, räume ich den Beiwagen leer. So ein Ausflug würde Ihrem Magen sicher gut tun.“

Frau Schlier lachte, hoch und künstlich.

„Köstlich! Ganz köstlich! Aber leider haben wir für morgen schon Gäste eingeladen. Ich bin mir allerdings sicher, mit diesem Gefährt werden Sie keine Schwierigkeiten haben, eine andere Begleiterin zu finden. Und wenn Sie wieder hier sind, müssen Sie Ferdinand und mich unbedingt besuchen kommen. Der Pool, wie unsere Besatzer wohl dazu sagen würden, ist endlich fertig und erfreut sich gerade unter den Jüngeren größter Beliebtheit.“

„Da bin ich mir sicher.“ Karli stülpte seine gepolsterte Lederhaube über und schwang sich in den Sattel der BMW. „Ich fürchte, ich muss jetzt los. Mein Motorrad hat keine richtige Beleuchtung.“

„Dann will ich sie auf keinen Fall länger aufhalten. Am Ende kriegen Sie wegen mir noch Schwierigkeiten mit der Polizei.“ Frau Schlier machte einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zum Starten des Motors zu geben. Karli trat ein paar mal rüde auf den Anlasserhebel, dann sprang die BMW endlich an. Er rückte die Staubbrille zurecht, nickte Frau Schlier zu und hüllte sie zum Abschied in Lärm und Abgase.

Die Straße wand sich durch hügeliges, langsam verdämmerndes Land. Das Jungvieh, das die Nacht auf der Weide verbringen würde, trug Flecktarn; Auswüchse an den Spitzen verwandelten die Kirchtürme in phallische Schatten. Sterne begannen zaghaft, mit den bereits erleuchteten Fenstern der verstreuten Einödhöfe zu konkurrieren; die Straße offenbarte sich dem schwächlichen, bestenfalls Tarnlicht absondernden Scheinwerfer nur ansatzweise. Karli tastete sich vorsichtig durch die Kurven, bremste für eine Ricke mit zwei langbeinigen Kitzen im Schlepp, tauchte durch finstere Wäldchen, passierte Dörfer, in denen schon niemand mehr zu sehen war, als hätten die Menschen immer noch Angst vor dem Wolf und Zuflucht hinterm Ofen gesucht, und gelangte schließlich zu dem Gestüt, auf dem seine Mutter und Schwester wohnten, seit Walli dessen Besitzer geheiratet und dafür ihr kaum begonnenes Studium abgebrochen hatte. Wolfgang Pressinger war zwar nicht von adligem Geblüt, ermöglichte ihr aber ein Leben, das in vielem an ihr früheres, durch die Flucht verloren gegangenes erinnerte, und war von ihrer ungestümen Jugend, ihrem hippologischen Fachwissen und ihrer Erwähnung im Gotha so eingenommen, dass er über die fehlende Mitgift und die Tatsache, dass sie einen minderjährigen und eigensinnigen Bruder sowie eine nicht mehr ganz zurechnungsfähige Mutter mit in die Ehe bringen würde, großzügig hinwegsah. Dass seine Ehefrau und die zukünftige Mutter seiner Kinder ihr Studium fortsetzte, war für den niedergelassenen Tierarzt unvorstellbar und hätte sich auch als schwierig erwiesen, denn Walli brachte bald und im Abstand von knapp eineinhalb Jahren Vroni und Toni zur Welt, die ihre ehemalige Selbstständigkeit noch rigoroser beschneiden sollten, als es die Ehe mit einem in allen gesellschaftlichen Belangen sehr konservativen Mann ohnehin schon tat. Und ebendiese Geschwister, Karlis Nichte und Neffe, wurden auch jetzt ihrem Ruf als große Plagen gerecht, denn kaum hatte er sein Motorrad in einer offenen Remise zwischen zwei Kutschen abgestellt, hingen sie schon wie Blutegel an seinen Beinen.

„Müsstet ihr nicht längst schlafen?“, knurrte er und versuchte, sich durch Tritte der an ihm haftenden Verwandtschaft zu entledigen. „Macht euch lieber nützlich und schnappt euch was von dem Gepäck!“

„Was willst du denn hier?“ Vroni imitierte altklug seinen Ton. „Müsstest du nicht in der Schule sein?“

„Mama ist nicht da“, meldete Toni. „Und Papa auch nicht, aber das stört nicht, sagt Oma.“

„Hast du uns wenigstens was mitgebracht?“

„Warum kommst du so spät? Wir haben doch längst gegessen.“

„Wenn ihr mich nicht gleich loslasst, gibt es ein paar aufgewärmte Watschen zum Nachtisch.“

„Manno! Und wir dachten, du hast uns lieb“, riefen die Kletten im Chor.

Karli packte den Plattenspieler und wankte durch die weiter sich an ihn klammernden Kinder behindert hinüber zum Haus, einer Vorkriegsvilla mit hohem Ziegeldach, die gewisse herrschaftliche Allüren aufwies, darunter eine breite Treppe als Entree und französische Fenster mit Blick auf englischen Rasen, ingesamt aber wie ein etwas vernachlässigter Zweckbau wirkte.

„Hallo, gibt es einen Wärter für diese Raubtiere?“, rief Karli, als er mit viel Mühe die Stufen überwunden und durch die offen stehende Haustür den geräumigen Flur dahinter erreicht hatte. Er stellte den Plattenspieler auf einer Truhe mit geschnitzten Ornamenten ab, entledigte sich durch gezieltes Kitzeln seiner beiden Verwandten und fand nach einigem Suchen seine Mutter im Wäschezimmer ganz oben im Dachstuhl beim Bügeln. Auf dem Tisch unter dem Fenster stand ein neuartiger Transistorradio aus Japan und spielte von Anneliese Rothenberger gesungene Operetten-Lieder.

„Ach Karli, du bist es.“ Die Gräfin hob nur kurz den Kopf und widmete sich sofort wieder dem weißen Taschentuch, das sie mit ritueller Sorgfalt bearbeitete. „Welch eine Stimme!“, fuhr sie wie für sich fort. „Dass es sowas Schönes auf dieser Welt gibt, ist unerklärlich.“ Sie hatte, als der Krieg auch in Ostpreußen Einzug zu halten drohte und die finale Offensive der Russen begann, ihre beiden Kinder heimlich auf einem Pferdeschlitten Richtung Westen geschickt und, sobald es von den deutschen Behörden offiziell erlaubt worden war, versucht, ihnen zu folgen, musste da aber schon einen anderen Weg als diese, nämlich den über das Eis des Haffs, nehmen und war, als sie es endlich in eine Notaufnahmeeinrichtung in Niedersachsen geschafft hatte, fast ein halbes Jahr im Unklaren darüber, wo sich ihre Kinder befanden und ob sie überhaupt noch lebten. Sie hatte sich von den Erfahrungen auf der Flucht, von denen sie nie erzählte, und den zermürbenden Monaten, während denen sie nach den Kindern oder zumindest einem Hinweis auf deren Verbleib gesucht hatte, nie mehr richtig erholt. Sie, die während der Kriegsjahre ein großes Gut so gut wie in Eigenregie geleitet hatte, verlor jeden Antrieb, kaum war in München die Wiedervereinigung wenigstens mit den Kindern geglückt. Ihr Mann, der lange ebenfalls als vermisst gegolten hatte, war da bereits zum Gefallenen erklärt worden, auch wenn seine Leiche nie gefunden wurde. Sie sehe keinen Sinn mehr im Leben, murmelte die Gräfin gelegentlich, stopfte weiter die Socken ihrer Kinder und Enkel und überhörte den Spott ihres Schwiegersohns, der für Geiz hielt, was Ausdruck preußischen Pflichtbewusstseins und einer vom Krieg rührenden, durch kein Wirtschaftswunder zu besänftigen Sorge ums Überleben war. Sie hasste Bayern und seine ihr unverständliche Bevölkerung.

Karli lehnte sich an eine Stütze des Dachstuhls und sah seiner Mutter eine Weile zu. Ihr Bügeln hatte für beide etwas Beruhigendes. Vielleicht weil es intensiver Ausdruck des Friedens war. Des äußeren, wenn auch nicht des inneren.

„Ich bin von der Schule geflogen“, gestand er nach ein paar Minuten des Schweigens. „Und es tut mir wirklich leid, dir das anzutun. Ich weiß, du hättest einfach die Zähne zusammengebissen und alles ertragen, aber das kann ich nicht. Nicht so gut wie du! Es sind alle so schreckliche Heuchler und Angeber. Bei den Lehrern frag ich mich immer, was die wohl unter den Nazis angestellt haben, bei den Schülern, ob sie wieder mitmachen würden. Ich würde gerne irgendwo leben, wo es das nicht gibt, diese Lügen, diese vermutliche Schuld. Was Leo von Palästina und die Kibbuzen dort erzählt, gefällt mir, weil sie dort ein ganz neues Land aufbauen mit neuen Menschen und auf den Trümmern der alten Welt, gewissermaßen, aber eben ohne Lüge und gemeinsam und sogar mit einer neuen Sprache, nur werden die einen wie mich nicht gebrauchen können, einen Deutschen, der nichts kann, außer blöd daherreden. Zumindest behaupten das die auf der Schule; und ich denk manchmal, sie könnten recht haben. Ich mein, vielleicht bin ich ja wirklich zu dumm. Ich weiß ja nicht einmal, was ich machen soll.“ Er lächelte versonnen beim Anblick seiner unbeirrt bügelnden Mutter, die endlich zufrieden war mit ihrem Werk, es zweimal faltete und auf einem Stapel Taschentücher ablegte, die alle ganz genauso aussahen.

„Es kann noch eine Weile dauern, aber irgendwann kehren wir nach Steinheil zurück, und du übernimmst das Gut. Dann ist alles vergessen.“

„Sicher, Mama! Aber bis es so weit ist …“ Er spürte Tränen in sich aufsteigen. „Ach verdammt, sie haben uns gefunden.“ Er lauschte kurz in Richtung der Treppe hinter ihm, die verdächtig knarzte, tat dann so, als hätte er nichts gehört, und trocknete sich hastig die Augen. „Sie lassen nicht locker.“

„Spielst du mit uns Verstecken?“ Toni hatte sich auf Socken von hinten angeschlichen und zerrte an Karlis Lederjacke.

„Machst du uns eine heiße Milch?“ Vroni stand verloren auf dem Flickerlteppich und bohrte in der Nase.

„Geh nur!“ Seine Mutter holte ein weiteres Taschentuch aus einem Korb mit Wäsche und wedelte damit wie zum Abschied. „Die Kinder können nichts dafür.“

„Warum schlaft ihr denn noch nicht?“ Karli hatte Toni die eine und Vroni die andere Hand gegeben, stieg mit ihnen die Treppe hinab und versuchte, einen Blick auf die Uhr zu erhaschen, die unter dem Ärmel seiner Lederjacke verborgen war. „Es ist doch sicher schon spät.“

„Es ist gerade erst dunkel geworden.“ Vroni schüttelte den Kopf, als verwundere es sie mal wieder, wie wenig Erwachsene im Allgemeinen und ihr Onkel im Besonderen wussten.

„Außerdem sagt Mama, dass du uns ins Bett bringen sollst.“ Toni schlenkerte den freien Arm.

„Damit du wenigstens zu irgendwas nütze bist!“ So wie Vroni dies betonte, hätte sie auch einfach Ällabätsch sagen können.

„Ganz genau!“ Ihr Bruder stand ihr, was Schadenfreude anging, in nichts nach.

„Ist sie denn inzwischen aufgetaucht?“ In Karli erglomm ein Hoffnungsschimmer.

„Gerade erst!“ Vroni winkte ab. „Und sie ist schlecht gelaunt!“

„Wie immer!“, fügte Toni an, als erübrige sich diese Anmerkung eigentlich.

„Mit Kindern wie euch kein Wunder!“ Karli überlegte, ob er es durch einen beherzten Sprung über das Geländer in die Freiheit schaffen würde, kam aber zu dem Schluss, dass List der sicherere und einfachere Weg war. „Wie wäre es, wenn ihr euch tief in euren Betten versteckt? Ich verspreche auch, euch nicht gleich zu finden.“

„Haha!“

„Sehr witzig!“

Der Sarkasmus war für Kinder ihres Alters schon gut entwickelt, änderte aber nichts daran, dass die beiden sich im ersten Stock, wo das Kinderzimmer lag, enttäuscht von ihrem Onkel abwandten und den Weg zum Bad einschlugen, um sich die Zähne zu putzen. Karli stieg über die nächste Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Aus der Küche fiel Licht in den Flur. Karlis Schwester Walburga stand an der Theke der modernen, mit einem praktischen Kunststofffurnier überzogenen Einbauküche und verschlang ein Schinkenbrot. Sie trug eine enge Reithose, die ihr auch nach zwei Schwangerschaften noch gut stand. Strohhalme klebten an ihrer Jacke. Das lange, blonde Haar baumelte als Pferdeschwanz über dem Rücken. Sie war zehn Jahre älter als Karli, aber wenn man die beiden nebeneinander sah, wirkte der Unterschied noch größer.

„Eins der Pferde hat Koliken.“ Walburga hielt das halb gegessene Brot hoch, als wolle sie ihr übereiltes, improvisiertes Mahl erklären. Sie schluckte mit sichtlicher Mühe, biss erneut in das Brot und fuhr mit vollem Mund fort: „Warum hast du denn deinen ganzen Krempel schon mitgebracht? Nächste Woche ist doch noch Schule.“

„Nicht für mich!“

„Nicht schon wieder!“ Walli ließ entsetzt das Brot sinken.

Karli ging zur Theke und schnitt sich eine Scheibe von dem Bauernlaib herunter.

„Ist es wegen der Geschichte mit den Reifen?“ Sie legte das Brot weg, an dem sie kein Interesse mehr hatte.

„Unter anderem! Die Noten sind auch nicht so toll.“ Karli nahm zwei Schinkenscheiben von einem Teller, packte sie auf sein Brot und biss hinein.

„Ich verstehe das immer noch nicht. Er war doch der einzige, über den du nicht die ganze Zeit geschimpft hast.“

„Es ist ein verlogenes Arschloch wie sie alle.“ Karli lehnte an der Theke und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

„Ich weiß nicht, wie man beschaffen sein muss, um vor deinen Augen Gnade zu finden. Solche Heiligen gibt’s gar nicht, sieht man mal von deinem Leo ab! Ich möchte gar nicht wissen, was du von mir und Wolfgang denkst.“

„Er war auch mal dein Leo.“

„Sicher! Aber das ist einige Jahre her. Wir waren Kinder auf der Flucht durch einen grotesken Alptraum; und seitdem ist viel passiert.“

„Zu viel und nicht genug!“ Karli entfernte das Fett von seinem Schinken und warf es dem zotteligen Hütehund zu, der inzwischen in die Küche getrottet war.

„Wenn du meinst … Aber nicht jeder kann sich deine schnodderige Trotzhaltung leisten. Manche müssen sich um eine Familie kümmern und dem Bruder teure Privatschulen finanzieren, weil die staatlichen ihn nicht mehr haben wollen.“

„Es hat dich keiner dazu gezwungen.“

„Ach ja? Und was hättest du sonst gemacht? Eine Lehre als Landstreicher begonnen?“ Walli ließ sich auf einen Stuhl fallen, wischte die Finger an der Hose ab und musterte Karli müde. Sie hatte Augenringen. Sie wirkte bleich, obwohl sie fast den ganzen Tag an der frischen Luft verbrachte. „Was sollen wir denn jetzt mit dir machen? Willst du bei dem Bootsbauer unten am See arbeiten? Dafür müsstest du dich halt fürs Hobeln und Sägen interessieren; und ich kann mich nicht erinnern, dass du das je getan hast.“

„Stimmt, tue ich nicht.“ Karli kraulte den Hund, der sich aufgerichtet hatte und die Vorderpfoten gegen Karlis Brust drückte.

„Du musst jedenfalls irgendwas machen. Ich sehe nicht ein, dass wir dich einfach durchfüttern. Du musst irgendwann erwachsen werden.“

„Ach ja? Und wozu? Damit ich auch so ein Heuchler werde wie diese ganzen Idioten, die sich krumm buckeln, um nur ja nicht sehen zu müssen, was sie angerichtet haben, und hoffen, in ihrem scheiß Käfer ihrer braunen Vergangenheit zu entkommen, und nicht merken und nicht wissen wollen, dass der ein Erbstück ihres geliebten Führers ist und dass alles weiterläuft wie immer, nur dass jetzt wieder Briketts durch die Schornsteine gejagt werden und keine Judenkinder?“

„Jetzt hör doch endlich auf mit diesem selbstgefälligen Lamentieren! Indem du behauptest, dass sich nichts geändert hat, beweist du doch nur, wie wenig du vom Dritten Reich mitbekommen hast. Damals hätte dich dein Nazi-Onkel für so blöde Sprüche längst bei seinen Kumpels von der SA denunziert.“

„Der Onkel, der jetzt für die CDU im Landtag sitzt!“

„Die Menschen ändern sich. Und auch ein Land kann sich ändern! Allen ihre möglichen Verstrickungen in eine dunkle Vergangenheit vorzuhalten, hilft uns nicht. Es muss doch vorangehen! Mit diesem pauschalen Misstrauen kommen wir nicht weiter.“ Walli stand wieder auf, ging zum Herd, legte eine Hand prüfend auf einen Wasserkessel, um zu sehen, ob er schon heiß war und schaltete die Platte aus.

„Manchmal denke ich immer noch, es wäre das Beste, auszuwandern. Nach Kanada oder Australien oder so!“

„Dazu hättest du dich zumindest darum bemühen sollen, Englisch zu lernen.“ Walli holte einen Becher aus dem Schrank

„Ich kann’s ganz gut lesen.“

„Du meinst, das reicht bei jemandem, der so gerne jammert?“

„Keine Ahnung!“

„Und was wird aus Friederike?“

Karli blies die Backen auf.

„Genauso unwichtig wie wir alle!“ Walli holte sich eine Büchse aus einem Hängeregal und tat sich einen Löffel Nescafe in den Becher. Sie goss dampfendes Wasser aus dem Kessel dazu, rührte um, umschloss den Becher mit beiden Händen, ließ den Kaffeegeruch in die Nase steigen und musterte durch diese unsichtbaren Schwaden hindurch den Bruder, der für allen häuslichen Zauber völlig unempfänglich war.

„Du wolltest mal mit.“

„Das ist lange her und war eher Leos Hirngespinst. Aber es ist immer noch so, dass kein Land der Erde Auswanderer ohne Geld, Ausbildung oder zumindest Sprachkenntnisse will! Was in deinem Fall eindeutig für eine Fortsetzung der Schulkarriere spricht.“ Sie nippte vorsichtig an dem Kaffee.