Übersee - Xaver Engelhard - E-Book

Übersee E-Book

Xaver Engelhard

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Beschreibung

Der Roman Übersee spielt nach dem Ersten Weltkrieg in der Südsee und erzählt in drei Kapiteln, wie ein vielleicht nur erträumtes, vermutlich nie real existierendes Paradies an Kaufleuten, Missionaren und schließlich Touristen zugrunde geht. Protagonist der Geschichte ist der Veteran Hermann, der den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs und dem Chaos der Münchener Räterepublik entkommen ist und jetzt auf einer Insel, die früher deutsche Kolonie war, ein neues Leben beginnen will. Er besucht dort einen Freund aus Studententagen, der auf der hoch effizienten, mit Sklavenarbeit betriebenen Kopraplantage seines Vaters allmählich den Verstand verliert, er reist mit Missionaren zu einem entlegenen Archipel, um mittels Lichtbildern die Seelen der Eingeborenen zu retten, und er heuert auf der Yacht eines so wohlhabenden wie verkommenen Amerikaners an, der in seinem Verlangen nach Jagdtrophäen vor keinem Verbrechen zurückschreckt. Am Ende wird Hermann auf Tahiti ausgesetzt, mittellos und seiner letzten Hoffnungen beraubt, aber er hat von dem Ukulele spielenden Herumtreiber Dave zumindest das Wellenreiten gelernt und vielleicht auch etwas von dessen Fähigkeit übernommen, im Augenblick zu leben und ohne Utopien auszukommen.

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Seitenzahl: 718

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Übersee

Xaver Engelhard

Impressum

Texte: © Copyright by Xaver Engelhard

Umschlag: © Copyright by Georg EngelhardVerlag: Xaver Engelhard

Wiener Platz 8

81667 München

[email protected]

Druck: epubli, ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Gesetzt aus der Malaga

I. Teil: DIE PLANTAGE

„Er ist nur der Bote.“

„Und seine Botschaft?“

„Die kennst du besser als ich. Wegen ihr bist du doch hier.“

„Ich verbreite sie?“ Er lächelte herablassend. Sie war ein Kind und verstand nichts.

„Du fliehst vor ihr. Ihr flieht vor einer Krankheit und verbreitet sie dabei auf der ganzen Welt.“

„Es tut mir leid.“ Er senkte ertappt den Blick.

„Ich wette, das tut es. Deshalb bist du ja hier!“

Er blickte fragend auf.

„Weil es dir leid tut! Alles!“

„Woher weißt du ...?“ Er sah sie verwirrt an.

„Du bist nicht der erste, der hier Trost sucht.“ Sie lachte.

Kaum hatte das Schiff beigedreht, trat Hermann an die Reling und blinzelte in Richtung der in der Dunkelheit kaum sichtbaren Insel. Hinter einem schmalen Streifen Küste ragten unmittelbar die Berge empor, schwarz und steil, und verschwanden bald in Wolken. Ein sanfter Geruch wehte herüber, eine Ahnung von süßen Blüten und noch süßeren, bald fauligen Früchten. Er holte tief Luft und kämpfte die Übelkeit nieder, die ihn befallen hatte, sobald das leichte, bis in die Nackenwirbel sich fortsetzende Vibrieren der Maschinen nicht mehr zu spüren gewesen war. Das dumpfe Donnern, das ihn geweckt hatte, wirkte wie ein Echo, das ihm um die halbe Erdkugel gefolgt war, und wurde vom Regen, der auf die müde See und das Blechdach über dem Promenadendeck hämmerte, nicht gedämpft, weil auch er Erinnerung an früher war, an tiefe Wolken über flachem Land, nasse Mäntel und klamme Stiefel, Unterstände, aus deren groben Balkendecke Wasser tropft und mit jeder Explosion Erdreich rieselt.

Hermann stieß sich von der Reling wieder ab. Er hatte noch den Geschmack des billigen Grogs im Mund, mit dem ihn am Abend zuvor die kleine Schiffsgesellschaft, die nach Sydney weiterreisen würde, verabschiedet hatte; in seinen Ohren klimperte das mechanische Klavier, das unentwegt „The Entertainer“ gespielt hatte. Er fuhr sich über das unrasierte Kinn und wollte schon in die Kabine zurückkehren, da entdeckte er in dem Licht, das in den Tropen am Morgen genauso plötzlich und ohne Dämmerung erscheint, wie es am Abend wieder verschwindet, den weißen Schaum, mit dem die Wellen gegen das vorgelagerte Riff brandeten, und damit die Quelle jenes Krachens, das auf ihn so schrecklich vertraut gewirkt hatte. Auch der Kapitän musste jetzt das Riff und die Lücke in diesem erspäht haben, denn das Schiff nahm wieder Fahrt auf, die Amplitude, mit der es um die eigene Achse schwankte, wurde geringer, und Hermanns Magen beruhigte sich.

„Schaut nicht nach viel aus, was?“ Einer der amerikanischen Geschäftsmänner, mit denen Hermann am Abend zuvor gefeiert und deren Namen er sich nicht gemerkt hatte, war aus dem Salon getreten. „Aber glauben Sie mir: Wenn Sie erst einmal dort sind, ist es noch schlimmer. Diese Inseln sind trostlos. Und damit genau das Richtige für einen jungen Mann, der sich einen Namen machen will, was?“ Er lachte und schlug Hermann jovial auf den Rücken.

Gemeinsam beobachteten sie, wie das Schiff das Riff passierte und auf der Reede vor Anker ging. Seine Sirene ertönte; und das Echo, das von den Bergen widerhallte, wurde von der schweren Luft gedämpft. Die Matrosen ließen die Treppe am Fallreep herunter und machten den Ladekran klar. Eine kleine, rostige Hafenbarkasse kam näher. Ihr folgte ein alter Dampfschlepper, der einen behelfsmäßigen Leichter vor sich her schob und mit diesem auf der anderen, dem Hafen abgewandten Seite des Schiffs festmachte. Von einer riesigen Holzkiste, in die der Schriftzug der Firma Westinghouse eingebrannt war, wurden die Ketten gelöst, mit denen sie während der Überfahrt auf dem Vorderdeck gesichert gewesen war.

„Kaum zu glauben, dass das Ding hier am Ende der Welt von Bord geht!“ Der Amerikaner schüttelte den Kopf und beobachtete, wie der Kran mit dem Ladegeschirr über das Deck schwenkte.

„Wieso? Was ist da drin?“

„Ein Generator! Das neueste Modell! Gestern hat jemand behauptet, damit ließe sich die ganze verdammte Insel samt Vulkankratern und Eingeborenenhütten beleuchten.“

Hermann nahm es bekümmert zur Kenntnis. Er fürchtete, zu spät dran zu sein.

Der Amerikaner blickte ihn amüsiert von der Seite an.

„Verdirbt Ihnen die Laune, was? Aber keine Sorge! An der Trostlosigkeit wird das nichts ändern. Ganz im Gegenteil!“

„Ein schöner Trost ist das!“ Hermann lächelte tapfer.

„Besser als die romantischen Illusionen, mit denen die meisten hier landen! Die können Sie sich nicht leisten, wenn Sie hier auf Dauer leben wollen.“

„Machen Sie sich da keine Sorgen: Von Hoffnungen bin ich geheilt!“ Hermann versuchte, energisch zu klingen, und wandte sich wieder der Insel zu. Er wusste, es war nicht wahr; und er spürte wieder die Angst, die ihn während der Überfahrt gelegentlich befallen hatte. Was, wenn er sich irrte? Was dann? Er gab sich einen Ruck und hob die Hand zum Abschied und zur Abwehr weiterer Enthüllungen. „Ich mache mich jetzt besser fertig.“ Er fletschte mühsam die Zähne.

„Ich wünsche Ihnen weiter viel Glück auf Ihrer Reise,“ rief ihm der in seiner Freundlichkeit unerschütterliche Amerikaner hinterher. „Und melden Sie sich, wenn Sie mal wieder in Frisco sind! Meine Adresse haben Sie ja.“ Hermann schob unwillkürlich eine Hand in die Tasche seiner Leinenjacke, zerknüllte dort die von der Feuchtigkeit schon ganz labberige Visitenkarte und überlegte, wo wohl diese Reise, die hier enden sollte, begonnen hatte.

Eigentlich in München, als er die Pistole, die er im Krieg getragen hatte und die danach, als der Besitz von Schusswaffen streng verboten wurde und auch ihn, den ehemaligen Artillerieoffizier, vor ein Standgericht hätte bringen können, über das Geländer der Maximilians-Brücke warf und ihre parabolische Flugbahn beobachtete, bis sie im Wasser der Isar aufschlug und die Enten, die in den Kiesbuchten schliefen, erschreckte. Die Räterepublik, entstanden aus dem Blut der Schützengräben, der Verzweiflung der Besiegten und der Solidarität einer in einheitliches Grau gekleideten, demselben Schicksal unterworfenen Masse, war zerschlagen, ihre Hoffnungen waren Dünkel und Kleingeist, Furcht und Kalkül erlegen; und Hermann hatte nach Westen geblickt, wo der Himmel in roten Flammen stand hinter der Silhouette der Stadt, einem Schattenriss, einer ausgebrannten Ruine, und sich auf den Weg gemacht. Die Straßen waren fast leer. Das Ausgangsverbot, seit dem Sieg der Weißen gelockert, galt erst ab Mitternacht. Gelegentlich fuhr ein mit schwarz-weiß-roten Fahnen geschmückter Lastwagen vorbei, Landser in den zusammengewürfelten Uniformen der Freikorps auf der Ladefläche, die trunken grölten, in die Luft schossen und allen Passanten, die irgendwie proletarisch wirkten, androhten, sie an einer Straßenlaterne aufzuknüpfen, sobald es dafür Zeit gebe und ein Seil.

Die Scherengitter vor den Läden der Maximilian Straße, der Neuhauser und der Kaufinger Straße waren zugezogen. Teilweise waren die Schaufenster mit Bohlen verrammelt. Ein Bettler in einem Armeemantel, der ihm jetzt, nach Monaten des Hungers, viel zu groß war, streckte eine dürre Hand aus, aber Hermann konnte von den wenigen Mark, die er besaß, nichts entbehren und hatte außerdem mit seinen Landsleuten abgeschlossen. Für immer, wie er sich schwor. Sie verdienten es nicht anders. Er wünschte sich, das Licht, das hinter dem Bahnhof leuchtete, wäre das des Weltengerichts, auch wenn er ahnte, dass nicht einmal er selbst dort Gnade finden würde.

Es herrschte großes Gedränge vor dem Bahnhof, dessen Eingänge von Polizisten mit hohen Helmen auf den Köpfen und Schlagstöcken an den Koppeln bewacht wurden. An einem der Schalter im Inneren teilte man Hermann mit, dass am nächsten Morgen zwei Züge fahren sollten. Der erste hatte Hamburg zum Ziel; und damit war auch das entschieden. Als der Zug nach einer Nacht, die Hermann in dem völlig überfüllten Warteraum verbracht hatte, endlich bereitgestellt wurde, hatte sich längst eine unruhige, ungeduldige Menge versammelt, müde Männer, Frauen, Kinder, die die Revolution und deren Unterdrückung unerwartet in München festgehalten hatten und die jetzt endlich fort wollten aus diesem Schlachthaus. Der Bahnsteig wurde aber von einem Trupp Freikorps-Männer abgesperrt; und die, die gehofft hatten, ihnen endlich entronnen zu sein, waren ein weiteres Mal ihrer Willkür und Anmaßung unterworfen und mussten Papiere, Pässe, Marschbefehle vorweisen; und es gab einige, die als mutmaßliche Kollaborateure der Räterepublik oder einfach, weil ihre Gesichtszüge Missfallen erregten, aus der Schlange gezerrt und zu einem der wartenden Lastwagen geschleppt wurden. Hermann, der sich als ehemaliger Offizier ausweisen konnte, wurde durchgewunken, obwohl er in München gemeldet war und keinen plausibleren Grund für seine Reise nennen konnte als einen angeblichen Besuch bei Verwandten.

Er musste die ersten Stunden hindurch im Gang des nach Schweiß und Kinderwindeln stinkenden Waggons der 3. Klasse stehen und schlief trotzdem mehrmals an die Schulter eines Nachbarn gelehnt ein, weil sie sich so dicht drängten, dass man nicht umfallen konnte und kaum in sich zusammensacken. Erst als sie Bayern verlassen hatten, besserte sich die Situation; und ab Frankfurt konnte er auf einer der Holzbänke sitzen und fuhr durch ein ausgeblutetes, ausgezehrtes Deutschland, über dem die Morgennebel lagen wie ein Leichentuch. Am späten Nachmittag kam er in Hamburg an, nahm ein Zimmer in einer Seemannspension am Hafen und machte sich auf die Suche nach einem Schiff, auf dem er die tote Heimat, das vergangene Leben hinter sich lassen könnte.

Hermann schüttelte sich und kehrte hastig in die Kabine zurück, um den bereits gepackten Koffer zu holen. „Wollen Sie hier länger bleiben?“, fragte der amerikanische Missionar, der wie seine Frau einen Leinenanzug mit Schulterklappen und aufgesetzten Taschen trug und einen Tropenhelm auf dem Schoß hielt. Sie waren mit Hermann zusammen die einzigen Passagiere, die in die Hafen­barkasse geklettert waren. Nachdem sie ängstlich verfolgt hatten, wie ihre beiden Seekoffer in das schaukelnde Boot hinab­gelassen wurden, hatten sie in der kleinen Kabine gegenüber von Hermann Platz genommen. Hermann hatte sich um seinen mit vielen bunten Aufklebern versehenen Koffer nicht gekümmert und stattdessen durch das schmutzige Fenster drei Kanus beobachtet, die mit Mangos, Papayas und Kokosnüssen beladen dicht unterhalb der felsigen Küste entlangfuhren und auf den Strand der Hauptstadt zuhielten. Einer der Paddler hatte sich eine weiße, mit bunten Mustern bemalte Matte umgewickelt, zum Schutz gegen den Regen; die Oberkörper der anderen glänzten nass. Sie passierten die Insel-Schoner, die auf Reede lagen, manche gepflegt und mit neuem Kupfer beschlagen, die meisten alt, mit einem Anstrich voll Flecken und einem Rumpf voll Muscheln. Einer hatte Segel gesetzt und wollte die Morgenbrise nutzen. Auf dem Deck lief eine Besatzung aus dünnbeinigen Insulanern umher.

„Was?“, erwiderte Hermann auf Englisch und so kurz angebunden, dass es an Unhöflichkeit grenzte, wandte sich aber wenigstens dem geflissentlich lächelnden Missionar zu, der dicht neben seiner Frau saß und wie diese die Füße sorgfältig nebeneinander gestellt hatte. Schuhe, Anzug, Helm: Alles war gleich an ihnen. Sogar die Drahtgestelle der Brillen. Auf den ersten Blick hätte man die beiden verwechseln können und auf den zweiten unterschied sie nur der rotblonde Schnurrbart.

„Sie scheinen nicht viel Gepäck dabei zu haben. Da habe ich mich gefragt, ob Sie länger hier bleiben wollen oder nur eine Stippvisite machen und in einer Woche nach Sydney weiterfahren.“

„Würde er für eine Stippvisite nicht auch sein ganzes Gepäck ausgeladen haben?“ Die Missionarsgattin warf Hermann einen entschuldigenden Blick zu. „Außerdem geht das Schiff nach Sydney erst in zwei Wochen! Das Schiff nächste Woche fährt zurück nach San Francisco.“

„Aber ja, du hast ja völlig Recht!“ Der Missionar schüttelte lachend den Kopf. „Wie dumm von mir! Dabei wollte ich den jungen Herrn doch nur warnen.“ Er sah Hermann an. „Die Regenzeit ist, wie Sie merken, noch nicht zu Ende, und unter diesen Umständen ist das Reisen auf der Insel sehr beschwerlich. Wegen der niedrigen Wolken kriegt man nur wenig zu sehen, was immerhin unserer unter normalen Umständen wenig attraktiven Hauptstadt zum Vorteil gereicht. Leider bietet sie kaum Zerstreuungsmöglichkeiten.“ Er seufzte, als mache ihm dieser Mangel an Kinos, Casinos und Revuetheatern zu schaffen.

„Aber genau deshalb sind wir doch hier: weil es eine Prüfung ist!“, rief ihm seine Frau in Erinnerung. Die Barkasse begann zu zittern und machte sich auf den Weg zur Hafenmole. Die Missionarin sah ihren Mann verwundert an und schien sich zu fragen, ob sie ihn wirklich kannte.

„Selbstverständlich! Wir schon!“ Der Missionar wandte den Kopf halb seiner Frau zu. „Wir fühlen uns ja von Gott dazu berufen. Aber du vergisst, dass nicht jeder diesen Ruf vernimmt und nicht jeder auserwählt ist, dem Herrn zu dienen! Und diese Menschen, die unerlöst sind und ohne Beistand, suchen in unserer Hauptstadt gerade während der Regenzeit schnell Zuflucht in den billigen Spelunken am Hafen, weil es hier sonst kaum etwas gibt, das sie über die Hoffnungslosigkeit ihres Daseins hinwegtäuschen könnte.“ Er wandte sich wieder an Hermann. „Die Leute erwarten oft genug, in der Südsee das irdische Paradies zu finden, und umso heftiger trifft sie dann die Erkenntnis, dass es nirgends auf Erden ein Paradies gibt. Seit dem Sündenfall nicht mehr und ganz sicher nicht hier ausgerechnet zur Regenzeit!“

„Keine Angst!“ Hermann hatte sich auf seiner mehrjährigen Reise quer über den amerikanischen Kontinent ein fast akzentfreies Englisch angeeignet. „Ich bin nicht als Tourist gekommen. Ich hoffe, auf der Plantage eines Freunds Arbeit zu finden.“

„Wie interessant! Darf man erfahren, wie dieser Freund heißt? Ich kenne viele der Pflanzer, die hier wohnen. Auch die Deutschen!“

„Peters. Friedrich Peters. Sein Vater ...“

Das Gesicht des Missionars hatte sich augenblicklich verdüstert.

„Herrn Peters kenne ich tatsächlich. Nicht sehr gut! So gut, wie es die Umstände erlauben! Aber immerhin habe ich einiges über ihn gehört. Fast zu viel, für meinen Geschmack!“

„Was meinen Sie damit?“ Hermann war beunruhigt und ein wenig aufgebracht. Er hatte Friedrichs Vater nie getroffen, Friedrich aber, der vor dem Krieg mit ihm in München studiert hatte, wies keinen charakterlichen Mangel auf, der eine derartige dunkle und fast schon verleumderische Andeutung eines Missionars gerechtfertigt hätte. Friedrich war wie er ein von Idealismus beseelter Jüngling gewesen, der für alles Reine und Schöne schwärmte und dem optimistischen, fortschrittsgläubigen Geist der Zeit folgend Reinheit und Schönheit gerade in den Naturwissenschaften suchte, in mathematischen Formeln und physikalischen Spekulationen, die einen Abstraktionsgrad erreichten, der sie an die Grenzen zu Ontologie und Mystik stoßen ließ. Angestiftet von H. G. Wells und Jules Verne entwarfen Hermann und Friedrich, der Mathematiker und der Elektrotechniker, Geistesgebilde, denen die Erdenschwere und die Unvollkommenheit der sublunaren Sphäre kaum mehr etwas anhaben konnten, und begannen, sich immer mehr für die Astronomie zu interessieren und auch über die theoretischen Voraussetzungen der Raumfahrt und über die Erreichbarkeit des Mondes und der Planeten nachzudenken.

„Nun, er zeichnet sich nicht gerade als guter Christ aus, gelinde gesagt. Der Vater zumindest! Über den Sohn weiß ich nicht viel. Früher hat man ihn gelegentlich in der Stadt gesehen, wo er wohl musiziert hat, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er mir dort in letzter Zeit über den Weg gelaufen wäre. Dir vielleicht, Margaret?“ Da seine Frau nur kurz den Kopf schüttelte, fuhr der Missionar fort: „Er hat geheiratet, wie sie vermutlich wissen. Und er war früher sehr bemüht, das Andenken an seine Mutter zu pflegen und Kontakt zur angelsächsischen Gemeinde zu unterhalten. Sein Vater dagegen hat, obwohl ihm im Gegensatz zu anderen, mir wesentlich sympathischeren Pflanzern durch den Krieg kaum Schlimmes widerfahren ist, die Tatsache, dass die Deutschen die Insel und den Kaiser verloren haben, immer noch nicht verwunden und verlässt die Plantage nicht mehr. Was ich bei diesem Menschen überhaupt nicht bedauere! Du vielleicht?“ Wieder blickte er zu seiner Frau, als müsse deren gesunder Menschenverstand ihn in seinem Urteil bestätigen.

„Der alte Mr. Peters ist eine Schande für die Menschheit,“, erklärte Margaret kurz und bündig. Falls sie überhaupt weitere Ausführungen anfügen wollte, wurde sie darin von dem Ruck unterbrochen, mit dem die Barkasse gegen die Dalben stieß, die in Ermangelung einer wirklichen Hafenmole als Liegeplatz dienten.

Der Missionar sprang sofort auf und freute sich, aus einer heiklen Lage befreit worden zu sein. „Da sind wir ja!“, rief er, warf geduckt noch einmal einen prüfenden Blick durch das Kabinenfenster, fand das Wetter unverändert, setzte den Helm auf und hielt Hermann die Hand hin. „Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Ich bin sicher, wir werden uns hier bald wieder über den Weg laufen. Geht gar nicht anders! Vielleicht haben Sie dann Lust auf einen Tee oder auch, falls meine Frau mir dazu die Erlaubnis erteilt, etwas Schärferes. Fürs Erste wünsche ich Ihnen jedenfalls viel Glück mit Herrn Peters. Sie als Deutscher und Freund seines Sohns sind da im Vorteil und werden sicher einen ganz anderen Mensch erleben als den, mit dem wir Vorlieb nehmen mussten, solange er uns noch mit seiner Gesellschaft beehrt hat.“

Hermann nickte, hatte aber die Angewohnheit, auf Gerüchte und geheimnisvolle Andeutungen nicht viel zu geben.

Er folgte den Missionaren in gebührendem Abstand und trat wieder hinaus in den feinen Nieselregen.

Die Stadt zog sich als ein schmales, auf der einen Seite von finsteren Vulkanen, auf der anderen von der schäumenden See bedrängtes Band um eine weite, an beiden Enden von felsigen, abrupt zum Wasser hin abfallenden Landspitzen begrenzte Bucht herum. Sie bestand im Wesentlichen aus zwei Reihen niedriger Häuser, die meist mit Wellblech, teilweise aber auch noch nach traditioneller Art mit geflochtenen Pandanusblättern gedeckt waren. Das Straßenpflaster aus schwarzen, von einheimischen Sträflingen in Handarbeit zurecht geklopften Basaltbrocken glänzte. Die Türme zweier protestantischer Kirchen - die eine für die verbliebenen Deutschen, die andere für die allmählich sich hier niederlassenden Neuseeländer, Australier, Briten und Amerikaner - ragten spitz und schlank wie die Raketen, die in den interstellaren Träumereien von Friedrich und Hermann schon früh eine Rolle gespielt hatten, in den verhangenen Himmel. Die Luft war warm und feucht und legte sich zudringlich um einen, so das sich Hermann rasch vorkam wie in einem orientalischen Dampfbad, das einem alle Kraft raubt, allen Antrieb.

Über eine Planke gelangte er auf einen glitschigen Holzsteg, dem er zur eigentlichen Kaimauer folgte, wo ein paar Gepäckträger warteten, die nackt waren bis auf den bunten Pareo, eine Art Wickelrock, den sie um die Hüften geschlungen hatten. Der Missionar redete auf den Fahrer eines rostigen Model T ein.

„Wir würden Sie gerne ein Stück weit mitnehmen, aber mit dem ganzen Gepäck ...“ Der Missionar machte eine hilflose Geste und scheuchte vier der Gepäckträger zur Barkasse, damit sie dort die Seekoffer in Empfang nahmen.

„Gibt es ein Hotel?“ Hermann sah sich suchend um.

„Es gab eins, aber es ist letztes Jahr abgebrannt. Kein großer Verlust, aber es war immerhin ein Hotel! Einige Kaufleute vermieten Zimmer. Und die Insulaner sind sehr gastfreundlich.“

„Zu Fremden und zu Ungeziefer gleichermaßen!“, warf seine Frau ein, die einen Regenschirm aufgespannt hatte.

„Ja, in der Tat, sie sind ohne Vorurteile.“ Der Missionar rieb sich die Hände. „Es ist für sie gleichgültig, ob man ein Weißer, ein Insulaner oder ein Schwein ist: Wenn man nicht zum eigenen Clan gehört, ist man ein Fremder und damit zum Verzehr geeignet.“ Er lachte. „Nur ein kleiner Scherz natürlich! Der Kannibalismus ist hier dank unserem Wirken so gut wie ausgerottet.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher.“ Margaret schüttelte den Kopf. „Sie essen das Langschwein zwar nicht mehr vor unseren Augen, aber ihr Ton wird schrecklich nostalgisch, wenn sie auf diesen inzwischen verbotenen Genuss zu sprechen kommen. Wer weiß, was sie treiben, wenn wir nicht hinschauen? Immer wieder hört man von Menschen, die auf dem Weg vom einen Dorf zum nächsten einfach verschwinden; und es würde mich nicht wundern, wenn die in irgendwelchen umus landen.“

„Die britischen Kriminalromane, die meine Frau ständig liest, haben ihr leider ein Menschenbild vermittelt, das nur schwer mit der Lehre Christi vereinbar ist, aber der Kontakt mit unseren lieben Gemeindemitgliedern wird sie rasch wieder von deren angeborenen Güte überzeugen. Nicht wahr, Schatz? Du hast nur vergessen, was für wunderbare Menschen sie sind.“

„Sie tun zumindest freundlich, wenn wir in ihrer Nähe sind.“ Margaret trat zur Seite, um einen der Träger, der den ersten Seekoffer huckepack transportierte, passieren zu lassen. „Für das, was sie treiben, sobald wir ihnen den Rücken zuwenden, möchte ich mich allerdings nicht verbürgen. Und was die Kriminalromane angeht, so halte ich diese für eine notwendige Ergänzung der Bergpredigt. Deren hehrer, letztendlich weltfremder Anspruch wirkt doch nur umso ergreifender, wenn man sich keine Illusionen macht, was den gefallenen Menschen angeht und das Leben auf Erden.“

„Natürlich, meine Liebe! Ich glaube aber wirklich, dass jetzt nicht der richtige Augenblick ist für theologische Dispute, zumal unser junger Freund hier dem Regen ganz ungeschützt ausgesetzt ist und sich daran machen sollte, bei seinen Landsleute Unterkunft zu finden.“ Der Missionar wischte sich den Regen aus dem Gesicht und sah zu, wie ein Seekoffer auf dem Dach des Autos und einer in dessen Inneren verstaut wurde. Er wandte sich Hermann zu und hielt ihm erneut die Hand hin. „Also noch einmal viel Glück! Wir werden noch einige Tage hier in der Hauptstadt verbringen, bevor wir die abgelegeneren Dörfer besuchen, von daher bin ich mir sicher, dass wir uns bald wieder über den Weg laufen.“

Margaret, die dabei war, in das Auto zu klettern, winkte Hermann zu. Ihr Mann folgte ihr; und schon setzt sich der Ford knatternd und stinkend in Bewegung.

Kokospalmen, Guaven und Papayas wuchsen in den Gärten der kleinen Häuser, ein jedes von einem niedrigen weißen Zaun umgeben. Die Gebäude waren aus Holz und standen zum Schutz gegen die Feuchtigkeit auf Basaltbrocken oder den Schlackensteinen, die früher den Schiffen, die hier Kopra oder Waltran luden, als Ballast gedient hatten. Dahinter lagen ein paar schmale Felder und ein bisschen Wald, und hinter diesem ragten die schwarzen Wände der Berge auf, an deren Vorsprünge und Bänder sich Büsche und kleine Bäume klammerten. Aus einer Schlucht strömte der Fluss hervor, der das Land, auf dem die Stadt stand, angeschwemmt hatte. Eine Brücke überspannte ihn und verband das ältere deutsche mit dem neueren angelsächsischen Quartier; und der Ford der Missionare zuckelte hupend auf sie hinauf und verschwand auf der anderen Seite.

„Wohin du wollen?“ Der schwergewichtige Träger hatte Hermanns Koffer ungefragt auf die nackte Schulter gewuchtet. Auch er trug nur einen Pareo. Er lachte, aber seine Zähne waren schwarze Stumpen.

„Ich brauche ein Zimmer.“ Hermann musterte verwundert den Eingeborenen, der ihn auf Deutsch angesprochen hatte.

„Komm!“ Der Kofferträger winkte mit einer langen, schmalen Hand. „Herr van Heesen sie vermieten.“

„Du sprichst Deutsch?“

„Viel Deutsch essen, viel Deutsch sprechen!“ Der Eingeborene rieb sich den Bauch. „Schweinebraten!“

„Verstehe.“ Hermann geriet ins Grübeln.

Sie setzten sich in Bewegung: der barfüßige Eingeborene vorneweg, Hermann, den nur ein Strohhut vor dem Regen schützte, hinterdrein.

„Schön hier!“, behauptete Hermann vage und wenig überzeugend.

Der Träger schüttelte energisch den Kopf.

„Viel mehr schön mit Deutsche. Viel Schwein, viel Bier, viel Humpa Humpa!“

Wieder tat Hermann, als verstehe er.

„Van Heesen – Gemischtwaren“, stand in verblichenen Lettern auf den grauen Planken über dem Schaufenster. Ein Holzschild neueren Datums, das an rostigen Ketten von einem Galgen baumelte, wies den Laden als General Store aus. Der Gepäckträger ging aber am Laden vorbei und stieg eine Treppe hoch, die an der Seite des Hauses zu einer umlaufenden, mit feinmaschigen Gittern versehenen Veranda führte. Er öffnete eine verzogene, von einer Stahlfeder gehaltene Moskitotür, die hinter ihm zuknallte, noch ehe Hermann ihm hatte folgen können, verschwand im Schatten des Vordachs und klopfte an die eigentliche Haustür. Als Hermann ihn einholte, stand bereits eine dicke Europäerin in der Türöffnung, trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab und richtete das Wort, ohne den Träger, der den Koffer abgestellt hatte, eine Blicks zu würdigen, an Hermann.

„Sie kommen vom Schiff?“ Ihr Englisch hatte einen starken deutschen Akzent.

„Ja. Und Sie können ruhig Deutsch mit mir sprechen!“

„Um so besser! Wir kriegen nicht mehr viel Besuch aus der Heimat.“ Sie zog einen großen Ring voll Schlüsseln aus der Schürzentasche. „Sie wollen ein Zimmer?“

Hermann nickte.

„Für wie lange?“ Sie ließ den Schlüsselbund klirren.

„Eine Nacht!“

„Sie wollen in den Busch?“ Sie sah ihn überrascht an.

„Ich will einen Freund besuchen.“

„So? Für eine Nacht vermiete ich normal nicht, aber wenn Sie nun schon einmal da sind ...“ Sie humpelte auf dicken, geschwollenen Beinen über die Veranda und an einer Reihe nummerierter Türen vorbei. Der Träger hob den Koffer wieder hoch und folgte ihr mit Hermann.

Die Wirtin sperrte eine der Türen auf und trat beiseite. Hermann warf einen kurzen Blick in das Zimmer. Ein Moskitonetz hing über einem Bett mit dünnen, fadenscheinigen Laken. Unter einem Spiegel stand eine Waschschüssel, deren Email rostige Risse aufwies. Die beiden Schubladen der Kommode, deren Holz sich wegen der hohen Luftfeuchtigkeit verzogen hatte, würden sich nur schwer öffnen lassen, aber Hermann hatte nicht vor, seinen Koffer auszuräumen. Der Tisch und der Stuhl wirkten wackelig, aber er hatte auch nicht vor, Briefe zu schreiben. Der einzige, zu dem er von Amerika aus Kontakt gehalten hatte, war Friedrich, und dem würde er, wenn alles glatt ging, schon am nächsten Tag persönlich gegenüber stehen. Hermann nickte.

„Das Abendessen kostet einen halben Dollar extra.“ Die Wirtin fischte eine kleine Münze aus der Schürzentasche und drückte sie dem Träger in die Hand, der lautlos verschwand. „Pünktlich um sieben!“

Hermann zerrte den Koffer ins Zimmer, schloss die Tür und streckte sich vorsichtig auf dem Bett aus, das sich wie eine Hängematte durchbog. Er verschränkte die Hände unter dem Kopf. Es stank nach fauligem Holz und irgendwelchen Mitteln, die ein früherer Bewohner im Aschenbecher auf dem Tisch verbrannt hatte gegen die Mücken, dahinter aber lagen die vertrauten Gerüche einer weit entfernten Vergangenheit: Kohlsuppe, Bohnerwachs und Kernseife. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. War er so weit gereist, um genau dort zu landen, wo er herkam? War er zu weit gereist? Endete der, der immer in die gleiche Richtung lief, nicht zwangsläufig am Ausgangspunkt wie der Täter am Ort seines Verbrechens? Aber warum gerade hier, im Aphel, da die Strecke, die ihn von der Heimat trennte, am größten sein sollte? Konnte er ihr, konnte er sich selbst am Ende doch nicht entkommen? Konnte man sich überhaupt selber fremd werden oder blieb man immer der Gravitation unterworfen und an einen fernen Ursprung gebunden, den man ständig umkreiste, mal weiter, mal näher? So sehr hatten sie sich gewünscht, eines Tages allem entfliehen zu können! Ein Traum, gewiss! Sie hatten Raketen in den Himmel geschossen, in Richtung der Sterne, und von einer Welt ohne Grenzen, ohne Nationen, ohne Kriege, ohne Hass, ohne Armut geschwärmt, ganz der Forschung ergeben, dem Fortschritt, der reinen Vernunft, dem ins Fantastische ausgesponnenen Geist. Sie hatten einen Verein gegründet, wie es sich für ordentliche Deutsche gehörte, den „Verein für Raumfahrt“, und alle paar Monate bauten sie auf der betonierten Terrasse vor ihrer Baracke auf dem Oberwiesenfeld Raketen auf, die wie große, bizarr geformte Feuerwerkskörper aussahen und „Friemann“, hießen, ein Name, der aus Friedrich und Hermann zusammengezogen war und einem Engländer wie „freier Mensch“, hätte klingen müssen; und diese Friemanns waren nummeriert von eins bis 13; und nach dem 13. Abschuss begannen sich die Behörden für ihr Treiben zu interessieren; und den nächsten Flugkörper sollten sie bereits in Donauwörth vor einigen Offizieren des Artilleriekorps steigen lassen, was erbitterte Diskussionen zwischen den beteiligten Tüftlern und Forschern auslöste, denn Friedrich war aller Nationalismus und alles Militärische ein Grauen, Hermann hingegen gab ihm zwar prinzipiell Recht, träumte aber davon, mit mehr Geld immer noch größere Raketen und vielleicht sogar einen Prüfstand zum Testen von Treibstoffen und Triebwerken bauen zu können.

Wie er jetzt so da lag, in Erinnerungen gehüllt, fielen Hermann die Augen zu; und er träumte, er liege auf einem kleinen Floß mitten in jenem riesigen Meer, das er auf dem Schiff durchquert hatte, verloren zwischen Inseln und Sternen, die einen Spiegelungen der anderen, verlockende Gesichte inmitten bodenlosem Nichts. Hierhin drehte sich das Floß und dorthin, um die eine Achse wie um die andere, und imitierte die schlingernden, gierenden, kreiselnden Bewegungen des Schiffs, das sich einer Schraube gleich, von einer Schraube getrieben, immer weiter in die Nacht gebohrt hatte. Unerreichbar waren die hehren Sterne wie die seligen Inseln für ihn, den Schiffbrüchigen auf seinem Floß ohne Mast und ohne Segel, ohne Ruder oder Paddel, Spielzeug der Strömungen und Winde, für ihn, den Überlebenden einer fernen Katastrophe.

Er erwachte benommen und brauchte eine Weile, bis er sich orientiert hatte und wieder wusste, wo er sich befand und wie er dorthin gekommen war. Er stand auf, schüttete Wasser in die Emailschüssel, wusch sich das Gesicht und trat hinaus auf die Veranda. Es war inzwischen Nacht geworden. Eine Petroleumlampe brannte neben der Zimmertür. Riesige Motten saßen auf den Moskitogittern, als würde das Haus von geflügelten Schatten belagert.

Sie waren nur zu viert beim Abendessen: Hermann, das Ehepaar van Heesen und ein weiterer Pensionsgast, der Vertreter eines Hamburger Handelshauses, der dauerhaft in der Pension wohnte.

„Na, wo ham Se jedient?“ Kaufmann van Heesen, ein Veteran des Krieges von 1870/71, streichelte sich den weißen Backenbart.

„Bei der Artillerie!“

„Im Westen oder im Osten?“ Van Heesen bediente sich von der Platte mit Fleischstücken, die eine Insulanerin in einem weißen Missionskleid vor ihm abgestellt hatte, und tat auch seiner Frau und den beiden Gästen auf.

„Im Westen!“ Hermann versuchte, durch betont neutrale, langweilige Antworten das Interesse des Kaufmanns zu ersticken.

„Ich hoffe, Sie ham dem Franzmann tüchtig einjeheizt mit der Dicken Berta. Von der haben sogar wir jehört, auch wenn da für uns der Krieg längst jelaufen war. Unsere feine Marine hat sich ja schon vor Kriegsbeginn aus dem Staub jemacht. Dumme Sprüche, das ist alles, was sie uns zur Verteidigung geschickt ham! Dazu ist die Funkstation gerade noch rechtzeitig fertig jeworden. Wie dann die Kiwis kamen, waren bloß wir Zivilisten und ein paar Kanaken da, aber wir haben denen trotzdem Zunder jegeben, das können Sie mir glauben. Das war eine wilde Schießerei hier in der Stadt. Mit Palisaden und Toten und allem Drum und Dran! Hat uns der Kiwi mächtig übel genommen. Dachte wohl, das wird ein Spaziergang, wo uns das Reich so im Stich jelassen hat. Da hat er sich aber jetäuscht jehabt, weil einmal deutsch immer deutsch, was, Herr Spieker?“ Van Heesen wandte sich an den schweigsamen Handelsvertreter, der auf dem zähen, trockenen Fleisch kaute und dem Kaufmann nickend Recht gab. „Hätten Sie sehen soll, wie die sich hinterher aufjeführt haben! Ham sämtliche Läden zur Plünderung frei jegeben, meinen eingeschlossen. Ham jehaust wie die Wilden. Hätte nicht viel jefehlt, und die hätten auch noch die weißen Frauen zu Freiwild jemacht, aber dann haben sie wohl einjesehen, dass es jenug von den Kanaken gibt.“ Van Heesen schüttelte den Kopf. „Na ja, inzwischen ham wir uns ja ganz gut arrangiert mit den Kiwis, auch wenn ein paar von den Plantagen flöten jegangen sind. Der Feind von gestern ist der Kunde von morgen, sach ich immer, da hilft kein Lamentieren; und wir Weißen müssen schließlich zusammenhalten, sonst machen die Braunen hier bald, wat se wollen.“

Es war eine neue Welt seit dem Krieg; und van Heesen schienen seinen Frieden mit ihr gemacht zu haben. Hermann, der singend und von einem antiken Verlangen nach Ruhm, Heldentaten und Unsterblichkeit getragen in den Kampf gezogen war und die Ehre des Vaterlands und dessen Anspruch auf einen Platz an der Sonne der Weltpolitik hatte verteidigen wollen, war im Verlauf des Schlachtens, das mit mechanischem Gleichmut Soldat um Soldat die Zukunft Europas fraß, zur Besinnung gekommen und hatte erkannt, dass dieser Krieg nur dann aufhören würde, die Verherrlichung einer bestialischen, keiner Besserung fähigen, keiner Hoffnung würdigen Existenz zu sein, wenn mit ihm wie mit einem reinigenden Fegefeuer ein neues Zeitalter und eine friedliche, für immer entmilitarisierte Welt ohne Feinde beginnen würde, und hatte noch in den Gräben und der Etappe Gleichgesinnte gefunden und sich nach Kriegsende mit eben dem Eifer, mit dem er ein paar Jahre zuvor die Franzosen von der Überlegenheit deutscher Waffen und deutscher Manneskraft hatte überzeugen wollen, der Revolution angeschlossen, die Deutschland von der Herrschaft des Kaisers, des Kapitals und vor allem der Generäle zu befreien suchte

Es ging um Großes, wenigstens das war den hymnischen Reden Landauers und Eisners und der Stimmung in den Biersälen zu entnehmen, in denen sonst die Spießbürger vor sich hin brüteten, dröge und dumpfbackig im Hier und Jetzt versunken, ohne Gedanken an anderes als das nächste Bier, eine noch größere Wurst, in Fett und Alkohol konserviert und gegen die Anfeindungen und Zumutungen der politischen und künstlerischen Fantasie gefeit und höchstens davon träumend, der Kellnerin nicht immer nur in den Hintern zu kneifen, sondern mit ihr auch mal unter den Tisch zu sinken und sich mit ihr in den schalen Lachen zu suhlen. Die Münchner Bierdimpfel waren plötzlich wie verwandelt; ihre Seelen waren entflammt; sie waren aufgeschreckt und wachsam und interessierten sich nicht mehr nur für ihren Schweinebraten, sondern auch für ihr eigenes Leben und das der anderen und entwickelten ein Bewusstsein für ihre hoffnungslose Situation und dafür, dass etwas geschehen musste, dass sich etwas ändern musste und dass sie selbst es waren, die würden Bayern ändern müssen; und das Erregende, das Fantastische an diesen Veranstaltungen waren für Hermann nicht die utopischen Phrasen der Redner, sondern die Tatsache, dass man ihnen zuhörte, ohne zu lachen, dass man sie ernst nahm mit ihrer Vision von einem anderen Bayern, einem anderen Leben, als hätte das über Jahrhunderte verfestigte und verkrustete Weltgebäude durch die Erschütterungen des Krieges und die Millionen von Granaten einen Riss erhalten, der das Licht eines fernen Tages herab ließ in ihre blutbesudelte Gruft. Es waren rauschhafte Tage, die einem zu Kopf stiegen und nur zu vergleichen waren mit der Euphorie zu Beginn des Feldzugs, als sie alle noch Kinder gewesen waren, törichte, unschuldige, verführte Kinder und nicht die desillusionierten, vom Tod besessenen Gespenster, als die sie von der Front zurückgekehrt waren, Gespenster, die Hermann und die anderen Soldatenräte jetzt zu einem neuen, anderen Leben erwecken wollten, wozu sie von Versammlung zu Versammlung, von Gremiumssitzungen zu Aufmärschen, von Werkstoren zu Universitätssälen eilten in ständiger Bewegung, wohlwissend, dass dieser Augenblick, da alles in der Schwebe war und das Unmögliche Realität werden und das Sterben, der Hunger, die Angst ein Ende haben könnten, so schnell vergehen würde, wie er gekommen war, urplötzlich, unerwartet, ungewollt, ein erhabenes Wunder von religiösen Dimensionen, das München innehalten ließ, erschüttert und ergriffen, und seinen Propheten lauschen mit ihren alttestamentarischen Bärten, ihrer seltsamen Inbrunst.

„Tee oder Kaffee?“, fragte in makellosem Deutsch das braunhäutige Mädchen, das sich Hermann auf nackten Sohlen unbemerkt genähert hatte und ihn aus seinen Erinnerungen schreckte.

„Keine Angst, die frisst Sie schon nicht!“ Van Heesen lachte. „Die ham wir mit Corned Beef aufjezogen. Das hat einen größeren zivilisatorischen Einfluss als die Bibel und alle erbaulichen Predigten der Missionare. Das ist wie bei den Tigern: Mit der Peitsche und bloßen Appellen an das Mitgefühl erreicht man bei denen jar nichts, aber wenn man ihnen einen schmackhaften Ersatz vorwirft, für den sie noch nicht einmal die Mühe des Jagens auf sich nehmen müssen, sind sie durchaus bereit, vom Menschenfressen zu lassen und sich der Dressur zu unterwerfen.“

Hermann errötete und blickte verstohlen zu dem Hausmädchen, aber dieses schien entweder nicht zugehört zu haben oder solche Reden gewohnt zu sein, denn es stellte gleichmütig eine Flasche Schnaps auf den Tisch, mit der das Mahl beschlossen werden sollte, und verschwand in der Küche.

Rund um die Veranda hingen Wasserfäden vom Dach, die im Licht der Petroleumlampe wie ein gläserner Vorhang glänzten. In der Bucht lagen ein paar Schiffe, aber die meisten hatten keine Positionslichter gesetzt und waren nur schwer zu erkennen. Der Dampfer nach Sydney war schon wieder ausgelaufen; und Hermann kam sich plötzlich verlassen vor. Die Reisegesellschaft, so zufällig sie in ihrer Zusammensetzung gewesen war, hatte ein vorübergehendes Zuhause gebildet. Nur so, auf Zeit und in der Fremde, konnte es ein solches für ihn noch geben. In seine eigentliche Heimat würde er vermutlich nie mehr zurückkehren. Er fühlte sich von ihr verraten und verstoßen, aber nicht nur von ihr, sondern von den Menschen überhaupt. Sie hatten ihn enttäuscht; und er hatte sie und sich selbst gehasst dafür, aber inzwischen wußte er, sie waren den Hoffnungen, die er für sie gehegt hatte, nicht gewachsen gewesen, und er trug es ihnen nicht mehr nach. Er hatte sie aufgegeben und sich selbst mit ihnen. Er wollte nirgendwo mehr bleiben und durch die Welt streifen, ruhelos und selbstvergessen.

Er ging in sein Zimmer, holte sich Hut und Regenmantel und brach zu einem kleinen Spaziergang durch die nächtliche Stadt auf, wollte dieses Vorhaben aber bald wieder aufgeben. Es gab keine Straßenbeleuchtung. Nur in vereinzelten Fenstern brannten Lichter. Viele Häuser waren ganz dunkel. Es war so finster, dass er nicht einmal die Pfützen auf der Straße sah. Zwei Schatten huschten vorbei; und er wusste nicht, ob es Eingeborene waren oder Geister und was ihm lieber gewesen wäre. Als er die Brücke erreichte, die die beiden Stadtteile verband, hörte er Musik auf der anderen Seite und ließ sich hinüberlocken. Er folgte den Klängen und landete vor einer windschiefen, verwitterten Kaschemme, stieß die Tür auf, die wie alle Türen hier auf der Insel während der Regenzeit klemmte, und trat in den niedrigen Schankraum. Die Dielen waren nackt und mit Muschelkalk bestreut. Ein paar misstrauische Gesichter schauten von den Tischen entlang der Wände auf. Das Grammophon dudelte unbekümmert einen Schlager, den er noch von seiner Zeit beim Jahrmarkt her kannte. Hinter der Theke stand ein Weißer, aber seine muskulösen Arme, die er hoch bis zu den Schultern entblößte, waren mit seltsamen Mustern tätowiert. Hermann bestellte ein Bier, das ihm bald hingestellt wurde und nach britischer Manier leblos im Glas schwamm. Er stützte einen Ellbogen auf die Theke und musterte die Gestalten an den Tischen, so wie diese ihn musterten. Ein dunkelhäutiger, langhaariger Insulaner war unter ihnen; der Rest war weiß. Sie hatten ihre Gespräche unterbrochen und fanden nur stockend in sie zurück.

Der Barmann legte eine neue Schallplatte auf, die genauso veraltet war wie die zuvor, und kehrte hinter die Theke zurück.

„Neu hier?“, fragte er.

Hermann nickte.

„Was hat Sie denn hierher geführt? Sie schauen nicht aus wie ein Matrose, der zu betrunken ist, um rechtzeitig zurück zum Schiff zu finden.“

„Ist das Ihre normale Kundschaft?“

„Missionare und Kaufleute verirren sich bestimmt nicht hierher.“

„Missionare und Kaufleute!“, murmelte Hermann und musterte die Gäste noch einmal, entdeckte aber tatsächlich keinen unter ihnen, der fromm oder wohlhabend gewirkt hätte.

„Ein und dasselbe, wenn Sie mich fragen: ziehen einem nur das Geld aus der Tasche!“

„Was ist mit den Arbeitern auf den Plantagen?“

„Die hätten uns gerade noch gefehlt, aber die Plantagen sind glücklicherweise über die ganze Insel verstreut. Von da braucht man teilweise mehrere Tage bis hierher. Früher mussten die Wilden noch Steuern entrichten, indem sie Straßen bauen, aber seit’s das nicht mehr gibt, ist man über Land wieder ewig unterwegs, falls man überhaupt irgendwohin kommt. Was, Hatu? Ich hab dich schon lang keine Steine mehr klopfen sehen.“

„Als nächstes klopf ich deinen Kopf!“, drohte der fette Insulaner, der mit zwei Weißen nahe der Theke an einem Tisch saß.

„Es werden also keine Straßen mehr gebaut?“ Hermann war plötzlich interessiert.

Der Mann hinter der Theke lachte.

„Womit denn? Die Wilden werden verhätschelt, damit sie ja nicht aussterben; und Chinesen können wir uns nicht leisten, weil Auckland kein Geld schickt und wir selber keins mehr haben, seit niemand mehr Perlmutt kauft.“

„Was ist mit Kopra?“

„Dasselbe! Ein paar Jahre noch, dann hat sich auch das erledigt. Dann kehren wir besser zur Lebensweise der Eingeborenen zurück und fressen uns gegenseitig, denn Geld für Spam wird’s dann auch nicht mehr geben. Fa’a Maloa, was, Hatu?“

„Fa’a Maloa,“, brummte Hatu. „Und du mit deinen gestohlenen Tattoos wirst der erste sein, den wir fressen.“

„Vergeh dich nicht an einem Häuptlingssohn!“

„Du weißt doch gar nicht, was dein Tattoo bedeutet! Da steht „Achtung! Lecker!“ Und selbst wenn du ein Häuptlingssohn wärst: Umso besser! Die sind am zartesten; und ihr Tod bringt den meisten Ruhm.“

„Da sehen Sie’s!“, erklärte der Wirt wieder an Hermann gewandt. „Das sind keine Menschen, sondern Tiere! Denen Straßen zu bauen wäre die reinste Verschwendung.“

Hermann nickte und hoffte, dass sich die anderen Versprechen Friedrichs nicht ebenso schnell in Nichts auflösen würden.

„Sind das wirklich Schriftzeichen?“ Hermann wies mit dem Kinn auf einen der Oberarme des Barmanns, den spiralförmige Ornamente zierten.

„Was weiß ich! Ich weiß nur, dass sie mir gefallen. So ein verschrumpelter, versoffener Wilder hat sie gemacht. Sollte mich wundern, wenn der lesen und schreiben kann. Die braunen Mädels geben Hatu aber Recht: Die rufen immer „Hmm! Lecker!“, wenn sie vor mir auf die Knie gehen.“ Der Barmann lachte und kontrollierte, ob die Pointe bei dem dicken Insulaner angekommen war.

„Mit so nem Zahnstocher im Maul können die noch gut reden. Wenn die blonden Früchtchen von den Yachten es mit meiner Keule zu tun bekommen, hört man die nur noch röcheln.“

Alle stimmten in Hatus Lachen mit ein, nur Hermann verzog keine Miene, sondern legte ein Geldstück auf die Theke und verschwand.

In der Nacht wachte Hermann von einem lang gezogenen, klagenden Ton auf, der ihn an das Nebelhorn erinnerte, das er bei der Einfahrt in den Hafen von New York gehört hatte, der hier aber seltsamerweise von der Straße zu kommen schien. Hermann schlug das Moskitonetz zurück, stand auf und tapste hinaus auf die Veranda. Zuerst konnte er nichts erkennen, denn es brannte keine Laterne und dichte Wolken verbargen Mond und Sterne, aber dann öffnete sich eine Tür im Erdgeschoss und ein Lichtrechteck fiel auf die Straße und erfasste einen Chinesen, der in ein Muschelhorn blies. Er stand neben einem Eselkarren mit einem kleinen, kastenförmigen Aufbau, und als jetzt eine von van Heesens Bediensteten schlaftrunken zu ihm trat, öffnete er dessen Klappe und zog drei Brote hervor, die er ihr reichte im Tausch gegen ein paar Geldstücke. Dann zog er humpelnd und klagend weiter; und der Esel, der müde den Kopf hängen ließ, folgte ihm; die Tür schloss sich; und es herrschte wieder finstere, undurchdringliche Nacht.

Am nächsten Morgen hingen weiter graue Wolken an den Bergen, aber es regnete nicht; und teilweise brach die Sonne durch. Es war schwül; und die Mücken, die sich sonst gegen Morgen zurückzogen, jagten weiter hungrig umher. Hermann wusch sich, streute Puder auf die teilweise schon infizierten Stiche und ging ins Speisezimmer, wo ihm das Eingeborenenmädchen Brot und Kaffee servierte. Anschließend stieg er die Treppe, die zur Straße führte, hinab und betrat van Heesens Geschäft.

Die Holzläden, die die beiden Schaufenster schützten, waren wie Ziehharmonikabälge gefaltet und zu den Seiten geschoben worden. Ein Insulaner in einem blauen Pareo stand hinter der Theke auf einer Leiter und räumte Konserven voll Corned Beef und Lachs in das deckenhohe Regal an der Rückwand, dessen Bretter sich unter dem Gewicht der Ware bedenklich bogen. Die Luft war erfüllt von den Gerüchen des ranzigen Tabaks aus Tahiti und der Seife, die in Amerika und Europa aus der Kopra der Inseln gefertigt wurde. Van Heesen selbst maß am anderen Ende des Ladens, wo die Theke L-förmig vorsprang, mit einem Stock bunten Baumwollstoff ab und schnitt die Bahn für eine Kundin von der Rolle. Die Insulanerin, die eine rote Korallenkette um den Hals trug, zählte ein paar Münzen auf die Theke; van Heesen nickte, wischte das Geld mit der einen Hand in die andere, kurbelte an der Registrierkasse und sortierte die Münzen in die Fächer der Schublade, die klingelnd hervorgesprungen war.

„Na, schon wach?“, fragte er Hermann, ohne sich weiter um die Kundin zu kümmern, die mit dem Stoff unter dem Arm nach draußen ging.

Hermann nickte und sah sich in dem dunklen Laden um. Säcke voll Reis und Mehl, Kisten mit Büchsen, Beilen, Sägen und Schaufeln standen am Boden; und neben der Tür hing ein Brett, auf dem Fischhaken nach Größe sortiert aufgereiht waren. Darunter standen drei Harpunen. In zwei mit Glasplatten bedeckten Schaukästen lagen Buntstifte, Nadeln und billiger Modeschmuck.

„Mit den Kanaken ist kein Geschäft zu machen.“ Van Hessen, der etwas in eine große Kladde voll Zahlenreihen eingetragen hatte, richtete sich auf und schob die Lesebrille auf die Stirn. „Sie haben kein Geld, und wenn, dann hauen sie es gleich auf den Kopf und kaufen lauter Tand: Murmeln und bunte Ketten und anderen Kinderkram. Es bedeutet ihnen einfach nichts. Was sie zu schlechten Arbeitern macht! Aber die Preise für Kopra sind im Moment eh so tief im Keller, dass sich die Ernte überhaupt nur lohnt, wenn man wie Ihr feiner Herr Peters über eine riesige Plantage voll chinesischer Sklaven verfügt.“

„Herr Peters ...“

„Schon gut, schon gut, er hat’s ja mit den Kanaken versucht, aber den armen Knilchen Alkohol zu geben, um sie bei der Stange zu halten, nee, davon halt ich nüscht, und das hat sich auch nich bewährt. Früher oder später fangen sie da das Randalieren an; und letztendlich hat er sich selbst zuzuschreiben, wat da passiert ist, so grausam das klingen mag. Ich will die Teufel nich entschuldigen; und sie haben ihre jerechte Strafe erhalten, aber ich denk mir, wer mit Feuer spielt, muss mit Feuer rechnen. Wenn die Trinken, sind sie zu allem fähig; und das einzig Jute, was die Missionare hier leisten, is, dass sie ihnen den Toddy und den Gin verbieten.“

Hermann nickte und sah durch die offene Tür hinaus auf die Straße, wo jetzt der Regen wieder wie eine Wand stand.

„Ich würde trotzdem gerne möglichst schnell zur Familie Peters gelangen.“

„Bei dem Wetter ...“ Van Heesen kratzte sich den faltigen Hals. „Jelegentlich schicken die ein Boot. Mit dem wäre es am einfachsten. Jerade jetzt, in der Regenzeit! Aber das kommt halt nur, wenn die ihre Vorräte aufstocken müssen! Ein Kanu werden Sie kaum finden, weil die Kanaken glauben, dass die Plantage seit dem Aufstand verhext ist. Ich könnte Ihnen höchstens einen Wagen besorgen, der fährt sie, so weit die Straße reicht; und den Rest laufen Sie halt. Ich muss Sie allerdings warnen: Das wird nicht sehr bequem.“

„Dann starte ich morgen!“

„Wie Sie wollen! Morgen früh um 7 steht der Wagen bereit.“

Als Hermann vor die Ladentür trat, stellte er fest, dass der Regen in dünnen Niesel übergegangen war, und machte sich auf den Weg, die Stadt zu besichtigen.

Viel gab es nicht zu entdecken: die beiden Holzkirchen, den Tempel der Mormonen, die Handelskontore amerikanischer, australischer, britischer und deutscher Firmen, das amerikanische Konsulat und das ehemals deutsche, das jetzt von den Neuseeländern genutzt wurde, die Büros zweier Schifffahrtslinien, einen verlassenen Biergarten, ein Dampfkarussell, das sich nur an Wochenenden drehte, und dazwischen Holzhäuser mit Dächern aus Wellblech oder Pandanusblättern. Im Schlamm der ungepflasterten Gassen, die zur See hinunter oder hoch in den Urwald führten, suhlten sich schwarze Schweine; und schwarze Kaulquappen zuckten in den Pfützen hin und her; und überall am Wegesrand lagen Kokosnüsse und faulten vor sich hin; und als Hermann eine von ihnen nachlässig mit dem Fuß anstieß, kroch ein Molch, hässlich wie ein mittelalterlicher Wasserspeier, aus ihr hervor, starrte den Störenfried so böse und lange an, als überlege er, ihn anzugreifen, und zog sich erst danach, und auch jetzt noch ohne Hast, ins hohe Gras zurück. Hermann war erschüttert von dem Anblick dieses Tiers, erschütterter, als einem ursprünglich naturwissenschaftlich gesonnenen Menschen zustand, den die Objektivität rationaler Betrachtungsweisen begeistert und in einen Zustand mystischer Exaltiertheit versetzt hatte, in der er außer sich war, losgelöst von überliefertem Aberglauben und persönlichen Defiziten, und in gleichsam reiner Schau eine ganz auf Vernunft errichtete und mit diversen Flug-, Tauch- und Fahrgerätschaften und vor allem Raketen jeden Kalibers möblierte Zukunft wahrnahm, das Zuhause des neuen Menschen, der Gefühle wie Ekel oder Hass hinter sich ließ wie überhaupt alle Beschränkungen seiner von der Schwerkraft gefesselten, mit irdischer Materie nur unvollkommen gefertigten Heimat und auf dem Mond oder dem Mars eine neue, bessere fand.

Ein Gemisch aus Blüten und Verwesung hing in der Luft; Verfall und Wachstum gingen ununterscheidbar in einander über. Kaum waren die Früchte reif, begannen sie zu faulen; kaum waren Maschinen und Werkzeuge vom Schiff an Land gebracht, begannen sie zu rosten; und Schlingpflanzen und Schmarotzer waren mit verschwenderischer Pracht geschmückt, als handle es sich bei ihnen um die Königinnen der Pflanzenwelt. In den Gärten standen Jasmin, Hibiskus, Frangipani und Limonen; am Strand, inmitten einem Bett aus Tang und Blut, zerlegten einheimische Fischer einen Delfin mit ihren Beilen.

Hermann, der längst die Brücke und den Fluss überquert und auch den Englisch sprechenden Teil der Siedlung besichtigt hatte, folgte der Hauptstraße immer weiter, bis diese die Häuser hinter sich ließ und vor der felsigen Landzunge, die die Bucht nach Osten begrenzte, in eine holperige Schotterpiste überging. Ein Pfad führte über loses Gestein zu einem Leuchtturm. Möwen und Fregattvögel umkreisten empört schreiend den Eindringling, der vom Fundament des Turms aus das Riff, gegen das die See stumpfsinnig eine Welle nach der anderen warf, und die Stadt betrachtete, einen dünnen Saum aus Zivilisation entlang des Dschungels und der dahinter geheimnisvoll in Wolken gehüllten Vulkane.

Auf der anderen Seite des Kaps lag wieder eine Bucht, flacher und sandiger als die der Stadt und durch kein sichtbares Riff geschützt. Die Straße, die sich in ein paar engen Kurven über den Rücken des Kaps quälte, führte zwar bis zu ihr, es gab an ihrem Strand aber trotzdem nur zwei Häuser und ein paar Hütten. Draußen, jenseits der Brandung, trieb ein Mensch. Erst glaubte Hermann, es wäre ein Eingeborener in einem kleinen Kanu, aber dann, kaum näherte sich ein besonders hoher Wasserberg, begann der Mann, wild mit den Händen zu paddeln, als versuche er, sich an Land zu retten; und es wurde Hermann plötzlich klar, dass er gar nicht in einem Boot, sondern nur auf einer langen Holzplanke hockte. Die glitzernde, wie von schillernden Erzen durchsetzte Welle, die sich hinter ihm aufbaute, holte ihn auf seiner Flucht ein, hob ihn hoch und immer höher und ließ das Brett nach unten kippen und von selbst fahren, da sprang der Mann auf, stellte sich schräg auf sein wackeliges Gefährt, trippelte geduckt und mit seitlich ausgestreckten Armen bald vor, bald zurück, schoss den Hang hinab, der sich unter ihm fortlaufend erneuerte, und entkam so schließlich dem Brecher, der hinter ihm schäumend zusammenbrach: ein übermütiger Prometheus, der die Naturgewalt nicht bändigen, sondern nur mit ihr spielen und sich gerade dadurch als Mensch beweisen wollte.

Bis Hermann den Strand erreicht hatte, war der Wellenreiter schon wieder auf dem Weg hinaus. Er tauchte, indem er sich dicht über die Spitze seiner Planke duckte, durch den ersten Brecher hindurch, paddelte, kaum war dieser über ihn hinweggerollt, energisch weiter, wiederholte das Manöver noch ein paar Mal und erreichte schließlich die offene See und die Zone, wo sich die Wellen aufzurichten begannen. Hier wartete er auf seinem Brett sitzend, bis er eine vielversprechende Wasserwalze entdeckte und sich von ihr mitnehmen ließ, um bald darauf mit dem Brett unter dem Arm, noch sichtlich benommen von dem langen Ritt, außer Atem und mit einem breiten Grinsen, ans Ufer zu waten und dem Fremden freundlich zuzuwinken.

„Hi!“ Er streckte Hermann eine nasse Hand hin. „Ich bin Dave. Wie geht’s?“

„Ganz gut!“, murmelte Hermann und starrte auf die breiten Schultern des Wellenreiters, die mit geometrischen Mustern tätowiert waren. Unterarme und Schienenbeine waren mit hellen Narben übersät. Das Holzbrett wirkte in seinen Armen fast wie ein Kinderspielzeug. Zwei Eingeborenenmädchen, die hier, abseits der Stadt, anstelle der Missionskleider, die sie sonst auf Geheiß der Kolonialherren trugen, nur bunte Pareos um die Hüften geschlungen hatten, liefen lachend und mit hüpfenden Brüsten und mit Blumen im Haar auf ihn zu, riefen etwas in ihrer Sprache und reichten ihm eine grüne, bereits geöffnete Kokosnuss. Er trank daraus ein paar Schluck und sagte zu den Mädchen etwas, was diese kichern ließ. Sie wiesen auf eine der Hütten, zogen zu dieser weiter; und es war ihnen anzumerken, dass sie ihn nur widerwillig in Gesellschaft des Neuankömmlings zurückließen.

„Diese Mädchen!“ Dave schüttelte den Kopf. „Völlig verrückt! Morgen gehen ihre Brüder in die Stadt, da wollen sie sich deren Bretter ausleihen.“ Er leerte die Kokosnuss und warf die Schale ins Wasser. „Neu hier?“

„Bin gestern mit dem Dampfer angekommen.“

„Großartig!“ Dave rammte das Brett, das ihn weit überragte, in den Sand und richtete die Träger seines Badeanzugs. Eine Aura schien ihn zu umgeben. Vielleicht war es auch nur das blonde, sonnengebleichte Haar. Hermann hatte jedenfalls das unheimliche Gefühl, dass gemessen an diesem Fremden alle anderen, er selbst inbegriffen, wie Kreaturen eines Schöpfers niedrigeren Rangs wirken mussten. „Die Insel hier wird dir gefallen. Sie hat einfach alles: Wellen, Mädchen, Musik.“

„Musik?“ Das Lob der Inselmusik war für Herrmann genauso überraschend wie das der Wellen. Worauf Letzteres zurückzuführen war, wusste er aber inzwischen.

„Oh, es gibt hier großartige Musik. Fast so gut wie auf Hawaii! Ich spiele den Kindern manchmal was auf der Ukulele vor; und sie lieben es einfach.“ Dave kämmte sein verfilztes Haar mit den Fingern. „Komm, ich wasch mir da hinten im Bach schnell das Salz ab, dann können wir bei mir ein Bier trinken!“ Er nahm das Brett und trug es zu einem Lugger oben am Strand, nahe dem Dschungel mit seinen Kokospalmen. Der Lugger war umgedreht und ruhte auf Vorder- und Hintersteven und auf der Backbordseite, die eine Flutwelle tief im Sand vergraben hatte. Die Steuerbordseite ragte dagegen wie ein Vordach in die Luft; und Dave, der sein Brett neben zwei andere an den teilweise noch mit grünem Kupfer beschlagenen Rumpf gelehnt hatte, bückte sich, tauchte unter dem Dollbord hindurch und gelangte über die ehemalige Hauptluke, die er mit der Säge deutlich vergrößert hatte, in das Bootsinnere, das er als Wohnung nutzte. Er hatte es mit einem Bett, Regalen und Schränken eingerichtet, die alle mit handwerklichem Geschick den gebogenen und schiefen Wänden angepasst waren. Ein paar morsche Planken fehlten; und durch diese mit Ölpapier abgedichteten Lecks sickerte ein mildes Licht.

„Ein neuzeitiger Diogenes!“, stellte Hermann beim Anblick der Behausung, in der es kaum einen rechten Winkel gab, voll Bewunderung fest.

„Ein neuer was?“ Dave, der mit einem Bündel Kleider in der Hand wieder auftauchte, runzelte die Stirn.

„Diogenes! Ein Grieche, der in einer Tonne gewohnt hat!“

„Is nich wahr, oder?“ Dave schüttelte ungläubig den Kopf. „Mann, die Menschen machen die verrücktesten Dinge, wenn man sie nur lässt!“ Er warf einen prüfenden Blick zum Himmel. „Muss schnell los. Wird gleich wieder pissen. Mach’s dir so lang gemütlich!“ Er wies auf zwei Deckstühle mit zerschlissener, mehrfach geflickter Bespannung und trabte davon zu dem Bach, der zwischen Buschwerk hervortrat und in einer felsgesprenkelten Rinne zum Meer floss.

Hermann ließ sich in einem der Stühle nieder und beobachtete durch den vorspringenden Rumpf geschützt, wie der Regen zurückkehrte und die gewellte See dengelte, als solle sie geglättet werden. Riesige Landkrabben krochen aus ihren Verstecken unter Steinen und umgestürzten Baumstämmen hervor und begannen, den Strand nach Nahrung abzusuchen. Der Regen wurde stärker; und bald war es schwer, einzelne Tropfen zu unterscheiden, mit solcher Wucht stürzte das Wasser herab.

Dave kam lachend im Badeanzug zurückgerannt. „Da kann ich mir das Baden sparen!“, rief er und warf das Kleidungsbündel in das Boot, tanzte mit ausgebreiteten Armen im Regen, streifte die Träger des Badeanzugs von den Schultern, legten den Kopf in den Nacken, schloss die Augen, wrang die Haare aus und schlüpfte schließlich unter den Rumpf, aus dem er kurz darauf abgetrocknet und vollständig bekleidet und mit zwei Flaschen Bier in der Hand wieder auftauchte. „Eis habe ich leider keins.“ Er reichte Hermann eine der Flaschen, stieß mit ihm an und trank ein paar tiefe Schlucke.

„Bist du von hier?“, fragte Hermann vorsichtig, dem der Fremde immer noch unheimlich war.

„Überhaupt nicht! Ich bin auf Hawaii geboren, aber Hawaii kannst du vergessen! Geht völlig den Bach runter. In Waikiki bauen sie ein Hotel nach dem anderen; und Jack London rührt die Werbetrommel. Jetzt machen sogar schon Filmstars Urlaub dort, stellen sich am Strand auf ein Brett, grinsen doof und lassen sich fotografieren. Das ist das Ende, was mich betrifft. Ich mein, ich werd sicher wieder zurückgehen. Meine Familie hat ne Ananas-Farm dort; und das ist kein schlechtes Leben, aber erst einmal reicht’s. Ist einfach nicht mehr wie früher. Nicht wie hier! Hier ist alles ruhig und gelassen. Keine Hula-tanzenden Fettsäcke weit und breit, keine geschmacklosen Hemden! Du hast deinen Frieden; keiner macht dir die Welle streitig; und die Leute sind noch freundlich, von den Mädels ganz zu schweigen.“ Dave ließ sich im zweiten Deckstuhl nieder. „Und du? Wo bist du her?“

„Deutschland!“, gestand Hermann, der mit dieser Offenbarung während seiner dreijährigen Reise quer durch Amerika seltsame und stark gegensätzliche Reaktionen hervorgerufen hatte, die von blankem Hass auf den ehemaligen Kriegsgegner über nostalgisch verklärte Erinnerungen an die Heimat der Vorfahren bis zu kaum verhohlener Bewunderung für das Land der Dichter, Denker und Musiker, der fleißigen Handwerker und vor allem der bahnbrechenden Naturwissenschaftler reichte.

„Wahnsinn! Mein erster Deutscher!“ Dave schüttelte den Kopf und ließ seine Locken fliegen. „Dabei hat euch die Insel doch mal gehört!“,

„Die meisten Deutschen haben die Insel nach dem Krieg verlassen. Manche freiwillig, viele unfreiwillig! Ein paar immerhin sind geblieben. Darunter ein Freund von mir! Er ist hier geboren, hat aber mit mir in München studiert und ist erst kurz vor dem Krieg wieder zurückgekehrt.“

„Dieser Krieg war ganz schön übel, was?“

Hermann nickte. Die Gräben und die Toten waren zwar verblasst, in seinem Herz herrschte aber eine Leere wie auf alten Schlachtfelder, über die der Nebel zieht und wo statt der übermütigen Lieder, der Spielmannszüge, der trotzigen Rufe, schmerzerfüllten Flüche, fatalistischen Schwüre, des ängstlichen Wieherns der Pferde, des Donnerns der Kanonen und des matten Knatterns der Gewehre nur noch das Krächzen der Krähen zu hören ist. Das Schreien der Möwen.

Dave blickte auf die regenverhangene See.

„War wirklich mies, was euer Kaiser da mit Frankreich und Russland angestellt hat. Aber er hat dafür zahlen müssen! Geschieht ihm ganz recht. Ich mein, nichts für ungut, aber das geht zu weit: Man kann nicht einfach bei den Nachbarn einmarschieren. Was, wenn das jeder machen würde? Wir bei den Kanadiern oder den Mexikanern zum Beispiel! Ich mein, schlechtes Beispiel, aber du verstehst, worauf ich hinaus will: Dieser Kaiser war einfach nicht gut für euch. Ihr habt diese tolle Insel verloren mit ihren irren Wellen; und das ist nur gerecht, weil ihr überall erobern und kolonialisieren müsst.“ Dave seufzte. „Mist, Mann, das ist alles so unnötig. Was braucht man anderes als Wellen, Mädels und ein bisschen Bier? Vielleicht ein bisschen mehr Bier! Und was Bier angeht, da macht euch keiner was vor, oder? Ist das Beste, heißt es.“ Er blickte den Gast fragend an, der an seine biergeschwängerte Heimatstadt denken musste, die sich nur selten aus dem behäbigen Wohlgefühl befreien konnte, in das sie das Produkt ihrer Brauereien versetzte, und endlich zustimmend brummte. Dave sprang erleichtert auf, verschwand im Lugger und kehrte mit zwei neuen Flaschen zurück, von denen er eine Hermann reichte. „Bist nicht sehr gesprächig.“ Er öffnete mit lautem Zischen den Schnappverschluss seiner Flasche und nahm wieder Platz. „Aber das ist für mich völlig okay. Ich bin’s nämlich auch nicht. Deshalb bin ich ja hier! Damit mit keiner ein Ohr abkaut! Damit mir keiner sagt, was ich tun und lassen soll! Wie zum Beispiel mein Vater! Ein echter Tyrann! Kannst dir nicht vorstellen, was der mich gepiesackt und herum gescheucht hat. Keine freie Minute hatte ich! Nicht für meine Ukulele und nicht fürs Wellenreiten! Die Faulheit ist der Vater der Sünde, sagt er immer, da bin ich fürs Erste abgehauen.“ Dave streckte sich und gähnte. „Warum bist du denn hier?“

„Ich suche Arbeit.“

„Arbeit? Hier?“ Dave verzog erstaunt das Gesicht. „Gibt’s nicht! Jedenfalls nicht für Weiße!“

„Ich habe in Amerika ein bisschen als Landvermesser gearbeitet. Und ich habe gehört, dass hier Straßen gebaut werden.“

„Nicht, dass ich wüsste!“ Dave schüttelte den Kopf. „Und wenn, dann sicher nicht so, dass da irgendwas vermessen werden müsste!“

Hermann ließ sich nicht entmutigen. „Der Freund, den ich besuche, sagt außerdem, dass die ganzen Plantagen noch nicht erfasst sind. Es gibt angeblich gar keine richtigen Grundbücher. Das wäre Arbeit für Monate, wenn nicht Jahre, sagt er.“

„Du meinst, das soll jetzt amtlich werden, dass das Land denen gehört, die es sich unter den Nagel gerissen haben?“ Dave, der gerade hatte trinken wollen, setzte die Flasche wieder ab und sah Hermann empört an.

„Passiert das nicht überall früher oder später?“ Hermann lächelte gequält. „Was charismatische Personen mit dem Schwert schaffen, wird von nachkommenden Bürokraten mit dem Stempel verbrieft.“ Er wusste, es war eine laue Rechtfertigung. Er war die grundsätzlichen Skrupel leid. Er war das Leid der Menschen leid.