Karibien - Xaver Engelhard - E-Book

Karibien E-Book

Xaver Engelhard

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Beschreibung

Er stammt aus einer dem Untergang geweihten Bergarbeiterstadt, seine Mutter ist eine verhärmte Bibelfanatikerin, der Vater an Krebs gestorben, der Stiefvater an einem missglückten Selbstmordversuch, aber aus Rodney ist trotzdem etwas geworden. Meint zumindest sein Kumpel Schmiss, mit dem er in Wilbourne, einem verregneten Kaff an der Westküste Amerikas, Kühlschränke und Fernseher klaut. Kompliziert wird sein Leben erst, als er sich auf einer ihrer Diebestouren Sylvie aufhalst, die übergewichtige Bewohnerin eines Puppenzimmers und skrupellose Intrigantin, die ihn bald in einen Plan verwickelt, mit dem sie doch noch zu der Karibikkreuzfahrt zu gelangen hofft, von der sie meint, dass sie ihr zusteht.

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Seitenzahl: 467

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Texte: © Copyright by Xaver Engelhard

Umschlag: © Copyright by Georg Engelhard Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Schriftsatz: Bernd Floßmann. ihrtraumvombuch.de

Printed in Germany

Gesetzt aus der Malaga

Karibien

Xaver Engelhard

Inhalt

Wilbourne

Sylvie

Melinda und Graham

Butt

Weihnachten

Melrose

Pfarrer Brown

Drew und Shady Jade

Das Big Sur des Nordens

Die Toteninsel

Eagle Claw

Karibien

Wilbourne

Das Projektil pfiff knapp über Sheriff Marges Kopf hinweg und ließ eine Planke des Schuppens hinter ihr zersplittern. Der peitschende Knall, dessen Schallwellen sich vom Waldrand aus in der feuchten, salzgesättigten Luft der Küste nur langsam ausbreiteten, folgte mit Verspätung. Dass plötzlich eines der beiden Blaulichter ihres Streifenwagens barst, war schon nicht mehr so überraschend.

Eine schmale Gestalt in schwarzen Jeans und schwarzer Motorradjacke tauchte unter dem gelben Flatterband hindurch, mit dem das Gelände weiträumig abgesperrt war, und lief geduckt zu den Polizisten, die jetzt hinter ihrem Fahrzeug Deckung suchten.

„Rodney!” Sheriff Marge schüttelte den Kopf. „Wie seltsam! Kaum dreht dein Kumpel Waldo mal wieder durch, tauchst du hier in der Stadt auf. Oder ist es etwa anders herum?” Sie musterte den Neuankömmling abschätzig und schlürfte aus einem Styroporbecher. Sie war einen halben Kopf größer als er. Ihre Dienstmütze schwebte auf einem Haufen blonder Locken. Die Ärmel der mit Teddyfell gefütterten Uniformjacke waren ihr zu kurz. Sie trug Stiefel und Männerhosen.

„Wo steckt er?” Rodney lugte über die Motorhaube und suchte mit zusammengekniffenen Augen eine zerschundene, ehemals als Holzlagerplatz genutzte Kiesfläche und den Waldrand an ihrem anderen Ende ab. Auf seiner Oberlippe zeigten sich spärliche Ansätze zu einem Bart. Die Wangen waren glatt, die schwarzen Haare mit Gel nach hinten gekämmt.

„Wieder irgendwo in Korea, wenn du mich fragst.” Marge stellte den Becher auf dem Dach ab, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fahrzeug, holte eine Tabakpackung aus der Brusttasche, drehte sich geübt eine Zigarette und zündete sie mit dem Feuerzeug an, das sie aus einem der Schubfächer auf dem Oberarm ihrer mit zahllosen Aufbewahrungsmöglichkeiten versehenen Jacke kramte. Sie stieß genüsslich den Rauch aus und betrachtete das Panorama, das vor ihr lag: eine graue, nasse Kleinstadt entlang einer grauen, nassen Straße und dahinter die graue, unbewegte See und am Horizont graue, niedrige Inseln, links und rechts ein paar eingeschossige Holzhäuser, manche rot, manche blau, alle klein und belanglos unter einem grauen, erdrückenden Himmel, direkt davor die einzige Ampel des Ortes, ein an Stahlseilen über der Hauptstraße aufgehängtes Blinklicht, das keine Kreuzung markierte, sondern nur die Abzweigung hinunter zum Hafen. Es regnete, aber das bemerkte Marge schon kaum mehr. In Wilbourne regnete es fast immer; und von Interesse waren höchstens die Wechsel in der Intensität des Niederschlags. Im Moment nieselte es, das heißt, anstatt zu fallen hing die Feuchtigkeit beinahe reglos in der Luft. Sie hing in der Luft und schlug sich auf allen Oberflächen nieder. Marge warf angewidert die gerade erst angezündete und bereits ganz aufgeweichte Zigarette fort. Im gleichen Moment explodierte der Becher, den sie auf dem Autodach hatte stehen lassen.

„Scheiße!” Marge wischte sich Kaffeespritzer aus dem Gesicht. „Das nehm’ ich persönlich. Diesmal buchte ich ihn ein, das verspreche ich euch. Er wird sich noch wünschen, er wär’ den Schlitzaugen in die Hände gefallen und nicht mir.”

„Hey Marge, warum lässt du es nicht erst einmal mich versuchen? Er hat es nicht so gemeint, ehrlich. Er ist nur ...” Rodney hatte seine Stirn in Falten gelegt und blickte bettelnd zum Sheriff hoch.

„Verflucht noch mal, Rod, schau dir doch das Blaulicht an! Das ist Eigentum des Countys, was er da zerstört hat. Das wird er bezahlen müssen, dein abgebrannter, versoffener Russki, und wenn ich den ganzen Laden voll vergammelter Postkarten pfänden lasse.”

„Natürlich, Marge! Ich bin da ganz bei dir. Und ich bin mir sicher, er sieht das ganz genau so und wird, sobald er nüchtern ist, alles wieder gutmachen. Nur wenn er trinkt, du weißt, er hat diese Bilder im Hirn, und der Alkohol, irgendwie schiebt der die Chinesen über ...”

Einer der Reifen des Streifenwagens platzte so laut, dass sie den Knall des Schusses gar nicht mehr hörten.

„ … die braven Bürger Wilbournes. Ich bring ihn hinter Gitter. Wenn ‘s diesem verrückten Russki bei uns nicht gefällt, dann ...” Marges Gesicht war rot angelaufen. Sie öffnete die Klappe ihres Halfters, um die Pistole zu zücken.

„Marge, er weiß im Moment gar nicht, dass er es mit uns zu tun hat, und er ist auch gar kein Russe; und ich weiß, er wird den Reifen wechseln, und …Scheiße Marge, sag den Leuten, sie sollen da weggehen!” Rodney versuchte, ein paar Neugierige, die sich immer näher an das von Marges Assistenten Frank nur nachlässig bewachte Flatterband drängten, mit wilden Armbewegungen zu verscheuchen.

Marge ließ sich auf den Hacken ihrer unter den Hosenbeinen verborgenen Stiefel nieder. Sie hielt die Pistole mit abgewinkelten Ellbogen in beiden Händen, schob mit der Mündung den Schirm ihrer Mütze weiter nach oben, presste den blau-schwarzen Lauf gegen die Stirn und dachte nach. Endlich blickte sie auf.

„Also, dann hör mal zu, Bürschchen! Du hast jetzt genau fünf Minuten, um deinen durchgeknallten Kumpel zur Vernunft zu bringen. Dann habt ihr fünfzehn Minuten, um mir einen Blankoscheck für ein neues Blaulicht und einen neuen Reifen auszustellen, das Reserverad zu montieren und mir einen Kaffee zu holen, hast du verstanden? Eine Minute länger und ich bring’ den Typ wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt, Landfriedensbruch und Erregung öffentlichen Ärgernisses hinter Schloss und Riegel. Und dich als seinen Komplizen! Okay?”

Rodney nickte eifrig. Von seinem dünnen Schnurrbart hingen gleißende Perlen; und es war unklar, ob es Regen war oder Schweiß.

„Klar, Marge, überhaupt kein Problem, ehrlich, und ...”

„Und eins versprech’ ich dir: Beim nächsten Mal nehm’ ich ihn hops, ganz egal, was du sagst.“ Marge holte tief Luft und stieß sie mit geblähten Backen wieder aus. „Du hast seltsamen Umgang; und allmählich frag’ ich mich, wieso.”

Rodney wollte zu einer längeren Erklärung ausholen, sah aber, dass Marge gebückt die Fahrertür öffnete, und ließ es bleiben. Sie holte ein Megafon hervor und reichte es ihm. Rodney seufzte ergeben, trat aus der Deckung des Streifenwagens, kletterte über einen Holzzaun und betrat die Kiesfläche, auf der noch ein paar Baumstämme verrotteten. Dann blieb er stehen, hob das Megafon zum Mund und rief: „Bauer E 4!”.

Waldo trug Gummistiefel, ein rotes Stirntuch und eine dicke Hornbrille und war bis auf eine verschlammte Feinrippunterhose völlig nackt. Sein Körper war schwer und stämmig, das Haar auf dem Kopf zu einer Bürste geschoren und genauso grau wie der gepflegte Vollbart. Die Lippen waren blau angelaufen. Sein Blick glitt fremd über die versammelten Menschen. Er zitterte und stützte sich auf Rodney, der eine Wolldecke über seine Schultern gebreitet hatte.

„Wo kriegt er bloß immer die Knarren her?”, fragte Marge beim Anblick des Präzisionsgewehrs und des riesigen Revolvers, die Hilfssheriff Frank sichergestellt hatte. Die Frage war an niemanden Bestimmtes gerichtet, sondern Teil eines verwunderten Selbstgesprächs. Der Tankstellenpächter, der das Reserverad montierte, erhob sich, sah sich um, was wegen der riesigen Kapuze seines Ölzeugs, schwierig war, entdeckte, dass er der einzige in Marges Nähe war, und nahm es auf sich, dem offenbar niedergeschlagenen und im Moment nicht nur des Blaulichts, sondern des ganzen Streifenwagens beraubten Sheriff zu antworten.

„Ich weiß nich’. Is uns allen ‘n Rätsel.” Er ahnte, Marge verzweifelte im Moment an ihrer Aufgabe. „Vielleicht hat er sie irgendwo vergraben. Vielleicht kauft er sie sich auf Waffen-Shows.” Er machte eine kurze Pause. „Ehrlich, Marge, das mit dem Blaulicht kriegen wir in Nullkommanix wieder hin. Sieht dann aus wie neu. Frank ruft ...”

„Halt die Klappe! Die ganze scheiß Stadt ist einen Dreck wert; und das weißt du so gut wie ich. Ich kann ‘s gar nicht erwarten, dass sie die endlich platt machen.” Marge löste sich von dem Streifenwagen, an dem sie gelehnt hatte, und wandte sich an Waldo, Rodney und den Hilfssheriff, die beim Schuppen im Schutz des ein wenig vorstehenden Dachs gewartet hatten.

„Die Knarren in den Kofferraum!” Sie wies Frank mit einer ruckartigen Kopfbewegung den Weg. Dann wandte sie sich an Waldo. „Hör mal her, du Früchtchen! Ich weiß, du bist Veteran und hast ne Menge Scheiß erlebt da drüben und keiner hat ‘s dir je gedankt oder erinnert sich auch nur an den Krieg, den ihr da fast verloren habt, aber irgendwann muss Schluss sein und sogar meine Geduld ist begrenzt. Verstehst du, worauf ich hinauswill?”

Waldo sah sie nicht an, sondern blickte beschämt zu Boden.

„Er weiß es, Marge“, behauptete Rodney hastig. „Ich hab ‘s ihm schon klargemacht; und er hat versprochen, dir ein neues Blaulicht zu kaufen, und wird so was nie wieder tun, oder, Waldo?” Er sah seinen Freund an, neben dem er noch schmächtiger wirkte.

Waldo nickte fast unmerklich.

Marge stöhnte.

„Okay, bringt ihn in die Klinik! Doc Simmons wartet schon mit ner Spitze.”

„Wird erledigt! Wir nehmen meinen Wagen. Mach dir deshalb keine Sorgen! Es wird alles wieder in Ordnung kommen, Marge, und wenn du willst, besorg’ ich dir morgen noch ein paar Donuts.”

„Schon gut! Schau lieber, dass ihr mir nicht mehr unter die Augen kommt!”

„Natürlich! Aber … du hast da noch ein bisschen Kaffee auf der Braue!” Rodney wollte den Tropfen schon wegwischen, Marges abweisender Blick belehrte ihn jedoch eines Besseren.

„Frank, diese Stadt ist ‘n Saustall. Wir sind so ‘ne Enttäuschung für Marge. Wir müssen uns wirklich bessern.” Rodney steuerte seinen altersschwachen Lieferwagen, der in einer stumpfen, undefinierbaren Farbe lackiert war, umsichtig und ließ keine Gelegenheit aus, die Blinker zu betätigen, von denen der rechts hinten allerdings kein Glas und keine Birne mehr hatte.

„Ja, die arme Marge!” Frank kurbelte das Fenster in der Beifahrertür herunter und spuckte Kautabaksaft auf die Straße. Er hatte ein tiefes Loch in der Wange wie die Narbe eines Durchschusses. Das Haar auf seinem Kopf sah aus wie fahles Schilf im Herbst. „Sie hat was Besseres verdient als Wilbourne. Aber keiner zwingt sie, sich das anzutun! Und ihrem Vorgänger hat die Stadt nichts ausgemacht.”

„Sheriff Quincey war einer von hier. Er kannte sich aus. Er hatte keine hohen Erwartungen. Aber Marge ... Sie hat diese Illusionen. Sie meint, Wilbourne sollte ‘ne nette Kleinstadt sein, wo alle lieb zu einander sind und Plastikflamingos in den Rasen vor dem Haus stecken. Stattdessen ...”

„Nun, Wilbourne is’ Wilbourne; und je schneller sie sich daran gewöhnt, desto besser für alle Beteiligten!”

„Klar, aber für jemanden, der von außerhalb kommt, ist das gar nicht so einfach. Ich hab’ auch ne Weile gebraucht.”

„Aber du hast dich inzwischen ganz gut eingelebt, hab’ ich recht?”

„Ja, schon! Nur manchmal ist es auch für mich ein bisschen viel! Ich kann schon verstehen, warum es Leute gibt, die hier alles abreißen und verändern wollen. Es ist wirklich kein Wunder, dass die Touristen nicht anhalten.” Rodney ließ im Vorbeifahren den Blick über den Hafen und ein Areal voll rostiger Kräne, noch rostigerer Schiffsrümpfe und zu Bergen aufgestapelter Metallfässer schweifen, von denen jedes einzelne wie eine rostige Büchse der Pandora aussah. Ein Holztransporter kam ihnen eingehüllt in eine Gischtwolke entgegen. Rodney seufzte leise und wandte sich halb nach hinten, zum Laderaum, wo Waldo in seine Wolldecke gehüllt am Boden kauerte. „Alles in Ordnung, Häuptling?”

Waldo reagierte nicht.

Sie bogen noch einmal ab und fuhren bald vor einem baumumstandenen, mit allerlei Farbflächen um eine fröhliche und optimistische Ausstrahlung bemühten Flachbau vor.

Rodney legte die Fachzeitschrift der holzverarbeitenden Industrie beiseite, in der er geblätterte hatte, stand auf und ging mit einem vorsichtigen Lächeln auf Waldo zu, der von einer dunkelhäutigen und plattfüßigen Krankenschwester durch eine Doppeltür mit bruchsicheren, drahtverstärkten Scheiben geführt wurde, die den neuerdings in hellblau und türkis gehaltenen Aufenthaltsbereich von der Krankenstation trennte.

„Ham sie ganz nett hergerichtet, oder?“, rief er statt einer Begrüßung und wies mit dem Kinn auf das neue Mobiliar.

Waldo grunzte nur. Er trug einen dunkelroten, von grauen Streifen durchzogenen Morgenmantel und schlappte auf seinen Pantoffeln zu der kleinen Sitzgruppe am Fenster, während die Schwester zurückblieb und ihm sorgenvoll hinterher blickte.

„Zehn Minuten, mehr nicht!“, bestimmte sie. „Mr. Woldorowitz hat ein Beruhigungsmittel bekommen und braucht seine Ruhe.”

„Is’ klar.” Rodney legte die Hand an die Stirn, als wolle er salutieren, fuhr sich aber im letzten Moment einfach durch das schwarz glänzende Haar. „Ich will bloß sicher gehen, dass er alles hat, was er braucht.” Er blickte dem breiten Rücken der Krankenschwester hinterher, die zurück zur Tür watschelte.

„Mr. Woldorowitz hat hier inzwischen ein persönliches Depot“, knurrte sie schlecht gelaunt, bevor sie durch die Tür verschwand.

„Mr. Woldorowitz hat offenbar eine neue Freundin gefunden“, behauptete Rodney mit hoher Stimme und imitierte den Tonfall der Krankenschwester. Er rieb sich die Hände und setzte sich zu Waldo auf eines der Sitzmöbel, die bunte Buchstaben oder Zahlen vorstellten. Waldos b war noch einigermaßen bequem, die 4 jedoch war kaum mit der menschlichen Anatomie vereinbar, wie Rodney bald feststellen musste. „Ansonsten alles okay?”

Waldo zuckte mit der Schulter und blickte aus dem Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte.

„Die Arschlöcher tun grad so, als hätt’ ich ‘nen Hau.”

Rodney nickte verständnisvoll.

„Kotzt mich an, diese Heuchelei. Tun alle so, als ginge es darum, dir zu helfen und dich irgendwie zu heilen, dabei wollen sie dich bloß vollspritzen und ruhigstellen, damit sie weiter ungestört fernsehen können.” Waldo warf einen Blick zur Tür, dann beugte er sich leicht nach vorne. „Ham ‘ne scharfe neue Schwesternschülerin. Der würd’ ich gern mal ‘ne Kanüle legen.” Er kicherte. „Und glaub bloß nicht, dass ich das nicht noch könnte! In echt, mein’ ich. Hab’ nämlich selbst mal in so ‘nem Schuppen gearbeitet. Drüben in New York! War so ‘n Altersheim für Russen. Mit ‘nem Popen, der Lachgas geschnüffelt und sich am Pier im Surfen versucht hat!” Er schüttelte versonnen den Kopf. „Kind seiner Zeit.” Er rückte mit seinem Sessel näher an Rodney heran. „Hey Rod, du musst mir unbedingt was zum Trinken besorgen. Ich brauch’ nur eine Flasche. Du kannst sie ja wieder umfüllen und zu den Reinigungsmitteln stellen.”

„Die haben hier alles umgebaut. Die Kammer gibt ‘s nicht mehr. Hab’ schon nachgeschaut. Außerdem ... ich weiß nicht ... Du hättest wirklich jemanden verletzen können.”

„Verletzen!?“, höhnte Waldo. „Das sind doch alles Schemen. Die wissen von nichts. Von überhaupt nichts! Wie willst du die verletzen? Der einzige Verletzte bin ich, tief in mir drinnen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, wenn die Druckwelle der Granaten die anderen aus ihren flachen Gräbern hebt und sie vor dir hängen mit ihren zerfetzten Leibern.” Er holte kurz Atem, beugte sich zu Rodney und zischte: „Du weißt nicht wie das ist.” Er packte Rodney an der Schulter. „Ich hab’Angst zu schlafen. Ich hab’Angst, dass sie dann kommen. Ich darf die Augen nicht zumachen. Ich muss wachsam bleiben. Aber diese scheiß Ärzte, die wollen ja nur, dass ich Ruhe gebe! Sie wollen mir gar nicht helfen. Die stecken mit ihnen unter einer Decke. Weil, wenn ich nicht aufpasse, dann kommen sie wieder, dann kriechen sie aus ihren Gräbern, dann beginnt der ganze scheiß Krieg von vorne.” Er war immer lauter geworden und schrie am Ende mit voller Lautstärke. Die beiden Flügel der verglasten Doppeltür sprangen auf und krachten gegen die Stopper. Die Krankenschwester und ein breiter, kahl geschorener Pfleger kamen auf Rodney und Waldo zu gerannt.

„Nein!“, flehte Waldo. „Nein!” Er riss einen Arm vor das Gesicht und streckte den anderen abwehrend in Richtung der Schwester. Der Pfleger packte ihn von hinten und nahm ihn geübt in eine Art Polizeigriff.

„Sie gehen jetzt besser!” Die Schwester sah Rodney vorwurfsvoll an.

„Es tut mir leid, aber ...” Rodney stand auf und beobachtete, wie der Pfleger Waldo mit großer Mühe zur Tür schob.

„Nein!“, wiederholte Waldo. „Das dürft ihr nicht. Nein!”

„Was meinen Sie denn: Wann kann er wieder Schach spielen?”

„Keine Ahnung!“ Die Krankenschwester verschränkte die Arme. „Es wird jedes Mal schlimmer. Und Sie wissen ja selbst: Das Schachspielen beruhigt ihn nicht gerade.”

„Aber es lenkt ihn ab!”

Die Krankenschwester nickte nachdenklich.

„Kommen Sie nächste Woche wieder! Ich hoffe, wir haben ihn bis dahin so weit runtergefahren, dass er wieder einigermaßen klar denken kann.”

Es war Nacht. Rodneys Dodge, der mit einer Rostschutzfarbe bepinselt war, die ihn in der Dunkelheit so gut wie unsichtbar machte, rollte durch die verlassenen Straßen eines Vororts von Squish, der nächsten größeren Stadt, wenn man von Wilbourne aus der Küste nach Norden folgte. Auf dem Beifahrersitz saß Schmiss, Rodneys Gehilfe, der sich durch braune Mandelaugen und blondes Stoppelhaar auszeichnete, dicke Muskeln und einen runden Kopf.

„Wie hast ‘n das schon wieder ausbaldowert?” Obwohl sie jetzt seit einem halben Jahr zusammenarbeiteten, hatte Schmiss noch nichts von der ursprünglichen Bewunderung für seinen Chef, das Superhirn ihrer Zwei-Mann-Bande, eingebüßt.

„Stand in der Zeitung. Die haben ‘ne Karibikkreuzfahrt im Bingo gewonnen; und es gab ein Foto von ihnen vor ihrem Haus; und das ist nicht von schlechten Eltern.”

Schmiss kicherte und schüttelte den Kopf.

„Die wer ‘n sich ganz schön wundern, wenn sie zurückkommen. Aber brauchen sich nich’ zu beschwer ‘n. Ham sich schließlich Karibien anschauen dürfen.” Er räkelte sich ein bisschen. „Muss ‘n tolles Land sein. Mit Affen und so!”

„Es heißt Karibik, und es ist kein Land, sondern ein Meer voller Inseln!”

„Is doch egal.” Schmiss, der sich nicht gerne belehren ließ, verschränkte die dicken Arme und schmollte, hielt dies aber nicht lange durch. „Stell’ ich mir jedenfalls irre vor: lauter Sand und Kokosnüsse, und die Mädels ham fast nix an! Da verstecken wir uns, wenn wir mal so ‘n richtig großes Ding gedreht ham. Wie die Piraten! Wir vergraben alles und lassen es uns gut gehen. Was meinst du?”

„Kühlschränke kannst du nicht vergraben. Die gehen kaputt davon.”

„Scheiße! Doch nich’ die Kühlschränke!“, rief Schmiss empört, denn er fand, mit solcher Begriffsstutzigkeit wurde Rodney seinem Status als Superhirn nicht gerecht. „Wir klauen doch nich’ unser Leben lang nur Kühlschränke.”

„Ja, mal schauen!” Obwohl er seit ein paar Jahren seinen Lebensunterhalt als Einbrecher verdiente, war Rodney kein Abenteurer. Nur widerwillig hatte er sich von Schmiss dazu überreden lassen, ihren Geschäftsbereich zu erweitern und neben Kühlschränken und Fernsehern auch Computer und sonstige elektronischen Geräte als Beute anzusehen.

„Mal schauen, mal schauen!“, brummte Schmiss verächtlich. „So kommen wir nie nach Karibien!”

„Vielleicht ist das auch besser so: Wirst gleich sehen, wie ‘s Leuten ergeht, die dorthin fahren!” Rodney kicherte; und Schmiss stimmte mit ein und warf seinem Chef einen dankbaren Blick zu.

Die Fenster des weitläufigen Bungalows waren tatsächlich alle dunkel. Rodney parkte den Lieferwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, schlich mit Schmiss um das Haus herum und musste sich nur kurz an dem Schloss der hinteren Tür, die aus dem baumbestandenen Garten in die Küche führte, zu schaffen machen, damit der Riegel zurückschnappte. Schmiss hatte es längst aufgegeben, ihn dabei zu beobachten, um eventuell hinter das Geheimnis seiner offenbar mühelosen Kunst zu kommen.

Sie orientierten sich im Schein ihrer Taschenlampen, machten sich routiniert an die Arbeit und trugen CD-Spieler, Videogerät und Fernseher in die Diele, von wo aus sie verladen werden sollten. Schmiss wollte nachsehen, wie es um Kühlschrank, Tiefkühltruhe und ähnlich sperrige, dafür leicht verkäufliche Geräte bestellt war; Rodney begab sich auf die Suche nach sonstigen Wertgegenständen und hörte dabei verdächtige Geräusche aus dem Keller. Er schlich die Treppe hinunter. Tatsächlich: Es klang, als würde dort ein Fernseher laufen. Vielleicht ein Zweitgerät, das die Eigentümer auszuschalten vergessen hatten und welches er und Schmiss ohne diesen glücklichen Umstand übersehen hätten! Er lächelte, öffnete eine Tür, auf der Daddy ‘s Liebling geschrieben stand, und trat in eine ganz in Rosa und Hellblau gehaltene Jungmädchenhölle. Es war, als wäre er plötzlich geschrumpft und in Barbies Puppenvilla geraten. Deren deutlich übergewichtige Bewohnerin lag in einem mit possierlichen, Schleifen-geschmückten Hunden bedruckten Pyjama inmitten einer üppigen Bettlandschaft, tief zwischen unzähligen pastellfarbenen Kissen versunken, naschte aus einer Packung Ding Dongs und sah sich gelangweilt eine Quiz-Show an.

„20 Punkte für die Hauptstadt von Mexiko und er benutzt den Joker!“, schimpfte sie. „Die Leute werden durch diese Shows nur noch blöder, hab’ ich das Gefühl.” Es fiel ihr schwer, den Blick vom Bildschirm abzuwenden, um den so überraschten wie überraschenden Besucher kurz und abfällig zu mustern. „Was willst du denn hier?”

„Ich ... ich dachte, es ist niemand hier.”

„Schade! Ich hatte gehofft, du bist gekommen, um mir ein bisschen Gesellschaft zu leisten.” Sie griff nach einer Carlton, dankbar für jede Ablenkung an diesem Abend, an dem sich sämtliche 112 über die Satellitenschüssel zu empfangenden Sender gegen sie verschworen hatten. Sie wälzte sich von links nach rechts und zog schließlich das Feuerzeug hervor, das unter ihren Hintern gerutscht war. „Einbrecher oder was?” Sie zündete sich die Zigarette an, tat einen geübten Zug und stieß eine Rauchwolke aus. Ihre Fingernägel waren grün, ausgesprochen lang und für fast jede Tätigkeit außer dem Verfertigen künstlicher Fingernägel ungeeignet. Kleine Glitzersternchen klebten auf ihren Wangenknochen. Die Zigarettenschachtel steckte in einem gehäkelten Überzug.

Rodney wollte zuerst alles leugnen, konnte aber auf die Schnelle keine plausible Ausrede für sein nächtliches Erscheinen in einem ihm völlig fremden Haus finden. Schließlich nickte er vorsichtig.

„Ich hab’ den Fernseher gehört und da ...”

„Und statt abzuhauen kommst du hier reingelatscht! Scheinst mir ja auch ‘n ziemlicher Trottel zu sein. Schon mal daran gedacht, an so ‘ner Quiz-Show teilzunehmen?” Sie betrachtete ihn gespannt.

„Äh, nein, nicht direkt, ich ...” Rodney errötete.

„Willst du etwa, dass ich aufstehe und dir irgendwie behilflich bin?” Sie prustete los, erheitert von so viel Naivität. Sie stand nicht einmal auf, um ihrem Vater behilflich zu sein, und das schon mindestens seit er die neue Frau hatte. Sie beruhigte sich mit einem letzten Schnauben. „Oder willst du mich am Ende vergewaltigen?” Eine absurde Vorstellung, sah man den schmächtigen Rodney vor ihrem riesigen Körper stehen! Sie pickte mit der gleichen Hand, die auch die Zigarette hielt, einen Ding Dong aus der offenen Schachtel neben sich, begann, nachdenklich daran zu knabbern, und musterte Rodney. „Würde mir vielleicht gar nichts ausmachen. Bist ‘n hübsches Bürschchen.”

„Nein nein, das geht leider nicht. Wir haben oben schon alles fertig und müssen gleich abhauen.” Rodney wedelte mit der Hand.

„Wir? Also auf Schweinereien steh’ ich nich’. Ich zieh’ mein Angebot zurück.” Sie griff verärgert nach der Fernbedienung und schaltete zu einer Talkshow um. Eine Frau beschwerte sich wortreich darüber, dass sie ihren Freund nicht dazu bringen könne, sich die Haare zu schneiden. „Da hört sich doch alles auf“, brummte die Dicke leise. „Kannst du das glauben?”, fragte sie lauter und an Rodney gewandt.

Rodney schüttelte den Kopf und sah sich vorsichtig in dem Zimmer um. Außer dem Fernseher gab es nichts, was den Abtransport gelohnt hätte.

„Bist du vielleicht auch so einer, wo sich nich’ pflegt?” Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu und musterte seine Frisur. Ihr eigenes Haar war im Moment kupferrot und fiel in langen, schillernden Wellen auf die Schultern. „So was kann ich nämlich überhaupt nich’ ab.”

Wieder schüttelte Rodney den Kopf.

„Wird dein Kumpel da oben nicht unruhig, wenn du so lange weg bleibst?” Sie drückte die Zigarette in einen randvollen Aschenbecher, der zwischen den Kissen verborgen war, und griff gleich nach der nächsten.

„Sie sollten nicht im Bett rauchen, wissen Sie?!“, stammelte Rodney. „Eigentlich sollten Sie überhaupt nicht rauchen!”

„Mein Gott, das kann dir doch nun wirklich scheiß egal sein, was ich mit meinem Körper mach’! Du willst mich doch eh nur ausrauben.” Sie warf ihm einen schlauen Blick aus dem Augenwinkel zu. „Und missbrauchen, falls du Manns genug dazu bist! Was ich ehrlich gesagt bezweifle!” Sie sog mit demonstrativem Genuss an der Zigarette.

„Um Gottes Willen!” Rodney hob abwehrend die Hände. „Wir nehmen nur ein paar von den elektrischen Geräten mit.”

„Von mir aus könnt ihr euch schnappen, was ihr wollt. Fahren ohne mich in den Urlaub und glauben, ich bin so blöd und pass’ so lange auf ihre Klunker auf! Die wird sich wundern.”

„Gibt es denn etwa Juwelen?” Rodney schaute die Frau erstaunt an. „Vielleicht in einem Safe?“

„Du meine Scheiße, was glaubst du denn, wo du gelandet bist? In ‘nem Luxushotel am Strand von Nice?” Sie sprach den Namen der französischen Hafenstadt betont falsch und betont englisch aus. „Der Schmuck ist im Wohnzimmer unterm Sofakissen. Aber versprich dir nicht zu viel davon! Das Meiste is’ aus’m HOT.”

„Was ist mit Computern. Schmiss ist ...”

„Schmiss? Klingt nicht sehr amerikanisch, wenn du mich fragst. Is’ doch kein Schwarzer, oder? So einen lass’ ich bestimmt nich’ ran.” Sie kicherte.

„Er hat deutsche Vorfahren“, stellte Rodney empört klar. „Zumindest zum Teil!”

„Na, das is’ aber ‘ne Beruhigung! Ein verfluchter Nazi nimmt mir die Bude auseinander. Gibt ‘s denn keine Juden mehr, mit denen die spielen können? Das hätten die sich mal vorher überlegen sollen, bevor sie die alle durch den Schornstein jagen.” Sie setzte sich mühsam auf und angelte mit ihren auffällig kleinen Füßen nach den Plüschpantoffeln vor dem Bett. Sie streifte mit der Zigarette im Mund ein weites, Kaftan-ähnliches Hemd über den Pyjama.

Rodney streckte beide Arme aus.

„Bitte keine Umstände! Wir finden das Zeug auch allein, ehrlich!”

„Du lässt nich’ locker, was? Gönnst mir nich’ mal für ‘nen Augenblick die Illusion, dass dein Eindringen hier romantische Gründe haben könnte.” Sie warf ihm unter langen, aufgeklebten Wimpern einen koketten Blick zu. „Du bist doch ‘n Eindringling, oder?”

„Ich weiß nicht. Ich ...”

„Werd’ mir auf jeden Fall mal diesen Schmiss anschauen. Vielleicht is’ mit dem ja mehr los.” Sie fuhr sich durchs Haar. „Bei diesen Krauts kann man leider nie wissen. Von denen sind viele voll pervers, heißt es.”

„Du meine Güte, was ist denn da oben los?”, fragte die Dicke schon auf der Treppe, die aus dem Keller führte, und rümpfte die Nase. „Wonach stinkt ‘s denn hier?“

Rodney war genauso erstaunt wie sie, hatte aber sofort einen Verdacht.

„Äh ... das ... ja, das ist vermutlich mein Partner Schmiss.“

„Und der riecht so?“ Sie blickte ihn ungläubig an. Sie waren im Flur angelangt und näherten sich der Küche, aus der der Brandgeruch zu kommen schien. Sie traten durch die Tür und blieben verblüfft stehen.

Schmiss hatte sich eine Schürze umgebunden, stand pfeifend vor dem spiegelblanken, in Abwesenheit des Hausherren und dessen neuen Ehefrau kaum benutzten Herd und frittierte ein paar schwarz-braune, nach Fisch riechende Klumpen in einer Pfanne voll Fett.

„Verflucht noch mal, bist du verrückt geworden?”, schrie Rodney, um einem Wutausbruch der einen noch verbliebenen Hausbewohnerin zuvorzukommen. „Was machst du denn da?”

Schmiss zuckte zusammen und drehte sich mit einem schwarz verkrusteten Bratenwender in der Hand um.

„Ich ... Hey, wer is ‘n das? Wo hast ‘n die Schnecke her? Ich dachte, die Bude is’ leer.” Er wandte sich wieder der Pfanne zu und kratzte zwischen den blubbernden Batzen herum. „Wollt ihr ‘n paar? Ich hau’ sie auf ‘n Stück Toast und mach’ ‘nen Salat dazu. Is’ welcher im Kühlschrank. ‘N bisschen welk, aber sonst ganz okay!”

Rodney schüttelte stumm den Kopf, um der Dicken zu zeigen, dass er hilflos und genauso betroffen war wie sie.

„Sind das Fische?”, erkundigte sie sich leise bei ihm. „Die Fische aus dem Aquarium?”

In Rodney stieg ein schrecklicher Verdacht auf. Er zwängte sich an ihr vorbei, verließ die Küche, durchquerte den Flur und eilte ins Wohnzimmer. Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe kurz über das Aquarium streifen, das er dort bei seinem ersten Streifzug durch das Haus entdeckt hatte. Bis auf die Pflanzen und drei benommene Guppys war es völlig leer. Der Kescher lag quer über dem Glaskasten. Rodney musste schlucken, machte kehrt und wollte in die Küche zurück, da bemerkte er, dass die Dicke ihm gefolgt war.

„Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll“, stammelte er. „Er ist sonst ...”

„Du willst doch nicht etwa sagen, der Schwachkopf brät die Fische aus dem Aquarium? Die Lieblinge meines Vaters? Seine wertvollen Amazonasschönheiten?”

Rodney nickte vage. Er ahnte, während er im Keller geplaudert hatte, war Schmiss über das Aquarium voll exotisch schillernder Zierfische hergefallen. Fettfreies, aufregend verpacktes Eiweiß! Schmiss’ gesamte Lebensphilosophie ließ sich auf Kohlenhydrate und Proteine reduzieren. Für ihn war das ungewöhnliche Äußere der Zierfische vermutlich Hinweis auf einen interessanten Geschmack gewesen.

Die Dicke brach in ein gewaltiges Lachen aus. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen. Wellen liefen über ihr Fett. Sie beruhigte sich nur langsam und stützte sich schnaufend am Türrahmen ab.

„Ehrlich, wenn ihr nich’ von selbst gekommen wärt, hätt’ ich euch rufen sollen. Ich hoffe, ihr scheißt ihnen auch noch auf den Teppich.”

Rodney fühlte sich zutiefst in seiner Einbrecherehre gekränkt.

„Ich muss doch sehr bitten! Wir sind keine Vandalen, Miss!”

Die Frau kam augenblicklich zu sich.

„Wenn du mich belästigen willst, dann richtig, aber nich’ mit so dummen Sprüchen, okay? Oder ist das alles, was du draufhast?”

Rodney warf ihr einen bösen Blick zu und kehrte, ohne sie einer Antwort zu würdigen, in die Küche zurück.

„Du wirst uns noch auf den elektrischen Stuhl bringen mit deinen Schweinereien“, raunte er Schmiss zu, der es sich mit einem Teller und zwei Scheiben Toast, auf dem braune, schwarz verkrustete Häufchen lagen, am Küchentisch bequem gemacht hatte.

Schmiss stellte Messer und Gabel auf und blickte begriffsstutzig zu seinem Boss hoch.

„Tierquälerei!“, erläuterte dieser. „Das ist das Schlimmste, was es gibt”.

„Aber das sin’ nur Fische! Schmecken nich’ mal besonders gut. Willste mal probieren?”

Rodney schüttelte unwillig den Kopf.

„Wir haben jedenfalls definitiv ein Problem. Sie hat uns gesehen. Und sie kennt deinen Namen.”

„Sie kennt meinen Namen?”

Rodney nickte kurz.

„Sie ist raffiniert.”

„Willst du sie etwa ...” Schmiss machte große, erschrockene Augen und fuhr sich mit dem fettigen Messer über den Hals.

„Ich weiß nicht.“ Rodney stöhnte gereizt. „Keine Ahnung, was wir tun sollen!”

Schmiss schaute ihn noch eine Weile an und runzelte dabei die Stirn, denn er wusste, dies tat man angesichts von Problemen. Als dies zu keiner Lösung führte, wandte er sich wieder seinem Toast zu, sägte ein großes Stück ab und schob es sich in den Mund. Rodney sah schweigend zu, wie sein Freund die Mahlzeit beendete.

„Und du frisst die Dinger wirklich? Ich hätt’ gewettet, die Hälfte von denen is’ giftig, so wie die ausgesehen haben.”

Schmiss und Rodney zuckten zusammen und blickten schuldbewusst zur Küchentür. Die Dicke trug jetzt einen türkisen Hosenanzug. Eine brennende Zigarette steckte zwischen ihren Lippen.

„Wie wär ‘s mit ‘nem richtigen Frühstück?”

„Jetzt?”

„Klar! Der Geruch ist zwar widerlich, aber ich hab’ Hunger davon gekriegt.”

Bevor Rodney etwas einwenden konnte, hatte Schmiss bereits akzeptiert.

„Na, das is’ mir mal ‘n ganzer Kerl.” Sie betrachtete Schmiss anerkennend. „Dacht’ ich mir schon, dass diese Glitzerdinger bei dir nich’ lang’ vorhalten. Wir wär ‘s stattdessen mit ‘ner Runde Eier und Speck für alle?”

Schmiss nickte freudig; und Rodney stimmte zögerlich mit ein, als er erkannte, dass seine Weigerung nichts ändern würde.

„Na also! Wer sagt ‘s denn! Vielleicht wird aus deinem Kumpel ja doch noch was.” Sie blinzelte Schmiss zu und öffnete den turmhohen Kühlschrank, den Schmiss für den Abtransport bereits einen halben Meter weit nach vorne gerückt hatte. „Wie heißt ihr überhaupt?”

Schmiss nannte ihr stolz seinen Namen. Rodney überlegte kurz, ob er sich einen Alias zulegen sollte, ahnte aber, dass dieser nicht lange Bestand haben würde und als Beweis mangelnden Vertrauens gegen ihn verwendet werden könnte, und blieb auch bei der Wahrheit.

„Und ich bin Sylvie!” Sie hielt eine Schachtel Eier und eine Reihe in Plastikfolie eingeschweißter Speckscheiben in der Hand. „Nett, euch kennen zu lernen, Jungs!”

„Ganz meinerseits!“ Schmiss strahlte zufrieden und griff nach dem Glas Milch, das er sich eingeschenkt hatte.

Sylvie wischte die Pfanne, die Schmiss auf dem Herd hatte stehen lassen, mit einer Handvoll Küchenpapier sauber, legte sechs Streifen Speck hinein und starrte diese an, als wollte sie sie mittels telepathischer Energie braten. „Ich habe nachgedacht“, verkündete sie schließlich.

Rodney und Schmiss, die es damit auch gerade versucht hatten, allerdings erfolglos, sahen interessiert zu ihr hinüber.

„Ich kann hier nicht mehr bleiben. Außer ich ruf’ bei Officer Mitchell an, aber das würdet ihr ja sicher nicht wollen, oder?”

Rodney und Schmiss schüttelten synchron die Köpfe.

„Dacht’ ich ‘s mir doch! Aber keine Sorge! Ich hab’ ‘nen Plan.” Sylvie schaltete die Herdplatte ein und beobachtete, wie die Speckstreifen zu bruzzeln begannen. „Ich meine, ich kann meinem Vater schlecht erzählen, ich hätt’ geschlafen, während irgendwelche Wilden das Haus geplündert und die Fische frittiert haben“, stellte sie wie für sich fest. „Und dass ich weg war, glaubt er mir nie und nimmer. Dazu kennt er mich zu gut!” Sie griff nach den Eiern, schlug sie auf, ließ jeweils eines auf jeden Speckstreifen gleiten und betrachtete zufrieden, wie sich ihr Werk der Vollendung näherte. Sie bereitete die Kaffeemaschine vor, nahm drei Becher und stellte sie auf den Küchentisch. Sie holte drei Teller aus einem Oberschrank, tat auf jeden zwei Eier und zwei Speckstreifen und trug sie ebenfalls zum Küchentisch. „Und sag bloß nicht, diese Urwaldkreaturen waren dir lieber!“, warnte sie Schmiss mit spielerisch erhobenem Zeigefinger.

Schmiss schüttelte den Kopf.

„Die wa ‘n ‘n Fehler“, gestand er offen. „Kann ich noch ‘n bisschen Toast haben, um den fiesen Geschmack loszuwerden?”

„Sollst du haben.“ Sylvie bestückte den Toaster, holte die Kaffeekanne und setzte sich zu den beiden Einbrechern. „Wie wär ‘s mit ‘nem richtigen Verbrechen, wenn ihr schon mal dabei seid?”

Rodney ließ vor Schreck beinahe das Salz fallen.

„Verbrechen?” Schmiss sah Sylvie verdutzt an.

„Genau! Und ihr müsst dafür nicht mal was anstellen! Nur mich mitnehmen! Wozu ihr jetzt eh verpflichtet seid, nachdem ihr mich in so ‘ne schwierige Lage gebracht habt! Den Rest erledige ich.”

Schmiss zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder seinem Frühstück zu. Da von ihm offenbar nichts verlangt wurde, war ihm die Sache egal.

„Was hast du vor?” Für Rodney stand bereits fest, dass er mit Sylvies Plan nichts zu tun haben wollte.

Sie lächelte ihn überlegen an, schob sich aber erst noch ein großes Stück Speck in den Mund.

„Ihr entführt mich“, murmelte sie mit vollem Mund und schenkte allen Kaffee ein. „Ganz einfach!” Sie schluckte runter und fuhr verständlicher fort: „Ich komm’ mit euch mit, versteck’ mich bei euch, schick’ meinem Vater ‘nen Brief und verlang’ Lösegeld. Vielleicht komm’ ich so doch noch zu meiner Kreuzfahrt.” Sie zwinkerte Rodney zu.

„Und was, wenn er zur Polizei geht?”

„Ja was wohl?”, fragte sie höhnisch zurück. „Wenn ‘s keine Täter gibt, kann man auch keine finden.”

„Ich weiß nicht ...” Rodney nahm ein Stück Toast und zerkrümelte es über seinem Teller.

„Du weißt nicht ... nun, das kann ich mir denken. Erstens scheint ihr beide mir eh ‘n bisschen unterbelichtet zu sein, zweitens ist euch völlig schnurz, in was für ‘ne beschissene Lage ihr mich gebracht habt.”

Rodney warf Schmiss, der sich nicht vom Essen ablenken ließ, mit gebeugtem Kopf einen vorsichtigen Blick zu.

„Was hältst du davon?”

Schmiss wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und zuckte mit den Schultern.

„Von mir aus! Du hast in deinem Trailer ja eigentlich genug Platz.”

„Nun, du wirst es nicht bereuen, Kleiner“, rief Sylvie erleichtert und knuffte Rodney gegen die Schulter. Dieser lächelte tapfer und fragte sich längst, wie er in das alles hineingeschlittert war.

Sylvie

„Und das ist es?” Sylvie sah sich im ersten Licht der Dämmerung ungläubig um und ließ die Reisetasche, die an einem langen Riemen von ihrer Schulter gehangen war, zu Boden fallen. Rodney, der mit zwei prallvollen Koffern hinter ihr her in den Doppeltrailer gewankt war, nickte müde.

„Gar nicht schlecht, oder?”

„Ein Drecksloch, nicht mehr und nicht weniger!”

Die abgewetzte Auslegware am Boden, das an vielen Stellen zersplitterte Plastikfurnier an den Wänden, die vergilbte und stellenweise vom Schimmel geschwärzte Decke gaben ihr Recht. Rodney erkannte zum ersten Mal, dass sein Zuhause tatsächlich ein wenig heruntergekommen war.

„Na ja, man müsste es vielleicht ein bisschen herrichten.”

„Da hilft höchstens die Schrottpresse. Wenn du geglaubt hast, dass ich dir diesen Saustall in Ordnung bringe, hast du dich gründlich geirrt.”

„Man hat hier seine Ruhe. Und ich habe eine Satellitenschüssel!” Er wies mit dem Kinn auf eine Pyramide aus fünf gefährlich übereinander getürmten Fernsehern verschiedener Größen und Marken.

„Großartig!” Sylvie verdrehte die Augen. „Ich bin jedenfalls total erledigt. Wo ist das Schlafzimmer?”

Rodney wies auf eine angelehnte Tür.

„Und das da ist das Bad?”

Er nickte.

„Heißes Wasser?”

„Selbstverständlich!” Er versuchte, empört zu klingen.

„Handtücher?”

Er zuckte vorsichtig mit den Achseln.

„Schon gut! Ich brauch jetzt jedenfalls ‘ne Dusche. Und dann nichts wie ab in die Heia! Vielleicht ist das Ganze ja doch nur ‘n Alptraum!” Sie öffnete ihre Tasche, entnahm ihr einen bunten Beutel und zwei Handtücher und verschwand im Badezimmer. Rodney schleppte die Koffer ins Schlafzimmer, kehrte in den Wohnbereich zurück und ließ sich vorsichtig auf einem verstaubten Sofa nieder, wo er dem ungewohnten Prusten und Plätschern zuhörte, das durch die dünnen Wände drang.

„Ich bin fertig“, verkündete Sylvie, als sie mit einem roten, ihr deutlich zu kleinen Morgenmantel und einem turbanartig um den Kopf geschlungen Handtuch bekleidet wieder aus dem Bad erschien. „Ich hoffe du hast nichts dagegen?” Sie breitete die Arme aus und sah kokett an sich hinab.

Rodney schüttelte den Kopf.

„Okay, dann sehen wir mal weiter.” Sie ging auf nackten, frisch verdreckten Sohlen ins Schlafzimmer, tauchte noch einmal kurz auf, um eine Decke und ein Kissen auf dem Sofa abzuladen, und warf die Tür hinter sich endgültig und mit Nachdruck zu. Rodney stand auf und richtete sich mit der Decke und dem Kissen einen Schlafplatz auf dem Sofa ein.

„Und du meinst, das funktioniert?” Schmiss warf Rodney über das Bierglas in der Hand hinweg einen besorgten Blick zu.

„Keine Ahnung! Aber ich schätz’ mal, wir müssen mitmachen. Sonst hängt sie uns hin!”

„Und du glaubst wirklich, ihr Vater is’ so bescheuert und zahlt auch nur einen Cent, damit sie ihm wieder auf die Nerven geht und in seinem Keller rumlungert? Eher zahlt er uns was dafür, dass wir sie für immer beiseite schaffen.” Schmiss fuhr sich über die blonden Haarstoppel und sah sich in der Bar um, in der sie sich getroffen hatten. Die Wände waren mit rohen, nicht entrindeten Planken getäfelt, auf denen noch die Spuren der Sägeblätter zu erkennen waren. Alles Mobiliar war fest am Boden verschraubt wie in einem Gefängnis oder einer Irrenanstalt. Sägespäne bedeckten den Boden. Zwei Holzfällertrupps, die für den Samstagabend aus dem Wald an die Küste gekommen waren, unterhielten sich lautstark und schielten immer wieder zum Eingang, als könnte einer der ihnen so verhassten Fischer unversehens dort auftauchen und Anlass zu einer der Schlägereien bieten, für die das Sailor ‘s Grave berühmt war.

„Du weißt, ich mag es nicht, wenn du schlecht von anderen redest. Das ist nur ein Zeichen von Schwäche. So was hast du gar nicht nötig.”

„Schwäche?” Schmiss sah seinen Chef beleidigt an.

Rodney nickte und spielte mit seinem Glas Cola.

„Außerdem bist du nicht ihr Vater! Der hält sie bestimmt für was ganz Besonderes und zahlt, was immer sie verlangt.”

„Sie ist super fett, das ist aber auch schon alles, was an ihr besonders ist. So viel kannst du gar nich’ klauen, wie die futtert.”

„Sie hat vor ‘nem halben Jahr ihre Mutter tot in der Badewanne gefunden. Und sie ist gestresst. Sie muss sich an eine neue Umgebung gewöhnen, neue Leute. Das ist nicht einfach. Und du trägst nicht gerade dazu bei, dass sie sich bei uns willkommen fühlt! Kein Wunder, dass sie sich in Ding Dongs flüchtet!”

„Ich kann sie einfach nicht ausstehen. Wenn sie wieder weg is’, bin ich auch wieder nett zu ihr.” Schmiss kicherte und bemerkte die drei Gestalten in karierten Flanellhemden und schweren Stiefeln nicht, die sich in der Nähe aufgebaut hatten und immer wieder zu ihm hinüber schielten.

„Wusste gar nicht, dass die hier Schlitzaugen rein lassen“, sagte der eine von ihnen laut zu seinen Kumpels.

„Was will der Kuli denn hier? Es gibt keine Hunde zu fressen und keine verfaulten Eier.”

„Sucht vermutlich seine opiumrauchende Mama, die mir nachher für ‘nen Dollar einen blasen wird.”

Schmiss, der in keiner Weise hatte erkennen lassen, dass er die drei Kerle überhaupt bemerkt hatte, sprang plötzlich auf und stürzte sich mit dem Kopf voran auf den mittleren von ihnen, der kaum Zeit gehabt hatte zu reagieren und mit Schmiss zu Boden ging.

„Schmiss!“, rief Rodney entsetzt. „Hör doch gar nicht auf die Idioten!” Er erhob sich und sah, wie sich Schmiss von seinem ersten Opfer los machte und sich dem nächsten zuwandte, der bereits an seinem Kragen zerrte und ihm einen Schlag auf das Ohr versetzt hatte. Der Dritte holte zu einem Tritt aus.

„Hey, das gilt nicht!“, schrie Rodney, flog auf einen der Angreifer und versuchte, ihn von hinten zu würgen. Der Kerl schüttelte Rodney ab wie eine lästige Fliege und wollte seinem Kumpel zur Hilfe kommen, der unter der Einwirkung eines Magenschwingers einknickte, da hatte sich Rodney bereits erhoben und sich erneut auf ihn gestürzt. Die übrigen Gäste des Sailor ‘s Grave hatten bereits eine Art Kreis um die fünf Kämpfer gebildet und feuerten sie dankbar an.

„Los, Rod, der hat doch genau deine Kragenweite!“, rief einer und nippte an seinem Bier.

Rodney und Schmiss kämpften verbissen, aber schließlich machte sich bemerkbar, dass sie den drei Holzfällern zahlen- und kräftemäßig unterlegen waren. Als sie endgültig zu Boden gegangen waren und die drei Holzfäller ihr Werk mit Fußtritten vollenden wollten, griffen die anderen Gäste ein.

„Okay, Jungs, ihr habt euren Spaß gehabt, jetzt verduftet von hier oder der Wirt hetzt euch Sheriff Marge auf den Hals.”

Der größte von den Dreien, dessen eine Auge bereits völlig verquollen war, reagierte nicht und musste handgreiflich daran gehindert werden, den ohnmächtigen Rodney weiter zu misshandeln. Seine beiden Kumpels – dem einen liefen wegen einer Platzwunde auf der Stirn zwei rote Rinnsale über die Wange, der andere humpelte – nahmen ihn zwischen sich und schleppten ihn zum Ausgang.

Als Rodney wieder zu sich kam, beugte sich ein rundes, hübsches Frauengesicht über ihn.

„Fay!”

Die junge Frau hatte halblanges, blondes Haar, das in einer dramatischen Welle nach hinten gekämmt war. Sie lächelte und legte einen Finger auf Rodneys Lippen.

„Psst! Du hast ganz schön was abbekommen.”

„Bin ich tot? Bin ich im Himmel?“

Fay schüttelte den Kopf.

„Was ist mit Schmiss?“

„Dem wird in der Notaufnahme eine Platzwunde vernäht.“

„Habt ihr Marge angerufen? Weil, ich hab’ihr nämlich eigentlich versprochen ...”

„Keine Sorge!” Fay strich ihm über die Wange.

„Gut!” Rodney stieß erleichtert die Luft aus.

Fay kämmte das Haar zurück, das ihm teilweise ins Gesicht hing.

„Eine Schlägerei ist hier doch nichts Besonderes. Wir leben schließlich in der Welt des Fressens und Gefressen-Werdens. Der Welt der Schmerzen, sagt Berta.”

„Scheint eine richtig weise Frau zu sein, deine Berta.”

„Sie sagt, die Arbeit hier ist schlecht für mein Karma.” Fay zuckte mit den Schultern.

„Nun, Marge und die Handelskammer werden das bald ändern. Sie sagen, in einem Jahr wird man Wilbourne nicht mehr wiedererkennen.”

„Ich weiß. Ich kann mich nur nicht so richtig darüber freuen, schlechtes Karma hin oder her.”

Rodney, den man auf eine Bank gelegt hatte, rappelte sich langsam auf.

„Du kannst ja zu dieser Berta auf die Insel ziehen, wenn ‘s dir hier nicht mehr passt.”

„Genau daran habe ich ehrlich gesagt auch schon gedacht.” Fay verschränkte die Arme. „Es ist wirklich schön dort drüben. Und so friedlich!”

„Die Toteninsel! Lebendig kriegst du mich dort nicht hin!” Rodney grinste und betastete sein Gesicht. „Wie seh ich aus?”

„Großartig! Und du wusstest genau, dass ich das sagen würde, du Schuft!” Sie gab ihm eine leichte Ohrfeige.

„Hey, eine Schlägerei ist genug für heute, meint ihr nicht?”

„Es war doch nur ...” Fay zuckte zusammen und drehte sich um; und ein Blick sagte ihr, dass sie auf Ausreden besser verzichtete. Fat Fred, seit einem Unfall mit einer Kettensäge Wirt des Sailor ‘s Grave und Träger einer Handprothese, die sich kaum vom Haken Captain Hooks unterschied, hatte sich trotz seines gewaltigen Gewichts lautlos hinter ihr aufgebaut. Sein Gesicht hatte, obwohl es weitgehend dem Kindchenschema entsprach, nichts Gewinnendes an sich. Er ruckte kurz mit dem Kopf; und schon entfernte sich Fay nach einem letzten Blick für Rodney Richtung Theke, wo der Barmann mit dem Füllen der Biergläser nicht mehr nachkam.

Fred wandte sich an Rodney, der seinen Körper nach blauen Flecken abtastete.

„Ich scheine mich vor zwei Wochen nicht klar genug ausgedrückt zu haben“, knurrte er.

„Doch, Fred!”

„Wir haben einen neuen Sheriff, falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte. Eine wichtigtuerische Bibelfanatikerin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in Wilbourne aufzuräumen, damit hier Mom und Dad und die Kleinen Urlaub machen und den Typen von der Handelskammer die Taschen füllen können! Und ich hab ‘noch nicht genug Kohle beisammen für ein Häuschen in Key West. Ich kann ‘s mir nicht leisten, wegen dauernder Schlägereien die Lizenz zu verlieren. Und die, die glauben, meinen wohlverdienten Lebensabend gefährden zu dürfen, werden mich so richtig kennen lernen.” Fred rammte Rodney seine Edelstahlklaue zwischen die Beine. „Hast du mich diesmal verstanden?”

Rodney, der vor Schmerz zusammengezuckt war, nickte hastig.

„Völlig, Fred!“, stieß er japsend hervor.

Sylvie hatte sich die Mühe gemacht, jeden Buchstaben des Briefs mit der Lösegeldforderung einzeln auszuschneiden, und genoss diese sich über drei volle Tage erstreckende Beschäftigung, was zum einen an der Vorfreude und dem Gedanken an den zukünftigen trägen Luxus unter der Sonne der Karibik lag und zum anderen daran, dass sie sich in eine der Bastelstunden im Kindergarten versetzt fühlte, wo die Welt noch in Ordnung gewesen war und sie nicht unter anstrengenden Lehrern und einer bösen Stiefmutter zu leiden gehabt hatte.

„Wie in so ‘nem scheiß Märchen, sag’ ich dir.” Sylvie klemmte ihre auffällig helle Zunge zwischen die Lippen und konzentrierte sich ganz auf die Rundungen eines großen S. „Sie quält mich, wo ‘s nur geht. Und ihm ist ‘s egal. Kümmert sich gar nicht mehr um mich! Tut so, als wär’ ich gar nich’ da! Aber das werden die mir büßen! Das hier is’ nur der Anfang.” Sie lachte und ließ die Schere sinken. „Am liebsten ... Ich sollte einfach hingehen und ein Kissen nehmen und es auf ihr hässliches, verschrumpeltes Gesicht pressen und mich drauflegen; und sie zappelt und zuckt, aber es hilft nichts, weil ich sie festhalte und ihr mit dem Ellbogen auf den Hals drücke; und sie will schreien und hat das Maul voll Kissen und wird schwächer und schwächer und kratzt ein wenig, ganz leicht, wie ein Kätzchen nur; und ihr wird kurz schwarz vor den Augen, dann bäumt sie sich noch mal auf, dann wird sie ruhiger und endlich kalt.” Sylvie hatte die Hände auf dem Tisch zu Fäusten geballt und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Langsam kam sie wieder zu sich. Sie schnaufte. „Und ich hätte ja sogar ‘n Alibi, oder? Schließlich bin ich ja entführt!” Sie kicherte und sah kurz zu Rodney.

Rodney starrte sie entsetzt an.

„Das einzige Problem is’, dass er immer neben ihr schläft. Immer, immer, immer! Es ist zum Verrücktwerden. Dabei ist sie hässlich und alt und hat Mundgeruch.” Sylvie schüttelte sich. „Wirklich wahr! Wie ‘n alter Hund kurz vorm Einschläfern! Und sie verliert auch das Haar und ist kurzsichtig. Es wäre ‘ne Erlösung für alle Beteiligten!” Ihre Erregung hatte sich gelegt; und sie war zu einem gemütlichen Plauderton und ihrer Handwerksarbeit zurückgekehrt. „Wir hatten doch wirklich alles. Uns ging ‘s richtig gut nach dem ... dem Unfall von meiner Mutter. Waren voll zufrieden! Schon traurig natürlich, war ja echt tragisch, glaubt ja keiner, was so alles passieren kann im Haushalt, aber wir sind damit fertig geworden. Ich hab’ ihn getröstet, obwohl eigentlich eher ich ... ich mein’, ich war es schließlich, die sie gefunden hat, aber ich hab’ alles für ihn gemacht. Ich hab’ sogar angefangen, für ihn zu kochen. Nein wirklich!” Sie sah Rodney an, als hätte der in irgendeiner Form seinen Zweifel geäußert und widersprochen. „Ich hab’ gekocht; und das gar nicht schlecht; und bin nur noch halbtags ins Nagelstudio gegangen, weil ich mehr Zeit für ihn haben wollte und für sein Essen und so.” Ihr Blick verfinsterte sich kurz. „Nicht, dass das nötig gewesen wäre! Er ist ja lieber von zu Hause weggeblieben. Jeden Tag zehn Stunden im Elektrizitätswerk! Als hätten sie ihn da wie so ‘nen Hamster in ‘nem riesigen Rad laufen lassen, wo man Strom mit macht! Und kaum heiratet er wieder, geht er in den Ruhestand! Meint, genug ist genug und er will sein Leben ja auch noch genießen. Als wenn er das mit mir nicht hätte tun können! Und noch dazu mit dieser Hexe! Irgendwas hat sie ihm ins Essen gemischt, da bin ich mir sicher. Eine ehemalige Nachbarin! Ist schon zur Totenwache mit ‘ner Kasserolle angerückt und ist ab da bei jeder Gelegenheit mit was zum Essen vorbeigekommen und hat sich das von mir auch nicht ausreden lassen. Sie hat es sofort auf ihn abgesehen gehabt und kein bisschen Rücksicht genommen auf unsere Trauer. Und in dem Essen war was drin, da möcht’ ich wetten. Sie hatte ja vorher schon den eigenen Mann vergiftet. Wussten alle in der Straße. Alle außer Dad natürlich! Der hat ihren Fraß gierig in sich rein geschaufelt, als müsste er bei mir Hunger leiden. Aber ich nicht! Ich hab’ ihr Essen nicht angerührt. Hab’ sie sofort durchschaut! Vom ersten Augenblick an! Ich hab’ mich geweigert. Auch später, als sie bei uns eingezogen ist! Ich hatte solche Angst.” Tränen kullerten über ihre Wangen und wurden vom Rouge blutrot gefärbt. „Und er hat nix gemacht dagegen. Hat gar nich’ gemerkt, dass sie mich aus ‘m Haus drängen will. Aus meinem eigenen Elternhaus!”

„Arme Sylvie!” Rodney kaute ratlos auf der Unterlippe. „Willst du einen Pfefferminztee?”

„Das wäre schön.” Sylvie blickte ihn dankbar an und legte die Schere weg. „Weißt du, du bist ‘n echter Freund. Der einzige Freund, den ich noch hab’! Komisch, was?”

Rodney nickte beklommen und ging zum Herd. Die Küche war nur durch eine Art Theke, unter der sich die Geschirrschränke befanden, und ein Holzgitter, das mit Plastikpflanzen berankt war, vom Wohnbereich mit seiner zerschlissenen Sitzgarnitur getrennt.

„Das war voll fies“, fuhr Sylvie fort, als sie die Garfield-Tasse in den Händen hielt, in der ein Teebeutel schwamm. „Und hinterher hätt’ sie sich nich’ zu beschweren brauchen, denn sie hätt’ echt gewarnt sein müssen von wegen meiner Mutter, weil die meinte ja auch, entweder ich reiß’ mich zusammen und tanz’ nach ihrer Pfeife oder sie schmeißt mich raus, obwohl ‘s ja eigentlich Daddys Haus is’ und ich ‘s mal erben werd’ und so, und man sieht ja, das ihr das überhaupt nich’ bekommen is’, dieser Hochmut, und ich sag’ dir, wenn ihr nicht dazwischengefunkt hättet, mir wär’ da schon noch was eingefallen, weil so ‘n Unfall, der passiert schnell mal; und ich hab’ da diesen Film gesehen, was zeigt, dass Fernsehen überhaupt nich’ so schädlich is’ für die Birne, wie meine Mutter immer gesagt hat. In dem Film fahren die zwei im Auto; und sie öffnet heimlich seinen Gurt, und dann fährt sie gegen ‘nen Baum; und er ist tot, was aber vielleicht mit Airbags nicht mehr funktioniert.”

„Na ja, jetzt ist ja alles gut“, behauptete Rodney lahm. „Du bist sie los und kannst dich hier erholen, und wenn ‘s dir wieder besser geht ...”

„Nichts ist gut!“, fauchte Sylvie. „Ich hock’ hier in diesem Drecksloch; und sie lässt sich von meinem Dad in meinem Haus verwöhnen; und ich hab’ niemanden, überhaupt niemanden mehr ...”

„Aber Sylvie, das ist doch gar nicht wahr! Du hast Schmiss und mich zum Beispiel. Wir sind deine neuen Freunde. Hast du doch selbst gesagt.”

„Hör mir nur mit diesem mongoloiden Nazi auf! Und ich wette, du überlegst dir auch schon, wie du mich loswerden kannst.”

„Stimmt nicht!”, widersprach Rodney voll schlechtem Gewissen. „Wirklich! Ich find’ es total super, nicht mehr so allein zu wohnen. Es ist immer jemand da, mit dem man sich unterhalten kann.”

Sylvie warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

„Na gut! Wollen wir mal hoffen, dass das so ist.” Sie lächelte verschmitzt. „Zuzutrauen wär ‘s dir glatt.” Es klang nicht wie ein Kompliment.

„Ich hab’das Alleinsein echt satt“, murmelte Rodney, überzeugender diesmal.

„Ist schon gut.“ Sylvie winkte ab und widmete sich wieder den Zeitungsblättern und der Schere.

Willkommen zu Hause, Waldo! stand auf dem Pappschild, das sie in den wolkenverhangenen Himmel hielten. Sie waren zu dritt: Rodney, Schmiss und Finch, ein vom Leben und seinen Stürmen gezeichneter Seemann, der seine Karriere als Steuermann eines Kühlschiffs beendet hatte, seither im Hafen von Wilbourne auf einem umgebauten Kutter lebte und davon erzählte, wie er mit diesem noch einmal um die Welt fahren würde, aber nie auch nur die leisesten Anstalten traf, tatsächlich den Anker zu lichten. Es regnete; und die Pappe begann, sich zu wellen; und die mit wasserlöslicher Farbe gemalten Buchstaben zerliefen und standen bald auf bunten, dürren Stelzen. Endlich erschien Waldo in der Glastür des Krankenhauses. Er öffnete sie vorsichtig und blieb stehen.

„Wär’ wirklich nicht nötig gewesen. Das reinste Empfangskomitee!” Er lächelte verlegen.

„Mein Gott, Waldo, du hast doch nicht etwa abgenommen?”, brummte Finch mit seiner tiefen Stimme. Er war mittelgroß und hager. Er nahm seine schmutzige Kapitänsmütze ab und wischte sich mit dem Ärmel seines Blazers über die nasse Stirn. Seine knollige Nase und überhaupt die ganze Gesichtshaut waren von kleinen, blauen und roten Äderchen überzogen. Er trug Ledersandalen, deren Sohlen aus alten Autoreifen geschnitzt waren. Seine weiße Hose reichte nur knapp bis zu den Knöcheln.

Waldo, an dem die hellbraune Windjacke und die Cordhose lose herab hingen, die aus dem Fundus des Krankenhauses stammten, hob die Arme und ließ sie wie gebrochene Flügel wieder fallen. Er trug eine grüne Kappe, auf deren Vorderseite Zoloft stand.

„Wenn du wüsstest, was die einem hier zu essen geben, wärst du nicht so überrascht. Und dann noch die widerlichen Tischmanieren mancher Mitinsassen!” Er winkte traurig ab.

„Das klingt, als bräuchtest du ein anständiges Frühstück“, rief Rodney betont fröhlich. Waldo nickte müde.

Sie kletterten in Rodneys Lieferwagen: Rodney, Waldo und Finch saßen vorne; und Schmiss ließ sich auf dem mit einer alten Wolldecke gepolsterten Reserverad nieder, das hinten auf der Ladefläche lag.

„Was haben die denn mit dir so lang da drin gemacht?”, fragte er von hinten.

„Das Gleiche wie sonst: Sie haben mich justiert.” Waldo machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen.

„Dich justiert? Wie ‘nen Vergaser oder so was?”

„Genau! Welche Pillen, welche Dosierung und so!”

„Damit du die armen Touristen nicht mehr erschreckst?” Finch, der kein Auto hatte und auch nur selten in einem mitfuhr, blickte mit kindlicher Freude aus dem Seitenfenster.

„Der Arzt da drinnen meinte, ich erinner’ ihn an einen dieser Japsen, die sich dreißig Jahre lang auf irgendwelchen Pazifikinseln im Dschungel versteckt gehalten haben, ohne mitzukriegen, dass der Krieg längst vorbei ist.”

„Hat Humor, der Mann!”

„Eins steht fest: Ich lass’ mich von den Typen nicht noch einmal vollspritzen. Eher blas’ ich mir selbst was ins Hirn.” Waldo betrachtete seine blassen Hände, als wären sie ihm fremd. „Ich erkenn’ mich gar nicht wieder.“

„Wir dich auch nicht!“, verriet Rodney grinsend. „Du hast noch nicht ein einziges Mal geflucht.”

„Wenn diese Spritzen die einzige Möglichkeit sind, diesen scheiß Krieg loszuwerden, behalt’ ich ihn lieber. Es ist alles so gedämpft. Kennt ihr das: Du gibst das Kommando Arm nach oben!, und dann vergehen erst einmal fünf Sekunden, bevor was passiert? Genauso ist es im Moment. Und es ist alles weit, weit weg.”

„Nichts, wogegen unser House of Pancakes nicht ein geeignetes Mittel hätte!“, rief Rodney und stellte den Dodge auf dem Parkplatz von Wilbournes einzigem Restaurant ab.

„Als wenn dein Kopf mit Watte vollgestopft wäre! Als wenn ich Handschuhe anhätte!“, murmelte Waldo. „So kann man nicht Schachspielen!”

„Das ist jetzt auch gar nicht nötig. Für ‘s Erste reicht es, wenn du eine belgische Waffel vertilgst.” Finch, den die Arthritis plagte, ließ sich vorsichtig von der Sitzbank auf den Asphalt des Parkplatzes gleiten. Das dünne weiße Haar, das unter der Kapitänsmütze hervorschaute, flatterte im Wind.

„Ich könnte ‘ne 16jährige Muschi essen und würde nichts dabei spüren.”

„Hey, habt ihr das gehört?”, rief Rodney. „Ein schweinischer Gedanke! Es scheint so, als würden die Pfannkuchen bereits ihre Wirkung tun. Muss der Geruch sein oder die Aura oder so was!”

„Ich seh’ schon, hinterher müssen wir ihn noch zum