Der Verrückte vom Freiheitsplatz - Hassan Blasim - E-Book

Der Verrückte vom Freiheitsplatz E-Book

Hassan Blasim

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Beschreibung

Wie erzählt man von einem Land, das sich seit 35 Jahren im Krieg befindet? Von Geiselnehmern in Bagdad, der institutionalisierten Paranoia unter Saddam, dem Soldaten mit den hellseherischen Fähigkeiten, den Hasen in der Grünen Zone, dem Lied der Ziegen, den 1001 Messern und dem Mehlsack voller Köpfe? Wie erzählt man von der Psyche des Krieges, von dem alltäglichen Horror, der immer mehr Menschen zur Flucht zwingt? Und wie erzählt man von denen, die fliehen? Von den geheimen Pfaden der Emigration, von den Menschenhändlern in den Wäldern Serbiens, von Alis Tasche, von dem Massaker in einem LKW nach Berlin, von den Albträumen des Carlos Fuentes und vom fatalen Lächeln des Emigranten in der Nazi-Bar? So wie Hassan Blasim. Seine Geschichten schildern den Irak der letzten Jahrzehnte als surrealistisches Inferno – den Krieg mit dem Iran, die Herrschaft und den Sturz Saddam Husseins, die Besatzungszeit, die Eskalation der Gewalt und die sich ausdehnende Wüste der Erinnerung – und sie erzählen von der Emigration, von den Grenzen und Zäunen, den Ämtern und Verstecken, der Einsamkeit und der Entfremdung, der die Flüchtlinge ausgesetzt sind. Vor allem aber erzählen sie von Menschen, von ihren Traumata und Albträumen, von ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, von ihrem Schmerz und ihren Strategien, in einer wahnsinnigen Wirklichkeit zu überleben.

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Seitenzahl: 352

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HASSAN BLASIM

Der Verrückte vom Freiheitsplatz und andere Geschichten über den Irak

Aus dem Arabischen vonHartmut Fähndrich

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Inhalt

Das Lied der Ziegen

Archiv und Wirklichkeit

Truppenzeitung

Alis Tasche

Die Jungfrau und der Soldat

Der Verrückte vom Freiheitsplatz

Ein Lkw nach Berlin

Die Leichenschau

Der Geschichtenmarkt

Die Albträume des Carlos Fuentes

Der Komponist

Die Grube

Dieses fatale Lächeln

Das Fenster im fünften Stock

Der irakische Messias

Ein Wolf

Der Hase in der Grünen Zone

Kreuzworträtsel

Lieber Beto

Killer und Kompass

Warum schreiben Sie nicht gleich einen Roman?

Sarsâras Baum

Der Mistkäfer

Tausendundein Messer

Das Lied der Ziegen

Die Leute standen Schlange, um ihre Geschichten zu erzählen. Die Polizei musste Ordnung schaffen. Man sperrte die Hauptstraße, die am Radiogebäude vorbeiführte, für Autos. Es wimmelte von Taschendieben und fliegenden Zigarettenverkäufern. Außerdem gab es berechtigte Befürchtungen, ein Terrorist könnte sich unter die Wartenden mischen und alle diese Geschichten in eine Fleisch- und Feuermasse verwandeln.

Radio al-Dhâkira, der Erinnerungssender, war nach dem Sturz des Diktators gegründet worden, und von Beginn an bemühte sich die Direktion um eine möglichst tatsachenbezogene Gestaltung des Programms. Keine Nachrichtensendungen und keine Lieder. Nur dokumentarische Berichte und Sendungen, in denen es um die Vergangenheit des Landes ging. Besonders populär wurde das Radio mit der Ankündigung einer neuen Sendung unter dem Titel: »Ihre Geschichten – in Ihren Worten«. Aus allen Teilen des Landes strömten die Leute zum Funkhaus. Der Gedanke war simpel: Man würde Geschichten auswählen und sie von den nicht namentlich genannten Betroffenen vortragen lassen. Danach dürften die Zuhörer die drei schönsten bestimmen, die mit einem wertvollen Preis prämiert würden.

Es gelang mir, mein Antragsformular auszufüllen. In das Funkhaus gelangte ich nur mit großer Mühe. In der Menge brach da und dort Streit aus. Alte, Junge und Halbwüchsige, Beamte, Studenten und Arbeitslose waren gekommen, um ihre Geschichten zu erzählen. Über vier Stunden warteten wir im Regen, manche eher schüchtern, andere mit ihren Geschichten protzend. Ich beobachtete einen Mann ohne Arme, dessen Bart fast bis an den Nabel reichte. Tief in Gedanken versunken, sah er aus wie eine beschädigte griechische Statue. Ich bemerkte die Besorgnis des hübschen Burschen, der bei ihm war. Von einem Kommunisten, den man in den Siebzigerjahren im Gefängnis der Baath gefoltert hatte, erfuhr ich, der Bärtige habe eine wirklich preiswürdige Geschichte, doch er sei nicht wegen des Preises gekommen. Er sei nur verrückt, aber sein Begleiter, ein Verwandter, sei scharf auf den Preis. Der mit dem langen Bart war Lehrer gewesen. Eines Tages war er zur Polizei gegangen, um einen Nachbarn anzuzeigen, der mit aus dem Museum gestohlenen Antiquitäten handelte. Man dankte ihm für die Zusammenarbeit und der Lehrer ging mit erleichtertem Gewissen in seine Schule zurück. Doch dann schickten die Polizisten, die an dem Antiquitätenschmuggel beteiligt waren, einen Bericht ins Verteidigungsministerium, in dem behauptet wurde, das Haus des Lehrers sei eine al-Kâïda-Absteige. Das Verteidigungsministerium seinerseits informierte die amerikanische Armee, die einen Hubschrauber entsandte, der das Haus des Lehrers bombardierte. Seine Frau, seine vier Söhne und seine alte Mutter kamen dabei ums Leben. Er selbst überlebte, aber sein Verstand setzte aus, und er verlor beide Arme.

In meiner eigenen Erinnerung brodelten über zwanzig Geschichten aus den langen Jahren meiner Gefangenschaft im Iran. Ich war sicher, dass mindestens eine davon wirklich die Bombe des Wettbewerbs werden könnte.

Man ließ die erste Gruppe ein und erklärte dann der draußen wartenden Menge, heute würden keine weiteren Anträge mehr angenommen. Wir waren mehr als siebzig Personen. Man ließ uns in einem großen Saal Platz nehmen, der ein wenig aussah wie eine Studentencafeteria. Ein Mann in einem schicken Anzug teilte uns mit, wir müssten erst einmal zwei Geschichten anhören, um uns mit dem Sendeformat vertraut zu machen; außerdem erläuterte er uns die rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Vertrag, den wir mit dem Radio abschließen würden.

Dann dimmte man die Beleuchtung, und es wurde ruhig im Saal, wie im Kino. Die meisten Anwesenden zündeten sich eine Zigarette an, und wir versanken in einer dichten Rauchwolke. Die Veranstaltung begann mit der Geschichte einer jungen Frau. Ihre klare Stimme war von allen Seiten im Saal zu hören. Sie erzählte von ihrem Ehemann, einem Polizisten, den eine islamistische Gruppierung verschleppt hatte und dessen verwesenden Leichnam seine Mörder nach langer Zeit, während konfessioneller Auseinandersetzungen, zurückschickten, ohne Kopf. Als das Licht wieder anging, erhob sich ein Tumult. Alle redeten durcheinander wie ein Hornissenschwarm. Manche machten sich über die Geschichte der Frau lustig und behaupteten, ihre eigenen Geschichten seien sicher abstruser, brutaler und verrückter. Eine alte Frau, die an die neunzig sein mochte, winkte abfällig mit der Hand und brabbelte: »Was ist denn das für eine Geschichte? Wenn ich meine einem Stein erzählen würde, würde der vor Schmerz zerbrechen.«

Der feine Herr trat wieder auf und mahnte zur Ruhe. Er erklärte mit ein paar wenigen Worten, die beste Geschichte müsse nicht unbedingt die schrecklichste oder die traurigste sein. Das Wichtigste seien Authentizität und Erzählstil. Es müsse auch nicht unbedingt um Krieg und Totschlag gehen. Diese Feststellung ärgerte mich. Doch ich bemerkte, dass die meisten Teilnehmer sich nicht um diese Hinweise scherten. Ein Mann vom Ausmaß eines Elefanten flüsterte mir ins Ohr: »Was furzt denn der feine Pinkel. Eine Geschichte ist, was sie ist, ob schön oder Scheiße.«

Wieder wurde das Licht gedimmt, und wir lauschten der nächsten Geschichte:

Sie merkten, dass sie mich mit Scheiße fütterte. Eine Woche lang mischte sie sie in den Reis, den Kartoffelbrei und die Suppe. Ich war ein bleiches Bübchen von drei Jahren. Mein Vater drohte ihr mit der Scheidung, was sie aber nicht kümmerte. Ihr Herz war auf immer verhärtet. Sie konnte mir nie verzeihen, was ich getan hatte, und ich schaffe es bis heute nicht, ihre Erbarmungslosigkeit zu vergessen. Als sie an Gebärmutterkrebs starb, hatten mich die Stürme des Lebens schon sehr weit weg getragen. Gebrochen und gedemütigt kehrte ich nach dem Vorfall mit den Tonnen dem Land den Rücken, von Angst gejagt. Eines Nachts nahm ich Abschied von meinem Vater. Er begleitete mich auf den Friedhof, wo wir gemeinsam die Fâtiha über dem Grab meines Onkels sprachen. Dann umarmten wir uns, und er steckte mir ein Bündel Geldscheine zu. Ich küsste ihm die Hand und verschwand.

Wir lebten in einem armen Viertel in Kirkuk, einer Gegend ohne Kanalisation. Die Leute ließen sich für drei Dinar in ihren Häusern eine Senkgrube anlegen. Der kurdische Gemüsehändler Nausâd war der Einzige im Viertel, der so etwas anlegen konnte, und nach seinem Tod übernahm sein Sohn Mustafa diese Arbeit. Man fand Nausâd nach einem nächtlichen Brand verkohlt in seinem Laden, und niemand hatte eine Ahnung, was er in dieser Nacht dort getrieben hatte. Einige behaupteten, er habe Haschisch geraucht, was mein Vater aber nicht glaubte. Er hatte für jede Art Katastrophe seine Lieblingsweisheit: »Uns ist alles bestimmt in dieser vergänglichen Welt, es steht geschrieben.« So glaubte ich als Kind, unser Leben sei in Schulbüchern und im Kiosk des Zeitungsverkäufers festgehalten. Vater wollte mir mit all seiner Güte und Liebe meine Kindheit retten. Er war den Menschen und dem Leben auf eine Weise dankbar, die mir bis heute unverständlich ist. Er war wie ein Heiliger auf einem menschlichen Schindanger. Die Katastrophen trafen uns alle zwei Jahre. Aber Vater weigerte sich zu glauben, dass es so etwas wie einen mysteriösen Fluch gebe, den die Zeit einfach so mitbringt. Vielleicht führte er ihn auf das vorherbestimmte Schicksal zurück. Wir wurden von überall her bombardiert – vom Unbekannten, von der Wirklichkeit, von Gott, von den Menschen, ja selbst die Toten bombardierten uns mit Qualen. Mein Vater versuchte auf verschiedene Weisen, mein Verbrechen zu begraben. Jedenfalls wollte er es aus dem Gedächtnis meiner Mutter tilgen. Doch ohne Erfolg. Schließlich resignierte er und überließ die Aufgabe dem Bulldozer der Zeit, in der Hoffnung, dieser würde es richten.

Vielleicht bin ich ja der jüngste Mörder der Welt, ein Mörder, der keinerlei Erinnerung an sein Verbrechen hat, das für ihn nichts anderes ist als etwas Erzähltes, eine Geschichte, die Menschen zu jeder Zeit unterhaltsam fanden. Ich bemerkte aber, dass jeder die Geschichte meines Verbrechens nach seinem Gusto schrieb, wiedergab oder besang. Damals arbeitete mein Vater nicht in der Produktion von Essiggemüse. Er war Panzerführer. Der Krieg war noch in seinem ersten Jahr, und meine Mutter bestand darauf, ein drittes Kind zu bekommen. Doch wegen des Kriegs, vor dem ihm graute, lehnte er das ab. Wir lebten nicht übel. Mein Vater schickte allmonatlich genügend Geld für Essen, Kleider und Wohnung. Meine Mutter verbrachte ihre Zeit damit, entweder zu schlafen oder ihre Schwägerin zu besuchen und sich mit ihr über die Preise von Stoffen und die Unzuverlässigkeit der Männer zu unterhalten.

Im Sommer entschwebte meine Mutter in Traumgefilde. Sie hörte nicht mehr, sie redete nicht mehr, ja sie schaute auch nicht mehr. Die Hitze schmolz ihren Geist. Jeden Nachmittag duschte sie und ging dann in ihrem Zimmer schlafen, splitternackt. Wie eine tote Paradiesjungfrau. Am Abend gewann sie etwas Vitalität zurück, als ob sie aus einer Bewusstlosigkeit erwachte. Sie schaute im Fernsehen eine Soap-Opera an oder eine Sendung, in der der Präsident tapfere Soldaten mit Tapferkeitsmedaillen behängte. Wahrscheinlich hoffte sie, meinen Vater darunter zu sehen.

Eines Nachmittags schlief sie ein, die Arme ausgebreitet und die Beine gespreizt, für die Luft vom Deckenventilator. Mein ein Jahr jüngerer Bruder und ich schlichen uns auf den Hof hinaus. Dort gab es nur einen einzelnen Feigenbaum und eben diese Senkgrube. Ich erinnere mich, wenn ein Verwandter gestorben oder ein Unglück geschehen war, saß meine Mutter immer unter dem Feigenbaum und weinte. Die Öffnung der Senkgrube war mit einem alten Tablett zugedeckt, dieses mit einem großen Stein beschwert. Gemeinsam schoben wir ihn, mit ziemlicher Mühe, beiseite. Dann begannen wir, Kiesel in die Grube zu werfen. Es war unser Lieblingsspiel. Umm Alâ, unsere Nachbarin, hatte uns Papierschiffchen gefaltet, die wir jetzt auf dem Fäkaliensee schwimmen ließen.

Ich soll, so erzählte man, meinen Bruder in die Grube gestoßen haben und dann aufs Dach gelaufen sein, wo ich mich im Hühnerstall versteckt hätte. Als ich älter war, stellte ich das infrage: »Und wenn er gefallen ist und ich aus Angst weggelaufen bin?« Doch dann wurde erklärt: »Du hast es selbst zugegeben.« Vielleicht hat man mich ja befragt wie bei der Polizei des Diktators. Ich jedenfalls kann mich an nichts erinnern. Aber die anderen redeten und erzählten, als hätten sie einen köstlichen Film gesehen. Alle Nachbarn waren auf dem Karneval der Senkgrubenhölle. Da sie das Auto nicht fanden, das einmal im Monat die Senkgruben im Viertel leerte, nahmen sie alles Mögliche zu Hilfe: Kessel, einen großen Eimer und andere Behälter, um die Fäkalien aus der Grube zu schöpfen. Es war eine harte, ekelerregende Arbeit – Folter in Zeitlupe. Die Hitze und der widerliche Gestank verstärkten die Erschöpfung und den Ekel. Als die Sonne unterging, fischten sie ihn heraus: einen kleinen Jungen, in Scheiße gehüllt.

Mein Vater kam lange nicht von der Front zurück. Mein Onkel schrieb ihm einen Brief und kümmerte sich dann um das Begräbnis meines Bruders. Wir beerdigten ihn im Kinderfriedhof auf dem Hügel, dem vielleicht schönsten Friedhof auf der ganzen Welt. Im Frühling blühte es dort in allen Formen und Farben. Von Weitem sah er aus wie ein gigantischer bunter Baum. Ein Friedhof, dessen Duft man noch auf zehn Kilometer wahrnahm. Eine Woche später stieß Umm Alâ, unsere Nachbarin, unsere Tür auf. Sie traf meine völlig aufgelöste Mutter, ein Schüsselchen mit Exkrementen vor sich, die sie bedächtig mit einem Plastiklöffel in mein Essen einrührte und mich damit unter Tränen fütterte.

Mein Vater schickte mich zu meinem Onkel, bei dem ich wohnen sollte, sozusagen als Flüchtling besonderer Art. Jeden Freitag ging ich, wie ein Gast, nach Hause, begleitet von der Frau meines Onkels, die ein Auge auf meine Mutter hielt. Ich wurde zu einem hin und her gekickten Ball. So vergingen sechs Jahre, während derer ich mich bemühte zu begreifen, was da geschah. Ich musste lernen, was ihre Gefühle, ihre Worte und die glühende Kette um meinen Nacken bedeuteten. Ich kroch auf einem Teppich aus Messern herum. Die Senkgrube wurde zum Horror meiner Kindheit. Und immer wieder hörte ich, dass das Leben voranschreitet, weitergeht, losfährt, vielleicht auch nur dahinkriecht. Unser Leben platzte wie Feuerblasen und verteilte sich an Gottes Himmel. Ein Schicksalsschreiber, eine gewaltige Haubitze. Ich verbrachte meine Jahre als Kind und Halbwüchsiger, indem ich die anderen beobachtete wie ein Scharfschütze in der Dunkelheit. Ich beobachtete und ich schoss. Auf die Albträume meines Lebens feuerte ich andere Albträume, solche aus meiner Fantasie. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter und andere gequält wurden. Und in mein Schulheft zeichnete ich riesige Lastwagen, die Kinderköpfe zermalmten. Ich erinnere mich noch genau an das Bild des Präsidenten auf dem Heftumschlag. Er trug Uniform und lächelte. Darunter stand: Die Feder ist so tödlich wie das Gewehr.

Es gab einen Eselskarren für Kerosin, der im Winter durch die Gassen unseres Viertels fuhr. Die Kinder liefen neben ihm her und warteten darauf, dass der Esel einen steifen Schwanz kriegte. Das war gespenstisch, und ich schloss die Augen. Ich stellte mir vor, wie der grobe, schwarze Eselspenis sich ins rechte Ohr meiner Mutter bohrte und aus dem linken wieder herausschob. Sie kreischte vor Schmerz und schrie um Hilfe.

Ein Jahr vor Ende des Krieges verlor mein Vater sein linkes Bein und seine Hoden. Das zwang meine Mutter, mich nach Hause zurückzunehmen. Mein Vater beschloss, den Beruf seines Vaters und seiner Ahnen weiterzuführen: die Produktion von Essiggemüse. Mein Großvater soll der berühmteste Verkäufer von Essiggemüse in Nadschaf gewesen sein. Der König habe ihn höchstpersönlich drei Mal aufgesucht. Ich kehrte nach Hause zurück und wurde Laufbursche und gehorsamer Diener meines Vaters. Ich war glücklich, mein Vater war ein Wunder an Güte, und trotz allem, was er durchgemacht hatte, blieb er sich treu und ließ sich nicht durch den Schmerz deformieren. Seine neue Prothese erhöhte seine Liebesenergie noch. Er verwöhnte meine Mutter und überschüttete sie mit Geschenken: goldene Ketten und Ringe und rosenbestickte Unterwäsche.

Mein Vater pflasterte den Hof und deckte die Senkgrube mit einer Betonplatte zu. Für den Feigenbaum blieb zwar noch genügend freier Raum, doch die Lauge für das Essiggemüse ließ ihn schließlich eingehen, diesen Baum, unter dem meine Mutter ein letztes Mal weinte, als ich sechzehn wurde. Die Regierung in Bagdad legte eine Trasse für eine Schnellstraße an und ebnete dafür den alten Friedhof samt dem Grab ihres Vaters ein. Lange Zeit herrschte bei uns Trauer über den Verlust der großväterlichen Gebeine.

Der Hof füllte sich mit Plastikfässern voller Lauge. Außerdem häuften sich darin Säcke mit Gurken, Auberginen, grünem und rotem Paprika, Oliven und verschiedenen Kohlarten. Es gab große Tüten mit Salz, Zucker und Gewürzen, Flaschen mit Essig und Dosen mit Melasse. Enorme Kessel dienten zum Kochen, darin siedete dauernd Wasser. Wir warfen die Gewürze hinein, dann nach und nach das Gemüse. Mein Vater war kein Experte wie sein Vater und sein Großvater. Er musste erst neue Wege erkunden, schließlich hatte er einen Gutteil seines Lebens im Panzer verbracht, und hatte viele Geheimnisse der Zubereitung von Essiggemüse vergessen. Der Panzer hatte ihn seinen Schwanz und den Beruf seiner Vorfahren gekostet.

Stundenlang saß er meiner Mutter gegenüber, während wir Auberginen zerstückelten oder Gurken mit Knoblauch füllten. Ihre Zunge war giftig wie eine Schlange. Der Sommer setzte ihr nicht mehr zu. Sie war zu einer fetten Kuh geworden, die die Sonne verbrannte. Garstig und kettenrauchend. In ihrem Herzen spross giftiges Gras, und die Leute drückten ihr Mitleid mit ebenso giftigen Worten aus: »Die Arme … Kein Schwanz und keine Kinder … Nur dieser Unglücksrabe.« Damit war ich gemeint. In diesem Raben lagen alle Symbole des Unheils. Mein Vater war die ganze Zeit beschäftigt: die Abrechnungen wollten gemacht, die Läden auf dem Markt beliefert, die Fässer mit dem alten Lastwagen transportiert sein. Nach Sonnenuntergang brach er erschöpft zusammen. Er aß zu Abend, verrichtete sein Gebet und erzählte uns von seinen geschäftlichen Schwierigkeiten. Dann nahm er seine Prothese ab und ging ins Bett, wo er seine grauhaarige Frau mit den Fingern kitzelte.

Als der zweite Golfkrieg ausbrach, wurde ich einberufen. Mein Vater und mein Onkel saßen da und überlegten, was zu tun sei. Mein Onkel hatte den Kriegshorror der Iran-Front nicht erlebt. Er arbeitete in der Direktion der Staatssicherheit im Stadtzentrum. Mein Vater beschloss, mich nicht in den Tod gehen zu lassen. »Sie können doch nicht meinen einzigen Sohn umbringen.« Mein Onkel stritt mit ihm. Er legte ihm seinen Standpunkt aus der Perspektive seines Büros dar. Der Sohn seines Bruders als Fahnenflüchtiger!? »Willst du, dass sie uns alle, samt unseren Frauen hinrichten?« Als mein Vater unerbittlich blieb, drohte mein Onkel, mich mit eigener Hand zu verhaften, wenn ich mich meiner Wehrpflicht entzöge. Da warf ihn mein Vater hinaus. »Hör zu«, rief er, »ich bin zwar ein friedlicher Mensch, aber das ist mein Sohn, Fleisch von meinem Fleisch. Wenn du das tust, werde ich dir den Kopf abschneiden.« Mein Onkel war an jenem Abend besoffen und wild wie ein Stier. Laute Beschimpfungen ausstoßend, verließ er unser Haus, während mein Vater aufstand, sein Gebet verrichtete und rasch seine Seelenruhe zurückgewann: »Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem vermaledeiten Satan … Er ist mein Bruder… Er hat das nur im Suff gesagt … Er hat ein gutes Herz …«

Drei Monate blieb ich im Haus eingeschlossen. Militärpolizisten und Staatssicherheitsleute füllten die Straßen, und mein Vater beschloss, dass ich nicht mehr am Tag arbeiten sollte, damit die Nachbarn mich nicht bemerkten. Nur bei Nacht schlich ich mich wie ein Dieb auf den Hof, eine Laterne in der Hand, setzte mich neben die Säcke mit den Auberginen, den Gurken, den Paprika und vertiefte mich in die Arbeit und in Gedanken über mein Leben. In einer leeren Milchdose mischte ich Arrak mit Wasser, um meinen Vater nicht zu verärgern. Ich verbrachte die Nacht im Suff mit jeder Art Essiggemüse, die der Panzerführer produziert hatte. Der Alkohol strömte mir durchs Blut, und wie ein Kind kroch ich zur Senkgrube, presste mein Ohr auf den Betondeckel und lauschte. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich ihn lachen hören und spürte seine nackte Schulter. Seine Haut war warm nach dem vielen Spielen und Toben. An sein Gesicht konnte ich mich nicht mehr erinnern. Das einzige Foto von ihm hatte meine Mutter, und sie ließ niemanden auch nur in seine Nähe. Sie bewahrte es im Kleiderschrank in einer kleinen Holzschachtel auf, die mit einem Pfau bemalt war.

Früh am Morgen stand mein Vater auf und fand mich meistens am selben Ort schlafend. Er berührte mich mit der Hand. »Geh rein, Junge … Ich bete zwei Niederwerfungen für dich und bitte Gott, dich zu schützen.« Es entging ihm nicht, dass ich trank. Doch für ihn bestand die Religion nicht aus Prophetenvorschriften, Schariabestimmungen und Verboten. Für ihn hieß Religion Nächstenliebe. Das war seine Antwort an alle, die mit ihm Fragen von erlaubt und verboten oder Regeln der Scharia diskutieren wollten. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem er auf dem Fußballplatz in Tränen ausbrach. Mir war das fürchterlich peinlich und ich schämte mich. Die Genossen der Baathpartei hatten drei junge Kurden neben dem Fußballplatz hingerichtet. Sie hatten sie an Holzpflöcken festgebunden und sie vor den Augen der Bewohner des Viertels erschossen. Vorher hatten sie mit Lautsprechern angekündigt: »Das sind Verräter und destruktive Elemente, die es nicht verdienen, das Brot unseres Landes zu essen, sein Wasser zu trinken und seine Luft zu atmen.« Und wie üblich ließen die Parteigenossen die Leichen an den Holzpflöcken stehen, damit die Leute das Geschehene nicht so rasch vergaßen. Mein Vater kam, um mich zum Kino abzuholen. Er war besessen von indischen Filmen. Als er unser Tor sah, dem der Querbalken fehlte, begriff er, dass wir unsere Tore aus jenen Holzpflöcken gemacht hatten. Die eingetrockneten Blutspuren waren noch zu sehen. Mein Vater brach in Tränen aus, als einer der Jungen rief: »He, Onkel! Es fehlt noch ein Querbalken. Könnte man nicht nochmals einen hinrichten. Dann gäb’s einen weiteren Pfosten.«

An einem Sommerabend wurden wir wieder bombardiert. Mein Onkel klopfte ungeduldig an der Tür. Meine Mutter zählte Geld und legte es in ein leeres Tomatenglas. Mein Vater und ich spielten Schach. Er hätte mich mühelos in kurzer Zeit besiegen können, aber er mochte meine Freude, wenn ich ihm seine Bauern nahm. Er führte mir diese und andere Figuren deckungslos vor, als wollte er sie opfern. Schließlich blieben ihm nur noch der König und die Königin. Doch dann begann er, mit seiner schwarzen Königin, meine Heerscharen zu zerfetzen und mich schachmatt zu setzen.

Mein Vater ging hinaus, um meinem Onkel aufzumachen. Meine Mutter legte das Kopftuch um und folgte ihm. Zu dritt standen sie neben der Senkgrube und diskutierten intensiv, aber mit gedämpfter Stimme. Noch etwas benebelt vom Rausch der vergangenen und in Erwartung des Rauschs der kommenden Nacht beobachtete ich sie durchs Fenster. Meine Mutter lief weg, um etwas zu holen. Mein Vater und mein Onkel leerten ein mit Kohl gefülltes Fass. Meine Mutter brachte einen Hammer und einen Nagel, die wir unter der Treppe aufbewahrten. Mein Vater legte das Fass auf die Erde und begann, mit Hammer und Nagel kreuz und quer Löcher hineinzuschlagen. Er hatte seine Prothese nicht an und hüpfte deshalb auf einem Bein um das Fass herum, als ob er spielte oder tanzte. Mein Onkel fuhr sein Auto direkt ans Tor, und gemeinsam luden sie die Fässer mit Essiggemüse auf. Dann kam mein Vater schwitzend ins Zimmer.

»Hör zu«, sagte er. »Die Zeit drängt. Dein Onkel hat erfahren, dass die Staatssicherheit und die Partei am frühen Morgen alle Häuser durchsuchen wollen. Dein Onkel hat verlässliche Freunde in Aurân. Er bringt dich dort für ein paar Tage unter, bis bei uns alles wieder ruhig ist.«

Ich kroch in das leere Fass, meine Mutter schloss den Deckel, mein Vater und mein Onkel hievten mich ins Auto.

Mein Vater hatte recht, als er sagte, er kenne das Herz seines Bruders. Mein Onkel lenkte das Auto wie wild geworden kreuz und quer durch die Straßen, um mein Leben zu retten. Er kam ungeschoren bis an den Stadtrand. Aber an allen Ausfallstraßen hinaus in die Provinzen und die Dörfer standen Militärkontrollen. Die einzige Lösung für ihn war, Nebenstraßen zu benutzen. Er fuhr durch die Getreidegebiete im Osten der Stadt. Vielleicht hatte er, völlig durcheinander, wie er war, vergessen, dass es geeignetere Routen gab. In der Stadt wusste jedes Kind, wie unwegsam die felsige Hügelkette hinter den Getreidefeldern war. Vielleicht hatten ihn ja auch die Bilder der in seinem Amt gefolterten Menschen durcheinandergebracht. Vielleicht hatte er sich vorgestellt, seine Sektion werde ihn in Lauge auflösen – ihn, den Sicherheitsoffizier, der den Sohn seines Bruders in einem Fass aus der Stadt schmuggelte! Er steuerte das Auto ziemlich unsicher zwischen den Getreidefeldern hindurch. Die Schlaglöcher brachen mir fast die Rippen, und der Staub, den das Auto aufwirbelte, drang statt Luft durch die Löcher im Fass, in dem es stank wie die toten Katzen auf der Müllkippe in unserem Viertel. Hatte mein Onkel im Keller des Staatssicherheitsgebäudes auch Fingernägel herausgerissen, Augen ausgekratzt oder seinen Opfern mit einem heißen Bügeleisen die Haut verbrannt? Vielleicht führten ihn ja die Seelen der Gefolterten zum Abgrund. Vielleicht meine böse Seele. Vielleicht auch jene Seele, die, vergänglich und rätselhaft, alles auf dieser endlichen Welt niederschrieb.

Sieben Fässer blieben wie schlafende Tiere im Dunkeln am Fuße des Abhangs liegen. Das Auto hatte sich überschlagen, als mein Onkel versuchte, den zweiten Hügel zu überqueren. Die Fässer rollten mit dem Auto den Abhang hinab. Ich verbrachte die Nacht bewusstlos in meinem finsteren, verschlossenen Fass. Am frühen Morgen drangen Sonnenstrahlen durch die Löcher im Fass – Atemfäden, die einen Ertrinkenden erreichten. Mein Mund war voller Blut, meine Hände zitterten. Hoffnung und Furcht zerrten an mir. Ich betrachtete die Strahlen, die sich im Fass seltsam kreuzten. Und ich versuchte, Ordnung in mein durchgeschütteltes Gehirn zu bringen. Mir war, als hätte ich Tonnen von Marihuana geraucht: ein Fisch, der in einer Sardinendose aufwacht, ein toter Wurm in einem verlassenen Brunnen, ein verwesender Embryo mit zermalmten Knochen in einem fassförmigen Mutterleib. Schließlich krallte sich in meinem Gehirn das Bild meines Bruders fest, der in der Senkgrube versinkt und dem ich folge.

Das Meckern der Ziegen drang zunächst nur schwach an meine Ohren. Wie eine Gruppe, die ein Lied einübt. Eine Ziege meckerte los, dann eine nächste und eine nächste, und schließlich schienen sich alle in der richtigen Melodie gefunden zu haben. Dann rief der Hirte nach der Herde. Eine Ziege stieß gegen mein Fass. Ein Strahl bewegte sich und traf mich tief ins Auge. Und hier im Fass machte ich mir in die Hose, entsetzt über die erbarmungslose Welt, in die ich zurückkehren sollte.

Archiv und Wirklichkeit

Jeder, der ins Aufnahmezentrum für Flüchtlinge kommt, hat zwei Geschichten: eine, die der Wirklichkeit entspricht, und eine andere, die fürs Archiv gedacht ist. Diejenigen Geschichten, die fürs Archiv gedacht sind, werden von den Neuankömmlingen erzählt, um als Flüchtling aus humanitären Gründen anerkannt zu werden. Diese Geschichten werden bei der Befragung niedergeschrieben und in den Personalakten abgelegt. Die eigentlichen Geschichten bleiben in der Brust der Flüchtlinge verwahrt und können von ihnen ganz im Geheimen wieder und wieder vergegenwärtigt werden. Das heißt aber nicht, dass die Grenzen zwischen den beiden Narrativen leicht zu ziehen sind. Die beiden können sich bis zur Unkenntlichkeit vermischen.

Vor zwei Tagen kam wieder ein irakischer Flüchtling nach Malmö in Südschweden. Ein hagerer Mann Ende dreißig. Man brachte ihn in die Aufnahmestation und unterzog ihn einiger medizinischer Untersuchungen. Dann wies man ihm ein Bett in einem Zimmer zu und gab ihm ein Handtuch, ein Bettlaken, Seife, Löffel, Gabel und Messer und einen Topf zum Kochen. Heute sitzt dieser Mann vor dem Beamten vom Migrationsamt und erzählt ihm, trotz dessen Bitte, doch etwas langsamer zu reden, seltsam hastig seine Geschichte:

Sie haben mir gesagt, sie hätten mich an eine andere Gruppe verkauft. Sie waren ganz ausgelassen. Die ganze Nacht haben sie Whisky getrunken und herumgelacht. Sie haben mich sogar aufgefordert, mit ihnen zu trinken. Ich habe dankend abgelehnt und ihnen erklärt, ich sei praktizierender Muslim und hielte mich an die Vorschriften. Sie kauften mir neue Kleider, kochten mir zum Abendessen ein Huhn und stellten mir Früchte und Süßigkeiten hin. Offenbar hatten sie einen guten Preis für mich erzielt. Als sich der einäugige Führer der Gruppe von mir verabschiedete, vergoss er echte Tränen und umarmte mich wie einen Bruder: »Du bist ein anständiger Mann«, brachte er hervor, »ich wünsche dir alles Gute und ein erfolgreiches Leben.«

Ich glaube, bei dieser ersten Gruppe war ich nur drei Monate. Sie hatten mich in einer kalten, unheilvollen Nacht zu Beginn des Winters 2006 entführt. Wir hatten Anweisung erhalten, zum Tigris zu fahren, zum ersten Mal direkt vom Chef der Notfallabteilung im Krankenhaus. Am Ufer des Tigris standen Polizisten um sechs enthauptete Leichen. Die Köpfe hatte man in einen leeren Mehlsack gesteckt, der neben den Leichen stand. Die Polizisten vermuteten, es handle sich um religiöse Würdenträger. Wegen heftigen Regens hatten wir etwas länger gebraucht. Die Polizisten stapelten die Leichen in den Ambulanzwagen, den mein Kollege Abu Sâlim fuhr. Ich lud den Sack mit den Köpfen in mein Auto. Die Straßen waren leer, und die gespenstische nächtliche Stille Bagdads wurde nur von fernem Gewehrfeuer und dem Getöse eines amerikanischen Hubschraubers zerrissen, der über der Grünen Zone schwebte. Wir fuhren die Abu-Nuwâs-Straße entlang zur Raschîd-Straße, wegen des Regens nur mit mäßiger Geschwindigkeit. Beim Transport eines Verwundeten oder eines Todkranken ist die Geschwindigkeit des Ambulanzfahrzeugs ein Hinweis auf menschliches Verantwortungsbewusstsein. »Wenn man abgeschnittene Köpfe in einem Krankenwagen geladen hat, ist eigentlich nicht mehr als die Geschwindigkeit eines Maultierkarrens in einem finsteren Wald im Mittelalter vonnöten.« Das jedenfalls hörte man ständig vom Chef der Notfalleinheit im Krankenhaus, einem Mann, der sich selbst für einen Philosophen und einen Künstler hielt, aber, in seinen eigenen Worten, einfach im falschen Land geboren war. Trotzdem respektierte er seine Arbeit und hielt sie für die Erfüllung einer heiligen Pflicht. Die Abteilung für Ambulanzfahrzeuge in der Notfallabteilung zu leiten, hieß für ihn, Herr über die Trennlinie zwischen Leben und Tod zu sein. Bei uns hieß er immer »der Prof«, meine Kollegen mochten ihn überhaupt nicht und nannten ihn durchgeknallt. Ich wusste, woher diese Ablehnung kam. Seine unverständliche und aggressive Art zu reden machte ihn in den Augen anderer zu einem nicht ganz normalen Menschen. Doch ich hegte für ihn viel Respekt und Sympathie, weil ich seine Formulierungen faszinierend fand. Einmal sagte er: »Vergossenes Blut und dummes Gewäsch sind die Wurzeln der Welt. Wegen Brot, Liebe oder Macht zu töten, ist nicht dem Menschen vorbehalten. Auch die Tiere im Dschungel tun das auf verschiedene Art. Doch der Mensch ist das einzige Lebewesen, das um des Glaubens willen tötet.« Im Allgemeinen schloss er seine Äußerungen mit einem theatralischen Satz und wies dabei mit der Hand gen Himmel: »Das Problem des Menschen lässt sich nur durch permanente Angst lösen.« Mein Kollege Abu Sâlim war überzeugt, dass der Prof mit seinen gewalttätigen Äußerungen Verbindung zu terroristischen Gruppierungen haben müsse. Doch ich habe ihn, und zwar aus tiefster Überzeugung, immer verteidigt. Diese dämlichen Ambulanzfahrer verstanden eben nicht, dass er ein Philosoph war, der nicht wie sie den ganzen Tag nur dümmliche Witze riss. Ich prägte mir jeden seiner Sätze, jedes seiner Worte ein, gefangen von Freundschaft und Bewunderung.

Doch kehren wir zu jener Nacht zurück. Als wir Richtung Märtyrerbrücke abbogen, bemerkte ich, dass der von Abu Sâlim gelenkte Krankenwagen verschwunden war. Dann tauchte im Außenrückspiegel ein Polizeifahrzeug auf, das mich mit hoher Geschwindigkeit einholte und mitten auf der Brücke zum Halten zwang. Ihm entstiegen vier vermummte Männer in Uniformen der Sonderpolizeieinheiten, deren Anführer mir, die Pistole auf mein Gesicht gerichtet, auszusteigen befahl. Inzwischen zogen seine Kollegen den Sack mit den Köpfen aus dem Ambulanzfahrzeug.

Jetzt wurde ich entführt, und sie würden mir den Kopf abschneiden. Das war mein erster Gedanke, während sie mich fesselten und in den Kofferraum des Polizeiautos warfen. Doch es dauerte nur zehn Minuten, bis ich herausfand, was sie wirklich mit mir vorhatten. In dem dunklen Kofferraum sprach ich drei Mal den Thronvers. Ich hatte das Gefühl, meine Haut werde rissig. Aus irgendeinem Grund dachte ich in diesen finsteren Augenblicken an mein Körpergewicht. Um die siebzig Kilogramm. Wenn das Auto langsamer wurde oder abbog, wuchs meine Angst, wenn es dann wieder an Geschwindigkeit zulegte, durchzog mich ein seltsames Gefühl, eine Mischung aus Ruhe und Verunsicherung. Vielleicht dachte ich da ja an das, was der Prof über das Verhältnis von Geschwindigkeit und Tod gesagt hatte. Ich hatte nie recht verstanden, was er genau damit meinte. »Jemand, der im Wald stirbt, spürt die Angst schärfer als jemand, der in einem dahinrasenden Ambulanzfahrzeug umkommt«, sagte er immer. »Ersterer hat nämlich das Gefühl, mit der Zeit allein gelassen zu sein, während Letzterer wähnt, jemand sei mit ihm solidarisch. Gewiss ist das die Illusion von der Flucht in die Gegenrichtung.« Ich erinnere mich auch, dass er lächelnd erklärte: »Ich wünsche mir, meine letzten Züge in einem Raumschiff in Lichtgeschwindigkeit zu tun.«

Plötzlich sah ich, vor mir aufgehäuft, all die unbekannten und verstümmelten Leichen, die ich seit dem Fall von Bagdad in meinem Krankenwagen transportiert hatte. Dann stand in der Dunkelheit, die mich einhüllte, der Prof vor mir: Er zog meinen abgeschlagenen Kopf aus einem Müllhaufen, während meine Kollegen zotig über meine Sympathie für diesen Mann witzelten. Das Polizeiauto war noch nicht weit gefahren, als es anhielt. Sicher hatten wir die Stadt noch nicht hinter uns gelassen. Ich versuchte, mich an die 55. Sure, Der Barmherzige, zu erinnern. Doch sie holten mich raus und führten mich in ein Haus, in dem es nach gebratenem Fisch roch. Irgendwo weinte ein Kind. Sie entfernten mir die Binde von den Augen. Ich befand mich in einem völlig leeren, kalten Zimmer. Dann stürzten sich drei wild gewordene Gestalten auf mich und droschen auf mich ein. Danach war alles wieder finster.

Am Anfang hatte ich den Eindruck, einen Hahnenschrei gehört zu haben. Ich schloss die Augen, konnte aber nicht schlafen. In meinem linken Ohr spürte ich einen stechenden Schmerz. Mühsam drehte ich mich auf den Rücken und schob mich zum Fenster, das frisch verbarrikadiert war. Ich hatte fürchterlichen Durst. Dass ich mich in einem Haus in einem alten Bagdader Viertel befand, war leicht am Stil des Zimmers zu erkennen, besonders an der alten Holztür. Aber um ehrlich zu sein, ich weiß nicht recht, welche Einzelheiten meiner Geschichte Sie eigentlich so interessieren, damit ich in Ihrem Land als Flüchtling anerkannt werde. Mir fällt es sehr schwer, diese grauenvollen Tage zu beschreiben. Ich will aber doch noch ein paar Dinge erwähnen, die mir auch wichtig scheinen. Ich hatte das Gefühl, dass Gott und hinter ihm der Prof sich während meiner Heimsuchung nie von mir abgewendet haben. Gott war unverbrüchlich in meinem Herzen präsent. Er gab mir Sicherheit und rief mich zur Geduld. Der Prof hielt mein Gehirn beschäftigt und half mir über die Brutalität meiner Gefangenschaft hinweg. Er war mein Trost und meine Hoffnung. Während all dieser schwierigen Monate dachte ich daran, was er von seinem Freund, dem Ingenieur Dawûd, erzählt hatte. Er schien sich dafür zu interessieren, wie in der Welt alles miteinander verbunden ist, und wo die Macht und der Wille Gottes dabei stehen. Wir tranken zusammen am Tor zum Krankenhaus Tee, und der Prof erzählte: »Während mein Freund Dawûd das Auto der Familie durch Bagdad lenkte, schrieb ein irakischer Dichter in London einen feurigen Artikel zum Lob des Widerstands, auf dem Tisch vor sich eine Flasche Whisky, die sein Herz festigen sollte. Da nun auf der Welt über irgendwelche geheimen Kanäle – Gefühle, Wörter, Albträume – alles miteinander verbunden ist, sprangen aus dem Artikel drei vermummte Gestalten und hielten das Auto an. Sie töteten Dawûd, seine Frau, seinen kleinen Sohn und seinen Vater. Seine Mutter saß zu Hause. Sie wusste weder etwas von dem irakischen Dichter noch von den drei Männern. Sie wusste aber, wie man den Fisch zuzubereiten hatte, der auf alle wartete. Der Dichter schlief volltrunken auf seinem Kanapee in London ein, während Umm Dawûds Fisch kalt wurde und die Sonne in Bagdad verschwand.«

Die Tür ging auf, ein groß gewachsener, bleicher junger Mann kam herein. Er brachte etwas zum Frühstück, das er mir lächelnd hinstellte. Zunächst wusste ich nicht recht, was ich sagen oder tun konnte. Ich warf mich ihm zu Füßen und flehte unter Tränen: »Hören Sie, ich bin Vater von drei Kindern. Ich bin ein gottesfürchtiger Mensch und befolge die religiösen Pflichten. Ich habe nichts mit der Politik und nichts mit den religiösen Gruppierungen zu tun. Gott schütze euch! Ich bin nichts als ein Ambulanzfahrer, schon immer, vor der Besetzung Bagdads und seither. Ich schwöre es bei Gott und seinem edlen Propheten.« Der junge Mann legte den Finger auf den Mund und ging hinaus. Jetzt ist es aus mit mir, davon war ich überzeugt. Ich trank das Glas Tee und verrichtete mein Gebet, in der Hoffnung, Gott werde mir meine Sünden verzeihen. Bei der zweiten Niederwerfung hatte ich das Gefühl, ein eisiger Schwall überspüle mich. Fast hätte ich einen Angstschrei ausgestoßen. In diesem Augenblick öffnete der junge Mann wieder die Tür. Diesmal trug er einen Scheinwerfer auf einem Ständer. Er war in Begleitung eines Jungen mit einer Kalaschnikow, der neben mir Stellung bezog, die Waffe auf meinen Kopf gerichtet. So blieb er unbeweglich stehen. Ein fetter Mann in den Vierzigern kam herein, der aber überhaupt keine Notiz von mir nahm. Er hängte ein schwarzes Tuch an die Wand, auf dem ein Koranvers stand, der die Muslime zum Dschihâd aufrief. Dann kam eine weitere vermummte Gestalt mit einer Videokamera und einem kleinen Laptop herein. Ihm folgte ein Junge, der ein Holztischchen trug. Der Vermummte schäkerte mit ihm, kniff ihn in die Nase und dankte ihm. Er stellte den Laptop auf das Tischchen und machte sich daran, seine Kamera gegenüber dem schwarzen Transparent aufzustellen. Der hagere junge Mann testete drei Mal hintereinander sein Beleuchtungsgerät, dann ging er hinaus.

»Abu Dschihâd …! Abu Dschihâd …!«, schrie der fette Mann.

»Einen Augenblick!«, hörte man den jungen Mann außerhalb des Zimmers rufen. »Ich komm gleich, Abu Arkân!«

Dann kam er zurück, diesmal beladen mit dem Sack mit den Köpfen, den sie aus dem Ambulanzfahrzeug geholt hatten. Der Gestank war bestialisch, alle hielten sich die Nase zu. Der fette Mann befahl mir, mich vor das schwarze Transparent zu setzen. Meine Beine versagten den Dienst, aber der fette Mann zerrte mich am Kragen hoch. Dann kam noch jemand herein, ein einäugiger Mann, eine mächtige Gestalt mit einer Uniform über dem Arm. Er befahl dem Fetten, mich sofort loszulassen, setzte sich neben mich und legte mir wie ein Freund den Arm um die Schulter. »Keine Angst«, sagte er. Sie würden mich nicht abschlachten, ich würde ja mit ihnen zusammenarbeiten und hätte ein gutes Herz. Ich verstand nicht recht, was das heißen sollte, ich hätte ein gutes Herz, aber er versicherte mir, in ein paar Minuten sei alles vorbei. Der Einäugige zog einen Zettel aus der Tasche und gab ihn mir zum Lesen. Währenddessen machte sich der Fette daran, die übel riechenden Köpfe aus dem Sack zu holen und sauber vor mir aufzureihen. Auf dem Zettel stand, ich wäre Offizier in der irakischen Armee, und diese Köpfe da gehörten anderen Offizieren. Ich wäre mit meinen Kollegen in fremde Häuser eingedrungen, wir hätten Frauen vergewaltigt und unschuldige Bürger gequält. Von einem hohen Offizier in der amerikanischen Armee hätten wir Tötungsbefehle erhalten, und zwar gegen eine stattliche Belohnung. Der Einäugige hieß mich die Uniform anziehen, und der Fotograf befahl allen, sich hinter die Kamera zurückzuziehen. Dann machte er sich daran, meinen Kopf zurechtzurücken wie ein Friseur, danach auch die Köpfe, die vor mir lagen. Schließlich bezog er hinter der Kamera Stellung und rief: »Aufgepasst!«

Die Stimme des Kameramannes war Balsam für meine Ohren. Sie klang wie die eines bekannten Schauspielers oder wie die des Profs, wenn er sich Mühe gab, ruhig zu reden. Nach der Videoaufnahme sah ich erst einmal niemanden mehr aus der Gruppe außer dem jungen Mann, der mir Essen brachte und mir verbot, Fragen zu stellen. Jedes Mal, wenn er mit etwas Essbarem kam, wusste er einen neuen Witz über Politiker oder religiöse Führer zu erzählen. Mein einziger Wunsch wäre gewesen, mit meiner Frau zu telefonieren. Ich hatte für den Fall der Fälle etwas Geld beiseitegelegt und so versteckt, dass es nicht einmal ein Dschinn finden würde. Doch sie blieben unerbittlich. Der einäugige Anführer der Gruppe hatte mir erklärt, alles Weitere hänge vom Erfolg des Videos ab. Und dieser stellte sich tatsächlich zur allgemeinen Überraschung umgehend ein. Al-Dschasîra sendete das Video. Ich durfte es sogar im Fernsehen anschauen. Alle hopsten vor Freude herum. Der Fette küsste mich sogar auf den Kopf und versicherte mir, ich sei ein hervorragender Schauspieler. Wütend machte mich aber, dass der Nachrichtensprecher bei al-Dschasîra seinen Zuschauern weismachte, der Sender habe sich über verlässliche Quellen von der Authentizität des Films überzeugen können. Das Verteidigungsministerium habe das Verschwinden der Offiziere bestätigt. Nach dem Erfolg der Ausstrahlung des Videofilms behandelten sie mich mehr als gut. Sie sorgten sich um mein Essen und meine Schlafstätte und erlaubten mir, mich zu duschen. Ihre Krönung erfuhr diese zuvorkommende Behandlung in der Nacht, als sie mich an eine andere Gruppe weiterverkauften. Drei Vermummte aus jener Gruppe kamen ins Zimmer und fielen, nachdem sich der Einäugige herzlich von mir verabschiedet hatte, über mich her und verprügelten mich. Danach fesselten und knebelten sie mich und stopften mich in den Kofferraum eines Autos, das losraste.

Diesmal fuhren wir lange. Möglicherweise bis in die Außenbezirke von Bagdad. Jedenfalls holten sie mich in einem tristen Dorf, in dem überall jaulende Hunde herumstreunten, aus dem Auto und sperrten mich in einen Stall. Zwei Männer bewachten mich abwechselnd Tag und Nacht. Ich weiß nicht, warum sie mich, offenbar vorsätzlich, hungern ließen und mich demütigten. Sie waren völlig anders als die erste Gruppe. Dauernd vermummt, sprachen sie kein einziges Wort mit mir und verständigten sich untereinander mit Zeichen. Auch aus dem Dorf vernahm man während des ganzen Monats, den ich in diesem Stall zubrachte, keinen einzigen menschlichen Laut. Nur das Kläffen der Hunde war zu hören. Die Stunden vergingen schwer und zäh. Ich wünschte mir, irgendetwas würde geschehen und ein wenig Abwechslung in diese endlose Gefangenschaft mit drei Kühen bringen. Bald hörte ich auf, darüber nachzudenken, welcher religiösen Gruppierung oder welcher politischen Partei diese Leute angehörten. Ich hörte auf, mein Schicksal zu beklagen. Was sich da ereignete, musste ich schon einmal erlebt haben, und zwar vor gar nicht so langer Zeit, ja, nur vor einem Weilchen. Doch diesmal schien alles so langsam und durcheinander. Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, einen Fluchtversuch zu unternehmen oder auch nur zu fragen, was sie eigentlich von mir wollten. Ich hatte da offenbar eine Aufgabe zu erfüllen, eine schwere Aufgabe, der ich mich völlig hingeben musste. Vielleicht gab es ja wirklich eine verborgene Kraft, die sich mit einer menschlichen Kraft zusammenspannte bei der Abwicklung eines geheimnisvollen Spiels, dessen Ziele jenseits der Vorstellungskraft eines einfachen Menschen wie mir lagen. »Jeder Mensch hat neben einer menschlichen Aufgabe auch eine poetische«, wie der Prof immer sagte. Wenn das aber stimmte, wie konnte ich hier so einfach die Grenzen zwischen menschlicher und poetischer Pflicht erkennen? Mir leuchtet beispielsweise ein, dass die Sorge für Frau und Kinder zu den menschlichen Pflichten gehört, die Ablehnung des Hasses dagegen zu den poetischen. Aber warum hat dann der Prof immer gesagt, dass wir die beiden Pflichtarten durcheinanderbringen und nicht zugeben wollen, dass der satanische Teil beide treibt. Denn zu den satanischen Pflichten gehört die Fähigkeit, einem Menschen gegenübertreten zu können, wenn er seine Menschlichkeit zum Abgrund stößt. Das ist zu viel für einen einfachen Geist wie mich, der mit Mühe einmal seine Mittelschule abgeschlossen hat, glaube ich wenigstens.

Mein bisheriger Bericht hat aber nichts mit meinem Gesuch um Anerkennung als Flüchtling zu tun. Was Sie interessiert, ist ja das Entsetzen. Und wenn der Prof hier wäre, würde er behaupten, dass das Entsetzen im einfachsten Rätsel verborgen ist, das in einem kalten Stern am Himmel über dieser Stadt leuchtet. Schließlich kamen sie einmal nach Mitternacht. Einer der beiden Vermummten breitete in einer Ecke des Stalls einen prächtigen Teppich aus. Sein Kollege hängte ein schwarzes Transparent auf, auf dem stand: Gemeinschaft Islamischer Dschihâd. Irakischer Zweig