Alice im Nebelland - Xaver Engelhard - E-Book

Alice im Nebelland E-Book

Xaver Engelhard

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Beschreibung

Nachdem Ende der sechziger Jahre in San Francisco eines seiner Häuser eingestürzt und auch sein sonstiges Leben zusammengebrochen ist, zieht sich der Architekt Harriman auf eine Ranch im Norden Kaliforniens zurück, wo er sich mit Renovierungen und, so munkelt man, dem Anbau von Cannabis über Wasser hält. In dieses augenscheinliche Idyll platzt eines Tages seine Ex-Frau, die die gemeinsame Tochter, zu der er zehn Jahre lang keinerlei Kontakt hatte, während der Schulferien bei ihm unterbringen möchte. Alice erlebt an der Seite ihres Vaters und seiner skurrilen Freunde einen abenteuerlichen Sommer und befreit Harriman am Ende nicht nur aus seiner Selbstvergessenheit, sondern auch aus den Fängen von Oberst Garcia, dem diabolischen Kommandanten der örtlichen Drogenbekämpfungstruppe.

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Seitenzahl: 498

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Alice im Nebelland

Ein kalifornisches Idyll

Xaver Engelhard

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Texte: © Copyright by Xaver Engelhard

Umschlag: © Copyright by Georg Engelhard Herstellung und Verlag:

epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

E-Book: Bernd Floßmann, Berlin

Gesetzt aus der Malaga

Inhalt
Mai
Juni
Juli
August
September

Mai

Es war einer der ersten Tage im Jahr, an denen warme Luft aus dem Süden die Nebel, die sich sonst über dem kalten Wasser der Humboldt-Strömung bildeten und die Halbinsel vom Rest der kontinentalen Landmasse isolierten, vertrieb, ein beinahe schon schwüler Frühsommertag voll frischer Insekten und aufgeregter Vogelstimmen, von denen allerdings hier drinnen, zwischen langen Reihen bunter, gleichförmiger Waren und unter gleißenden Bahnen fluoreszierenden Lichts, so wenig zu spüren war, als wäre man tief unter der Erde eingesperrt in einem Sarg aus Beton. Harriman fröstelte. Er griff sich noch schnell zwei Kartons Orangensaft, tat sie in seinen Einkaufswagen und fuhr damit zur Kasse.

„Wie geht’s, meine Süße?” Er lächelte der Kassiererin zu und fuhr sich durch das zurückgekämmte, leicht ergraute Haar. Er trug eine Pilotenbrille und eine lederne Bomberjacke. Er legte Kartons und Tüten auf das Förderband.

„Oh, hallo!” Die Kassiererin erwiderte sein Lächeln und versuchte dabei, die obere, mit einer Spange verdrahtete Zahnreihe bedeckt zu halten. Unter dem ärmellosen, auf der linken Brust mit dem Logo des Supermarkts bestickten Kittel trug sie einen rosa Jogginganzug. Ihre Turnschuhe waren mit den Namen ihrer liebsten Rockstars bekritzelt.

„Alles in Ordnung?”

„Großartig, Mr. Harriman!” Sie vergaß ihren Kaugummi und starrte Harriman mit offenem Mund an.

„Ist das hier dein Sommerjob?”

„Was?”

„Das hier …” Harriman machte eine vage Bewegung mit dem Kinn. „Ist das sowas wie ein Sommerjob?”

Sie schüttelte langsam den Kopf.

„Ich bin mit der High School fertig.” Die blau lackierten Fingernägel der rechten Hand gruben sich in den Rücken der linken.

„Ehrlich?” Harriman wölbte die Brauen. „Die Zeit vergeht …” Er nahm die Brille ab, um die Kassiererin näher zu begutachten. „Tatsächlich! Du bist erwachsen geworden. Und ziemlich hübsch, muss ich sagen.” Er lehnte sich mit der Hüfte gegen das Gehäuse des Förderbands. „Bist du immer noch mit Martha befreundet?”

„Nicht mehr so sehr!” Die Kassiererin kaute auf der Unterlippe und holte Luft. „Haben Sie schon ein Los gekauft?” Sie blickte mit großen, schwarz umrandeten Augen zu ihm auf.

„Ein Los?” Harriman runzelte die bis auf ein paar weiße Furchen tief gebräunte Stirn und zog ein Taschentuch aus der Jacke.

„Sie wissen schon: für die Tombola auf dem Sommerfest.”

„Das Sommerfest? Ist es schon wieder so weit? Es wird doch gerade erst Frühling. Sollten wir nicht zuerst einmal den genießen?” Harriman hielt die Brille gegen das Sonnenlicht, das vom Parkplatz her durch die Fensterfront sickerte. „Was gibt’s denn zu gewinnen?” Er hauchte gegen eines der Gläser und rieb es mit dem Taschentuch sauber.

„Die Geschäftsleute der Stadt haben wieder viele Preise gestiftet, darunter eine Ballonfahrt und einen Flug auf die Bahamas. Für zwei!”

„Für zwei, so so! Das könnte uns gefallen, was? Aber im Ballon?”

„Nein nein!” Die Kassiererin errötete. „Sie haben das missverstanden. Es …”

„Ich habe dich missverstanden? Ich dachte, du nimmst mich mit und zeigst mir den Strand.”

„Nein, nicht das! Ich meine, wir wissen ja nicht einmal … Das mit dem Ballon meine ich. Er fliegt nicht zu den Bahamas.”

„Nein?” Harriman sah sie mit gespielter Verwunderung an. „Aber was machen wir dann? Irgendwo notlanden?”

„Ich weiß nicht.” Sie stellte mit einem kurzen Blick zur Seite fest, dass die Kundin, die sich eben noch hinter Harriman hatte anstellen wollen, ungläubig den Kopf schüttelte und mit ihrem Korb zur nächsten Kasse weiterzog.

„Du weißt nicht”, wiederholte Harriman und putzte das zweite Brillenglas. „Das ist schade, denn so ein Ausflug könnte Spaß machen, oder?”

Die Kassiererin nickte, musste schlucken, fragte sich, ob es wahr war, was man sich über ihn erzählte, und genoss den Schauder, der ihr über den Rücken rann.

„Was kosten deine Lose denn?”

„Einen Dollar das Stück!”

„Einen Dollar!” Harriman tat beeindruckt. „Na, dann gib mir mal zehn! Aber keine Luschen, hörst du? Ich kann Luschen nicht leiden.”

„Aber Mr. Harriman …”

„Ich hab nicht dich gemeint, keine Angst. Du bist alles andere als eine Lusche, das weiß ich. Und nenn mich nicht immer Mister! Harriman alleine reicht vollkommen.”

Die Kassiererin bückte sich und holte einen Schuhkarton voll bunter, zusammengerollter Zettel hervor, die alle einen kleinen Drahtring trugen. Sie hielt ihn Harriman mit zitternden Händen hin.

„Ich nehm die Roten. Die Farbe der Liebe!” Er pickte die entsprechenden Lose mit spitzen Fingern aus dem Durcheinander. „Wollen mal hoffen, dass mir das Glück bringt. Sonst wird das nichts mit unserem Ausflug auf die Bahamas!”

„Okay.” Die Kassiererin nickte und sah zu ihm hoch.

„Wieso bleibt so ein hübsches Mädchen wie du eigentlich hier in Garberville? Du solltest den Typen unten in Frisco oder L.A. die Köpfe verdrehen, anstatt deine Zeit mit uns Provinzlern zu vertun.” Harriman stopfte die Lose in eine Jackentasche.

„Sie sind doch kein Provinzler, Mr. Harriman!”

„Nein, ich nicht.” Harriman lächelte geschmeichelt. „Ich war lang genug fort. Ich wollte schon in deinem Alter nichts wie weg. Vielleicht bist du reifer, als ich es damals war, vielleicht ist dein Vater nicht so ein Arschloch, wie es meiner war, aber geschadet hat es noch keinem, sich ein bisschen umzusehen.”

„Ich dachte mir, ich verdien mir erst einmal ein bisschen Geld und schau dann, ob ich noch Lust auf’s College hab. Vom Lernen hab ich nämlich fürs Erste die Schnauze voll.”

„Was nicht ist, kann immer noch werden, richtig?” Harriman lächelte einem Mann zu, der mit einer Gehhilfe in den Gang zur Kasse humpelte. Die Kassiererin begann, auf der Kasse zu tippen.

„Macht sieben Dollar und 37 Cent”, verkündete sie schließlich.

Harriman schob eine Hand in die enge Tasche seiner Jeans, holte einen Packen zerknäulter Geldscheine hervor, glättete einen Zwanziger und reichte ihn ihr.

„Hier! Behalt den Rest für die Lose!” Er nahm die Papptüte, die sie für ihn vorbereitet hatte.

„Danke!” hauchte die Kassiererin und versuchte sich trotz Zahnspange erneut an einem Lächeln.

Harriman setzte die Sonnenbrille wieder auf, trat durch die elektrische Schiebetür hinaus ins strahlende Licht und macht sich daran, in Cowboystiefeln die vor ihm ausgebreitete Asphaltwüste des Parkplatzes zu durchqueren.

„Jetzt machst du dich also schon an kleine Ladenmädchen ran!”, rief eine Frau hinter ihm.

Harriman erstarrte mitten in der Bewegung und fragte sich, ob es eine wirkliche Stimme war, was er da hörte, oder eine, die sich sein schlechtes Gewissen nur einbildete.

„Sie ist kaum älter als Alice”, behauptete die Stimme und offenbarte Wissen, über das nur wenige verfügten. Nicht einmal er selbst hätte spontan zu sagen gewusst, ob sie recht hatte damit.

Harriman drehte sich mit einem erfrorenen Grinsen im Gesicht um, runzelte die Stirn, als wäre er noch nicht restlos davon überzeugt, es nicht doch mit einer akustischen Halluzination zu tun zu haben, und war einerseits erleichtert, weil er entdeckte, dass eine attraktive Frau an dem Geländer lehnte, hinter dem die Einkaufswagen abgestellt wurden, und wurde andererseits unruhig, denn sie betrachtete ihn mit offenbarem Missfallen und schien ihn zu kennen, ohne dass er zu sagen gewusst hätte, woher. Er überlegte fieberhaft und musterte das mit einer blauen Sonnenbrille getarnte Gesicht, das lange, offene Haar und die offensichtlich großstädtische Kleidung, die aus einer Leinenjacke und einer weiten, gerade geschnittenen Hose, wie man sie hier sonst nur im Fernsehen oder in Zeitschriften zu sehen bekam, bestand, und war sich plötzlich sicher.

„Maud? Was tust du denn hier?” Ein Speichelfaden spannte sich zwischen seinen offen stehenden Kiefern. Graue Bartstoppel glänzten im Gegenlicht wie Raureif.

„Rinder kaufen, was sonst?” Maud verzog keine Miene.

„Rinder? Hier gibt’s keine Rinder mehr.” Harriman tat, als nähme er ihre Behauptung ernst, lächelte verlegen und suchte nach weiteren Worten.

„Dann bin ich vermutlich doch wegen dir hier! Ich dachte mir, ich besorg noch ein Mitbringsel, bevor ich zur Ranch hochfahre. Eine Flasche Wein, ein Stück geräucherten Lachs oder sowas! Aber sie haben nichts, was mir gefällt! Überhaupt gar nichts!” Sie betonte die letzten Worte so, dass sie die Kassiererin ausdrücklich mit einschlossen. Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.

„Du willst zu mir? Du hättest mich warnen können.”

„Hätte ich, ja. Aber ich wollte dich überraschen und sehen, was aus dir geworden ist, bevor du dich verstellen kannst.” Sie stieß sich von dem Geländer ab. „Und ich muss sagen, es hat sich gelohnt. Du siehst grotesk aus in dieser Jacke. Von deinem Verhalten ganz zu schweigen!”

„Meinem Verhalten?”

Sie nickte.

„Ach so!” Harriman zwang sich zu einem Lachen. „Das war doch nicht ernst gemeint! Ein Scherz, mehr nicht! Ich kenn sie. Sie ist eine Freundin von … von einer Nachbarin. Von deren Tochter, meine ich.” Seine Verwirrung legte sich nur langsam. Er betrachtete die Frau, die sich als Maud ausgab, jetzt aufmerksamer, konnte sich aber immer noch kein Bild machen von ihr, weil ihm so viele Gedanken und Gefühle durch das Hirn jagten.

„Klingt für mich, als hättest du bei der auch schon zu landen versucht. Bei ihrer Tochter, meine ich.” Maud lächelte eisig. „Und dafür hast du alles, was wir hatten, aufgegeben? Traurig, kann ich da nur sagen.”

„Ist es nicht ein bisschen früh, um das beurteilen? Du bist doch gerade erst angekommen; und es ist immerhin ein paar Jahre her.”

„Zehn, um genau zu sein! Zehn lange Jahre! Und du bist immer noch genauso leicht zu durchschauen wie früher.”

„Für jemanden mit deinen Vorurteilen bestimmt!”

„Erfahrungen, mein Lieber, nicht Vorurteile! Du vergisst, dass ich einiges durchgemacht habe.” Maud schob die Hände in die Hosentaschen und sah sich um. Der Supermarkt bildete mit einem Sportgeschäft und einer Drogerie ein Karree, das mit seinen rustikalen Holzfassaden und dem umlaufenden, auf rohe Baumstämme gestützten Vordach an ein Fort aus dem Wilden Westen erinnerte. Auf der Hauptstraße, die den Parkplatz begrenzte, stauten sich die Autos vor der einzigen Ampel des Orts. Das große Backsteingebäude auf der anderen Seite der Kreuzung, früher Verwaltungssitz einer Papier- und Sägemühle, stand leer. Die Fensteröffnungen waren mit Brettern vernagelt. „Hat sich ganz schön verändert, das Kaff.”

„Sie nennen es Fortschritt”, brummte Harriman und folgte ihrem Blick. „Aber wollen wir unser Gespräch nicht woanders fortsetzen? Es gibt hier in der Nähe ein Cafe mit einem ganz passablen Espresso.”

„Ich weiß, ich weiß.” Maud seufzte. „Und eigentlich solltest du dich daran erinnern: Jedesmal, wenn wir unseren jährlichen Besuch bei deinem Vater hinter uns gebracht hatten, hast du uns zur Wiedergutmachung in diesen Schuppen geschleppt und ihn als die größte Errungenschaft der hiesigen Zivilisation seit Erfindung des Totempfahls gepriesen.”

„Die Indianer hier hatten keine Totempfähle.”

„Umso schlimmer! Dann war diese Gegend also schon immer kulturelles Brachland.” Maud schniefte verärgert. „Rufen sie in deinem Cafe immer noch zum Aufstand der proletarischen Massen auf?”

„Ich glaube, sie beschäftigen sich jetzt eher mit Kristallen und Tai Chi.”

„Na, wenigstens in der Hinsicht seid ihr auf der Höhe der Zeit.” Maud holte tief Luft, schob die Brille auf die Stirn, und strich eine Strähne hinters Ohr zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war. Harriman musste lächeln, als er die vertraute Geste sah.

„Was?”, fragte Maud sofort misstrauisch.

„Nichts!” Harriman schüttelte kurz den Kopf. „Ich pack nur schnell das Zeug hier in den Wagen, dann können wir los.” Er hob seine Papiertüte hoch und ging zu einem Volvo-Kombi, den er ohne Rücksicht auf die Markierungen des weitgehend leeren Parkplatzes abgestellt hatte, und hoffte, Zeit zu gewinnen, und verschwendete diese Zeit auf fruchtlose Spekulationen darüber, was wohl der Grund für diesen überraschenden Besuch sein könnte nach all den Jahren, in denen es keinerlei Kontakt gegeben hatte zwischen ihm und ihr, zwischen ihm und allen, die mit seinem früheren Leben verbunden waren, zwischen ihm und jenem Teil von sich, der Opfer einer partiellen Amnesie geworden und bis gerade eben für immer verschwunden zu sein geschienen hatte.

Ein Mann mit Schlitzaugen und Nickelbrille stand hinter der Theke. Seine Schiebermütze passte gut zu den Dampfrohren und Druckanzeigern der altertümlichen Kaffeemaschine, die er bediente, und verlieh ihm den proletarischen Charme eines Lokomotivführers. Er erfüllte mit Gleichmut die Wünsche seiner Kunden, die zwischen vielfältigen Kaffeekreationen in drei verschiedenen Größen wählen konnten, mit Eis gekühlt oder Aromastoffen versetzt. Die Holzmöbel, die in dem langen, schlauchartigen Raum standen, passten nicht zusammen und waren türkis, rosa oder dunkelblau lackiert. Poster an den Wänden warben für Reisen nach Kuba und ins Innere des Bewusstseins oder warnten vor den alljährlichen Invasoren, den Truppen der Drug Enforcement Administration, die die Gegend im Herbst, zur Erntezeit, heimsuchten und mit Waffengewalt wieder der Herrschaft der Zentralgewalt in Washington zu unterstellen versuchten.

Harriman und Maud nahmen ihre Becher in Empfang und trugen sie nach draußen, wo gerade zwei Plätze unter einem der beiden Sonnenschirme frei wurden.

„Wie geht’s ihr denn, der Kleinen?”, fragte Harriman, als sie sich auf ihren Stühlen eingerichtet und die Sonnenbrillen zurechtgerückt hatten.

„Sie ist mittlerweile ziemlich groß. Du würdest sie nicht wiedererkennen.”

„Vermutlich.” Harriman nickte, ein hohles Lächeln im Gesicht. „Ich erinnere mich noch, wie ich ihr das Fahrradfahren beigebracht habe.”

„Und wenig sonst! Außerdem ist das ist über zehn Jahre her; und Fahrradfahren tut sie schon lange nicht mehr.”

„Nein?” Es sah Maud entsetzt an.

„Sie sagt, bei uns in der Stadt ist es zu hügelig.”

„Ihr wohnt jetzt im Zentrum?”

Maud nickte.

„Nun, Fahrradfahren ist was fürs Leben.” Harriman nippte grübelnd an seinem Kaffee. „Das ist wie Schwimmen. Das braucht man immer wieder.”

„Im Moment braucht sie weder das eine noch das andere.”

„Wirklich?”, Harriman sah erstaunt zu Maud hinüber.

„Wirklich!”, bekräftigte Maud hämisch.

„Das ist schade.” Er seufzte. „Naja, ich denke, ich war trotzdem ein ziemlich guter Vater. So lange es währte.”

„Bilde dir bloß nichts ein! Du warst nicht besser als der Durchschnitt; und es hat nicht lange gewährt.”

Harriman lehnte sich mit einem Schnurrbart aus Milchschaum zurück, betrachtete die Autos, die nach links und rechts rollten, und streckte die Stiefelspitzen in die wärmende Sonne.

„Warum hast du sie nicht mitgebracht?”

„Weil ich nicht wusste, wie groß dein Interesse an ihr ist! Ich wollte nicht, dass du sie noch einmal verletzt.”

„Wie fürsorglich! Aber ist sie nicht allmählich alt genug, um selbst zu entscheiden, was sie will?”

„Sie hat dich vergessen, auch wenn du dir das, egozentrisch, wie du bist, vielleicht nicht vorstellen kannst. Sie hat lange genug dafür gebraucht. Du bist für sie nur noch eine Episode aus ferner Vergangenheit. Es gibt viele Menschen, die ihr inzwischen mehr bedeuten.” Mauds Nase war groß und gebogen, zu groß für das ansonsten schöne Gesicht; und Harriman war seit jeher überzeugt, dass sie nur wegen dieser Nase klug und selbstbewusst geworden war in einer Zeit, in der es schönen Frauen meistens noch genügt hatte, schön zu sein.

„Sprichst du nur von ihr oder auch von dir selbst?”

Maud zögerte.

„Von uns beiden”, behauptete sie schließlich.

„Ihr wart von Anfang an unzertrennlich. Habt euch selbst genügt. Ich habe da nur gestört.”

„Soll das etwa eine Entschuldigung sein?” Maud holte ein Päckchen Gitane aus der Jackentasche, steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an.

Harriman zuckte mit den Achseln.

„Nein. Es gibt keine Entschuldigung und keine Erklärung. Das einzige, was ich weiß, ist, dass ich das Leben gelebt habe, das allgemein gelebt wird, und dass mir das nicht bekommen ist. Es war irgendwann nicht mehr zu ertragen. Das mit dem Haus war dann nur noch der Auslöser. Ich hatte einfach das Gefühl, dass alles anders werden muss.”

„Und dazu kehrst du ausgerechnet in das Kaff zurück, in dem du aufgewachsen bist, und steigst Mädchen nach, die kaum älter und vermutlich genauso verwirrt und hilflos sind wie die Tochter, die du im Stich gelassen hast!” Maud sog an ihrer Zigarette und schüttelte den Kopf. „Ich begreif es nicht. Wenn du dich wenigstens geändert hättest, wenn du irgendwie weise und glücklich geworden wärst! Aber so? Es wirkt alles so sinnlos.”

„Ich weiß nicht, ob ich glücklich bin, aber ich bin zumindest nicht mehr so unglücklich, wie ich es war.”

„Schön!”, Maud zwang sich zu einem Lächeln. „Was treibst du denn? Arbeitest du?”

„Ich halte mich mit Umbauten über Wasser.” Ein Mann in einem grauen Anzug trat aus dem Café, schlug Harriman leicht auf die Schulter, musterte Maud neugierig und ging weiter. Harriman sah ihm hinterher. „Der Kerl, der sich um meine Buchhaltung kümmert!”, erläuterte er.

Maud nickte desinteressiert.

„Und was ist mit dir? Immer noch so erfolgreich?”

„Wenn man so will … Ich hab ein paar Mal den Job gewechselt und bin jetzt stellvertretende Programmchefin.” Ihr Blick folgte einem Sattelschlepper voll Baumstämmen.

„Herzlichen Glückwunsch!”

„Spar dir deinen Sarkasmus! Ich weiß genau, du verachtest mich im Grunde dafür, dass ich Karriere gemacht habe. Aber ich kann dich beruhigen: Ich habe gekündigt.”

„Warum das denn?” Er sah sie verblüfft an.

Sie beugte sich nach vorne, drückte die Zigarette auf dem Gehweg aus und legte die geknickte Kippe auf die blaue Packung.

„Ich will nicht mehr den ganzen Tag mit Müll zu tun haben. Ich werde mir einen schlecht bezahlten, dafür aber, sagen wir mal, gehaltvolleren Job suchen.” Maud verschränkte die Arme und erwiderte herausfordernd seinen Blick. „Ich werde eine billigere Wohnung brauchen und vielleicht sogar nach Seattle ziehen.”

„Nach Seattle? Aber …” Harriman schüttelte den Kopf. „Was sagt denn Alice dazu?”

„Du meinst, ich sollte sie um Erlaubnis bitten?” Sie lächelte spöttisch.

„Nein, aber sie ist schließlich auch betroffen. Ich meine …”

„Willst du wirklich wissen, was sie denkt?”

„Natürlich, ja!”

„Nun, frag sie einfach!”

„Wie bitte? Ist sie doch hier?” Harriman sah sich suchend um.

„Nein! Das hier ist keine meiner verdammten Fernsehshows. Sie ist zu Hause in San Fran, hockt in ihrem abgedunkelten Zimmer und hört Musik. Aber ich brauche jemanden, der im Sommer auf sie aufpasst, während ich versuche, in Seattle Fuß zu fassen.”

„Was ist mit ihren Großeltern?”

„Tot! Ein Selbstmordpakt!” Maud zog einen Mundwinkel herab.

„Wie romantisch!”

„Ich wusste, dass du das sagen würdest, aber es war nur Krebs. Meine Mutter war unheilbar krank; und mein Vater wollte nicht allein bleiben. Sie haben die Nerven verloren; und ich weiß jetzt nicht mehr, wohin mit Alice. Es kommt irgendwie alles zusammen. Sie hat Probleme in der Schule, was einer der Gründe dafür ist, dass ich weniger arbeiten will, und sie macht auch sonst gerade eine schwierige Phase durch. Sie könnte ein wenig Anleitung gebrauchen. Vielleicht eine andere Sicht aufs Leben! Und da bist du mir eingefallen. Vorgestern, nachdem … ” Sie lachte. „Ich weiß, es ist total verrückt, aber ich dachte mir, ich versuch’s einfach mal.”

Harriman setzte die Sonnenbrille ab, legte sie auf den Tisch und rieb sich die Schläfe. Seine Brust bot nicht mehr genug Platz zum Atmen. Die Straße vor ihm war ein wenig zur Seite gekippt.

„Gibt es denn keine Ferienlager mehr?”

„Alice ist 15, verflucht noch einmal! Ihr brauchst du mit Kanufahren und Geschichten am Lagerfeuer nicht mehr zu kommen. Sie hat zu ihrem CD-Spieler ein engeres Verhältnis als zu mir.” Maud betrachtete die Straße hasserfüllt, als störe sie der friedliche Anschein, weil er nicht zu ihren Sorgen passte.

„Es ist lange her.”

„Du bist ihr Vater.” Maud zuckte mit den Achseln. „Das ist die Gelegenheit, dir diesen Titel wirklich zu verdienen. Sicherlich die letzte!”

„Du hättest anrufen sollen. Das kommt alles sehr plötzlich und überraschend.”

„Ich habe mich nicht getraut. Und ich wollte dir keine Gelegenheit geben, dir irgendwelche Ausflüchte einfallen zu lassen. Sag ja oder nein, aber erspar mir deine Lügen!”

„Ich brauche keine Lügen mehr. Deshalb bin ich ja hierher zurückgekommen.” Harriman kratzte mit einem Löffel an dem eingetrockneten Milchschaum in seinem Becher. „Musst du es denn jetzt gleich wissen? Du weißt doch gar nichts über mich. Ich könnte zum Alkoholiker geworden sein.”

„Du warst auf dem besten Weg dorthin.”

„Eben.”

„Und?”

Er schüttelte kurz den Kopf.

„Nichts außer Wein zum Essen!”

„Kochst Du noch?”

„Jeden Tag!”, vermeldete er stolz.

„Für dich allein?”

„Nicht immer.”

„Du lebst also mit jemandem zusammen?”

Er schüttelte den Kopf.

„Du?”

„Nein. Aber es gibt da jemanden, der das möchte.”

„Und?”

„Man wird sehen.”

Harriman kraulte kurz einen Husky am Hals, der hechelnd im Eingang des Cafés stand, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinterm Kopf.

„Also, was machen wir jetzt? Willst du bei mir auf der Ranch übernachten? Das würde mir Zeit zum Überlegen geben. Und du könntest mir ein bisschen über das Mädchen erzählen, das du bei mir abladen willst.”

Maud zuckte mit der linken Schulter.

„Besser als das Motel!”

„Es gibt bei mir draußen eh keins mehr. Das Sea Breeze hat vor ein paar Jahren dicht gemacht.”

Sie waren schon fast bei seinem ehemals weißen, inzwischen ergrauten Volvo-Kombi angelangt, als Harriman noch schnell zu den Zeitungsautomaten am Eingang des Supermarkts ging, um sich die Henderson Valley Times zu kaufen. Maud sollte nicht glauben, dass er die Welt unbeobachtet zu Grunde gehen ließ.

„Findest du den Weg noch?” fragt er, als er wieder beim Auto angelangt war.

„Ich glaube, ich folg dir besser. Aber ich muss erst noch tanken! Mir geht der Sprit aus. Im konkreten wie im übertragenen Sinn.”

Er blieb überrascht stehen und schlug sich mit der zusammengerollten Zeitung gegen den Oberschenkel. Dieses Eingeständnis von Schwierigkeiten und vielleicht sogar Hilfsbedürftigkeit sah Maud nicht ähnlich. Probleme waren für sie früher die Stufen gewesen, über die sie zu größerem Wissen, verbesserten Fertigkeiten kletterte. Sie hatte immer in allem triumphiert und Zweifel nicht einmal ansatzweise gekannt.

„Geld?”

„Nein, keine Angst! Überzeugung!”

Harriman blinzelte benommen. Er brachte es nicht mehr fertig, sich für die Probleme anderer zu interessieren. Er interessierte sich nicht einmal mehr für die eigenen.

„Wo parkst du denn?”

„Dort drüben! Der blaue Nissan!”

Harriman stieß einen leisen Pfiff aus.

„Hoffentlich schaffst du mit dem Flunder die Auffahrt. Sonst musst du ihn unten an der Straße stehen lassen.”

„Wird schon gehen.” Sie winkte ihm mit dem Autoschlüssel in der Hand. Harriman lächelte, öffnete die Tür des Volvos, warf die Zeitung zu den Lebensmitteltüten auf dem Beifahrersitz und stieg ein.

Sie fuhren auf der Landstraße nach Norden, bogen Richtung Küste ab und gelangten auf kleinere, zuletzt ungeteerte Straßen. Turmhohe Redwoods rückten unmittelbar an den Schotter heran und machten aus der Straße, die sich durch die hoch aufstrebenden Stämme schlängelte, einen hölzernen Tunnel. Zwischen den Bäumen standen Farne und Sträucher. Nebelfetzen hingen in den wie ein Kreuzgewölbe aufgefächerten Kronen. Eine feierliche Stimmung befiel selbst die, welche wie Harriman durch langjährige Gewöhnung längst dagegen immun hätten sein sollen und zudem von Grübeleien abgelenkt wurden. Mitten im Wald zweigte eine unscheinbare Piste ab. Die steile, von tiefen Schlaglöchern perforierte Auffahrt erklomm in engen Windungen einen Hügel, die Bäume wurden kleiner, der Wald lichter, bis endlich hinter einer Kuppe die windzerzausten, mit ersten Frühlingsblüten und taumelnden Bienen geschmückten Weiden der Ranch begannen. Die Zäune waren verfallen; Spitzwegerich, Vogelmiere, Disteln und Sauerampfer wuchsen zwischen den Gräsern. Am Ende der Straße warteten ein großes, verwittertes Holzhaus und ein paar schiefe Nebengebäude. Ein Hufeisen aus Eukalyptusbäumen grenzte sie gegen die Wiesen und den Wind ab. Harriman und Maud stellten ihre Fahrzeuge auf einer mit Kies abgestreuten Fläche neben einem rostigen, kaum mehr fahrtüchtigen Pritschenwagen ab. Sie stiegen aus; und Maud streckte und dehnte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht.

„Die Straße ist eine Zumutung und in viel schlechterem Zustand, als ich sie in Erinnerung hatte.”

„Ich weiß. Ich müsste mal wieder einen Grader drüber schicken, aber für mich allein lohnt sich das irgendwie nicht und eine gepflegte Straße macht nur neugierig. Das Letzte, was ich brauche, sind irgendwelche Deutsche, die im Sommer versuchen, ihren Winnebago hier hochzuwuchten.”

„Nicht sehr wahrscheinlich!” Maud sah sich missbilligend um.

„Du glaubst gar nicht, bis wohin die vordringen in der Meinung, dort campen zu können. Entweder sind sie zu geizig oder sie wollen es noch idyllischer und einsamer, jedenfalls meiden sie den Campingplatz unten am Strand und schlagen sich lieber in die Büsche; und dann darf ich schauen, wie ich sie wieder los werde, wenn ihr Schiff im Straßengraben festhängt, und stolpere überall im Wald über Müll und Klopapier und muss froh sein, wenn sie mir beim Grillen nicht alles abfackeln. Ich hab überall Schilder aufgestellt, aber so weit scheinen ihr Englisch und ihr Verstand nicht zu reichen, dass sie die respektieren.”

„Sind tatsächlich nicht zu übersehen, deine Schilder. Ein bisschen übertrieben, oder?”

„Überhaupt nicht! Ich will einfach keinen Ärger mit Leuten, die sich auf meinem Besitz den Knöchel brechen und sich hinterher beschweren. So was kann dich ein Vermögen kosten.”

„Ich finde die Ehrfurcht vor Privatbesitz, die diese Schilder predigen, einfach nur peinlich.” Maud wandte sich zum Zeichen dafür, dass zu diesem Thema alles gesagt war, dem Haus zu.

„Du hast gut reden.” Harrimann holte die Tüten aus dem Auto. „Du hast von den Pflichten und Risiken, die Grundbesitz mit sich bringt, keine Ahnung.”

Maud kümmerte sich nicht um seinen Einwand und ging auf das Gebäude zu, dessen Verwahrlosung offensichtlich war. Die rostrote Farbe blätterte von den Brettern der Fassade. Die Dachrinne hing an zwei Stellen herunter. Kleine Sträucher hatten auf dem Dach Fuß gefasst. Auf der Veranda, die sich über die ganze Front erstreckte, standen ein Schaukelstuhl und eine Tiefkühltruhe. Zwei Fahrräder, ein Windkarpfen und ein Glockenspiel hingen von den Deckenbalken.Die Dielen knarzten und wippten unter Mauds Füßen.

„Bist du sicher, dass hier jemand wohnt?” Sie drehte sich nach Harriman um und runzelte skeptisch die Stirn.

„Hat sich ziemlich verändert.” Maud sah sich in dem großen Wohnraum um, der sich bis unter den First öffnete. Die Gewehre und Golftrophäen, an die sie sich noch erinnerte, waren ebenso verschwunden wie die Vitrinen voll Nippes und Souvenirs von Reisen durch die alte Welt, die der ganze Stolz von Harrimans Mutter gewesen waren. Stattdessen standen jetzt selbstgebaute Regale aus Ziegelsteinen und Birkenbrettern an den Wänden. Ein paar bereits vergilbte Entwurfszeichnungen zu einem Haus aus Fertigteilen hingen über einem langen Refektoriumstisch. Ein zerschlissener Clubsessel hatte sich zu einem aerodynamischen Ledersofa aus Italien gesellt. Zeitschriften, keine jünger als zwei Jahre, quollen aus zwei Lattenkisten. Auf einer Kommode standen ein paar glasierte Keramikschüsseln.

„Ich hab den ganzen alten Krempel rausgeschmissen.”

„Wirkt irgendwie leer.” Maud drehte sich einmal um sich selbst.

„Ich hab einfach nicht genug Möbel, um das ganze scheiß Haus damit zu füllen.”

„Schon gut, schon gut! Sollte kein Vorwurf sein. Aber ein bisschen mehr als eine aufgeblasene Junggesellenbude hatte ich mir schon erwartet!” Sie fuhr mit dem Finger über eines der Regalbretter und präsentierte ihm die graue Kuppe.

„Das ist aber genau das, was ich bin: ein verdammter Junggeselle!”

„Nicht vor dem Gesetz! Wir sind immer noch verheiratet, falls du dich erinnerst.”

Harriman nickte und trat an eines der Fenster, die mit Moskitogittern, aber nicht mit Vorhängen ausgestattet waren.

„Es gab für mich bisher keinen Grund, das zu ändern. Du wirst für mich immer meine Ehefrau bleiben. Außer du willst …” Er sah sich nach ihr um.

Maud schüttelte den Kopf.

„Wir sind noch nicht so weit. Er trennt sich gerade erst von seiner Frau.”

„Kinder?”

Sie nickte.

Er fluchte leise.

Sie lachte.

„Komisch, dass dich das Schicksal anderer Kinder mehr berührt als das deiner eigenen Tochter!” Sie verschränkte die Arme und betrachtete neugierig Harrimans Rücken, der sich dunkel von der hellen, in Holz gefassten Scheibe abhob.

Er schwieg eine Weile.

„Das stimmt nicht. Aber ich hab es einfach nicht mehr ertragen. Ich …”

„Du bist davongelaufen und hast dich versteckt.”

„Könnte man auf den ersten Blick fast meinen.” Er seufzte, blickte auf die Weiden hinaus, auf denen sich das hohe Gras wellte. Harriman, der im Gegensatz zu seinem Vater keine Rinder mehr hielt, ließ sie zweimal im Jahr mähen und verkaufte das Heu. „Hast du Hunger?” Er wandte sich wieder der Besucherin zu. „Ich hab Chili con carne eingefroren, das könnte ich aufwärmen.”

„So hungrig wie ich bin, bräuchtest du dir die Mühe gar nicht zu machen. Wenn du mir ein paar Brocken los klopfst, lutsche ich die auch so.”

Die Küche wurde immer noch von einem Kohleherd beherrscht. Rußgeschwärzte Pfannen und Töpfe, manche davon riesigen Ausmaßes, hingen an der Wand. Auch der Elektroherd, der sich in eine Ecke duckte, wirkte altertümlich.

„Ah, Fortschritt!”, rief Maud bei seinem Anblick trotzdem aus.

„Die neuen taugen alle nichts.” Harriman blieb noch einen Moment stehen, als erwarte er Widerspruch, dann ging er auf die Veranda hinaus, von wo er mit einem reifbedeckten Plastikbehälter zurückkehrte.

„Man fragt sich, ob du hier schon richtig eingezogen bist. Ein zehnjähriges Provisorium! Und das bei einem Architekten, dessen Mission es war, die Welt zu verändern!”

„Zu verbessern sogar!” Harriman lächelte und schüttelte versonnen den Kopf. Er nahm einen Topf von der Wand, stellte ihn auf den Herd und kippte den gefrorenen Block Chili hinein.

„Du warst so ein Perfektionist! Es war furchtbar anstrengend, mit dir zusammenzuleben.”

„Du siehst, ich habe mich gebessert.”

„Da bin ich mir nicht so sicher. Du wirkst ein wenig heruntergekommen, ehrlich gesagt. So ganz allein am Rand der Zivilisation …”

„Übertreibst du da nicht ein bisschen? Du tust ja gerade so, als wäre ich ein Waldläufer mit langem Bart und speckigen Hirschlederleggings.”

„Viel fehlt nicht, wenn ich mir dich so anschaue! Aber ein Waldläufer wüsste wenigstens, wie man Knöpfe annäht.”

„Ich weiß.” Harriman befingerte automatisch das karierte Hemd, das sich nicht mehr ganz schließen ließ. „Aber mit so was warten wir hier in der Wildnis immer auf den Winter.”

„Ist der immer noch so trostlos?”

„Wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Muss an der Umweltverschmutzung liegen.” Er kramte einen Holzlöffel aus einer tiefen Schublade und drehte damit den Eisklotz im Kreis.

Der lange Tisch musste erst von einem Haufen bekritzelter Blätter befreit werden, bevor sie mit ihren dampfenden Tellern und ein paar dicken Scheiben Weißbrot daran Platz fanden.

„Arbeitest du an deinen Memoiren?” Maud warf Harriman einen spöttischen Blick zu. „Wäre vielleicht ganz gut, wenn du mich vor der Veröffentlichung einen Blick drauf werfen ließest, damit ich die schlimmsten Entstellungen korrigiere.”

„Keine Angst: Nur ein Artikel für Architecture Today!”

„Du schreibst?”

„Ich übersetze für die manchmal ein bisschen was aus dem Italienischen.”

„Ich dachte, du machst Umbauten.” Sie hielt den Löffel über dem Teller in der Schwebe.

„Auch, aber nur Projekte, auf die ich Lust habe! Im Moment arbeite ich an einer ehemaligen Kirche. Für so nen Software-Fuzzi aus L.A., der nen Yakuzzi unterm Dach will.”

„Dafür wirst du in der Hölle schmoren, hoffe ich.” Sie schüttelte missbilligend den Kopf und rührte in dem Chili.

Harriman zuckte mit den Achseln.

„Wir müssen alle schauen, wie wir über die Runden kommen, oder?”

„Sicher! Aber was ist mit dem Geld von deinem Vater?”

„Ich hab Max die Anteile an der Firma gegeben und dafür die Ranch bekommen.”

„Und du meinst, das war klug?”

„Es war mir damals egal; und jetzt ist es zu spät.”

„Die Geschichte deines Lebens!” Sie führte einen Löffel voll Chili zum Mund, blies vorsichtig darüber, kostete und verzog anerkennend den Mundwinkel.

Maud spülte ab, während Harriman nach Francis suchte, einem Collie mit ausgeprägtem Hang zur Selbstständigkeit. Später spazierten sie über eine Forststraße unter Eichen und Douglas-Fichten hindurch, die anstelle der ehemaligen Redwoods wuchsen. Viele der alten Weiden waren von purpurnem Beifuß überwuchert, der Hartriegel vom Wild verbissen. Ein warmer Wind spielte mit Gräsern und Blättern.

„Und du hast wirklich gekündigt?”

Maud nickte.

„Unglaublich, was? Ich brauche einfach eine Veränderung. Eine andere Stadt, ein neues Leben! Es ist alles Routine geworden. Sogar die Geliebten in North Beach! Ich könnte ewig so weiter machen, und ich würde mich doch nicht bewegen. Ich schätze mal, du weißt, was ich meine.” Sie hatte einen Stecken aufgehoben und schlug nach einer schwarzäugigen Susanna. Francis, der einem unbotmäßigen Insekt hinterher gesprungen war, blieb stehen und drehte sich verwundert um.

„Bloß weil ich alles hingeschmissen habe und mein eigenes Brot backe?” Harriman sah sie kopfschüttelnd an. „Ich weiß inzwischen eher weniger als früher.”

„Dir scheint es zumindest ganz gut zu gehen.”

„Woraus schließt du das? Das hier ist nicht einer deiner verdammten Fernsehfilme, wo Gras und ein paar Bäume für die heile Welt stehen. Du weißt genau, wie es hier unter meinem Vater zugegangen ist; und ich kann dir sagen, wenn der Nebel kommt, wird es hier immer noch verdammt einsam und kalt all den idyllischen Wiesen zum Trotz. Wach endlich auf!”

„Ich versuch’s ja. Und du könntest dich ruhig ein bisschen dankbar dafür erweisen, dass ich dich hier besuche, nachdem du dich vor zehn Jahren wie ein Arschloch benommen hast und einfach auf Tauchstation gegangen bist. Ohne Ankündigung und scheinbar für immer!”

„Ich hab dir damals geschrieben und versucht, alles zu erklären, so weit es mir möglich war. Und ich verstehe selbst nicht, was damals passiert ist. Immer noch nicht! Und was ich von deinem Plan halten soll, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht.” Harriman blieb unter einer einsamen Platane stehen, die sich gewaltig ausgebreitet und früher den Rindern als Schattenspender gedient hatte. „Was stimmt denn mit Alice alles nicht?”

„Sie ist ein ganz normaler Teenager: mehr Lieder im Hirn als Gedanken!”

„Klingt verlockend!”

Sie überquerten einen Bach. Milchwurz und Tigerlilien blühten auf beiden Seiten der Furt.

„Wieso versuchst du nicht einfach, selbst herauszufinden, wie sie ist?”

„Vielleicht mache ich das sogar! Ich frag mich nur, womit ich sie hier beschäftigen soll. Es gibt nicht einmal ein Dorf. Von Kinos oder Discos ganz zu schweigen!”

„Davon hat sie zu Hause mehr als genug. Ein bisschen Abwechslung täte ihr sicher gut.”

„Das meinst du. Aber wenn sie sich nicht für Bäume oder Rinder interessiert, wird es ihr hier schnell langweilig werden.”

„Dann lass dir was einfallen! Außerdem scheinst du hier auch ganz gut ohne Kühe leben zu können. Ich habe bisher zumindest noch keine entdeckt. Hast du sie alle aufgegessen?”

„Verkauft!” Harriman zuckte unwillig mit dem Kopf.

„Aber wäre die Viehzucht nicht eine gute Einnahmequelle? Gerade für jemanden, der sonst nicht viel zu tun zu haben scheint und auf einer Ranch aufgewachsen ist!”

„Ich hab genug zu tun, keine Sorge! Und schon mein Vater hat mit den Rindern kein Geld verdient.” Harrimans Worte klangen auf einmal verbittert.

„Okay okay, ich merk schon, dass sich in dieser Hinsicht nichts geändert hat. Umso verblüffender, dass du ausgerechnet hierher zurückgekehrt bist! Warum nur? Musst du dir irgendwas beweisen? Ist es eine Art Mutprobe?”

„Wie meinst du das?” Harriman sah sie verwirrt an.

„Naja, du lebst schließlich ganz allein in einem verfallenen Haus, in dem sicher noch der Geist des Mannes herumspukt, von dem du früher immer behauptet hast, dass du ihn abgrundtief verachtest.”

„Er ist weg.” Harriman wischte mit der Hand durch die Luft. „Ich weiß schon nicht einmal mehr, dass ich ihn vergessen habe.”

„Bist du sicher?” Maud warf ihm einen skeptischen Blick aus dem Augenwinkel zu. „Und hast du vielleicht mit deinem Vater auch deine Tochter aus dem Gedächtnis gestrichen?”

„Überhaupt nicht! Ich habe oft an euch gedacht. Ich wollte mich immer melden, hatte aber Angst, zu stören. Ich dachte mir, ich habe kein Recht mehr dazu. Dass ihr sicher besser ohne mich zurecht kommt. Ich …”

„Du warst zu feige.”

„Vielleicht.” Er zuckte mit den Achseln.

„Es hätte ihr viel bedeutet.”

„Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Es hat sich damals angefühlt, als wäre bei dem Unglück alles eingestürzt, was mich vor dem Tod bewahrt. Vor dem Chaos!”

„Du hattest eine Familie.”

„Das reicht nicht allen.”

„Offensichtlich!”

„Ich wusste, ich verliere euch, aber ich bin nicht angekommen dagegen. Ich war gefangen in diesem tiefen, schwarzen Loch.”

„Du hast mich verloren, das stimmt. Aber Alice wüsste vermutlich schon noch gerne, wer du bist.”

„Sie weiß nicht, dass du hier bist?”

Maud schüttelte den Kopf. Sie hatten einen Hügel umrundet und erreichten dessen Gipfel. Die Bäume wichen weiter zurück und gaben den Blick frei auf ein bewaldetes Tal und die runden Kuppen dahinter und den Dunst dort, wo sich das Land im Meer verlor. Der Himmel färbte sich dunkel. Eine Nebelbank drängte vom Meer her zur Küste.

„Es ist schön hier”, gab Maud widerwillig zu.

„Manchmal! Wenn der Nebel auf dem Meer bleibt!” Harriman steckte die Hände in die Hosentaschen.

Maud wandte sich entschieden von dem idyllischen Anblick ab und holte tief Luft.

„Ich hab dir, was Alice angeht, noch nicht alles erzählt.”

Harriman seufzte ergeben.

„Es gibt Probleme. Das eine heißt Harold. Das andere ist die Schule. Sie will da nicht mehr hin.”

Am Abend gingen Maud und Harriman ins Kasimir, einer Kneipe in einem niedrigen, verrauchten und verrußten Holzgebäude, das zweimal abgebrannt und jedes Mal wieder aufgebaut worden war.

„Ein Wunder, dass es noch existiert!” Maud nahm mit Harriman an dem kleinen Tisch Platz, zu dem sie geführt worden waren, und betrachtete staunend die verkohlten Balken des offenen Dachstuhls über ihnen.

„Unser aller Hoffnung wird immer wieder enttäuscht.” Harriman breitete die Serviette auf dem Schoß aus und musterte die übrigen Gäste des etwa zur Hälfte gefüllten Lokals, von denen einige ihm winkten oder freundlich zunickten.

„Ich fand es die zwei Mal, die wir hier waren, eigentlich gar nicht so schlecht. Und es ist ungewöhnlich. Polnische Küche findest du selbst in San Fran kaum, wo inzwischen jeder hinterasiatische Bergstamm mit seinen drei besten Küchenchefs vertreten ist.”

„Deine Erinnerung spielt dir Streiche. Es ist entsetzlich, aber es ist im Umkreis von 25 Meilen ohne Konkurrenz. Nimm die mit Kohl und Hackfleisch gefüllten Pfannkuchen! Mit denen läufst du die geringste Gefahr.”

„Du willst mir doch nicht erzählen, dass du hier jedesmal das Gleiche isst?” Maud ließ die Speisekarte sinken, in der sie gerade hatte lesen wollen.

„Ich lebe hier lang genug, um zu wissen, was mir gut tut und was nicht. Experimente lohnen nicht.”

„Du solltest dich mal reden hören! Da kann einem angst und bange werden.” Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

„Und wenn schon! Ich brauche niemandem mehr was vorzumachen; und das ist wirklich befreiend.”

„Du lässt dich gehen, das ist alles.”

„Wenn du meinst … Aber ich denke, die junge Dame möchte wissen, welche weltoffene, von kosmopolitischem Geschmack zeugende Wahl du getroffen hast.” Harriman lächelte kurz zu der strohblonden, übergewichtigen Kellnerin hoch, die die Arme weit strecken musste, um ihren Notizblock über den gewaltigen Busen hinweg sehen zu können.

Maud deutete auf Unaussprechliches und bestellte dazu ein Bier.

„Und für dich das Übliche, Süßer?” Die Kellnerin wandte sich mit klingelnden Ohrringen Harriman zu.

Harriman nickte und beobachtete dann, wie sich der breite, von einer türkisen, aus elastischem Stoff gefertigten Hose bedeckte Hintern entfernte.

„Sie hat dich Süßer genannt.”

„Die fehlende Auswahl verbietet es einem, übertrieben heikel zu sein.”

„Meinst du damit sie oder dich?”

„Uns alle, fürchte ich.”

„Dein Verhalten wird mir immer rätselhafter. Es hat dich wirklich keiner gezwungen, dich in der Provinz zu verkriechen.”

„Ich verkrieche mich nicht.”

„Sondern? Du hattest Talent, du hattest eine Mission, und jetzt das!” Maud wies mit dem Kopf zur Theke, wo die Kellnerin mit ein paar Cowboys scherzte, während sie zwei Bier auf ihr rundes Blechtablett stellte.

„Du weißt, was passiert ist. Und ich habe erkannt, dass es mir eigentlich ganz egal ist, wie die Leute wohnen. Sie kriegen auch so, was sie wollen und was sie verdient haben.”

„Nicht alle wollen diese trostlosen Rancheria-Bungalows, die überall hingestellt werden, das weißt du ganz genau. Und ich bin mir sicher, du könntest deine Lizenz zurückbekommen. Oder es einfach in einem anderen Bundesstaat versuchen!”

„In Washington?” Er warf ihr einen amüsierten Blick zu, lehnte sich zurück, damit die Kellnerin das Bier servieren konnte, und streifte dabei ihre Brust mit dem Hinterkopf.

„Ich habe das genau gesehen”, verriet Maud, als die Kellnerin wieder weg war. „Und ich hoffe, du benimmst dich besser, wenn Alice da ist.”

„Es war ein Versehen.”

„Natürlich! Wie die Sache damals mit der Bauzeichnerin!”

„Du bist wirklich nachtragend.”

„Ich bin nicht nachtragend, aber im Gegensatz zu dir weiß ich, wer ich bin und wer ich war.”

„Komm schon, warum findest du dich nicht einfach damit ab, dass ich vielleicht schon immer anders war, als du mich sehen wolltest?” Harriman hob sein Bier.

„Okay.” Sie nahm das kalte Glas und stieß mit ihm an. „Auf unsere Tochter!”

„Auf Alice!”

Sie tranken und stellten die Gläser wieder ab. Harriman leckte sich den Schaum von den Lippen und machte erneut für die Kellnerin Platz, die das Essen anlieferte. Maud starrte sprachlos auf den großen Suppenteller, in dessen dampfender Brühe kleine, gelbe Nudeln schwammen wie ertrunkene Maden. Geheimnisvolle thermische Strömungen ließen immer wieder halbverweste Gemüseteile an die fettige Oberfläche steigen.

„Am besten versuchst du gar nicht erst zu ergründen, was da alles drin ist.” Harriman lächelte gehässig. „Bei mir ist am Ende ein Schweinefuß aufgetaucht. Es würde mich aber nicht wundern, wenn sie auch Autoreifen und Kühlschränke dadrin versenken.”

„Wie kannst du dich über so was nur freuen?” Maud tunkte den Löffel in die Suppe, blies vorsichtig darüber und kostete mit spitzen Lippen.

„Ganz einfach: Ich habe es kommen sehen.” Harriman schnitt sich ein großes Stück von einem seiner Pfannkuchen ab, schob es sich in den Mund und kaute mit offensichtlichem Behagen.

„Es ist so traurig.” Sie schob den Suppenteller von sich.

„Na ja, sie erheben nicht gerade den Anspruch, ein Feinschmeckerlokal zu sein.”

„Das meine ich gar nicht, sondern das alles.” Sie machte eine vage Geste mit der Hand. „Wie erträgst du das nur Jahr ein, Jahr aus?”

„Wie jedes Leben ist es gar nicht so schlimm, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat.” Harriman zuckte mit den Achseln. „Und mittags kriegt man unten am Strand einen Sandwich mit Krebsfleisch, der seines Gleichen sucht. Und danach eine riesige Zimtschnecke! Ich meine, was will man mehr?”

„Das Leben hier ist so … beschränkt. Keine Kinos, keine Konzerte, keine Menschen, die sich für anderes als Gras und Rinder interessieren!”

„Ich hab dich gewarnt, aber du willst Alice ja trotzdem hier abladen.”

„Ich will sie nicht abladen, ich suche verzweifelt nach jemandem, der sie noch erreicht, kapierst du das nicht?”

„Doch!” Harriman grinste verschämt, als wäre er elf und hätte neben den Ball geschlagen.

„Ich bin so schrecklich naiv.” Maud schüttelte den Kopf. „Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt.”

„Schon gut! Das kommt von deinen Fernsehserien. Die haben dich verdorben.”

„Soll das ein Trost sein?” Sie sah ihn verärgert an.

„Nur eine Warnung! Nicht alle Probleme lösen sich innerhalb von 45 Minuten in Wohlgefallen auf. Zumindest nicht hier, im richtigen Leben! Zum Trost gibt es aber Kirsch-Bliny! Die sind ziemlich lecker und eine Mahlzeit für sich.”

„In Ordnung!” Maud lächelte vorsichtig.

„Oh je! Und ich dachte schon, ich hätte alles überstanden.” Maud starrte schreckensbleich in Richtung der niedrigen, dafür sehr geräumigen Bühne, auf der sonst das Blasorchester böhmischer Exilpatrioten für Stimmung und Tanzschwung sorgte. An diesem Abend aber setzte sich ein bärtiger Kerl auf einen Barhocker und begann, seine Gitarre zu stimmen. „Den hab ich doch schon damals gehört.”

Harriman drehte sich mäßig interessiert um und nickte.

„Klar! Brian und seine U-Bahn-Lieder! Hat jetzt eins über diese Eule geschrieben, die sich in den Hirnen der Umweltheinis eingenistet hat.”

„Ich wünschte, er würde weiter in einem U-Bahnhof singen und nicht hier.”

„Lass ihn doch! Wenn’s ihn glücklich macht …”

„Was bist du denn so verdammt gleichgültig? Leute wie er sind ein Gräuel. Sie sorgen für gute Laune und gute Gewissen, und das mit abgegriffenen Harmonien und triefäugigen Binsenweisheiten. Er …”

„Hallo Leute!”, rief Brian zur Begrüßung in das Mikrophon und zuckte angesichts der Lautstärke, mit der seine Worte in dem halbleeren Raum widerhallten, zurück.

„Der Kerl ist eine Zumutung!”, zischte Maud.

„Jetzt hör dir doch erst einmal an, was er zu sagen hat!”, flüsterte Harriman eindringlich.

„Ein Kerl mit Bart und Gitarre: Was wird der wohl zu sagen haben außer Ich bin okay; und du bist okay?”

„Hey, habt ihr schon mal über Bäume nachgedacht?” Brian kraulte seinen langen Bart. „Ich mein, so richtig nachgedacht?” Er blickte in die Runde, als könnte er, obwohl ihn die Bühnenscheinwerfer blendeten, seine Zuhörer sehen. „Sie sind uns weit voraus, Mann”, stellte er schließlich fest, schüttelte den Kopf und stimmte weiter seine Gitarre.

„Sicher intelligenter als ein Holzkopf wie du!”, rief Maud.

Brian blickte auf und versuchte, blinzelnd etwas zu erkennen.

„Wer ist da draußen?”

„Dein besseres Wissen!”

„Wie in wider besseres Wissen?” Brian duckte sich ein wenig, konnte aber immer noch nicht feststellen, wer gesprochen hatte.

„Genau! Und ich sag dir, deine Singerei ist einen Scheißdreck wert. Du hast keinen einzigen Bauern in Nicaragua gerettet.”

„Hoho, du klingst ja wie der Teufel persönlich. Oder eher wie Ollie North!” Brian lächelte in seinen Bart und schlug einen ersten Akkord an. „Wie auch immer …”

Maud unterbrach ihn rücksichtslos.

„Du belügst dich, du kleines selbstgerechtes Arschloch! Du kommst nicht in den Himmel, bloß weil du zu allem die richtige Meinung hast.”

„Verflucht, sind wir hier bei den Puritanern? Bist du jemand den ich kenne? Zeig dich!”

„Du kennst mich genauso wenig wie dich selbst, sonst hättest du über Bäume nicht nur nachgedacht, sondern dich auch gleich an einem von ihnen aufgehängt.”

Erste Lacher wurden laut. Einige Leute im Publikum fragten sich, ob Maud Teil des Programms war. Maud fand immer mehr Spaß an ihrer Einlage. Harriman sah ihr grinsend zu.

„Was hast du gegen ein bisschen Musik? Uns bleibt doch sonst nicht viel.”

„Einem Trottel wie dir bestimmt nicht!”

Brian zuckte mit den Schultern und beschloss, die Provokateurin zu ignorieren. Er spielte ein paar Akkorde zur Einleitung und stimmte dann sein erstes Lied an. How can I cut a tree/How can I hurt the one I love, lautete der Refrain; und nicht Verwunderung klang aus diesen Zeilen, sondern echte Ratlosigkeit angesichts der eigenen unüberwindbaren Tugendhaftigkeit.

Maud beugte sich über den Tisch.

„Lass uns verduften!” flüsterte sie Harriman zu.

Harriman verspürte einen Stich und fühlte sich an die Hochzeit von Mauds Bruders erinnert, einem Anwalt mit wohlhabender, wenn auch übel beleumundeter Klientel. Harriman hatte damals einen Bart wie Brian getragen und eine Lederjacke mit langen Fransen, Maud eine Blumengirlande im Haar. Die übrigen Gäste, alle in dunklen Anzügen oder edlen Kleidern, hatten die beiden so lange mit unverhohlener Skepsis gemustert, bis diese sich endlich im Garten hinter einigen Büschen ins Gras legten, zwei der Joints rauchten, die Harriman mit großem Geschick zu rollen verstand, und kichernd darüber nachdachten, was wohl passieren würde, wenn man bewusstseinserweiternde Substanzen in die Bowle mischen würde. Später trat eine weiß gekleidete Combo auf den Balkon des herrschaftlichen Hauses; und auf der hölzernen Tanzfläche, die auf dem Rasen errichtet worden war und im Schatten eines großen, troddelbehangenen Zeltdachs lag, begann das Brautpaar, er im Smoking, sie ganz in luftigem Tüll, den wochenlang unter der Aufsicht eines kleinwüchsigen Italieners einstudierten Walzer. Die Fotoapparate blitzten; die Gäste lächelten; die Sonne strahlte; und Harriman und Maud kamen endgültig zu dem Schluss, mehr als genug ertragen, von viel zu vielen Prozessen und Geschäften, Geschenken und Einladungen gehört zu haben, und schlichen davon, von niemandem bemerkt, von niemandem vermisst. Dem frisch vermählten Paar war unter anderem ein Motorrad geschenkt worden. Maud wusste, wo dessen Zündschlüssel versteckt war, nämlich in einem kleinen, mit einem behelmten Pärchen aus Zuckerguss verzierten Banana Cream Pie, und schob umstandslos die Hand in diesen, zog die Beute hervor und ließ sich die Finger von einem gierigen Harriman sauber schlecken.

„Was soll das?”, rief die Mutter der Braut empört, die plötzlich in den Raum mit den Geschenken trat.

Harriman konnte nicht anders. Die handliche Torte und die stattliche Matrone waren wie für einander geschaffen.

„Schauen Sie mal!” Er hob den Pappteller hoch, wie um ihr den Schaden zu zeigen. „Da ist ein Loch drin.”

Die Mutter trat besorgt zu ihm; und schon klebte ihr die Torte im sorgfältig geschminkten Gesicht; und Maud und Harriman rannten hinaus zur Garage, schwangen sich auf die chromblitzende, mit rosa Schleifchen geschmückte Bonneville, rasten davon, nur von scheppernden Dosen verfolgt, und waren den Gangstern entkommen. Ein paar Tage später, als Mauds Bruder mit seiner Angetrauten längst auf den Bahamas weilte, fand Maud eine Nachricht im Briefkasten, auf der Warren das Motorrad zurückforderte und drohte, Harriman sämtliche Knochen brechen zu lassen, falls dieser sich noch einmal in seine oder seiner Eltern Nähe wagen sollte.

„Das war lustig”, behauptete Maud, als sie atemlos beim Volvo auf dem Parkplatz des Kasimir ankamen.

„Ich weiß nicht.” Harriman rieb sich den Hals. „Vielleicht werden wir allmählich zu alt für so was.”

„Das sagst ausgerechnet du? Ich dachte, genau deshalb bist du hier: um dich für immer wie ein Teenager aufführen zu können.” Maud hockte sich auf die Ladekante des Kombis, dessen Heckklappe Harriman geöffnet hatte. „Ehrlich gesagt hab ich auch schon oft Lust gehabt, alles hinzuschmeißen. In einer dieser endlosen Programmkonferenzen einfach aufzustehen und für immer zu verschwinden! Ich hab es wegen Alice nicht getan, aber jetzt denke ich mir manchmal, was soll’s? Vielleicht wäre sie glücklicher, wenn ich es auch wäre anstatt immer nur so verdammt verantwortungsbewusst.”

Harriman setzt sich neben sie und betrachtete den Mond, der über den Feldern und Wäldern aufging wie ein riesiger, von blassem Licht erfüllter Heißluftballon.

„Das glaube ich nicht.”

„So, das glaubst du nicht. Was dich aber nicht daran gehindert hat, selbst einfach abzuhauen.” Maud sah ihn an.

„Ich bin schwächer als du. Ich habe dich für deine Stärke immer bewundert.”

„Blödsinn!” Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Du hast mich verachtet für meinen Erfolg. Erinnerst du dich nicht, wie du mir vorgeworfen hast, dass ich mich ans Establishment verkaufe? Dabei habe ich das Geld verdient, das dir erlaubt hat, weiter an diesem Fertighaus zu stricheln, mit dem du die Massen beglücken wolltest.”

„Ich weiß, und ich schäme mich dafür.”

„Ich fand es gar nicht schlecht. Jedenfalls besser, als 99 Prozent dessen, was heute in den Vorstädten rumsteht.”

„Das Fairfield-Haus meine ich auch gar nicht. Ich schäme mich für die Vorwürfe, die ich dir gemacht habe. Vermutlich war es nur Neid, weil ich mir meiner Sache und meines Wegs nie so sicher gewesen bin wie du. Mein Verschwinden war auch keine bewusste Entscheidung gegen einen bestimmten Lebensstil! Dieses Rebellentum hatte ich damals doch schon längst hinter mir. Es war eher ein Art Panikreaktion.” Harriman scharrte mit der Spitze seiner Cowboy-Stiefel im Kies. „Mit dem Haus ist mein ganzes Leben eingestürzt. Zumindest hat es sich so angefühlt. Ich kam mir vor wie ein Baum, bei dem man erst, wenn er im Sturm umknickt, entdeckt, dass er innen völlig morsch ist. Es war der katastrophale Endpunkt einer langen Entwicklung.”

„Von der niemand was mitbekommen hat außer dir.”

„Nein. Nicht einmal ich selbst!”

„Wenn du doch nur was gesagt hättest!”

„Ich konnte nicht! Das war ja das Problem. Genau darin lag der Schmerz. Ich war wie eingesperrt in mir selbst. Meine Worte schienen mir vollkommen wertlos. Wie die Münzen irgendeiner von der Inflation dahingerafften Bananenrepublik! Ich litt, aber gleichzeitig fiel es mir schwer, dieses Leiden ernst zu nehmen, weil meine Krise wie ein Zitat und eine Parodie wirkte. Wie irgendwas aus einer deiner blöden Serien!”

„Ich wusste es. Jetzt bin also doch wieder ich schuld.” Maud lachte, wurde aber schnell wieder ernst. „Erst habe ich dir, dann mir selbst Vorwürfe gemacht, als du einfach so abgehauen bist. Aber ich war ehrlich gesagt überrascht, dass du dir diesen Unfall so zu Herzen genommen hast. Das passte gar nicht zu dir.”

„Es war kein Unfall.”

„Nein. Es war Hochmut.”

„Ich hatte mich verrechnet.”

„Du hast geschlampt. Und zwar methodisch! Du dachtest, du und deine Bauten wären den Zahlen und Naturgesetzen enthoben.”

„Die Mathematik war damals einfach noch nicht so weit. Es gab kaum Computer; und Hasendraht hilft einem auch nur teilweise weiter.” Harriman zuckte mit den Achseln. „Und es war das Zeitalter des Wassermanns. Wir waren alle jung damals. Unglaublich jung und dumm!”

Harriman hatte für den Betreiber mehrerer Konzerthallen in der Bay-Area ein Haus bauen sollen, das auf der Theorie basierte, dass sich vierdimensionale Gebilde in drei Dimensionen auseinanderklappen lassen, wie man einen Pappwürfel aufschneiden und in eine zweidimensionale Fläche verwandeln kann. Das Gebäude, das aus diesen Überlegungen, komplizierten Berechnungen und vielen Maschendraht-Modellen erwuchs, sah beunruhigend aus. Die Nachbarn waren entsetzt, der Bauherr begeistert. Und als er eines Sonntags mit seiner aktuellen Gespielin den aus vorgefertigten Betonelementen zusammengesetzten Rohbau besichtigte, brach dieser in sich zusammen und verschwand samt seinen Gefangenen spurlos. Die einzige Erklärung, die Harriman später dem mit der Untersuchung betrauten Coroner gegenüber abgeben konnte, war, dass der noch ungenügend abgestützte Komplex sich zusammengefaltet und mit den zukünftigen Bewohnern, die nun für immer in ihm eingeschlossen bleiben würden, in die vierte Dimension durchgebrochen sei. Die Reporter lachten. Der Staatsanwalt erwog, Anklage wegen Totschlags oder fahrlässiger Tötung zu erheben, aber es ließen sich weder Leichen noch Trümmer finden. Das Grundstück war bis auf die Baugrube und die Fundamente völlig leer. Ein verunsicherter Nachbar ließ einen Exorzisten kommen, der die wenigen verbliebenen Betonteile mit Weihwasser besprengte. Harriman verlor seine Zulassung als Architekt und tauchte unter. Ein knappes Jahr später starb sein Vater; und zur Überraschung aller, die ihn kannten, nutzte Harriman die Gelegenheit und ließ sich auf der Ranch nieder, über die er sonst immer nur geschimpft hatte.

„Und jetzt bist du so erwachsen und klug, dass du sogar Typen wie diesen Brian klaglos über dich ergehen lässt? Herrje, und ich dachte, ich bin es, die resigniert hat!”

„Darum geht es nicht! Wir sind hier auf dem Land einfach nicht so verbissen wie ihr in der Stadt. Wir haben mehr Platz. Mehr Platz für alle! Typen wie Brian stören hier nicht.”

„Dich nicht, nein! Genauso wenig, wie es dich stört, dass dir bald das Dach über dem Kopf zusammenbricht! Das ist nicht Toleranz, das ist Gleichgültigkeit, und zwar in jeder Hinsicht. Früher waren für dich die Leute auf dem Land alle kleingeistige Spießer.”

„Da war ich noch ein Hippie!”

„Du hast dich aufgegeben!”

„Vielleicht. Aber ich glaube nicht, dass wir das Problem heute Abend noch lösen werden!” Harriman legte die Hände auf die Knie und stemmte sich hoch.

„Wo soll ich schlafen?”, fragte Maud, als sie auf die Ranch zurückgekehrt waren und in der großen, bei Dunkelheit ziemlich düsteren Halle standen.

„Wie meinst du das?”, fragte Harriman gereizt zurück und schaltete ein paar Lampen ein.

„Wie werd ich das wohl meinen? Du glaubst doch nicht etwa, dass ich hierher gekommen bin, um zu dir ins Bett zu kriechen?” Sie starrte ihn mit funkelnden Augen an.

„Kein Grund, sich aufzuregen! Wir alle haben manchmal dumme Ideen.” Harriman grinste. „Du bist da keine Ausnahme.”

„Du hast ein Haus voller Zimmer und Betten: Wie soll ich da wissen, welches für Gäste ist?”

„Na gut, mein Fehler! Reine Gewohnheit!” Er fuhr sich über die Kehle. „Die Laken könnten allerdings ein Problem sein. Ich habe schon lange keine richtigen Gäste mehr beherbergt.”

„Was für eine Auszeichnung, dass du mich nicht mit deinen 19jährigen Flittchen in einen Topf wirfst!”

Er zuckte mit den Schultern, machte sich auf den Weg einen kurzen, dunklen Flur hinab und verschwand in einem Zimmer, wo er eine alte, nach Mottenkugeln riechende Holztruhe öffnete und ihr eine Kamelhaardecke entnahm. In einem Schrank fand er Kissen und Laken. Das alles umschloss er mit beiden Armen und trug es in das gegenüberliegende Zimmer, das mit einem Bett, einer Kommode und zwei japanischen Tuschzeichnungen ausgestattet war.

„Ein richtiger Hausmann!” Maud lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und sah zu, wie er das Bett herrichtete.

„Wie ist denn Alice in dieser Beziehung? Kann man sie inzwischen zu einfachen Hausarbeiten heranziehen?”

„Nicht wirklich! Wobei das Problem nicht mangelnde Geschicklichkeit ist. Insofern müsstet ihr euch eigentlich ganz gut verstehen.”

„An einer Hilfe fürs Saubermachen wäre mir mehr gelegen.”

„Du überlegst es dir also?”

Harriman strich die Laken sorgfältig glatt und klemmte sie unter der Matratze fest. Dann sah er zu Maud auf.

„Ich überleg es mir, okay? Für alles andere ist es jetzt zu spät. Ich neige um diese Uhrzeit zu übertriebenen Zugeständnissen.”

Sie stöhnte.

„Meinetwegen!”

Als Maud am nächsten Morgen mit losem, ungekämmtem Haar und nur mit einem langen Flanellhemd bekleidet aus ihrem Zimmer auftauchte, war der Frühstückstisch längst gedeckt. Harriman saß mit einem Becher Kaffee an dem kleineren der beiden Arbeitstische in der Halle, klapperte auf einer alten Schreibmaschine und fluchte regelmäßig, wenn er sich vertippte oder die Typen sich verklemmten. Sie sah ihm eine Weile zu.

„Weißt du, in der Welt da draußen haben sie inzwischen so ein Ding namens PC erfunden. Würde dir die Sache erleichtern.”

„Maschinen werden uns nicht erlösen”, murmelte er, ohne aufzusehen, und hackte weiter tapfer auf die Tasten ein.

Nachdem Maud sich geduscht und angezogen hatte, fand sie Harriman mit der Herstellung von Pekan-Waffeln beschäftigt. Je eine Grapefruithälfte lag auf den beiden Tellern, ein Kännchen mit Ahornsirup sowie zwei Gläser Marmelade standen neben einem Korb mit Weißbrot.

„Du hast dir wegen mir doch wohl keine besonderen Umstände gemacht!?” Sie betrachtete kopfschüttelnd den Tisch, der mit einem frischen Strauß Wiesenblumen, Stoffservietten und Untersetzern gedeckt war.

„Ich weiß, ein halber Toast im Stehen ist eher dein Stil. Ich hoffe, du verzeihst einem kleinen barocken Bourgois.”

„Du hast ein gutes Gedächtnis.”

„Für manches schon.”

„Tut es noch weh?”

„Nein. Und im Grunde hattest du ja Recht.” Er sah sie an und verzog anerkennend den Mundwinkel. „Schöne Bluse! Blau steht dir immer noch am Besten, finde ich. Aber nimm doch Platz! Der nächste Kaffee ist gleich fertig.”

„Immer noch die Löffel-Methode?”, rief sie ihm hinterher, als er Richtung Küche verschwand.

„Klar!” antwortete er aus der Küche. „Ich lass mir doch nicht der Bequemlichkeit halber den Geschmack versauen. Vor allem jetzt nicht, da ich Zeit habe!”

„Handverlesene Bohnen?”

„Ich kenne die Kinder der Pflücker beim Namen. Ich krieg von ihnen jedes Jahr eine Weihnachtskarte.”

„Ich glaube, du bist, seitdem du wieder hier bist, nur noch verschrobener geworden”, offenbarte sie ihm strahlend, als er mit einer Art Erlenmeyerkolben, in dessen Filter er das kochende Wasser Löffel für Löffel gegossen hatte, zurückkehrte. „Das Alleinsein bekommt dir nicht.”

„Nicht im Winter, so viel steht fest. Aber ich lebe ja nicht völlig allein!”

„Du erzählst nie von ihr.”

„Du auch nicht von ihm.”

„Da gibt’s nicht viel zu erzählen außer, dass ich völlig verschossen in ihn bin. Es könnte die nächste große Sache werden.”

„Die nächste große Sache seit wann?”

„Frag nicht so blöd!”

„Das ist doch nicht dein Ernst, oder?” Harriman schenkte ihr ein, tat ihr eine Waffel auf und setzte sich.

Maud zuckte unwillig mit den Schultern und griff nach der Zuckerdose, die eine auffällige grüne Glasur trug.

„Ich habe lange gebraucht, um über die ganze Geschichte hinwegzukommen. Und dann wollte ich Alice keine kurzlebigen Bekanntschaften zumuten und mir keine langlebigen.” Sie tat Zucker auf ihre Grapefruit. „Und bei dir?”

„Um die Wahrheit zu sagen …”

„Du und die Wahrheit!”

„Um die Wahrheit zu sagen, die Richtige war bisher nicht dabei.”

„Bis auf die jetzige?”

Er versuchte, mit dem Löffel ein Stück aus seiner Grapefruit zu lösen, spritzte sich dabei ins Auge und tastete fluchend nach der Serviette.

„Das passiert mir immer wieder. Ich sollte wirklich eine Sonnenbrille aufsetzen, wenn ich die esse.”

Maud beobachtete ihn einen Moment lang und wandte sich dann wieder der eigenen Grapefruit zu.

„Und was hat es mit diesem Harold auf sich?”, fragte Harriman, als Maud ihm einen Teller zum Abtrocknen reichte.

„Ich kenne ihn nicht, und ich weiß nicht, wo Alice ihm begegnet ist. Ich habe von ihm über Alice’ beste Freundin erfahren, die zu ihrer Mutter offenbar ein vertrauenvolleres Verhältnis hat als Alice zu mir. Er ist deutlich älter als Alice und will sie im Sommer mit auf die Bahamas nehmen, wo er eine Yacht hat.”

„Falls ich nicht einschreite.”

„Falls du nicht einschreitest. Richtig. Ich weiß allerdings nicht, was an dieser Geschichte dran ist. Vielleicht handelt es sich nur um eifersüchtiges Geschwätz. Jedenfalls bleibt sie abends lange weg und hat kein Interesse mehr, die Schule fertig zu machen.”

„Könnte man diesen Typen nicht anzeigen?”