Bill & Bill - Xaver Engelhard - E-Book
SONDERANGEBOT

Bill & Bill E-Book

Xaver Engelhard

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Männer namens Bill: Der eine hat sieben Jahre wegen Totschlags im Gefängnis verbracht und begibt sich nach der Entlassung auf die Suche nach seiner Schwester und der Antwort auf die Frage, was in seinem Leben, das eine Zeitlang voller Versprechen zu sein schien, schief gelaufen ist, den anderen beschäftigt diese Frage überhaupt nicht, obwohl er nach einer märchenhafte Karriere als Black-Jack-Dealer, Wrestling-Promoter und Musical-Produzent nur noch eine heruntergekommene Strip-Bar in Los Angeles betreibt. Und in genau dieser treffen die beiden aufeinander und werden in einen Mord verwickelt, jeder auf seine Weise

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 538

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bill und Bill

Verloren an die Welt

Xaver Engelhard

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Texte: © Copyright by Xaver Engelhard

Umschlag: © Copyright by Georg Engelhard Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

E-Book-Programmierung. Dr. Bernd Floßmann. IhrTraumVomBuch.de

Gesetzt aus der Malaga

Bill Evian - oder Boy, wie er später wegen seiner ewigen Jugend und der zunehmend groteskeren Bemühungen um diese genannt werden sollte - wurde in New York als uneheliches Kind einer Schneiderin geboren. Er schämte sich auch während seiner größten Erfolge dieses bescheidenen Ursprungs nicht, der seiner ohnehin abenteuerlichen Geschichte einen geradezu märchenhaften Zug verlieh, und erzählte gerne davon, ein Martini-Glas in der einen Hand, einen Cocktailspieß in der anderen.

Er wuchs in der Lower East Side von Manhattan in einem kleinen Appartement voll Bergen fremder Wäsche, Bügelbrettern und Schneiderpuppen auf, hörte Geschichten über seinen Vater, den der Dienst für das amerikanische Volk und immer tollkühnere Heldentaten auf zunehmend exotischeren Schlachtfeldern daran hinderten, zu ihm und seiner Mutter zurückzukehren, und wurde auf Botengänge ausgeschickt in die vornehmsten Wohnhäuser der Upper East Side, wo er geänderte Anzüge und Kleider ablieferte. Die Einblicke in eine fremde Welt, die sich ihm dabei ergaben, lösten in ihm eine Art Heimweh aus, wie er allerdings erst im Rückblick erkannte, als ihm dieses Gefühl auch in seiner eigentlichen Form vertraut geworden war.

Der kleine Junge, der einem Herrn, der zur gestreiften Unterhose ein Smokinghemd mit Fliege und Socken an dünnen Strapsen trug, im letzten Augenblick den an Bund und Rücken ausgelassenen Anzug geliefert hatte und jetzt in der Küche, die so groß wie das ganze Appartement seiner Mutter war, auf das Ergebnis der Anprobe und die Bezahlung wartete, verfolgte die hektischen Vorbereitungen, die für eine festliche Abendgesellschaft getroffen wurden, mit Staunen, aber auch Wissbegierde. Er versuchte, dem hin und her eilenden, zum Teil extra für diesen Anlass angeheuerten Personal aus dem Weg zu gehen und möglichst viele der appetitlichen Häppchen von den silbernen Tabletts zu stibitzen, mit denen Anrichten und Tische bedeckt waren, gleichzeitig hatte er ein Auge für die Kristallskulpturen, Porzellanvasen und Ölbilder von Pferden und nackten Frauen, mit denen Vorraum und Flur der herrschaftlichen Wohnung geschmückt waren, und ein Ohr für die Beschwerden der Bediensteten und die ungehaltenen Kommandos der Gastgeberin, denn er war bemüht, so viel wie möglich zu lernen. Er wusste, was er seinem Vater, der angeblich aus ähnlichen Kreisen stammte, schuldig war, und wollte ihn bei seiner Rückkehr nicht enttäuschen. Als er seiner Mutter später von seinen Beobachtungen berichtete, bestätigte sie, was er instinktiv geahnt hatte, nämlich, dass sein Vater ebenfalls plissierte Hemden besaß und zu bestimmten Anlässen sogar Sockenhalter trug, letzteres eine Eigenheit, die einem auf Bills Schule nur Hohn, Spott und erbarmungslose Prügel eingebracht hätte. Jetzt, da er wusste, dass sich sein Vater ihrer gelegentlich bediente, wenn er nicht gerade in Uniform Nazis, Japsen oder Kommis jagte, wollte Bill aber jedem, der es wagte, sich über solch ein elegantes Accessoire lustig zu machen, die Nase polieren.

Kaum hatte er von der Verwandtschaft seines Vaters mit jenem vornehmen Herrn im Smoking erfahren, drückte ihn sein Gewissen wegen einiger silberner Dessertlöffel, die er im Vorbeigehen aus einem Körbchen gefischt hatte. Zu gerne hätte er sie zurückgebracht und sich als der Sohn seines Vaters zu erkennen gegeben. Er war sich sicher, die bis dahin so herablassende Dame des Hauses und ihr viel beschäftigter Mann hätten ihm nach dieser doppelten Offenbarung lachend verziehen, denn er war ja jetzt einer der ihren. Ein dummer Irrtum, hätte er erklärt. Er sei sich seiner tatsächlichen Herkunft noch nicht bewusst gewesen, werde sich aber selbstverständlich von nun an ihr entsprechend und standesgemäß benehmen. Er hätte einen der Löffel als Andenken behalten dürfen und diesen als Talisman in jeder neuen Wohnung, in jedem neuen Haus mit einem verträumten Lächeln und einem dünnen Faden an der Wand befestigt. Und sie hätten ihm eine Schachtel voll übrig gebliebener Carré Four mitgegeben für seine Mutter als Dank dafür, dass sie so liebevoll auf ihn aufpasste. Aber er traute sich nicht, und als er seiner Mutter gestand, was er inzwischen für einen komisches Missverständnis hielt, bekam er von ihr eine Ohrfeige zur Strafe, mit der sie ein weiteres Mal demonstrierte, dass sie leider überhaupt nichts verstand und mit dem geheimen Ehrenkodex seiner eigentlichen Welt nicht wirklich vertraut war.

Sein Vater war ein Kriegsheld: als einer der ersten an Land gegangen, hinter den feindlichen Linien abgesprungen, in einem Rettungsboot auf ein einsames Atoll gespült. Obwohl Sprössling eines der vornehmsten Häuser Bostons hatte er, gerade was die Frauen anging, immer demokratische Gesinnung bewiesen und auch nicht davor zurückgeschreckt, seiner Geliebten mit Fäusten Respekt zu verschaffen, sollte jemand die Nase rümpfen, weil es sich bei ihr um eine einfache Arbeiterin handelte. Nur seinen Eltern gegenüber war er machtlos, die seine Liebe zu Nancy eine Mésalliance nannten und nichts von seiner Verlobten wissen wollten. Trotzdem hatte er an dem Plan festgehalten, sie zu heiraten, sobald der ewige Krieg vorbei war und sein Herz nicht mehr von Sorge um Amerika bedrückt wurde, und war, ohne von dem Kind zu ahnen, das ihn bei seiner Rückkehr erwarten würde, wieder in den Kampf gezogen. Japan hatte sich ihm inzwischen ergeben wie zuvor schon das Nazi-Reich, und die Russen zitterten längst beim bloßen Gedanken an ihn, aber zu Hause mussten sie weiter auf ihn warten, und irgendwann galt er als vermisst. Tief in ihrem Herzen wusste Nancy, dass dies nur eine Finte war zu seinem und ihrem Schutz und dass er, sobald seine patriotische Pflicht endgültig erledigt wäre, wunderbarerweise heimkehren würde, und sie war fest entschlossen, das Ihre zu tun und tapfer auszuharren. Wenn es sein musste, für immer! Sie seufzte, wenn sie dies alles erzählte, blickte trauerumflort von der Nähmaschine auf und betrachtete ihren Sohn wie jemanden, der schon mehr erfahren hat, als gut für ihn war. Und auch diesem kamen bei solchen Gelegenheiten die Tränen.

Sie war eine hübsche Frau, das wusste Bill schon früh zu beurteilen. Sie hatte schwarzes Haar und dunkle, seelenvolle Augen. Sie hatte sich mit dem eigenen Schicksal abgefunden, was aber nicht hieß, dass sie auch der Zukunft ihres Sohns resigniert entgegensah. Im Gegenteil! Oft war daher eine seltsame Befangenheit in ihrem Verhalten ihm gegenüber zu spüren, als wäre er gar nicht ihr leibliches Kind, sondern ihr wie einer Amme nur vorübergehend zur Aufzucht überlassen, bis er sein Potenzial endlich ausschöpfen und fern von ihr sein wirkliches Leben beginnen würde. Seine Garderobe genügte dabei von Anfang an höchsten Ansprüchen und bestand zumeist aus Teilen, die den Kindern ihrer vermögenden Kundschaft zu klein geworden waren. Manches fertigte sie auch eigens für ihn. Nie würde er zum Beispiel den dunkelblauen Samtanzug vergessen, den sie anlässlich eines Kostümballs für ihn genäht hatte, den er hinterher aber auch bei ihren sonntäglichen Ausflügen in den Central Park tragen durfte, wo sie beide dann vollends wirkten wie der Sohn aus gutem Haus in Begleitung seiner Gouvernante.

Jeden Samstag gingen sie zusammen ins Kino und schauten sich meist ein Melodram an, manchmal aber auch einen Gangsterfilm, denn Nancy meinte, so etwas verschaffe Einblick in den Lauf der Welt und beuge leichtfertiger Naivität vor. Bill selbst bevorzugte Western und genoss sie heimlich in Begleitung von Freunden und hatte ein schlechtes Gewissen deshalb, denn er wusste, sie waren eigentlich unter seinem Niveau. Er kopierte einige Gesten der Cowboys, spuckte mit fies herabgezogenem Mundwinkel bedrohliche Phrasen aus und zog den Hut, den er beim sonntäglichen Spaziergang tragen durfte, tief ins Gesicht, aber anstatt wie sonst über seine Scherze zu lachen, schimpfte ihn seine Mutter mit einer Wut, die er an ihr nicht kannte.

„Das gehört sich nicht“, behauptete sie. „Das ist alles Gesindel.“ Und sie meinte nicht die Bösewichter, die er imitierte.

Aber er ließ nicht locker! Ein Freund - Bill bewunderte ihn besonders wegen seiner langen, lockigen Haare und der Tatsache, dass ihn seine Eltern gelegentlich mit dem Auto zur Schule brachten - berichtete von seinen Auftritten als Komparse in einem Theater am Broadway und ließ sich durch Betteln und Schmeicheleien dazu erweichen, auch Bill Zugang zu verschaffen zu dem kleinen, ruhelosen Herrn, der all die Gestalten bereitstellen musste, die gelegentlich auf der Bühne zu sehen waren, ohne dass sie etwas zu sagen oder Wichtiges zu tun hatten. Bill wurde für die nächste Produktion ausgewählt und war außer sich vor Freude. Seine Mutter wollte es ihm verbieten und willigte erst ein, als sie erfuhr, wie wenig Geld er dafür bekommen würde. Eine Liebhaberei, wie sie auch einem Gentleman gut zu Gesicht stand! An drei Abenden die Woche gab er also den Jungen in Knickerbockers, der mit einem Stock einen Reifen über den hinteren Teil der Bühne trieb, bis ihn das Kommando einer Frau in Rosa ereilte, an deren Seite er nun noch einige Zeit auf einer Gartenbank zu sitzen hatte. Nancy, die der Generalprobe beiwohnen durfte, war hingerissen. „Vielleicht bist du ja wirklich ein kleiner russischer Adliger!“, rief sie glücklich aus, während er das Eis verschlang das sie ihm auf dem Weg nach Hause zur Belohnung gekauft hatte.

Die Schule war eine Zumutung. Allenfalls Erdkunde, wo er sich über die Länder, in denen sein Vater gekämpft hatte, und andere Orte, die Ruhm oder wenigstens Reichtum versprachen, informieren konnte, so wie Sport interessierten ihn. Er übte jeden Morgen eine halbe Stunde mit Hanteln und Expandern und lernte je eine Viertelstunde spanische und malaysische Vokabeln, um sich auf seine Arbeit als Abenteurer vorzubereiten. Und er brachte es zu einer gewissen Fingerfertigkeit im Umgang mit Spielkarten, denn jeden Freitagabend trafen sich er und ein paar Jungs aus der Nachbarschaft in einem Heizungskeller, zu dem ihnen der Sohn der Hausmeisters Zugang verschaffte. Dort spielten sie die ganze Nacht hindurch, bis sie im Morgengrauen benommen die Treppe hoch wankten. Es ging um Pennys; und trotzdem kam es immer wieder vor, dass einer von ihnen seinen ganzen Besitz inklusive Taschenmesser, selbstgebastelter Raumschiffpistole und zerfledderten Comic-Heften verlor. Das Bier, die paar Tüten Kartoffelchips, die Zigaretten reichten für zwei, drei Stunden; und dann gab es nur noch den wackeligen Tisch, die fünf oder sechs Gesichter und die Karten. Sie sprachen immer weniger, rieben sich den Schlaf aus den Augen, gelegentlich schleppte sich einer nach oben, um gegen die Mülltonnen zu pinkeln, manchmal nickte einer kurz ein und ließ den Kopf auf die Brust sinken, aber es war wie ein Zauber: Keiner der Jungen ging vor dem Morgengrauen; und nichts konnte sie daran hindern, sich am nächsten Freitag wieder in dem Heizungskeller einzufinden. Nie empfand Bill den Morgen intensiver, als wenn er nach einer solchen Nacht an die frische Luft trat. Der graue Himmel barg ein Geheimnis; die Steine der Stadt waren ein Versprechen.

Er bekam eine kleine Rolle in einer Komödie, die sich mit den amourösen Problemen witzigen Werbegesindels beschäftigte. Die Schauspielerinnen in der Garderobe behandelten ihn wie ihr Maskottchen. Sie bemutterten ihn einerseits, andererseits machten sie ihn zum Objekt anzüglicher Scherze, denn sie spürten bereits etwas von der Attraktivität, die er später auf Ihresgleichen ausüben sollte. Ein echter Herzensbrecher wachse da heran, versicherten sie einander kichernd und richteten ihre Strümpfe. „In ein paar Jahren werden sich die Frauen prügeln um ein Wochenende mit ihm in Havanna“, behauptete eine große Brünette, die nicht nur in dem Theaterstück die eifersüchtige Intrigantin spielte. Er nickte zustimmend und schlug den Kragen seines Hemds hoch, wie er es sich seit ein paar Wochen angewöhnt hatte.

„Und du wirst die erste sein, die ich dorthin einlade, Betty“, versprach er ihr. „In meinem Herzen wird immer ein Platz für dich reserviert sein.”

Sie lachten und klatschten sich auf die nackten Schenkel. Sie bewegten sich in seiner Gegenwart ganz ungeniert in Unterwäsche, hatten das Gesicht voll Fettcreme und das Haar voller Nadeln; und er empfand dies als Herablassung ihm gegenüber und nicht als Privileg, das er nur mit dem Friseur und dem schwulen Bühnenassistenten teilte, und er nahm es ihnen übel, auch wenn er sich bei ihnen deutlich wohler fühlte als bei den Männer, die sich in seiner Gegenwart über Baseball und Autos unterhielten, ansonsten aber hinter vorgehaltener Hand tuschelten. Nur manchmal erzählten sie ihm schweinische Witze; und es fiel ihm schwer, über diese zu lachen, und das zum einen, weil er sie nicht immer verstand, und zum anderen, weil er sie instinktiv als ungehörig den Frauen gegenüber empfand.

Ein paar Monate später verliebte er sich in ein Mädchen mit Faltenrock und Perlenkette, das er manchmal im Park sah, wo es zwei Hunde ausführte, langbeinige, hochnäsige Geschöpfe wie sie, und er verzagte trotz seiner schon mehrfach erwiesenen Unverfrorenheit vor der Aufgabe, sie anzusprechen und zu einem Eis aus einem der bunten Karren einzuladen. Er war ihr, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, bis zu ihrem Haus in einer der Querstraßen, die auf den Park zuliefen, gefolgt, hatte beobachtet, wie sie in der ganz in Marmor gehaltenen Eingangshalle verschwand, und war dann vor dem grimmigen Blick des Portiers geflohen. Von nun an kam er jeden Tag gleich nach der Schule hierher und wartete, und das oft umsonst. Zweimal noch folgte er ihr und den Afghanen durch den Park. Beim dritten Mal, zehn Tage, nachdem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, fasste er sich ein Herz, trat mit dem Mut, mit dem andere sich von einer Brücke stürzen, an sie heran, und fragte sie, obwohl es ein wenig regnete, mit belegter, kaum verständlicher Stimme, ob er sie auf eine Erfrischung einladen dürfe. Sie wandte sich ihm zu, musterte ihn wie einen Idioten und wölbte die schmalen, bereits gezupften Brauen.

„Ich glaube nicht“, sagte sie und setzte im Gefolge der tänzelnden Hunde ihren Weg fort. Er hätte sich am liebsten vor Scham tief unter der Erde verkrochen, weit unter der Subway noch, mit der er immer zum Park fuhr, und hasste nicht sie, sondern sich selbst und sein Leben inkognito, im Wartestand. Dieses wurde ihm unerträglich. Er schenkte Betty Blumen zu ihrem Geburtstag und eine Schachtel Pralinen; und das Lachen, mit der sie und die anderen Frauen dieses Geschenk kommentierten, klang ihm wie Hohn. Zu seinem 15. Geburtstag wünschte er sich ein Paar schwarz-weißer Schuhe und bekam es auch, nur hatte seine Mutter es vorsichtshalber zwei Nummern zu groß gekauft. Kaum hatte er dies bei der ersten Anprobe entdeckt, packte er die Schuhe, stopfte sie in den Mülleimer und rannte hinaus.

Er hatte das Meiste von seiner kleinen Gage gespart. Er schob einen Arm tief zwischen die Stapel frisch gemangelter, mit verschiedenen Monogrammen versehener Laken in dem riesigen Schrank, der fast das ganze Schlafzimmer einnahm, förderte von dort den Schatz seiner Mutter, eine Tüte voll zumeist kleiner Scheine, zutage und steckte ihn ein. Er kehrte in die Wohnküche zurück, wo er bisher auf der Couch geschlafen hatte, und packte den einzigen Koffer. Das blütenweiße, noch ungetragene Hochzeitskleid, das samt Schleier in diesem gelegen war, hängte er auf einem Bügel an den Küchenschrank und befestigte mit einer Stecknadel ein Blatt aus einem seiner Schulhefte daran, auf das er Vielen Dank für alles! geschrieben hatte. Er fuhr zur Central Station, wo er überrascht feststellte, dass Havanna keine Stadt im Süden der Vereinigten Staaten war, kein exotischer Felsvorsprung der biederen Kontinentalmasse, sondern auf einer eigenen Insel in der Karibik lag.

„Umso besser!“, erklärte er dem Schalterbeamten, der zögerte, ihm das Ticket nach Florida auszuhändigen, und mit der Versicherung beruhigt wurde, dass Bill nicht selber fahren werde. „Leider! Aber Schule ist nun einmal Schule, nicht wahr? Ich helfe nur meinem Onkel aus Omaha, für den schon Manhattan so fremd ist wie für uns Havanna.” Er lachte, stellte sich auf die Zehenspitzen und deutete auf einen Kiosk. „Er sucht da drüben noch nach einem Reiseführer. Den hätte er ohne mich schon für Manhattan gebraucht!”

Er hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was ihn erwartete. Er hatte von Kasinos und Musik gehört, vor allem aber von den Frauen. Schon jetzt, da er kaum über den Anflug eines Oberlippenbarts verfügte, ließ er erkennen, dass er Frauen vergötterte und für den Inhalt eines echten Männerlebens hielt. Er lächelte ihnen auf der Straße entgegen, hielt ihnen die Tür auf und stellte ihnen seinen Sitzplatz in der überfüllten U-Bahn zur Verfügung. Eine Insel voll schöner Frauen musste das Paradies auf Erden sein, da war er sich sicher. Er machte es sich im Aussichtswagen des Snow Birds bequem, der Kurs auf Key West nahm, und ließ sich vom monotonen Rattern der Räder, das noch nichts von den synkopierten Rhythmen der Karibik verriet, in den Schlaf lullen. Als er erwachte und sich auf die Suche nach etwas zu essen machte, geriet er an eine Gruppe lautstarker Studenten, welche die Frühlingsferien für einen Ausflug nach Kuba nutzten. Seit sie in Boston in den Zug gestiegen waren, tranken sie und spielten Karten. Sie schüttelten verwundert die Köpfe, als sie erfuhren, dass er alleine unterwegs war, und noch belustigter zeigten sie sich, als er sie fragte, ob er in ihre Poker-Partie einsteigen dürfe. Er zügelte sich, um nicht für Ärger zu sorgen, besserte seine Reisekasse gleichwohl deutlich auf; und sie nannten ihn bald einen Glückspilz und einen tollen Kerl, legten die Arme um seine Schultern und sangen im Chor beliebte Broadway-Hits. Als sie sich endlich in den Schlafwagen zurückzogen, machte er es sich wieder auf seinem Sitzplatz bequem. Am nächsten Tag nahmen sie ihn in dem Taxi mit, das sie vom Bahnhof zur Fähre bringen sollte, und wiesen ihn als Erste darauf hin, dass er für die Weiterreise einen Pass brauchen würde. Er ließ sich durch seinen Mangel an Ausweisen und offiziellen Dokumenten nicht bekümmern, was die Studenten mit Verwunderung zu Kenntnis nahmen und erheitert seiner Jugend und seiner fehlenden Vertrautheit mit dem Lauf der Welt zuschrieben. Die US-Beamten vom Zoll, bei denen er sich über seine Eltern beschwerte, die ihn auf dem Parkplatz vergessen hätten, winkten ihn rasch durch und wünschten ihm viel Vergnügen. Für ihre kubanischen Kollegen würde es grünes Papier anstelle des blauen Kartons tun.

Er betrachtete die chromblitzenden Karossen, die auf die Fähre rollten, ohne Neid, wusste er doch, er würde, sobald die Zeit reif war, auch eine solche besitzen. Er hatte zum Meer das gleiche Vertrauen wie zum brüchigen Pflaster New Yorks. Er stand im Bug, lächelte und genoss den Anblick der im Licht der untergehenden Sonne schillernden Wellen. Einer der Studenten, der mit seinem Vater jedes Jahr zum Hochseefischen hierher kam, hatte ihm von den Haien und vom Marlin erzählt, die unter der kostbaren Oberfläche hausten; und Bill hatte interessiert zugehört, aber immer unter dem Vorbehalt, dass man sich von so etwas nicht erschrecken lassen sollte, so lange man nicht selbst über Bord gegangen war. Später, als sie in ein Gewitter gerieten und das Schiff schwerfällig der Insel entgegen stampfte, stand er noch immer in seinem dünnen, mittlerweile ganz durchnässten Hemd an der Reling und beobachtete die Seekranken, die in der Dunkelheit vergebens den unsichtbaren Horizont zu fixieren versuchten.

Die Studenten setzten Bill auf dem Malecon ab, Havannas legendärer Uferpromenade. Als er seinen schäbigen Pappkoffer vom Dach des Taxis zerrte, hörte er die drei gedämpft debattieren. Einer war der Ansicht, man dürfe Bill, der eindeutig nicht wisse, was ihn erwarte, nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Die anderen erinnerten daran, dass man nicht so weit gereist sei, um Kindermädchen zu spielen. Bill klopfte an das Fenster und versicherte seinen Landsleuten lachend, dass sie sich um ihn keine Sorgen zu machen bräuchten.

Als das Taxi verschwunden war, setzte er sich erst einmal auf die hüfthohe Mauer, welche die vierspurige Straße mit ihrem breiten Gehweg zum Strand hin abschloss. Links und rechts saßen und standen Liebespaare, Männer in weißen Anzügen und verwaschenen Ringelhemden, Frauen in rosa Rüschen und blauem Kaliko, und genossen den erfrischenden Wind und die Gischt, die dieser immer wieder bis hoch zu ihnen wehte. Sie küssten sich, blickten einander in die Augen, flüsterten und lachten. Bill lächelte freundlich und wandte sich dem Autoverkehr zu, der, wie er schnell feststellte, eine noch höhere Cadillac-Dichte aufwies als der in Manhattan. Er drehte sich um und betrachtete das Meer. Am Horizont ballten sich erneut Wolken zusammen, darunter zogen Schiffe vorbei. Auf der einen Seite der Bucht ragte die alte Festung der Spanier empor, auf der anderen waren gerade noch die Schornsteine der amerikanischen Raffinerie zu erkennen, dazwischen breitete sich die Stadt mit ihren pastellfarbenen, drei und vierstöckigen Gebäuden im Kolonialstil aus. Kleine Motorräder lärmten und verstießen überhaupt gegen alle Gebote der Vor- und Rücksicht. Busse, aus deren offenen Türen Menschentrauben hingen, hinterließen schwarze Rauchschwaden, die sich in der schwülen Luft nur zögerlich auflösten. Aus dem Wipfel einer der Kohlpalmen, die sich entlang der Straße mit den gusseisernen Laternen abwechselten, sprang eine Ratte, landete zwischen den Passanten, die sich nicht weiter um sie kümmerten, schlüpfte durch einen Regenabfluss und erreichte den Strand, der hier sehr schmal war und auf der einen Seite vom Fundament des Malecon begrenzt wurde, auf der anderen von Felsbrocken, zwischen denen angeschwemmte Kisten, Tonnen, Netze und Tang-Haufen lagen.

Bill bekam Hunger, rutschte von der Mauer und wagte sich mit seinem Koffer in der Hand in eine der Straßen, die weiter in die Stadt hinein führen mussten. Zwei Männer kamen ihm entgegen und boten an Stangen aufgereihte Lose für die nächste Lotterie feil. Schuhputzer, teilweise deutlich jünger als er selbst, schoben sich mit ihren Holzkisten und Schemeln zwischen den Fußgängern hindurch und hatten den Blick auf den Boden und die Füße der gemächlichen Flaneure und eiligen Geschäftsleute geheftet. Ein fliegender Händler hatte seinen Karren am Straßenrand geparkt und verkaufte geschabtes Eis mit Sirup. Bill entdeckte einen Laden, in dem es Fruchtsäfte und gegrillte Sandwichs gab. Er bestellte automatisch auf Englisch und wollte mit Dollar bezahlen und hatte auch Erfolg damit, wurde aber belehrt, dass er sich eigentlich in einem anderen Land befinde, auch wenn dies viele seiner Landsleute nicht wahrhaben wollten. Er gab sich reumütig und führte einige der spanischen Phrasen vor, die er in der Schule gelernt hatte. Der dunkelhäutige Verkäufer war begeistert und entblößte ein Gebiss, das unvollständig war, aber strahlend weiß wie sein Hemd.

Bill gelangte an einen großen Brunnen, setzte sich auf eine der Stufen, die zu dem Becken hoch führten, packte sein Sandwich aus, biss hinein und merkte auf einmal, wie müde er war.

„Neu hier?“, fragte ihn jemand.

Bill zuckte zusammen und drehte sich um. Der junge Mann, der schräg hinter ihm ebenfalls auf einer der Stufen saß, war nicht viel, aber entscheidend älter als er. Er trug einen grauen Sommeranzug und hatte eine zusammengefaltete Zeitung untergelegt, damit dieser nicht schmutzig wurde. Eine dunkle Haartolle hing ihm ins Gesicht. Bill nickte.

„Das Pappding da verrät dich, was nicht ganz ungefährlich ist, wenn du hier in die falsche Gasse gerätst.“ Der junge Mann grinste und wies mit dem Kinn auf den Koffer, den Bill neben sich abgestellt hatte.

„Ich bin gerade aus New York angekommen. Was ist mit dir? Du schaust auch nicht wie ein Einheimischer aus.“

„Paris!“

„Eine schöne Stadt, heißt es.“

„Von New York erzählt man sich dasselbe.“

„Zugegeben, Manhattan hat seinen Reiz. Aber keine Champs Élysées!“

„Dafür den Broadway!“

„Aber kein Moulin Rouge!“

„Dafür den Times Square!“

„Kein Montmatre!“

„Dafür Greenwich Village!“

„Ich sehe, wir verstehen uns.“

„Durchaus!“

Sie standen auf, gaben sich die Hand und stellten sich einander vor.

„Was führt dich hierher?“, fragte Pierre, der die Zeitung aufhob und sie eine Stufe hinab trug, um sich neben seinen neuen Freund zu setzen.

„Mein altes Leben hat mich gelangweilt.“

„Wenn du ein neues suchst, bist du genau am richtigen Ort gelandet.“

„Freut mich, zu hören!“

„Zuerst einmal wirst du eine Unterkunft brauchen, oder?“

„Stimmt!“

„Etwas Preiswertes für den Anfang?“ Pierre wölbte eine Braue. Er wollte Bill mit dieser Unterstellung keinesfalls zu nahe treten.

„Das käme gelegen.“

„Auch ich ziehe es vor, mein Geld für anderes auszugeben als ein Bett, das ich eh nur selten benutze.“ Pierre zwinkerte; Bill gab sich wissend. „Bei uns im Haus ist zufällig ein Zimmer frei geworden. Wenn du willst, zeige ich es dir.“

„Gerne!“ Bill schob sich das letzte Stück Sandwich in den Mund, wischte die Hände an der Hose ab und stand auf. Noch bevor er seinen Koffer nehmen konnte, hatte sich Pierre dessen bemächtigt und ging mit dem überraschend leichten Gepäckstück voraus in eine der dunklen Gassen, die auf dem Platz mit dem Brunnen mündeten.

„Du sprichst ausgezeichnet Englisch.“ Bill hatte Mühe, Pierre zu folgen. Sein Hemd war bereits durchgeschwitzt.

„Danke! Ich habe viel Gelegenheit zum Üben. Sprichst du Englisch, bis du in Havanna ein gemachter Mann.“

„Das sollte mir zu Gute kommen.“ Bill lachte. „Lebst du schon lange hier?“

„Ja. Meine Eltern sind russische Juden. Sie sind erst vor den Kommunisten nach Frankreich und dann vor den Deutschen nach Kuba geflohen.“

„Eine bewegte Vergangenheit! Aber wo hast du dabei Englisch gelernt?“

„Ich arbeite als Croupier im Kasino.“

„Ein schöner Beruf! Gehilfe des Schicksals sozusagen!“

„Eher Handlanger des Hauses! Aber ich beschwere mich nicht!“

Bald darauf standen sie vor einem alten Gebäude, das früher vielleicht einem reichen Kaufmann gehört hatte, das inzwischen aber stark heruntergekommen war. Im Sockelgeschoss, das aus großen Steinquadern gefügt war, hatte es halb unterirdisch einmal Läden und Werkstätten gegeben, deren Tür- und Fensteröffnungen inzwischen mit Brettern vernagelt waren. In der Mitte öffnete sich eine große Einfahrt, von deren Tor nur noch rostige Angeln übrig waren. Im Hof führte eine breite Treppe in den ersten Stock, in dessen hohen Räumen zum Teil Hühner und Ziegen untergebracht waren. Ein Zimmer wurde von einem älteren Männerpaar bewohnt, das höchstens einmal durch einen gedämpften Streit auffiel, ein anderes von einer jungen Prostituierten, die es bislang geschafft hatte, ihrem Geschäft auf sich alleine gestellt nachzugehen. Die meisten anderen Wohnung lagen im zweiten Stock des Gebäudes, darunter die eines Setzers, der eine kleine, runde Nickelbrille trug und darunter litt, dass er statt aufrührerischer Pamphlete meist nur Visitenkarten und Einladungen für die Bourgeoisie drucken durfte. Er war Pierres Vermieter und wusste von einem Zimmer bei den Nachbarn, einem Ehepaar aus dem Oriente. Pierre stellte den Neuankömmling vor und dolmetschte zwischen ihm und seinen künftigen Mitbewohnern. Trotz seines nur rudimentären Spanisch verstand sich Bill ausgezeichnet mit allen und wusste bald, was guaguas waren und was bayús. Bevor Pierre sich auf den Weg ins Casino machte, prophezeite er seinem neuen Freund noch, dass er nach vier Wochen reden werde wie ein Kubaner, und sollte Recht damit behalten. Bill richtete sich in seinem Zimmer ein, benutzte es aber fast nur zum Schlafen und trieb sich die übrige Zeit auf den Straßen und Märkten herum und redete mit den Menschen oder setzte sich in eines der Cafés und versuchte, die Nachrichten in den Zeitungen zu entschlüsseln. Die vier Wochen waren noch nicht vorbei, da war sein Spanisch bereits gut genug, um sich damit auf Vermittlung Pierres im Casino für einen Job zu bewerben.

„Glaubst du dich dieser Aufgabe gewachsen?“ Sr. Pérez, Assistent der Casino-Leitung, sprach fast akzentfreies Englisch und musterte Bill voll Misstrauen.

„Selbstverständlich! Nichts könnte mich mit größerem Stolz erfüllen, als in Ihrem herrlichen Kasino arbeiten zu dürfen. Auch will ich gar nichts anderes, als mit einer bescheidenen Aufgabe zu beginnen, behalte mir gleichwohl vor, Sie durch Leistung von meinen Qualitäten zu überzeugen und mich zu verantwortungsvolleren Posten hochzuarbeiten.“

„Nun, man wird sehen. Für den Anfang trägst du mehr Verantwortung, als mir lieb ist. Aber es gibt nun einmal nicht viele wie dich in Havanna! Wir werden es mit dir versuchen.“

Bill verbeugte sich und wurde in den Keller geschickt, wo man ihm eine Livree aushändigte, die ihm zwar etwas zu klein war, aber trotzdem ausgezeichnet stand und mit ihren Tressen und Schulterstücken ein militärisches Aussehen verlieh, das durchaus angemessen war bei jemandem wie ihm, der restlos erfüllt war vom Verlangen, seiner neuen Rolle gerecht zu werden. Man hatte ihm die Betreuung grauer und grüner Witwen aus seiner Heimat überantwortet, die ohne Begleitung zögerten, sich dem abendlichen Glücksspiel hinzugeben. Es handelte sich zumeist um übergewichtige Matronen in ärmellosen Seidenkleidern, deren Männer entweder von ihren Geschäften in Anspruch genommen wurden oder bereits verstorben waren, aber es gab auch ein paar allein reisende Sekretärinnen, die mit zunehmendem Alter immer verwegener wurden und Hüte trugen, klein und hässlich, als hätte der Wind sie ihnen aus dem Rinnstein auf den Kopf geblasen, und Blondinen, die mit ein wenig Taschengeld ausgestattet sich selbst überlassen worden waren, weil ihre Begleiter in dieser so abwechslungsreichen und erfrischend vorbehaltlosen Stadt ungestört eigenen, speziellen Vergnügungen nachgehen wollten. Ihnen allen stand Bill als Kavalier zur Seite und überredete sie mit jugendlicher Herzlichkeit, ihr Geld in Spielen zu riskieren, deren Regeln sie oft nicht einmal ansatzweise verstanden.

„Sehen Sie, es ist ganz einfach“, erklärte er einer Mrs. Dreiser aus Cleveland, deren Mann Spirituosen importierte und in der Nähe von Santiago Rum-Destillerien besichtigte. „Sie kaufen ein paar Chips - ich erledige das gerne für Sie -, und Sie legen sie auf eine Farbe Ihrer Wahl.“

„Junger Mann, ich habe so etwas noch nie gemacht und fürchte, man will mich betrügen.“

„Aber ich bitte Sie, nennen Sie mich doch Bill!“ Er berührte sie leicht am Oberarm. „Und selbstverständlich können Sie gar nicht verlieren, denn bei jedem Treffer erhalten Sie mindestens den doppelten Einsatz zurück, was Sie für alle eventuellen Verluste entschädigen sollte. Außerdem ist es ein Vergnügen, für das man gerne ein wenig zahlt! Eine Fahrt in der Achterbahn! Ein aufregender Film!“ Er lächelte treuherzig. In seiner Uniform wirkte er wie eine Märchengestalt, die von nichts Bösem wusste.

„Sie sind schon in sehr jungen Jahren ein Charmeur, dem nur schwer zu widerstehen ist, mein lieber Bill. Nicht auszudenken, zu welch Taten sich die Frauen hinreißen lassen werden, wenn Sie ein wenig älter sind!“ Mrs. Dreiser seufzte. „Nun gut, ich will es riskieren. Aber Sie dürfen nicht von meiner Seite weichen!“

„Ich könnte mich niemals von einer faszinierenden Dame wie Ihnen auch nur für eine Sekunde entfernen!“ Bill blinkte treuherzig mit den blauen Augen und widerlegte diese Behauptung augenblicklich, indem er verschwand, um Chips zu besorgen und ein Glas Champagner, das Mrs. Dreiser helfen würde, mögliche Skrupel zu überwinden. Eine Stunde später rief er: „Aber Mrs. Dreiser, Sie dürfen nicht gehen, bevor wir uns nicht wenigstens Ihr Geld zurückgeholt haben! Sie haben ja gar nicht viel verloren. Setzen Sie einfach etwas mehr! Zwei-, dreimal die richtige Zahl und wir sind saniert! Stellen Sie sich vor, Sie können Ihrem Mann morgen erzählen, Sie hätten 5000 Dollar gewonnen!“

„Meinetwegen, versuchen wir’s. Nach so viel Pech müssen wir ja endlich einmal Glück haben.“

Und wieder eine Stunde später erinnerte er Mrs. Dreiser an ihren Ehemann, der zu Jähzorn neigte und sich wegen seines Herzens eigentlich schonen sollte:

„Was wollen Sie ihm sagen? Unsere Situation ist verzweifelt, also greifen wir zu verzweifelten Mitteln: Geben Sie mir Ihre Halskette! Wir setzen sie auf Ihre Glückszahl.“

Und dann, als Mrs. Dreiser schon längst mit den Tränen rang, verbeugte er sich zum Abschied tief.

„Vielen Dank für einen bemerkenswerten Abend! Ich muss mich jetzt leider zurückziehen, denn ich bin nicht zur Erholung hier und muss mich schon morgen früh wieder zum Dienst melden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Aufenthalt in unserer wunderbaren Stadt. Sollte Ihnen an einem der nächsten Tage erneut der Sinn nach meiner Gesellschaft stehen, zögern Sie bitte nicht, bei der Kasino-Leitung nach mir zu fragen!“

Manche der weiblichen Hotelgäste fanden trotz der Verluste im Kasino, zu denen er sie animierte, großes Gefallen an dem jungen, adretten Pagen und luden ihn mal mehr, mal weniger unverhohlen ein, sie in ihrer Suite zu besuchen und zu trösten, aber er achtete instinktiv darauf, eine gewisse Distanz zu seinen Opfern zu wahren und freundete sich stattdessen mit Bela an, der jungen Prostituierten, die im selben Haus wohnte wie er und ihn gegen entsprechende Englisch-Lektionen in allen Varianten der Liebe unterwies. Sie war eine große, schlanke Mulattin mit einer kleinen, schiefen Nase. Sie genoss die Treffen mit Bill genauso wie dieser und behauptete überhaupt, ihrem Beruf zum Spaß nachzugehen und nicht aus Not. Sie pflegte ihren Körper mit Hingabe und blockierte jeden Nachmittag für eine Stunde das Etagenbad, weil sie sich wusch und salbte und puderte. Sie war kein Außenseiter, der aus der Hausgemeinschaft ausgeschlossen blieb. Im Gegenteil, Sra. Martínez, die für die Damen aus dem Quartier Näharbeiten erledigte, überließ ihr ihre Singer, wenn sie sie nicht gerade selbst brauchte, damit Bela sich damit freche Kleider anfertigen konnte, und so kam es, dass Bill oft um fünf Uhr morgens, wenn er aus dem Kasino zurückkehrte, die Maschine rattern und Bela mit leiser, klarer Stimme singen hörte. Meist war er zu müde, aber manchmal blieb er stehen, klopfte an die Tür und unterhielt sich noch ein bisschen mit ihr.

„Kannst bei mir bleiben“, schlug sie bei einer solchen Gelegenheit vor. „Gratis!“ Sie sah von der Nähmaschine auf und lächelte zu Bill hinüber, der sich auf dem zweiten Stuhl ihres recht großen, penibel aufgeräumten Zimmers niedergelassen hatte. Es verfügte über kein Fenster, sondern nur über eine Öffnung zu einem Belüftungsschacht. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke. Anstelle eines Schranks hatte Bela eine Stange an der Wand befestigt, an der ihre Kleider hingen. Bill hatte ihr ein Buch mit Englisch-Lektionen besorgt nicht ahnend, dass sie gar nicht lesen konnte. Sie hatte es trotzdem behalten; und seither lag es gut sichtbar auf einem kleinen Tischchen neben dem Bett.

„Ich bin zu müde. Du kannst dir nicht vorstellen, wie anstrengend diese Frauen sind.“ Bill rieb sich das graue Gesicht und nippte an dem Bier, das er als Schlaftrunk aus dem Kasino mitgebracht hatte.

„Brauchst nichts zu machen. Legst dich hin und wennde willst, geb ich dem Kleinen noch’n Gute-Nacht-Bussi.“ Wieder lachte Bela und entblößte dabei Zähne, um die es nicht zum Besten stand.

„Wann anders!“ Bill schüttelte entschuldigend den Kopf.

„Wer nich will, der hat wohl schon.“ Sie wandte sich wieder der Singer zu und beugte sich weit nach vorne, um im schwachen Licht zu sehen, was sie tat. Sie trug nur Slip und Unterhemd. Die Maschine ratterte kurz, dann schaute Bela wieder zu ihrem Besucher hinüber. „Weißde, wir würden’n ziemlich gutes Paar abgeben, wir beide. Wir versteh’n uns. Du könntest mir die Kunden verschaffen. Americanos, wo gut zahlen! Und ich zeig dir, wie du’s mit den Hühnern machen musst. Ich sag dir, die sin bald verrückt nach dir. Du kannst sie rupfen und ausnehmen und grillen, und wennde mit ihnen fertig bist, schlecken sie dir auch noch deinen fettigen Finger sauber, so dankbar wer’kn die sein, dass du ihnen die nackten Knochen gelassen hast.“

„Ein verlockendes Angebot, Bela, aber ich habe Hoffnung, dass das Kasino mich bald an einen der Black-Jack-Tische lässt. Ich habe Sr. Pérez zeigen dürfen, was ich drauf habe, und ich glaube, er war davon angetan.“

„Kartengeber?“ Bela schüttelte den Kopf. „Das reicht dir? Wenn wir’s richtig angehen, schwimmen wir bald in Geld und haben noch jede Menge Spaß dabei. Du magst doch Spaß, oder?“ Sie sah Bill an, als zweifle sie plötzlich daran.

„Ja, schon!“ Er zuckte mit den Achseln. „Aber mir gefällt die Arbeit im Kasino!“

„Du hältst dich für was Bess’res, stimmt’s?“ Sie schnaubte. „Sogar wenn ihr nur davon lebt, alte, vertrocknete Schreckschrauben zu vögeln, haltet Ihr Americanos euch noch für was Besseres.“

„Ich vögle sie nicht; und sie sind nicht alt und vertrocknet. Und ich halte mich für nichts Besseres.“ Bill lächelte und wusste, im Grunde hatte sie Recht. Er glaubte, zu anderem geboren zu sein als zum Zuhälter einer kariösen Prostituierten, auch wenn er nicht genau wusste, zu was. Das Verhältnis zwischen ihm und Bela kühlte jedenfalls nach diesem Gespräch deutlich ab; und bald beendete sie den gegenseitigen Unterricht mit der Begründung, dass sie ihm nichts mehr beibringen könne.

Du bist dir sicher? fragt sie und hält mir den Schlüssel wie einen Köder hin. Die Hand ist mit den blauen, roten und grünen Ausläufern weiträumiger Yakuza-Tätowierungen geschmückt, für die Symies Dad Wochen brauchte und die an unserem Badetümpel immer wieder für Aufsehen gesorgt hatten, das schwarze Haar hat einen Blaustich wie in den Mangas, die sie nicht gelesen, sondern ausgesaugt hatte wie ein Außerirdischer seine menschliche Beute. Weil, es würd mich echt wundern, wenn du es mit der Karre auch nur bis zur Stadtgrenze schaffst. So geil, wie du sie damals mit deinem Dad hingekriegt hast, wird sie eh nie wieder.

Ich will nur kurz rauf nach Brothers und dann meine Schwester besuchen, falls ich raus bekomme, wo sie wohnt. Ich schnapp mir den Schlüssel und folge Dora zu dem Schuppen.

Schwester? Sie stöhnt vor Anstrengung und stemmt die Tür auf, die schief in der Angel hängt und über den Boden schleift. Wusste gar nicht, dass du überhaupt Familie hast außer deinem Dad. Hat sich zumindest keiner von ihnen im Gerichtssaal blicken lassen, so weit ich mich erinnere.

Meine Mutter hatte keine Zeit, meine Großmutter ist zu alt, und meine Schwester hätte es nicht ertragen, denn sie ist eine Art Zwilling, und wir haben zusammen in diesem Spukhaus gelebt, Prinz Kaspian und seine Lucy, und ich hatte versprochen, sie zu beschützen, aber …

Häh? Sie hat sich der zweiten Tür zugewandt und hält verwirrt inne. Wie in nem scheiß Märchen?

So ungefähr! Wir hatten ein Marionettentheater und haben uns eigene Stücke ausgedacht; und ich musste sie verteidigen gegen Drachen; und manchmal haben wir uns umgebracht und sind in den Vulkan gesprungen, Hand in Hand, oder sie wollte, dass ich sie töte, anstatt sie den Bösen zu überlassen.

Krank! Sie wendet sich wieder der Tür zu und hilft mit Tritten ihrer Springerstiefel nach. Und das sag ich als Krankenschwester!

Es war nur ein Spiel, aber einmal ist dabei fast das Haus von meinen Großeltern abgebrannt.

Sie klopft sich die Hände ab und sieht mich an.

Hab dir nicht zu viel versprochen, oder?

Der Wagen sieht noch schlimmer aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Dieser Anwalt, den sie mir geschickt hatten, Winstons eitler Juniorpartner, letztes Anzeichen dafür, dass sie sich meiner Existenz noch bewusst waren, hatte behauptet, ich hätte mich nie wieder davon erholt, die Zerstörung nicht nur all meines weltlichen Besitzes, sondern auch meines Fluchtvehikels, und aus dieser Ausweglosigkeit heraus, dieser existentiellen Krise bla bla bla, und er türmt Lüge auf Lüge, wie sie es alle tun, leere, wohlmeinende Phrasen, um nicht denken, nicht die verfluchten Wände sehen zu müssen, die ihr blindes Folgern und Schließen baut um uns herum, einen Kerker, aus dem uns erst der Tod befreit.

Sprachlos vor Glück, was?

Der Wagen füllt den Schuppen restlos aus. Ich springe mit dem Schlüssel in der Hand auf den Kofferraumdeckel, der sich unter meinem Gewicht dellt, steige über die verkohlten Reste des Verdecks und der Rückbank, lande hinterm Steuer, stecke den Schlüssel ins Zündschloss, drehe ihn um; und der Motor springt erstaunlicherweise sofort an, läuft auf allen acht Zylindern und produziert eine Abgaswolke so klebrig und dick und giftig wie Zuckerwatte aus der Hölle, was heißt, dass ich nichts mehr sehe und husten muss, während ich rückwärts nach draußen rolle.

Ein Zombie-Mobil! Sie verschränkt die Arme und grinst anerkennend. Schreib mir ne Karte, falls du es wirklich bis hoch schaffst! Und grüß die Anderen! Sag ihnen, dass ich froh bin, nichts mehr mit ihnen zu tun zu haben. Diese Karre war das letzte Erinnerungsstück, und ich kann dir beim besten Willen nicht mehr sagen, warum ich sie deinem Dad unbedingt abschwatzen musste. Naja, immerhin ist es mir damit gelungen abzuhauen. Sonst würde ich vermutlich immer noch Bens Schmerzmittel schnorren und zuschauen, wie er und die ganze Stadt allmählich vor die Hunde gehen. Gib ihm nen dicken Kuss von mir! Dahin, wo er es am liebst hat! Ich bin sicher, du hast im Knast ein bisschen üben können.

Ich hasse sie und weiß, sie sind alle nur Gespenster, die ihr ewiges Gerede nicht retten kann. Als könnten sie sich hochziehen an der Blasenkette, die aus ihren Mäulern steigt, hoch zum Licht! Ich schiebe den Wahlhebel nach oben, drücke aufs Gas, lass Kies spritzen und nehme Kurs auf die Brücke. Es dämmert schon; und bald kommen sie mir in endloser Reihe entgegen, Schlafwandler, die in diesem Leben nicht mehr erwachen werden.

Bill sah, wann immer er Zeit dazu fand, den Croupiers und Dealern zu. Ihm imponierte vor allem ihre stoische, vom Lauf der Kugel, vom Fallen der Karten distanzierte Haltung. Das Schicksal veranlasste die Spieler an ihren Tischen dazu, vor Freude oder Schmerz aufzuschreien, ihren Talisman zu betasten, die Finger zu kreuzen, die Hände vor dem Gesicht zusammenzuschlagen, während die Kasino-Angestellten völlig unbeteiligt blieben und keinen Anteil zu nehmen schienen an dem Drama, dass sich unmittelbar vor ihnen und auf ihre Veranlassung hin abspielte. Er lauschte den Croupiers, wenn sie sich, was selten genug vorkam, dazu verleitet ließen, von ihren Jahren an der Côte d’Azur oder in Atlantic City und ihren Begegnungen mit legendären Hasardeuren und raffinierten Betrügern zu erzählen. Er nahm Unterricht bei Leon, einem der erfahrensten Dealer; und im Frühjahr brach sich einer von dessen Kollegen bei einer Schlägerei die Hand. Diese hatte außerhalb der Arbeitszeit stattgefunden; und es war um eine Frau und nicht um Geld oder Drogen gegangen, aber die Kasino-Leitung kündigte ihm trotzdem, weil er gegen den ungeschriebenen Ehrenkodex verstoßen hatte. Bill erhielt die Chance, auf die er so lange gewartet hatte, und begann an einem der billigen Tische am Nachmittag.

Die Stimmung im Kasino war ausgezeichnet. Es gab zwar gelegentlich Bomben in einem Kino, Brandstiftung in einer Raffinerie, Attentate auf Kasernen, Stromausfälle, Demonstrationen und Staatsstreiche, aber das alles wirkte auf die Gäste, sofern sie überhaupt davon Kenntnis nahmen, wie Elemente eines konfusen Intrigenspiels, das zu ihrer weiteren Unterhaltung aufgeführt wurde. Die Bauernaufstände und Militärrevolten schienen sich regelmäßig zu wiederholen und erhielten dadurch eine absurde, irgendwie komische Note. Bill kümmerte sich wie die meisten expatriates kaum um die politische Situation und hätte nicht zu sagen gewusst, wer der aktuelle Machthaber war.

Es vergingen zwei Jahre. Bill war inzwischen im Kasino etabliert und arbeitete abends an den teuersten Tischen. Er war umgezogen und wohnte bei einem so gut wie tauben Zahnarzt und dessen Frau nahe der Endstation der Linie 17. Er war in eine Tänzerin verliebt, die ihm Pierre vorgestellt hatte, damit er ihr über den Tod ihres Manns hinweghelfe, eines Stierkämpfers, der nach Mexiko zurückgegangen war und schon in seinem ersten Kampf nach mehrjähriger Pause in der Arena von Cuernavaca aufgespießt wurde. Sie hieß Nina und bot einen spektakulären Anblick, wenn sie den Malecon entlang eilte und der Wind und ihre langen Schritte den Rock über die Knie rutschen ließen und die Jacke oder eine dünne Weste hinter ihr her flatterte wie lose Segel. „Glorios!“, hatte Bill gestammelt, als er ihrer das erste Mal ansichtig geworden war. Ein Abgrund schien sich aufzutun zwischen ihr und den normal Sterblichen. Ihre Schönheit war tröstlich und vernichtend zugleich.

Sie war Tochter eines norwegischen Seemanns, der von ihrer Existenz nie erfahren hatte. Im Tanz, einer langsamen Habanera mit schmachtenden, glutvollen Blicken, die das nordische Herz zerschmolzen, hatte sie ihren Ursprung; und Tanzen war alles, was sie wollte. Bill machte sein Herz zu ihrem Tempel und weihte ihr sein Leben. Er überhäufte sie mit Geschenken. Er liebte es, mit ihr in den Boutiquen in der Rampa, der Straße mit den teuersten Läden, einzukaufen. Ein Kleid dort kostete ihn einen ganzen Monatslohn, aber die Verkäuferinnen waren fast genauso schön wie Nina; und ihm wurde ein Sofa oder ein barocker, mit Schnitzereien und Blattgold verzierter Stuhl zurechtgerückt, damit er von der ersten Reihe aus miterleben konnte, wie seine Göttin aus dem Umkleideraum trat. Bill rührte in einem Kaffee oder nippte an einem Cognac. Eine Tür ging auf; ein Vorhang wurde zurückgerissen; die Verkäuferinnen schlugen beglückt die Hände vor der Brust zusammen; die Chefin, die sich durch Perlen, einen ausländischen Akzent und mal grau, mal blau melierte Haare auszeichnete, blickte kurz von den Rechnungen oder den Modezeitschriften auf, in denen sie blätterte, und nickte anerkennend; und Bill lächelte selig, ganz verzaubert von dem Anblick, der sich ihm bot und der auch auf alle anderen Anwesenden derart berückend wirkte, dass man es den beiden in keinem der Geschäfte, die sie besuchten, übel nahm, wenn sie wieder nur eine Bluse oder eine Hose kauften oder manchmal auch nur ein Seidentuch. Und diese Nachmittage fanden ihren krönenden Abschluss, wenn Bill, zwei, drei Einkaufstüten in dem einen Arm, in dem anderen die noch von der Aura des so eben erst abgelegten Chanel-Kostüms oder der schweren Herzens zurückgelassenen Balenciaga-Robe erfüllte Nina, den Weg hinunter zum Hafen einschlug, wo sie sich ein Zimmer in einem hotelito nahmen, einem der bei der lokalen Bevölkerung so beliebten Stundenhotels. Die moderigen Gassen, in denen auch tagsüber ein paar Prostituierte standen, die wissenden, mal verschämten, mal herausfordernden Blicke, die ihnen andere Paare in dieser Gegend zuwarfen, die schwarze Holztür, die sich, so schien es ihnen, nur zu zweit und mit ganzem Einsatz beider Körper aufdrücken ließ, das kurze Geplänkel mit der ein wenig verkommenen Dame hinter dem kleinen Fenster im Flur, die schmale und steile, eng sich wendelnde Treppe, Ninas Hintern, der unter dem Kleid hin und her schaukelte, der Saum, der ihre Schenkel streichelte, ihre muskulösen Waden, die von hohen Absätzen gestützten Fersen, der finstere Gang, der ein wenig nach Schmierseife roch, vielleicht ein Stöhnen irgendwo, ein erstickter Schrei, ein paar traurige Topfpflanzen, die vielen Türen mit den Nummern und dann endlich die ihre, meistens die 23, manchmal die 34, der Schlüssel, das Schloss, endlich das kühle, ganz verdunkelte Zimmer, in dem es ein großes Bett gab, einen Tisch, eine Emailkanne, eine Waschschüssel, ein zerschlissenes Handtuch und sonst nichts: Das alles schuf eine köstliche, am Ende fast, aber eben nur fast nicht mehr zu ertragende Spannung, die sich immer noch weiter steigerte und kein bisschen nachließ, während sie einander die Kleider von den inzwischen glänzenden, leicht feuchten, delikat nach Schweiß, Moschus und den zwei, drei Parfümproben an Ninas Handgelenken riechenden Leibern streiften und auf dem rauen Laken niedersanken und ihren Händen, ihren Mündern ihren Willen ließen.

Jeden Samstag bauten drei Kellner auf hohen Leitern an einer Pyramide aus Kristallkelchen. Gegen Mitternacht wurde Magnum um Magnum hinaufgereicht und in das oberste Glas geleert, über dessen Rand der Champagner dann in die Gläser darunter perlte, bis auch diese überliefen und die nächste Etage füllten und immer so weiter. Im Ballsaal wechselten zwei Orchester einander alle halbe Stunde ab: die Jimmy-Dawson-Seven für den Swing und Mario Souza mit seinen schnauzbärtigen Mambas für den Mambo. Die Gäste tranken, tanzten und spielten, bis es hell wurde und oft noch weit darüber hinaus; und es war Brauch, kurz vor Sonnenaufgang die schweren Vorhänge vor den deckenhohen Fenstern zuzuziehen, damit niemand sich durch den nahenden Tag belästigt oder zum Gehen gezwungen fühlte. Die Frauen waren schön und hemmungslos, die Männer reich und waghalsig; und das Geld wurde weggeworfen, als wäre es Ballast.

Yo me quiedo solo / Estas cubierta de oro / Veo como te hundes, sang Mario mit der Trompete und einem weißen Tüchlein in der Hand. Die, die am Kartentisch oder Roulette alles verloren, glaubten sich endlich von einer Sünde gereinigt und luden wahllos ein, dies mit ihnen zu feiern. Das Ende stand vor der Tür, und jeder wollte sich noch einmal von seiner besten Seite zeigen.

Und jeden Samstag fand sich ein betrunkener Trottel, der ein Glas aus der untersten Reihe der Champagner-Pyramide ziehen wollte und von den Kellnern in weißen Jacken niedergerungen werden musste, damit er nicht den kostbaren Glasturm vor der Zeit zum Einsturz brachte. Meist trug der Saboteur ein Hawaiihemd, was allein schon ein entsetzlicher Affront war hier in der Karibik, oft war er ein unermesslich reicher Ölkonzessionär aus Texas oder ein verschwitzter Fleischgroßhändler aus Chikago, denen die Direktion am nächsten Morgen einen Obstkorb auf das Zimmer bringen ließ als Zeichen der Versöhnung.

Mario Souza und seine heißblütigen Mambas brachten die Gäste schnell zum Schwitzen. Und wenn dann plötzlich der warme Schein der Kristallleuchter erlosch und die Kuppel des Ballsaals sich schwarz und endlos wölbte wie ein Himmel ohne Sterne und der spiegelglatte Boden wegsackte und die ganze lustige Gesellschaft in einem finsteren Nichts schwebend zurückließ, in dem jeder Schritt gefährlich schien, mischten sich Anita und Guillermo unter die Tanzenden, die schwarze Küchenhilfe und der pockennarbige Kellner, und während die meisten Gäste einander in der Dunkelheit schwerfällig auf die Füße traten oder sich lieber gleich darauf verlegten, in einander Wäsche zu wühlen, wirbelten die beiden zu den Klängen einer luftigen Merengue oder einer scharfen Salsa umeinander, und selten tanzten sie schöner, in blindem Einverständnis, selbstvergessen und unbefangen, ungesehen von allen anderen.

Bill handhabte die Kelle, mit der er die Karten aufnahm und umdrehte, mit professioneller Gleichgültigkeit und ließ sich jetzt, zur Hauptgeschäftszeit, da es um die größten Beträge ging und zwischen all den Verrückten und Verzweifelten ein geschickter Profi leicht unentdeckt blieb, jede Stunde ablösen. Dann schlenderte er in dem schwarzen Anzug, den er sich selbst hatte kaufen müssen, ohne auf Schnitt oder Stoff Einfluss zu haben, durch die verschiedenen Säle, sah bei einigen seiner Kollegen zu, deren Gesicht beim Spiel ebenso ungerührt blieb wie das seine und nicht die geringste Genugtuung über die Verluste der Gäste äußern durfte und schon gar keine Verärgerung, falls diese einmal gewinnen sollten, und landete schließlich beim großen Roulette-Tisch.

Die hohen Fenster standen offen; die Gardinen bauschten sich träge; die Lichter spiegelten sich tausendfach im Kristall der Lüster, in den Brillanten der Geschmeide, in den Gläsern, den makellosen Gebissen, den schweißbenetzten Dekolletés, auf fettigen Nasen, vor Pomade strotzendem Haar und blank polierten Schuhen. Die Kellner rannten mit ihren Tabletts hin und her; vom Tanzsaal drang die Musik herüber; an der hundert Meter langen Bar nebenan, vor deren Spiegel angeblich alle Rum-Sorten der Insel aufgereiht waren, wurde lauthals gelacht, aber hier, am Roulette, herrschte fast andächtiges Schweigen. Eine riesige Menschentraube umlagerte den Tisch; die Hintersten standen auf den Zehenspitzen und hielten denen vor ihnen ihre Zigaretten ans Ohr, schütteten ihnen Eiswürfel in den Kragen oder stachen ihnen die Nadeln ihrer Broschen in den Hintern, nur um einen Blick auf das zu erhaschen, was auf dem grünen Samt vor sich ging, und trotzdem waren das Klackern der Kugel und das akzentfreie Französisch Pierres, der das Spiel in ruhigem Ton kommentierte und kontrollierte, bestens zu vernehmen. Ganz vorne, in der ersten Reihe, saßen die Reichen und die Besessenen, die, die konnten, und die, die mussten; und die anderen waren gezwungen, sich zwischen ihnen hindurch zu drängen oder über ihre Schultern hinweg zu beugen, wollten sie setzten oder die gelegentlichen Gewinne in Empfang nehmen. Für den kleinwüchsigen General allerdings, der jetzt in voller Uniform, die Schirmmütze unter den linken Arm geklemmt, das dünne, schwarze Haar mit Brillantine zur Seite gekämmt, steifen, hektischen Schritts auf den Tisch zueilte, öffnete sich wie von selbst eine Gasse. Ein Chinese im Smoking, der von einer Blondine und einer Schwarzen eingerahmt Pierre direkt gegenüber gesessen war, sprang ungebeten auf, trat mit den beiden Damen, die sich weiter dicht an ihn drängten, zur Seite und bot mit einem Nicken dem Militär seinen Stuhl an. Dann trat er noch einmal schnell an den Roulette-Tisch, um sein mit Eiswürfeln und Riesling gefülltes Glas zu holen, das er auf der breiten Ablage des Spieltischs vergessen hatte.

„Rien ne va plus!“ verkündete Pierre, setzte das Rad in Bewegung und schickte die Kugel auf eine Kreisbahn, entlang der sie inmitten gebanntem Schweigen immer neue Runden drehte. Der General hatte drei Chips mitgebracht und war der einzige, der überhaupt setzte. Die anderen Spieler hielten sich zurück und hatten sogar die Chips wieder eingesammelt, die bereits auf dem Samt lagen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Kugel endlich an Geschwindigkeit verlor, in immer tiefere Umlaufbahnen geriet und schließlich in eines der Fächer des Rads fiel. Und zwar ausgerechnet in das der 3, der Zahl des Generals! Dieser verzog angesichts dieses Wunders keine Miene. Er nahm den Gewinn, den Pierre ihm zuschob, wie einen ihm selbstverständlich zustehenden Tribut in Empfang und setzte alles erneut auf die 3. Wieder beteiligte sich niemand sonst an dem Spiel, das keines war. Wieder gewann der General, und wieder ließ er den Gewinn auf der 3 stehen. Nachdem er zum dritten Mal gewonnen hatte, nahm er einen Chip von dem Haufen, den Pierre ihm mit dem Rechen zuschob, warf ihn Pierre zu, als würde er einen Straßenköter füttern, und wandte sich abrupt zum Gehen. Ein Adjutant, der ihm unauffällig gefolgt war, trat an seine Stelle, öffnete einen schwarzen Aktenkoffer und verstaute in diesem die Chips, während sein Chef, ohne irgendeinen der Umstehenden auch nur eines Blicks zu würdigen, durch die Menge schritt und dem Ausgang zustrebte. Pierre steckte den Chip des Generals zu denen des Hauses, die vor ihm in länglichen Holzschalen aufgereiht waren.

„Das war Betrug! Das war ein scheiß Betrug!“, empörte sich Bill, als er mit Pierre, die Krawatten lose um die hochgeschlagenen Hemdkrägen geschlungen, im Morgengrauen die breite Eingangstreppe des Kasinos hinabstieg. „Wie kannst du dich für sowas hergeben?”

Pierre warf seinem Freund einen amüsierten Blick zu.

„Mein Gott, Bill, du bist Dealer! Du glaubst doch nicht etwa, dass dort drinnen Glücksspiele veranstaltet werden?”

„Natürlich weiß ich, dass das Haus immer gewinnt.” Sie hatten einen Treppenabsatz erreicht. Zu ihren Füßen lag die Auffahrt mit dem Springbrunnen. Zwischen den Barockfassaden der gegenüberliegenden Häuser hindurch hatten sie Blick auf das völlig reglose, vom Morgenlicht rosa gefärbte Meer, auf dem die Fischerboote zurückkehrten. „Aber es gibt immer die Möglichkeit, dass ein einzelner doch einmal Glück hat! Es wäre sonst doch nicht auszuhalten. Das wäre wie lebenslänglich Gefängnis. Und zwar ohne Aussicht auf Begnadigung!“

„Was du Glück nennst, ist nur Zufall. Und von einer höheren Warte aus gesehen gibt es nicht einmal den. Und erst Recht keine Gnade! Das Haus gewinnt immer, egal, ob du dich an die Regeln hältst oder nicht.“

„Ich hasse solche Machenschaften und Absprachen.“ Bill riss sich die lose Krawatte vom Hals, knäulte sie zusammen und stopfte sie in die Anzugjacke.

„Tatsächlich?“ Pierre musterte seinen Freund halb verwundert, halb belustigt. „Dabei kann es dir doch eigentlich egal sein, wem das Kasino Geld zusteckt. Dass es eher zu den Militärs hält als zu den Aufständischen, sollte dich nicht überraschen. Und wenn du so ein Feind von Betrügereien bist, müsstest du dich auch über Battista und die manipulierten Wahlen oder über die United Fruit Company aufregen, die den Bauern das Land raubt.“

„Das ist Politik.“ Bill schüttelte störrisch den Kopf. „Damit habe ich nichts zu tun. Ich mag es aber nicht, dass für so ein verdammtes Arschloch in Uniform sogar hier, im Tempel des Glücks, die Regeln verbogen werden.“

„Vielleicht hast du es noch nicht mitbekommen, aber es gibt auf Kuba keine Regel außer der, dass vor allem Arschlöcher in Uniform tun dürfen, was sie wollen.“

„Meinetwegen! Aber sie sollen dabei nicht dem Zufall ins Handwerk pfuschen! Ausgerechnet hier, wo ein Zugschaffner wie Battista Diktator und die Söhne von Großgrundbesitzern zerlumpte Revolutionäre werden dürfen! Ausgerechnet jetzt, da alle hektisch kaufen und verkaufen, weil keiner weiß, was das nächste Jahr bringt: eine Revolution oder den nächsten Coup der Mafiosi aus Las Vegas.“

„Damit hast du sicher Recht.“ Pierre schmunzelte. „Es ist die Zeit gekommen, dass auch wir, die Sklaven des Hauses, die Chance nutzen und unsere mageren Chips setzen sollten.“

Bill hielt inne und musterte seinen Freund argwöhnisch.

„Du meinst, dieser verrückte Castro könnte es bis nach Havanna schaffen?“

„Unser General zumindest scheint Angst zu haben. Warum sonst würden er und die Junta sich zu so einer Machtdemonstration hinreißen lassen?“

„Die Kugel rollt also in mehr als einer Hinsicht.“ Bill nickt und fühlte sich bestätigt.“

„Sie rollt; und die Dinge sind in der Schwebe wie schon lange nicht mehr.“ Pierre gab seinem Freund zum Abschied einen Klaps auf die Schulter und floh, als hätte er Angst, zu viel zu verraten.

Schaut verfallen aus, das Haus. Wie das Haus Usher! Als wäre es zusammengeschrumpelt und mit jedem, der es verlassen hat, ein bisschen kleiner geworden. Als würde gar keiner mehr drin wohnen, aber zumindest das hätte ich doch erfahren oder? Der First hängt durch; die Wände haben Risse. Ein richtiger Schandfleck, und ich wette, die ganzen Millionäre in der Gegend hassen sie dafür. Und das ist kein Rasen mehr, das ist eine Prärie, ein Spielfeld für Büffel und Indianer, aber nicht für Krocket, dem Zeitvertreib wahrer Gentlemen. Da würde man nicht einmal mehr die Tore sehen, von den Bällen ganz zu schweigen. Ein Strategiespiel nannte er es, einen Charaktertest, und dann ließ er keine Chance aus, zu betrügen, was mir zu denken hätte geben sollen, aber ich war noch dumm damals, blind, und wurde richtig frei erst in der Zelle. Wehe, mein Ball landete im Rhododendron! Das gab gleich Strafpunkte, dabei hat er den Rhododendron gehasst und des Wucherns und der Maßlosigkeit bezichtigt im Gegensatz zu den züchtigen Rosen, seinen Lieblingen. Wehe, Sam hat es mal gewagt, sie anzupinkeln oder seinen Knochen zwischen ihnen zu verbuddeln! Am Ende wurde er selbst zwischen ihnen begraben. Rosendünger! Zu mehr hat der Köter eh nicht getaugt, aber nein, er war ja das Idealbild eines Hundes, das Gott vor Augen stand, als er die verdammten Kläffer schuf, und dann drischt er ihm mit dem Krocket-Schläger die Birne ein, bloß weil er hinkend und furzend dem Idealbild immer weniger gerecht wird. Und ich bin mir sicher, ich war nur deshalb dauernd krank, weil ich immer im Regen mit ihm spielen und als besonderes Handicap seinen Schirm für ihn halten musste, weshalb ich nur mit einer Hand schlagen konnte und selbst immer nasser wurde; und diese verdammten Dauerläufe in diesen verdammten Hosen, die Großmutter mir gestrickt hat, als wäre ich ein zu groß geratener Säugling, und die ich ab der zweiten Runde irgendwie daran hindern musste, mir in die Kniekehlen zu rutschen, weil sie sich mit Regenwasser vollgesogen hatten, und die Hochsprunganlage, die mich unter sich begrub, wann immer ich riss, und die halbe Stunde Hüpfseil mit nacktem Oberkörper und die scheiß kalten Bäder, das hat auch alles überhaupt nicht zu meiner Gesundheit beigetragen, wie er immer behauptet hat, sondern hatte genau den gegenteiligen Effekt und bewirkte, dass ich für zwei Tage, die ich gesund war, einen im Bett verbrachte, und wenn ich das früher gewusst hätte, das mit dem Kodein im Hustensaft und dem Alkohol in den Toddys, vielleicht hätte ich mich gewehrt, aber ich war schon süchtig, bevor ich überhaupt wusste, was Drogen sind, süchtig nach ihrer Liebe und seiner Anerkennung, und Befreiung ist, allem zu entsagen, was uns bindet, allem, was uns freut und liebt, was schwierig ist für ein Kind, ein Kind, das von den eigenen Großeltern zugedröhnt wird, damit es nicht sieht und nicht flieht, und bis zuletzt dachte, diese Visionen kämen vom Fieber, Dinosaurier im viktorianischen London und ich hinter den Mülltonnen versteckt spüre den Drachenatem die Straßen runter wehen oder die kalten Tentakeln des Riesenkraken sich um meine Knöchel wickeln; und er sagt, ich habe einfach eine überbordende Fantasie, was er so wenig mochte wie eine blumige Ausdrucksweise, weshalb die Aufsätze, die ich für ihn schreiben musste, sich wie Agenturmeldungen lasen, sobald er mit der Korrektur fertig war: Agenturmeldungen aus einem Traumland! Einem Alptraumland! Keine Adjektive, keine Hypothesen, keine Hypotaxe, aber Autos, die fliegen, Häuser aus Gallert und Indianer, welche die U-Bahn überfallen!