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Dirk Blasius

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Beschreibung

Dirk Blasius versucht mit den Methoden der modernen Sozialgeschichte und unter Ausschöpfung bislang unbekannter Quellen, für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert die Geschichte der Psychiatrie aus der Perspektive der Betroffenen zu schreiben. Er zeigt, daß die bürokratische Überformung der Psychiatrie, ihre Einbindung in das System staatlicher Sicherheitsinteressen – ein System, in dem die Geisteskranken nach wie vor nur verwaltet und in das gesellschaftliche Abseits geschoben werden – bereits im 19. Jahrhundert beginnt und die ›Lage der Psychiatrie heute‹ noch weitgehend prägt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Dirk Blasius

Der verwaltete Wahnsinn

Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses

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Inhalt

Jeder Krankheitsfall ist die [...]VorbemerkungI Vergangenheit in der Gegenwart psychiatrischer Versorgung1. Die Sozialgeschichte des Irrenhauses als Sozialgeschichte des Irren2. Zur Kontinuität gesellschaftlicher Ablehnung des IrrenII Irre und Irrenhäuser in der frühen ›bürgerlichen Gesellschaft‹1. Die Vorgeschichte der modernen Irrenversorgung2. Proto-bürgerliche Gesellschaft und bürgerliche Irrenreform: die Modellanstalt Siegburg3. Die Formgewinnung der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ und die Gründung der LandeskrankenhäuserIII Irrenhaus und Irrenarzt im 19. JahrhundertIV Gesellschaftsentwicklung und Anstaltsentwicklung im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert1. Die Organisation des Anstaltswesens: zum Verhältnis von ›öffentlichen‹ und ›privaten‹ Irrenanstalten2. Das Engagement der Kirchen in der Irrenfürsorge3. Die Landeskrankenhäuser als ›medizinische‹ Armenhäuser: zum Zusammenhang des Irren- mit dem Armenproblem4. Industrialisierung und Urbanisierung als gesellschaftsgeschichtliche Koordinaten der Irrenfrage: zur Irrenstatistik des 19. JahrhundertsV Staatliches Sicherheitsinteresse und Irrenhäuser1. Die bürokratische Aneignung der Irrenfrage und die Transformation des bürgerlichen Heilgedankens2. Widerstände gegen staatliche Irrenüberwachung3. Die repressive Praxis der Bürokratie: das Irrenhaus als DisziplinierungsinstrumentVI Bürokratische ›Anstaltsfürsorge‹ und familiäre Solidarität: zur kulturellen und politischen Identität sozialer UnterschichtenVII Das Irrenhaus im Spiegel von Irrenprozessen1. Eine psychiatrische Karriere mit Fußangeln2. Ein trinkfreudiger Kaplan oder: das Irrenhaus als FolterkammerVIII Familienpflege und Anstaltspsychiatrie: zu einer verschütteten Tradition des IrrenhausesIX Psychiatrischer Alltag und NationalsozialismusX Die heutige Lage der Psychiatrie als geschichtliche LageAbbildungsnachweisQuellen und LiteraturQuellenLiteratur

Jeder Krankheitsfall ist die Begegnung zweier geschichtlicher Abläufe:

Der Geschichte der Persönlichkeit, und der Geschichte der Gesellschaft, in der die betreffende Person lebt.

(MAURICE DORÈS, entnommen aus ›Tintenfisch 13: Alltag des Wahnsinns‹, Berlin 1978, S. 119)

Vorbemerkung

Probleme psychiatrischer Versorgung sind ein Dauerthema moderner Industriegesellschaften. Ihr Bild wird durch das Ausmaß der von ihnen produzierten Sozialpathologie immer stärker getrübt. Psychische Krankheiten, Strafdelikte und das sich immer stärker in den Vordergrund schiebende Problem der Drogenabhängigkeit sind heute Ausdruck einer zunehmenden gesellschaftlichen Überforderung des einzelnen. Die Gesellschaft selbst aber hat bisher nur unzureichend diese Fragen aufgegriffen und Antworten zu finden vermocht, die die Situation der Betroffenen wirklich zu bessern imstande wären. So ist auch die Psychiatrie-Enquête der Bundesregierung mehr ein Kaleidoskop psychiatrischer Miseren, als daß sie Handlungsanweisungen für psychiatrische Reformen enthielte.

Diese Arbeit versucht im Rückgriff auf die Geschichte der psychiatrischen Versorgung zu zeigen, daß deren Defizite heute mit einer Vergangenheit zu tun haben, in der der Irre nicht als Kranker gesehen, sondern als Sicherheitsrisiko für Staat und Gesellschaft eingestuft wurde. Die Landeskrankenhäuser als Symbole ›repressiver‹ Irrenbehandlung in der Geschichte stehen auch heute noch weitgehend für ein System verwalteten und damit gesellschaftlich verdrängten Wahnsinns.

Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses muß mehr sein als eine Institutionengeschichte auf dem Hintergrund politischer und gesellschaftlicher Interessen. Sie muß bekanntmachen mit Menschen, deren Lebensweg nicht nur in Anstalten führte, sondern oft auch hier endete, also mit Geisteskranken, ihrem sozialen Milieu, ihren eigenen kulturellen und politisch-gesellschaftlichen Orientierungen und ihren besonders gelagerten Bedürfnissen. Für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert beschreibt die Arbeit eine Irrenfrage, die sich mit der Entwicklung der modernen ›bürgerlichen Gesellschaft‹, mit den säkularen Prozessen von Industrialisierung und Urbanisierung neu stellte. Der Irre verfiel einer gesellschaftlichen Rationalität, die Freiräume für Irrationales nicht mehr zuließ. Der ›Wahnsinn‹ wurde verwaltet und in Asylen zum Verschwinden gebracht. Durch das Ausschöpfen einer bisher unbekannten und unbenutzten Quellenüberlieferung zeigt die Arbeit, was das für die Betroffenen bedeutete, welche Chance des Widerstands sie hatten und wie sie diese Chance nutzten.

Es erscheint im Hinblick auf heutige Diskussionen wichtig, daran zu erinnern, daß der psychisch Kranke in der Geschichte nicht nur als Objekt bürokratischer Willkür begegnet, sondern auch als Subjekt mit eigenen Lebensplänen, mit dem Bestreben, sich seiner politisch-administrativen Erniedrigung und gesellschaftlichen Ächtung zu erwehren. So versucht diese Arbeit im Rahmen einer Sozialgeschichte des Irrenhauses zugleich ein Stück Sozialgeschichte des Alltags der Betroffenen darzustellen, die überwiegend aus sozialen Unterschichten kamen. Auch das gilt es zu betonen: die Verwurzelung der Irrenfrage in der Armutsfrage.

Die Geschichte der Psychiatrie findet gegenwärtig ein immer stärker gesellschaftsgeschichtlich gerichtetes Interesse. Das ist nur zu begrüßen. Problematisch sind dabei jedoch die vermeintlich eindeutigen Ergebnisse. Das geschichtliche Versagen der Psychiatrie scheint feststehendes Resultat jeder Beschäftigung mit der Geschichte dieser Wissenschaft zu sein. So hat man von einer langen, gleichsam bis heute fortdauernden »Komplizenschaft von Medizin und Verwaltung« gesprochen, die den »Wahnsinn zum Verwaltungsobjekt gemacht« habe.[1] Beim Titel der vorliegenden Arbeit – Der verwaltete Wahnsinn – könnte man eine ähnliche Sicht der Geschichte der Psychiatrie vermuten. Doch die Quellenbefunde vermitteln kein so eindeutiges Bild. Das Wechselspiel zwischen Ärzten und Verwaltung war komplizierter, und wenn Irre je einen Anwalt ihrer Bedürfnisse gegenüber bürokratischer Zumutung wie Demütigung gehabt haben, dann war es der ihre Lebensgeschichte begleitende Arzt. Psychiatrie und Verwaltung sind nicht über einen Leisten zu schlagen; es gibt zwar Episoden des Zusammenspiels, aber auch eine lange Geschichte der Dissonanzen. Man kann die Chancen der Irren heute mehren helfen, wenn man diese Geschichte in Erinnerung ruft.

Zum anderen: Wenn es nur darum ginge herauszufinden, wie Verwaltung und Medizin in der Geschichte ihre »Maschine zusammengeschaltet« haben, bliebe dem Wahnsinnigen nicht mehr viel an Aufmerksamkeit. In den Worten einer bekannten Untersuchung zur »psychiatrischen Ordnung« im Frankreich des 19. Jhts.: »Und der Wahnsinnige? Sprechen wir nicht von ihm. In dieser Logik gibt es wahrhaftig nicht viel von ihm zu sagen, noch weniger, was man ihn selbst sagen ließe«.[2]

Die ideologiekritische Perspektive hat ihr Recht, doch sie läuft Gefahr, Möglichkeiten der historischen Rekonstruktion zu verschenken. Diese hat beim Alltag der betroffenen Menschen anzusetzen, ihn ernst zu nehmen und die zu porträtieren, die sich in seinen Dienst stellten und mit jenen zu ringen hatten, die den Irren über die Rampe bürokratischer »Kasernierung« ins gesellschaftliche Vergessen abzuschieben suchten. Es war ein deutscher Reformpsychiater des 19. Jahrhunderts, der schon zu Beginn der modernen Anstaltspsychiatrie auf die Gefahr menschenunwürdiger Kasernierung in Massenasylen hinwies. Dieser Arzt, Wilhelm Griesinger, konnte noch vom Wahnsinnigen »sprechen« und seine Sprache sollte sich auch jede historische Beschäftigung mit dem Wahnsinn zu eigen machen. »Der Mensch, auch der sogen. Geisteskranke, ist keine lebendige Maschine, deren Funktion mit Befriedigung von Essen und Trinken und kahler mechanischer Arbeit abgetan wäre; er hat Sinne, er hat Interessen, er hat ein Herz. Wohl ist bei vielen Psychisch-Gestörten der Geist in Nacht versunken, das Gemüt erloschen, der Wille gebrochen, aber bei anderen sind diese Regungen noch vorhanden, wenn auch oft nur als unter der Asche glimmende Funken. Es sind kostbare Funken!«[3]

›Geschichte von unten‹, die hier unter Einbeziehung der auch außerdeutschen Entwicklung der Irrenfrage versucht wird, ist auf Quellenmaterial angewiesen, das eine mehr regionale und lokale Provenienz hat. Doch hier sind Lebensgeschichten überliefert, die Bruch und Beziehung von Einzelleben und Sozialprozessen einfangen. Die Rekonstruktion dieser Lebensgeschichten vermag aus der Betroffenenperspektive neues Licht auf die Zusammenhänge von abweichendem Verhalten und Gesellschaftskrisen im 19. und 20. Jht. zu werfen. Der Arbeit ist eine Reihe von Bilddokumenten beigegeben. Sie sind mehr als bloße Illustrationen des Textes, sondern haben für die Geschichte der psychiatrischen Versorgung einen eigenständigen Informationswert. Das Subjektive des Leidens begegnet hier durch die Zeiten hindurch an den wechselnden Orten wie in den sich verändernden Methoden der »Behandlung«.[4]

Ich danke dem Lektor Walter H. Pehle für die Ermutigung zur Veröffentlichung dieser Arbeit sowie für seine Beratung.

Essen, März 1980

Dirk Blasius

I Vergangenheit in der Gegenwart psychiatrischer Versorgung

Der Fortschrittsglaube der modernen Gesellschaft ist in vielen Bereichen fragwürdig geworden, ja man hat den Eindruck, daß das Grundproblem dieser Gesellschaft die Organisierung der von ihr selbst produzierten Defizite ist. Ein Blick auf die Umweltproblematik vermag das ebenso zu verdeutlichen wie der Hinweis auf das weite Feld der Sozialpathologie. Von der Kriminalität bis zur Drogenszene reicht ein Spektrum gesellschaftlicher Ausfallerscheinungen, das sich nur unzureichend mit Devianzmodellen erfassen läßt. Wenn abweichendes Verhalten, wie es heute der Fall ist, sich dermaßen massiert, muß etwas mit der Grundstruktur der Gesellschaft nicht stimmen, können die Probleme nicht ausschließlich auf seiten der Betroffenen aufgesucht werden.

Einen der zentralen Krisenherde moderner Industriegesellschaften bilden psychische Krankheiten. Das gilt nicht nur für kapitalistisch organisierte Systeme, sondern auch für staatssozialistische, wenn hier auch die Verschleierungsmechanismen durch den Druck der Legitimationsanforderungen perfekter sind. Für die Bundesrepublik Deutschland hat der vom Parlament angeforderte »Bericht über die Lage der Psychiatrie« deren Dilemma ungeschminkt aufgezeigt.[5] Es gibt heute »beträchtliche Lücken« in der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter. Sie reichen vom Mangel an qualifiziertem Personal, dem Fehlen gemeindenaher stationärer Dienste, der Vernachlässigung von besonders betroffenen Patientengruppen wie Suchtkranken und geistig behinderten Kindern bis zum traditionellen Kern psychiatrischer Versorgung, den aus dem 19. Jahrhundert stammenden psychiatrischen Fachkrankenhäusern, den sogenannten Landeskrankenhäusern. Sie tragen auch heute noch mit ihren rund 100000 Betten die Hauptlast der stationären Versorgung. Diese viel zu großen, geographisch meist ungünstig gelegenen und in ihrer Bausubstanz veralteten Anstalten sind zu etwa 60 % mit Langzeitpatienten belegt. Es ist nicht zufällig, daß von den »Mißständen« in den Landeskrankenhäusern der Anstoß ausging, in einer Enquête das Problem der psychiatrischen Versorgung aufzugreifen. Hier vor allem wurde und wird den »humanen Grundbedürfnissen« der Patienten völlig unzureichend Rechnung getragen.

Es steht für die Gegenwart außer Frage, daß psychische Krankheiten und Behinderungen auch ein quantitativ bedeutendes Problem sind. Betroffen ist ein sehr erheblicher Teil der Bevölkerung. Etwa jeder dritte Bundesbürger hat bereits einmal in seinem Leben irgendeine psychische Krankheit durchgemacht oder leidet noch daran. Mit anderen Worten: Rund 20 Millionen Menschen sind oder waren andauernd, wiederholt oder wenigstens einmal während ihres Lebens in irgendeiner Form ›psychisch‹ betroffen. Von psychiatrischen Krankenhäusern und Abteilungen werden in der Bundesrepublik gegenwärtig innerhalb eines Jahres 0,25 % bis 0,40 % der Bevölkerung, also rund 200000 Personen, aufgenommen. Daß psychische Krankheit und Versorgung Gegenwartsthemen sind, deren Relevanz jedem einleuchtet, bedarf keiner besonderen Begründung; doch sind es auch historische Themen von Relevanz? Dieser Frage geht die folgende Studie nach und sucht Gründe für eine positive Antwort zu sammeln.

Der Bereich der psychiatrischen Versorgung ist hinsichtlich seiner Reformbedürftigkeit heute einer der überständigsten. Das hängt wesentlich mit historischen Verkrustungen zusammen. Die Asyle des 19. Jahrhunderts ragen in unsere Gegenwart hinein und symbolisieren die Kontinuität eines gestörten Verhältnisses der Gesellschaft zum Bereich der psychischen Krankheiten. Auch heute noch bestimmen »Vorurteile« die Verhaltensweisen gegenüber psychisch Kranken.[6] Ihre im 19. Jahrhundert beginnende massive Isolierung hat zur Tabuisierung eines Bereichs geführt, in dem Nähe und bewußte Hinwendung die Voraussetzung von Fortschritten sind. Wenn heute Tabuisierung schon in der Familie des Kranken beginnt, wenn es als Makel empfunden wird, einen Geisteskranken in der Familie zu haben und wenn man ihn von Nachbarn, Freunden und Bekannten fernzuhalten sucht, so war das nicht immer so. Es begegnen im 19. Jahrhundert – vor und während der Gründungsphase der großen Asyle – andere Verhaltensweisen, die sich als familiäre Solidargemeinschaften mit dem Irren charakterisieren lassen. Sie wurden durch die staatlich verordnete und rigide gehandhabte Isolierung der psychisch Kranken weitgehend zerstört.

Will man heute die Gründe für die negative Einstellung gegenüber Geisteskranken benennen, so steht an erster Stelle fraglos ihre negative Behandlung. Seit dem 19. Jahrhundert schiebt man psychisch Kranke in abgelegene und zum Teil stark gesicherte ›Bewahranstalten‹ ab. Die meisten Bürger kommen nie mit ihnen direkt in Berührung; die Möglichkeit irgendwelcher Interaktion gibt es überhaupt nicht. Berührungsängste sind kennzeichnend für das Verhältnis des Bürgers zum Irren. Das scheint nur dann ein Naturgesetz zu sein, wenn man sich der Geschichte des Irrenwesens nicht vergewissert. Tut man dies, können gesellschaftliche Verhaltensweisen historisch festgemacht werden, erweist sich die Angst vor dem Irren als eine in die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft eingelassene Angst. Diese Gesellschaft brachte einen Rationalisierungsschub, der auch das Irrenwesen betraf und erst jene Distanz zwischen Irresein und gesellschaftlichem Alltag schuf, in der sich Ängste bilden konnten.

In dieser Studie geht es um in der Geschichte auffindbare Alternativen zu dem, was heute an der Situation von Psychiatrie und psychiatrischer Versorgung so laut beklagt wird; sie legt den Finger auf politische und gesellschaftliche Verantwortlichkeiten, die zu dieser Situation führten und zeigt jenes Potential an individuellem und gesellschaftlichem Widerstand auf, das überwunden werden mußte, um die Asylierung von Geisteskranken als Fortschritt psychiatrischer Versorgung etablieren zu können. Die Geschichte psychiatrischer Anstalten kann auch als eine Geschichte gesellschaftlichen Widerstands gegen Anstalten gelesen werden; man trifft dabei zugleich auf Widerstand gegen eine Gesellschaft, in der Anstalten notwendig wurden.

1. Die Sozialgeschichte des Irrenhauses als Sozialgeschichte des Irren

Die Rekonstruktion der Versäumnisse der modernen Psychiatrie ist nicht neu und auch nicht das Nachzeichnen ihrer Entwicklung auf dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte der modernen bürgerlichen Gesellschaft.[7] Doch alle diese Arbeiten sind auf der Ebene einer gesellschaftsgeschichtlich vermittelten psychiatrischen Theoriebildung angesiedelt; sie lassen die Ebene gesellschaftlichen und administrativen Umgangs mit dem Irren weitgehend außer acht.[8] Man erfährt viel über die »staatliche Ordnungsaufgabe« der Psychiatrie, aber fast nichts über die reale Lage der Geisteskranken. Aus welchen sozialen Schichten kamen sie, wie sah ihr familiärer Kontext aus und wie reagierten Betroffene und ihr gesellschaftliches Umfeld (Angehörige, Nachbarn, Freunde) auf Maßnahmen der Gesundheits- und Ordnungsbehörden?

Für den größten deutschen Teilstaat, Preußen, soll in einem wichtigen Teil dieser Arbeit die Geschichte des Irrenwesens gesellschaftsgeschichtlich entfaltet werden; dabei wird es darauf ankommen, Irrenentwicklung und Bevölkerungswachstum in ein Verhältnis zu setzen, doch Irre nicht allein zu zählen, sondern Irresein auch diagnostisch, d.h. von den medizinischen und bürokratischen Definitionsprozessen wie -abläufen zu gewichten, den bedeutsamen Vorgang der Urbanisierung im besonderen und gesellschaftliche Formveränderungen im allgemeinen anzusprechen, Professionalisierungstendenzen im Bereich der Psychiatrie aufzuzeigen und einzuschätzen, ferner die Motive zu verdeutlichen, die zum Anstaltsboom besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten und das große ›Abstandnehmen‹ der modernen Gesellschaft von der Grunderfahrung des Irrsinns einleiteten – vor allem aber soll der Leser Irren selbst begegnen und bürokratische Bedürfnisreglementierung im Licht ihrer Bedürfnisse sehen und beurteilen lernen. Denn auch die Irren in der Geschichte waren kein gesichtsloses Kollektiv, sondern eine Gruppe von Menschen mit spezifisch kulturellen wie politisch-gesellschaftlichen Orientierungen, Lebensplänen und Lebenserfahrungen.

Das Dilemma der bisherigen Psychiatriegeschichtsschreibung ist, daß kein einziges wirkliches ›Irrenleben‹ faßbar, kein einziger Irrer dem Leser bekannt wird.[9] Die moderne Sozialgeschichte bietet die Chance, auch die Irrengeschichte aus der Betroffenenperspektive gegenzulesen.[10] Dazu muß man freilich nicht gebundene Bücher, sondern verstaubte Akten in die Hand nehmen. Sie sind voll Leben, aber auch reich an dem Leben zugefügten Leid. Die Anstaltsentwicklung wird in dieser Arbeit auch unter vergleichenden Perspektiven mit dem dazugehörigen methodischen Raffinement zwar quantitativ aufgeschlüsselt, bedrängender ist jedoch die inhaltliche Analyse der Beschwerdebriefe gegen Anstaltseinweisungen. Sie wurden von Irren selbst, aber auch von ihren Familienangehörigen verfaßt.

Die Spur gesellschaftlichen Widerstands gegen das Irrenhaus war in der Entstehungsphase dieser Isolierungsinstitution breit. Die Frage, ob dies auch Ausdruck von Rebellion gegen die bestehende Gesellschaftsordnung gewesen ist, muß vorsichtig aufgegriffen werden. Doch Irrenschicksale dokumentieren Bruch und Beziehung von Einzelleben und Sozialprozessen und diskreditieren einen der Fortschrittstopoi der modernen Gesellschaft: den Anstaltsgedanken. An seiner Ablehnung läßt sich soziales Selbstbewußtsein festmachen, eine eigene Erfahrung von Gesellschaft und ein eigener gesellschaftlicher Gestaltungswille.

2. Zur Kontinuität gesellschaftlicher Ablehnung des Irren

Richtet man den Blick zurück auf 200 Jahre psychiatrischer Praxis, die immer auch eine Praxis gesellschaftlichen Umgangs mit dem Irren gewesen ist, so ist es »kaum erstaunlich, aber doch ziemlich ernüchternd, wenn man dabei die Entdeckung machen muß, daß es vieles, was wir gern für eine Errungenschaft unserer Zeit gehalten hätten, schon seit langem gegeben hat und daß umgekehrt so manches, was wir als überholt und beschämend ablehnen, noch längst nicht überwunden ist«.[11] Es gibt ohne Frage eine Kontinuität im Abschieben des Irren, seiner Nichtwahrnehmung; aber man kann im breiten Strom der Gesellschaftsgeschichte auch Inseln der Hinwendung entdecken. Abgelehnt wurde der Irre, wenn man vergröbernd argumentiert, von den gesellschaftlichen Schichten, die vom Irresein am wenigsten gesellschaftlich gefordert waren. So hatten im 19. Jahrhundert bürgerliche Schichten die Möglichkeit, einen geisteskranken Familienangehörigen für teures Geld in Privatanstalten verpflegen zu lassen, oder die Pflege innerhalb der eigenen Familie durch Dienstboten zu organisieren. Diese Möglichkeiten schufen eine Distanz gegenüber dem Irresein, die sich paradoxerweise gegen die Anstalten kehrte, die eine primär bürgerliche Anstaltspopulation aufwiesen: Das waren die von Privatpersonen (Ärzten z.B.) oder auch von katholischen Orden als Unternehmungen betriebenen Privatanstalten. Sie lagen meist in Stadtzentren, während die Landeskrankenhäuser bewußt jenseits der städtischen Lebensadern errichtet wurden.

Jeder kennt heute die mannigfachen Proteste von Anliegern und Bürgerinitiativen, wenn neue Heil- und Pflegestätten für psychisch Kranke in der Nähe eines Wohnviertels errichtet werden sollen. Dieser Bürgerprotest hat Vorläufer in der Geschichte des 19. Jahrhunderts. Sie zeigen das Bestreben, den Wahnsinn auszugrenzen und markieren auch diejenigen, die das wollten.

Am 29. September 1892 richtete der Steglitzer Haus- und Grundbesitzerverein an den Reichskanzler von Caprivi ein Gesuch, das die »Abänderung der Vorschriften der Reichsgewerbeordnung über die Konzessionierung von Privat-Irrenanstalten« betraf.[12] In dieser Petition heißt es: »Zu unserem größten Bedauern ist am hiesigen Orte neuerdings eine Vermehrung der Privat-Irrenanstalten eingetreten. Nicht nur, daß dieselben an der äußeren Peripherie unseres Ortes errichtet werden, geht man auch jetzt dazu über, sie innerhalb unserer geschlossenen Ortschaft an völlig bebauten und stark frequentierten Straßen zu begründen. Die Gefahren und Schädigungen, welche durch eine solche Anstalt der Ort, insbesondere die Nachbarschaft erleidet, sind erhebliche und dürfen nicht unterschätzt werden. Nicht allein, daß die Ruhe und Sicherheit der Nachbarn in hohem Maße gefährdet wird, gerät auch der umliegende Ortsteil in Mißkredit und verlieren namentlich die direkt angrenzenden und benachbarten Grundstücke erheblich an ihrem Wert.« Das »Geschrei und Getobe« in der Anstalt wirke gerade auf die Bewohner störend, die in Berlin ihrem Beruf nachgingen, aber in den Vororten wohnten, »um fern von dem Getriebe der Großstadt nach Erledigung der Tagesarbeit Ruhe und Stärkung zu neuer Arbeit zu finden«.

Die Petition des Steglitzer Haus- und Grundbesitzervereins wurde von der Bürokratie sehr ernst genommen. In den einzelnen preußischen Provinzen hatten die Regierungspräsidenten zu recherchieren, welches Ausmaß an »Mißständen« die Privatirrenanstalten hervorriefen. In den eingesandten Berichten begegnet sehr massiv jene gesellschaftliche Abwehrhaltung gegenüber dem Irren, die auch heute noch weit verbreitet ist. So heißt es bedauernd über eine in Trier gelegene Irrenanstalt, daß sie »in der besten Gegend der Stadt« liege, »umgeben von herrschaftlichen Wohngebäuden«, mithin auf einem »Gelände, das sich hervorragend zum Bauplatz für bessere Wohngebäude geeignet hätte«.[13] »Unter den Besitzern der anliegenden Grundstücke machte sich denn auch sofort bei dem Bekanntwerden von der beabsichtigten Anlage der Anstalt ein lebhafter Unwille geltend.« Sie richteten eine Eingabe an die Bezirksregierung, die Errichtungsgenehmigung zu verweigern. Aus rechtlichen Gründen konnte diesem Gesuch nicht entsprochen werden, obwohl die Behörden ausdrücklich seine »innere Berechtigung« anerkannten. »Nichtsdestoweniger muß anerkannt werden, daß sie [die Irrenanstalt; d. Verf.] in ihrer örtlichen Lage der Gegend zum mindesten nicht zur Zierde gereicht, den gleichmäßigen Ausbau der Stadt an jener Allee gestört hat und für die Bewohner der anliegenden Grundstücke jedenfalls insoweit mit Nachteilen verbunden ist, als der Gedanke der unmittelbaren Nähe der Irren, die Furcht vor ihrer Entweichung oder Begegnung auf dem Wege zur Anstalt auf leicht nervös erregbare Naturen ungünstig einwirken kann.«

Berührungsängste prägten und prägen gesellschaftliches Verhalten gegenüber dem Irren. Sie stehen, wenn auch nicht hinter der Gründung, so doch hinter der Entwicklung und dem enormen Ausbau der Landeskrankenhäuser in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es entstanden Asyle, die bewußt fern von städtischem Leben und städtischer Kommunikation errichtet wurden. Doch gibt es, wie angedeutet, zu diesem Hauptstrom gesellschaftlicher Verhaltensweisen Gegenströmungen. Sie deuten auf Alternativstrategien im Umgang mit dem Irren hin und lassen sich konkret an seinem gesellschaftlichen Umfeld festmachen. So ist das Thema der vorliegenden Untersuchung zwar der verwaltete Wahnsinn, aber auch der ›Wahnsinn‹ einer Verwaltung, die soziale Phantasie auf seiten der Betroffenen unterschätzte, sie nicht wahrhaben wollte und damit die gesellschaftliche Nichtanerkennung eines eigenen Lebensrechts des Irren zementierte.

IIIrre und Irrenhäuser in der frühen ›bürgerlichen Gesellschaft‹

1. Die Vorgeschichte der modernen Irrenversorgung

Das 19. Jahrhundert läßt sich mit guten Gründen als der Zeitabschnitt ansehen, in dem sich die moderne Irrenfürsorge herausgebildet hat. Die vorausliegenden Jahrhunderte waren Vorgeschichte, mehr eine Geschichte des Wahnsinns als eine gesellschaftlichen und staatlichen Bemühens um den Wahnsinnigen. Der Irre taucht im Mittelalter zwar schon als Objekt städtischer Armen- und Gesundheitspflege auf, behält aber in dieser theozentrischen Welt dennoch seine Sonderstellung als Symbolfigur des Heils wie des Unheils, göttlicher Gnade wie göttlicher Prüfung und Strafe. Irre wurden z.T. in ausbruchssicheren Türmen jenseits der Stadtmauern verwahrt, oft auch nach dem Abklingen von Epidemien in Seuchenhäuser gesteckt; vereinzelt ›hielt‹ man sie auch in besonderen Irrenzellen, die sich meist in der Nachbarschaft städtischer Hospitäler befanden. Das Irrenwesen war im Mittelalter parochial organisiert, und auf der Gemeindeebene konnten sich durchaus unterschiedliche Verhaltensweisen herausbilden. Dennoch überwog die Furcht das Mitleid, führte Verunsicherung zu drastischen Sicherheitsmaßnahmen.

Neben einer kommunalen Wurzel der Irrenfürsorge gibt es eine monasteriale. Klöster und Orden nahmen sich der Irren an und übertrugen die mönchischen Tugenden von Armut, Keuschheit und Gehorsam auf die Irrenbehandlung. Im autoritären Stil der späteren psychiatrischen Einrichtungen lebt ohne Zweifel diese ›kirchliche‹ Komponente fort.

In der Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit war der Irre präsent, aber als einzelner und nicht als Massenphänomen. Das änderte sich mit dem rapiden Bevölkerungszuwachs im Zeitalter des Absolutismus. In den europäischen Großstaaten wie in den großen deutschen Territorialstaaten war jetzt die Landesherrschaft gefordert. Auf Gemeindeebene ließ sich das Irrenwesen, nicht zuletzt aus Gründen finanzieller Überbürdung, nicht mehr organisieren. Diese quantitative Seite muß gesehen werden, wenn auch die soziale Raumplanung des absolutistischen Staates eng mit seinen Ordnungsprinzipien zusammenhing. Der Irre konnte einer Gesellschaft nicht länger anheimgestellt bleiben, der selbst ein straffes bürokratisches Korsett eingezogen wurde. Das ordnungs- und sicherheitspolitische Kalkül der absolutistischen Staatsbürokratie erfaßte den Irren und definierte ihn sowohl als sozial Schwachen wie als Störer der sozialen Ordnung.

In Deutschland haben die Maximen des absolutistischen Staates eine lange Lebensdauer gehabt, und damit hängt auch jene Kontinuität in der Einschätzung des Irren zusammen, die ihn in die Nähe des Verbrechers rückte. Im Zeitalter des Absolutismus wurden Irre, deren Zugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft im Mittelalter und in der Renaissance trotz aller Härte des Umgangs unbestritten war, von der Straße und damit aus dem öffentlichen Bewußtsein verbannt und gemeinsam mit Kriminellen, Bettlern und Landstreichern, Arbeitslosen, Dirnen, politisch Unliebsamen und Geschlechtskranken hinter Schloß und Riegel gebracht. So waren die Tollhäuser zu dieser Zeit zugleich Zucht-, Korrektions- und Arbeitshäuser. Sie waren übrigens auch ein wichtiger Posten im ökonomischen Kalkül des absolutistischen Staates. Die hier zentrierten ›Subjekte‹ waren billige Arbeitskräfte, die man gewinnbringend an Manufakturisten verpachten konnte. Arbeitshäuser waren oft auch für in staatlicher Regie betriebene Manufakturen ein wichtiger ›Produktionsfaktor‹.

Das Zeitalter des Absolutismus war für den Irren ein Zeitalter massiver Repression. Erst die vom Geist der Aufklärung gestiftete und geprägte philanthropische Grundhaltung einer breiteren Öffentlichkeit durchbrach die herrschende administrative Reglementierung. Der Irre wurde im Heer der gesellschaftlich Abgeschriebenen neu entdeckt, und man drang bei ihm auf menschenwürdige Behandlung.

In Frankreich wurden Irre ›von ihren Ketten befreit‹, nachdem durch die französische Revolution die Menschenrechte als Gestaltungsnormen gesellschaftlicher Ordnung geschichtliche Anerkennung erlangt hatten. Auch in England, Amerika und Deutschland begegnet zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine gesellschaftlich breit gelagerte Bereitschaft zur Irrenreform. Man hat dieser Bewegung den »Charakter einer sozialen Bewegung« zusprechen wollen.[14] Doch hier ist Vorsicht geboten. Das alte bürokratische Muster der Irrenverwahrung war geschichtlich noch keineswegs am Ende. Es wurde allerdings überlagert von Aktivitäten, die von den Keimzellen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft ausgingen: vom Bildungsbürgertum und dem noch schwachen Wirtschaftsbürgertum. Die Aushöhlung der alten Feudalordnung und die Formgewinnung einer bürgerlichen Klasse, das sind die gesellschaftsgeschichtlichen Koordinaten, die der Irrenreformbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren historischen Ort zuweisen. Sie versuchte, einen neuartigen Umgangsstil mit dem Geisteskranken auch institutionell zu verankern. Er sollte in besonderen Anstalten untergebracht und dort, so weit nur irgend möglich, nicht in seiner Freiheit beschränkt werden (no restraint therapy). Der Optimismus der Aufklärung, den Menschen aus seiner Unmündigkeit herausführen zu können, wurde auf den Irren und seine Behandlung übertragen. Wie in England und Amerika kam es auch in Deutschland zum Bau psychiatrischer Krankenhäuser. Sie waren in gewisser Weise Modellanstalten und geprägt vom ›Mythos der Heilbarkeit‹ von Geisteskrankheit. In diesem Mythos ist zugleich bürgerliches Sendungs- wie Selbstbewußtsein eingefangen. Diese Modellanstalten veränderten aber nun keineswegs die gesamte Irrenlandschaft. Sie waren nicht viel mehr als ein Tropfen auf einem heißen Stein und konnten besonders das Schicksal der ›armen Irren‹ keineswegs bessern.

Noch einen anderen Gesichtspunkt gilt es neben der die Irrenreform vorantreibenden Aufklärungsparole zu betonen. Es war nicht nur gesellschaftlicher Optimismus, der zur Entdeckung des Irren führte, sondern auch eine Art gesellschaftliche Angst, die mit den Irritationen zusammenhing, die der ›bürgerliche‹ Modernisierungsschub in weiten Kreisen der Klasse des Bürgertums hinterließ. Jedenfalls wurden Zivilisation und Wahnsinn in einen engen Zusammenhang gebracht.

Betrachtet man die Entwicklung des Irrenwesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – in Europa, aber auch in Amerika, so fällt der Gleichklang fürsorgerischer Maßnahmen auf. Überall begegnen verwandte Lösungen der Irrenfrage, überall trifft man auf Debatten, in denen es um den Wahnsinn ging. Das läßt einen gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhang vermuten. Das mit der französischen Revolution einsetzende bürgerliche Zeitalter brachte eine Entflechtung der alten Statusgesellschaft wie auch die Statuierung eines von der Gesellschaft abgehobenen Staates, der seine gesellschaftlichen Kontrollfunktionen durch Rationalisierung der Verwaltung und die Neuordnung des Polizei- und Justizwesens ausbaute. Ohne Frage liegt in der Entwicklungsgeschichte der meisten europäischen Gesellschaften die Ausbildung eines neuen Typs staatlicher Fürsorgepolitik begründet.

Etwas abgehoben von der deutschen und französischen Entwicklung ist diejenige Englands und Amerikas. In Frankreich stellte das Gesetz vom 30. Juni 1838 über die Irren die erste große gesetzgeberische Maßnahme dar, die für eine Kategorie aus dem großen Heer der gesellschaftlich Abgeschriebenen (dazu gehörten z.B. Arme, Bettler, Landstreicher, Findelkinder) ein Recht auf Fürsorge und Pflege anerkannte.[15] Rein quantitativ waren Irre – übrigens nicht nur in Frankreich – gegenüber Armen ohne große Bedeutung. Zur Zeit der Revolution gab es einige tausend Wahnsinnige, 1834 beliefen sich Zählungen auf kaum zehntausend. Dem standen ca. 2 Millionen Arme, dreihunderttausend Bettler, hunderttausend Landstreicher und hundertdreißigtausend Findelkinder gegenüber. Woran liegt es, so ist mit Recht gefragt worden, daß gerade Irre zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wurden und daß die Irrengesetzgebung allen anderen Fürsorgemaßnahmen um fünfzig Jahre vorauslief und sie an Systematizität übertraf?[16]

Was für Frankreich angeführt wurde, läßt sich auch auf andere europäische Staaten übertragen: für die entstehende bürgerliche Gesellschaft stellte gerade der Irre eine besondere Herausforderung dar. Diese mußte diese Gesellschaft deshalb annehmen, weil es um die Glaubwürdigkeit ihrer Prinzipien ging. Das »Pathos des Wahnsinns« paßte nicht zu den ernsthaften bürgerlichen Angelegenheiten von Ordnung, Recht, Verwaltung, Finanzen, Disziplin, Polizei und Regierung.

Das synchrone Aufgreifen der Irrenfrage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl in Europa wie in Amerika ist auffällig; die Behandlung dieser Frage ist jedoch stark von den jeweiligen nationalen Traditionen abhängig. Wie in Frankreich war es in Deutschland – Preußen spielte auch hier für die übrige deutsche Staatenwelt den Vorreiter – der Staat, der zwar nicht auf dem Gesetzgebungswege, aber durch seine Verordnungstätigkeit das Irrenwesen neu zu organisieren versuchte. Inwieweit in Preußen-Deutschland der bürokratische Modernisierungsimpetus auf das Irrenwesen abfärbte, wird noch zu schildern sein. Auch in Holland kam es 1841 zu einem ersten Irrengesetz, das stark unter französischem Einfluß stand.[17] Diese frühen Gesetzgebungen sind durch die Omnipotenz der Bürokratie und den geringen Einfluß der Mediziner gekennzeichnet. Die Verwaltung, die Anstalten schuf, wollte das Einweisungs- und Entlassungsmonopol nicht aus der Hand geben, sicherlich aus der nicht zu gering zu veranschlagenden Furcht, daß Mißbrauch mit den Anstalten getrieben werden könne. Doch welche Sicherungen gab es gegen den Mißbrauch von Anstalten durch die Verwaltung selbst? Das ist ein Problem, das gerade für die Entwicklung in Deutschland von erheblicher Brisanz werden sollte.

Auch in England vollzogen sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidende Wandlungen in der Organisation des Irrenwesens. Sie hängen nicht mit Initiativen des Staates, sondern mit der Betroffenheit einer vergleichsweise breiten Öffentlichkeit zusammen. Sie stieß sich am überkommenen System der englischen Irrenversorgung. Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurden Irre primär von Privatanstalten gepflegt. Sie hatten geradezu ein Monopol in der Irrenversorgung, da es Gemeinden und Städte trotz verschiedener gesetzlicher Anläufe (z.B. 1808) wegen finanzieller Überbürdung ablehnten, Irrenanstalten zu errichten.[18] Doch der von Privatanstalten betriebene »trade in lunacy« geriet in den 40er Jahren immer stärker in das Schußfeld der öffentlichen Kritik. Von den 20893 Anstaltsinsassen im Jahre 1844 befand sich der größte Teil in Privatanstalten. Erst das Irrengesetz von 1845 brachte eine einschneidende Änderung. Es schuf den Typ des öffentlichen Hospitals für arme Irre und bedingte somit erst einen Wandel im Sozialprofil der Privatanstalten. Sie wurden Reservate für psychisch Kranke aus der englischen Mittel- und Oberschicht. Ob die breite Schicht der armen Irren im System der kommunalen Versorgung besser gestellt war, ist mit Recht umstritten, gerade weil die alten Privatanstalten keineswegs reine Aufbewahrungs- und Ausbeutungsinstitute gewesen waren. Öffentliche Irrenfürsorge war auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England Teil der sich verfestigenden ›Disziplinargesellschaft‹, für die die Organisation des Irrenhauses mit seiner Disziplin-, Ordnungs- und Arbeitsmoral die anzustrebende Gesellschaftsorganisation symbolisierte.

Die Entwicklung in Amerika zeigt, wie fragwürdig es ist, Anstaltsreformen auf den Zuwachs an medizinischem Fortschritt reduzieren zu wollen.[19] Zweifellos – und das wird an späterer Stelle dieser Arbeit geschehen – sind die Entwicklungen der Psychiatrie, die »breakthroughs in the field of medicine« in Rechnung zu stellen. Doch die »Logik« der Anstaltsentwicklung liegt nicht in der Logik wissenschaftlichen Fortschritts; hinter ihr stand vielmehr die »Logik« der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft. Denn ebenso wichtig wie die Frage nach medizinischem Denken ist die Frage danach, was eine Gesellschaft mit und aus diesem Denken macht. Für das Amerika der »Jacksonian era«, also der Dekaden nach 1820, hat man von einem »age of the asylum« gesprochen. Auch hier verläuft die Entwicklung des Irrenwesens sehr ähnlich der auf dem alten Kontinent ab. New York und Massachusetts errichteten Anstalten in den 1830er Jahren, Vermont, Ohio, Tennessee und Georgia folgten. 1860 besaßen 28 von 33 Staaten öffentliche Irrenanstalten. Was stand hinter dieser auch in Amerika so abrupt verlaufenden Entwicklung, von der man gesagt hat: »a cult of asylum swept the country«?

Überzeugend ist in diesem Zusammenhang das Bild der amerikanischen Gesellschaft der »Jacksonian period« gezeichnet worden, einer Gesellschaft, deren Wertordnung durch einen Modernisierungsschub ins Wanken geriet und die von vielen unter der Perspektive des Chaos perzipiert wurde. Die Vorreiter des Anstaltswesens, Mediziner wie die für die Irrengesetzgebung politisch Verantwortlichen, beabsichtigten sicherlich nicht, über das Irrenhaus die Produktions- und Distributionsprobleme einer modernen Industriegesellschaft zu lösen, »but to exemplify the advantages of an orderly, regular, and disciplined routine«.[20]