Weimars Ende - Dirk Blasius - E-Book

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Dirk Blasius

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Beschreibung

Dirk Blasius stellt den Bürgerkrieg der Jahre 1930–33 in den Mittelpunkt seines Buches und kann deshalb sichtbar machen, wie und warum die Auflösungstendenzen der jungen Republik in dieser Zeit den entscheidenden Tiefpunkt erreichten und wie die – von Teilen der Presse niedergeschriebene – Politik zunehmend ihre Richtungskompetenz verlor. Die Konsequenz: Gewaltbereite Kräfte eroberten mehr und mehr die »Straße«. Das Ende: Den Nazis blieb es vorbehalten, von nun an als »Hoffnungsträger« auftreten zu können. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 285

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Dirk Blasius

Weimars Ende

Bürgerkrieg und Politik 1930–1933

FISCHER Digital

Inhalt

Vorwort zur TaschenbuchausgabeI. Der vergessene Bürgerkrieg1. Forschungsfragen zur Weimarer Republik2. Bürgerkrieg als ForschungsaufgabeII. Die Kabinette Brüning1. 1930–1931: Schwelender Bürgerkrieg und staatliche Krisenpolitik2. 1932: »Wahlkrieg« und SA-VerbotIII. Die Anfänge des Kabinetts von Papen1. Die Entscheidung gegen ein Fortbestehen des SA-Verbots2. Regierungspolitik auf Freund-Feind-LinieIV. Die Bürgerkriegslage in der Sommerkrise 19321. Orte politischer Gewalt: Ohlau und Altona2. Der Preußen-Schlag: Bürgerkrieg als ArgumentV. Frontwechsel im Bürgerkrieg1. Die »Blut«-Wahlen vom 31. Juli 19322. Potempa-Mord und Potempa-Urteil3. Der Abschied von der Politik der »nationalen Konzentration«VI. Der erinnerte Bürgerkrieg: Der Preußen-Prozess vom Oktober 19321. Die Bürgerkriegslage vor Gericht2. Die Entscheidung des Staatsgerichtshofs in der BürgerkriegsfrageVII. Der latente Bürgerkrieg: Politische Gewalt und Gewalt in der Politik am Ende des Kabinetts von Papen1. Die November-Wahlen: Bürgerkriegsängste und NS-Machtanspruch2. Der Griff nach dem Ausnahmezustand: Das »Kriegsspiel« OttVIII. Das Kabinett von Schleicher: Die gescheiterte Suche nach dem »inneren Frieden«1. Das Straffreiheitsgesetz vom Dezember 19322. Schleichers Staatsnotstands-Plan: Chancen, Motive, MythenIX. Nach Schleicher: Der Bürgerkrieg in Permanenz1. Bürgerkrieg und bürgerliche Optionen2. Rasche Szenenwechsel: Von Papen über Schleicher zu HitlerQuellen- und LiteraturverzeichnisI. QuellenII. LiteraturRegister1. Personenregister2. Sachregister

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Die Forschung zur späten Weimarer Republik wird trotz des Speichers an geordnetem historischen Wissen, den sie zur Verfügung stellt, auch weiterhin von der bohrenden Frage angetrieben, welche Brückenfunktion die Jahre 1930–1933 für die Etablierung der NS-Diktatur hatten. Was verstärkte den Sog einer Wirtschafts- und Staatskrise, den Hitler und seine Partei auszunutzen verstanden? Diese Arbeit sucht den Zugang zum Epochenausgang Weimars über den Bürgerkrieg. Die Auflösung der Weimarer Republik hängt eng mit Auflösungstendenzen der bürgerlichen Ordnung zusammen. In der Bürgerkriegslage zu Beginn der dreißiger Jahre ging die Primärevidenz jeder staatlichen Ordnung, die Garantie des innerstaatlichen Rechtsfriedens, verloren. Die Bürgerkriegsperspektive fängt die tiefe Desorientierungskrise der bürgerlichen Gesellschaft ein und fügt die Segmente einer historischen Situation zu einem Bild zusammen, das die Akzente im Hinblick auf das Scheitern der Weimarer Demokratie neu setzt. Aus der Intensität der Bürgerkriegserfahrung erwuchs eine Erwartungshaltung, die dem Nationalsozialismus den Zugang zur Macht erweiterte. Unter den vielen falschen Verheißungen, mit denen er sich als rettende Kraft anbot, ist die Überwindung des Bürgerkriegs die historisch nachhaltigste gewesen.

Man hat in neueren Forschungen verschiedentlich die Auffassung vertreten, die Notstandsplanungen der Kabinette Papen und Schleicher, wären sie in die Tat umgesetzt worden, hätten 1933 eine Regierung Hitler verhindern können. Besonders den unter der Kanzlerschaft Schleichers im Reichswehrministerium durchgespielten Vorhaben, einen „Staatsnotstand“ durch die Ausrufung des militärischen Ausnahmezustands abzusichern, wird große Bedeutung beigemessen. Schleicher war nicht wie Papen der Karrenschieber der NS-Machtergreifung, aber sein Verhältnis zur nationalsozialistischen Bewegung blieb auch in den Monaten, in denen er die Hauptverantwortung trug, ambivalent. Die Notstandspläne waren zu unausgereift, um als Pflöcke auf der politischen Handlungsebene eine Rolle spielen zu können. Insgesamt betrachtet dementiert die Bürgerkriegslage am Ende der Weimarer Republik die politische Lebensfähigkeit einer autoritären Lösung der Staatskrise. In entscheidender Stunde fehlte Deutschland ein Demokratiekonsens, weil die Befürworter einer auf das Militär gestützten autoritären Staatlichkeit sich allzu gemein mit den Nationalsozialisten und deren Bürgerkriegspraktiken gemacht hatten.

Dieses Buch ist 2005 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) erschienen. Es wurde durchgesehen und bibliographisch ergänzt. Ich danke Herrn Martin Rethmeier für die freundliche Bereitschaft, eine Taschenbuchausgabe zu ermöglichen; zu besonderem Dank bin ich Herrn Professor Walter H. Pehle verpflichtet, der die Untersuchung in die von ihm herausgegebene Buchreihe zur Zeitgeschichte, die sogenannte Schwarze Reihe, aufgenommen hat.

Essen, im August 2007

Dirk Blasius

I. Der vergessene Bürgerkrieg

1. Forschungsfragen zur Weimarer Republik

Es gibt eine Reihe von Sturmjahren in der neueren deutschen Geschichte, in denen Entscheidungen von großer Tragweite fielen. 1848/49 unterlagen die Kräfte, die liberale und demokratische Prinzipien auf ihre Fahnen geschrieben hatten, den Verfechtern der überkommenen monarchisch-autoritären Staatsordnung. Als diese sich am Ende des Ersten Weltkriegs das Scheitern ihrer innenpolitischen Restriktionen und außenpolitischen Ambitionen eingestehen mussten, schien sich für Deutschland die Chance einer Abkehr vom bisherigen Obrigkeitsstaat zu eröffnen. 1918/19 wurde der Weg eines demokratischen Neubeginns angetreten. Es war nicht nur ein mühsamer, auch ein kurzer Weg, der in die Nacht des deutschen Schicksals in der NS-Zeit einmündete. In den Jahren 1930–1932 wurden die Anfänge der Weimarer Republik nur mehr als politisches Phantasma erinnert; Demokratie erschien als ein von der Wirklichkeit des politischen Lebens und der Härte der politischen Kämpfe eingeholtes und entlarvtes Trugbild. Wenn nach den Scheidewegen in der deutschen Geschichte gefragt wird, dann liegen in der späten Weimarer Republik jene Wendepunkte, die im 20. Jahrhundert das deutsche Volk für die Welt zu einem Schrecken verbreitenden Volk werden ließen.

Die zeithistorische Forschung hat nach dem Zweiten Weltkrieg von ihren Anfängen an besonderes Gewicht auf das Ende der Weimarer Republik gelegt und die Jahre des Demokratieverschleißes als einen Schwellenzeitraum thematisiert. Ein gut gefüllter Speicher an geordnetem historischen Wissen steht heute zur Verfügung. Dennoch bleiben Weimars letzte Jahre eine »Determinante der Forschung«. In seiner gelungenen Bilanz der Weimarer Problemlagen und ihrer Aufarbeitung durch die Forschung hat Andreas Wirsching betont: »Das Scheitern der Weimarer Republik, die singuläre Konvergenz von Wirtschaftsund Staatskrise zwischen 1930 und 1933 bleibt eine dauerhafte Herausforderung der Geschichtswissenschaft. In ihrer paradigmatischen Dramatik und ihren katastrophalen Folgen ist das Ende der ersten deutschen Demokratie stets eine Determinante der historischen Forschung gewesen, und sie wird es auf unabsehbare Zeit bleiben.«[1]

Der Stachel historischen Fragens bezieht sich auf die Brücken, die ins »Dritte Reich« führten. Wie konnte eine Bewegung, die Gewalt predigte, und vor Gewalt nicht zurückschreckte, innerhalb eines kurzen Zeitraums den Durchbruch zur Macht schaffen, – was verlieh ihr in den Augen der deutschen Bevölkerung das Imprimatur der Machtausübung? Der »Tiefenakzeptanz der NS-Diktatur« (Andreas Wirsching) geht die wachsende Akzeptanz der NS-Partei im Wettstreit der politischen Kräfte Anfang der dreißiger Jahre voraus. Auch Hans-Ulrich Wehlers »Deutsche Gesellschaftsgeschichte« der Jahre 1914 bis 1949 hält Fassungslosigkeit über die »bestürzende Erfolgsserie von 1930 bis Ende 1932« fest.[2] Worauf beruhte sie? Mit welchen Instrumenten und mit welchen Parolen gelang dem Nationalsozialismus eine Massenmobilisierung, die in der Geschichte Weimars einzigartig ist? Wehler verweist auf Führerkult und Hitlers charismatische Wirkung, auf das Versprechen einer Rückkehr zu nationaler Größe, auf den lautstarken Kampf gegen die Versailler Ordnung, auf die Zugkraft der »Volksgemeinschaft«-Vokabel; alle diese Faktoren hätten dem »Erfolgsgeheimnis der Hitler-Bewegung« zugrunde gelegen. »Daß sie aber solche welthistorischen Folgen zeitigen konnten, unterstreicht noch einmal, wie unabdingbar der Radikalnationalismus und die Erwartung eines politischen Messias den gesellschaftlichen Resonanzboden für die Formierung von Hitlers charismatischer Herrschaft bildeten.«[3]

Mit »politischem Messias« und »Radikalnationalismus« werden historischen Erklärungsversuchen Stichworte geliefert, die weitgehend Blickbahnen öffnen, aber auch verstellen können, sind sie doch mit der Deutung deckungsgleich, die die Nationalsozialisten ihren Erfolgen gaben. Den »gesellschaftlichen Resonanzboden« für den NS-Aufstieg gilt es genauer abzusuchen. Was war der eigentliche Anklang-Verstärker im Ausgang der Weimarer Jahre? Waren es die Verwirrungszustände des bürgerlichen Bewusstseins oder war es die Gefährdungslage, in die die bürgerliche Gesellschaft geraten war? Eberhard Kolb hat mit Recht vor »monokausalen Erklärungsversuchen« gewarnt, »in denen der Aufstieg des Nationalsozialismus und die Machtübertragung an Hitler auf eine einzige oder allein ausschlaggebende Ursache zurückgeführt« werden.[4] Aufgabe der Forschung sei »die Aufhellung eines sehr komplexen Ursachengeflechts«. Als »Determinanten« für die Interpretationsbemühungen des Historikers nennt Kolb die von der Weimarer Verfassung vorgegebenen institutionellen Rahmenbedingungen, d.h. die Machtfülle des Reichspräsidenten gegenüber den politischen Rechten und Einflussmöglichkeiten des Reichstags. Als in der Ära Brüning sich die politisch Verantwortlichen der »Illusion einer Regierung ohne Parteien« hingaben und, so Hans Mommsen, eine nicht mehr rückgängig zu machende »Informalisierung des politischen Prozesses« einsetzte, nutzten die Nationalsozialisten diese Entwicklung für ihren parteipolitischen Aufstieg.[5] Auch Kolb zählt die Antworten auf, die die historische Forschung auf die Frage nach dem Scheitern der Weimarer Demokratie und der Ermöglichung Hitlers zu geben versucht hat. Alles hat seinen Erklärungswert: der Blick auf die ökonomischen Zwangslagen in einer Krise der Weltwirtschaft; die weithin ungebrochene Prägekraft obrigkeitsstaatlicher Traditionen für die politische Kultur der ersten deutschen Demokratie; die Verwerfungen im sozialen Gefüge, die den bürgerlichen Mittelstand zum Verlierer in der Nachkriegsgesellschaft der zwanziger Jahre werden ließen; Versailles als Stigma nationalen Selbstwertgefühls; die massensuggestive Wirkung der NS-Propaganda; das Versagen der sich politische Verantwortung anmaßenden Persönlichkeiten, in erster Linie Hindenburg, Papen und Schleicher.[6]

Bei der Reihung der »Komponenten«, die die Weimarer Ordnung destabilisiert und delegitimiert haben, fehlt die Bürgerkriegs-Perspektive. 1918 war der Krieg zu Ende, doch es begann ein Bürgerkrieg der Worte, Taten und Ideologien, der Weimar dem Abgrund entgegen treiben ließ. Karl Dietrich Bracher hat schon 1955 die »innenpolitische Katastrophe von 1930/33« mit dem »hektischen Sog jener Jahre« in Verbindung gebracht.[7] Politische Feindschaften eskalierten in politischen Gewaltausbrüchen, die Politik geriet in den Sog eines offenen Bürgerkriegs. War die nationalsozialistische Machtergreifung, so deutete Bracher die »Auflösung der Weimarer Republik«, Folge und gleichzeitig Durchbrechung jenes »Machtvakuums«, das die vom Reichspräsidenten Hindenburg eingesetzten Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher im »demokratischen Raum« geschaffen hatten?[8] Das Argument, der Nationalsozialismus habe am 30. Januar 1933 die Macht in einem machtentleerten Raum angetreten, trifft in dieser Verkürzung sicherlich nicht zu. Ersetzt man den Begriff Machtvakuum durch Ordnungsvakuum, hat man eine Formel zur Hand, die die politischen Zustände in der späten Weimarer Republik in ihrer gesellschaftlichen Tiefendimension erschließt. An der Frage nach Bürgerkrieg und Bürgerfrieden entschied sich das Schicksal der Weimarer Republik.

Das Bürgerkriegsparadigma begegnet zwar in den Forschungen zur Weimarer Republik, aber es ist nie zur Leitlinie einer systematischen Interpretation gemacht worden. Ernst Nolte hat den »europäischen Bürgerkrieg« der Jahre 1917–1945 als fundamentale ideologische Auseinandersetzung zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus in aller Breite ausgelegt und im Nationalsozialismus eine Reaktion auf die »Vernichtungsdrohung« sehen wollen, die der Bolschewismus gegen das europäische Bürgertum gerichtet habe.[9] Es war der deutsche Bürgerkrieg, der zur Katastrophe Europas im Zweiten Weltkrieg führte, kein europäischer, vom Kommunismus ausgerufener Bürgerkrieg, dem Deutschland anheim fiel. Im Gedankenschaum Noltes verflüchtigt sich die konkrete Bürgerkriegslage im Deutschland der zwanziger Jahre, – das, was Bernd Weisbrod als Übermaß von Gewalt in Politik und politischer Kultur angesprochen hat.[10] Weisbrod sieht unter dem Gesichtspunkt der »Akzeptanz von illegaler politischer Gewalt« die Weimarer Zeit als eine Art Inkubationsphase der NS-Zeit an. Es wird zu prüfen sein, ob nicht nur die spektakulären politischen Morde an Luxemburg, Liebknecht, Erzberger und Rathenau zu einer breiten, weit in das bürgerliche Lager hineinreichenden »Bürgerkriegspsychose« geführt haben, sondern auch die Profanisierung politischer Gewalt in den späten Jahren der Republik. Das Ubiquitäre politischer Kampfhandlungen flößte den Menschen Angst ein – Ängste, die die verschiedenen politischen Lager zu ihrem Vorteil auszubeuten versuchten.

In der Krise der Weimarer Republik wirkte die politische Gewalt krisenverschärfend.[11] Doch spitzten sich die politischen Auseinandersetzungen so zu, dass man von einem Bürgerkrieg sprechen kann? Hatten die inneren Kämpfe einen kriegsähnlichen Umfang? Mit diesen Fragen hat sich punktuell die Bürgerkriegsliteratur zur Weimarer Zeit beschäftigt. Man scheut davor zurück, von einem »echten Bürgerkrieg« zu sprechen. »Obwohl die politische Gewalt in den letzten Jahren Weimars auf den Straßen Deutschlands weit verbreitet war, wuchs sie sich nicht zu einem Bürgerkrieg aus. Wenn man die Anzahl der jungen Männer in den politischen Kampfverbänden in Deutschland um 1932 betrachtet, überrascht eher die geringe Zahl der in politischen Konfrontationen Getöteten.«[12] Die Zahl von Kriegstoten ist sicherlich ein Gradmesser für die Intensität von Staatenkriegen, für die Härte und Unerbittlichkeit von Bürgerkriegskonflikten gelten andere Parameter. Sie haben sich an empirischen Befunden zu orientieren, die von Gewaltepisoden bis zu Gewaltexzessen reichen. Nur so lassen sich die Gründe für das Aufkommen einer »Bürgerkriegshysterie« Anfang der dreißiger Jahre benennen, die nicht nur die Menschen wie eine Seuche befallen, sondern auch die Politik in verhängnisvoller Weise kontaminiert hat.

Andreas Wirsching hat in einer großen, in ihrem komparativen Ansatz wegweisenden Studie den politischen Extremismus in Deutschland und Frankreich während der Zwischenkriegszeit untersucht.[13] An den Beispielen Paris und Berlin arbeitet er typische Verläufe der Gewalteskalation heraus. Von den Erscheinungsformen aus ergab sich ein ähnliches Bild. »Paramilitärische Mobilmachungen, Aufmärsche, Bewaffnung extremistischer und sympathisierender Gruppierungen, gewaltsame Zusammenstöße z.T. mit Todesfolge standen in beiden Hauptstädten während des jeweiligen Zeitraums auf der Tagesordnung, wobei freilich in Paris qualitativ wie quantitativ niemals ein ähnliches Ausmaß an politischer Gewalt erreicht wurde wie in Berlin.«[14] Doch auch in Bezug auf das deutsche Zentrum politischer Gewalt registriert Wirsching eher eine »latente« denn echte Bürgerkriegssituation, die freilich massive Bedrohungsgefühle bei den Menschen freigesetzt habe.[15] Im regionalen Bereich, bezogen auf die preußische Provinz Sachsen mit dem Regierungsbezirk Merseburg als »industriellem Herz«, kommt Dirk Schumann zu ähnlichen Feststellungen.[16] Den Typ politischer Gewalt, der hier begegnet, beschreibt er als »Versammlungskleinkrieg«.[17] Auch das »blutige Jahr 1932« habe nicht im Zeichen eines »wirklichen« Bürgerkriegs gestanden; Deutschland sei am Ende der Weimarer Republik nicht kurz davor gewesen, »in einer uneindämmbaren Flut von Gewalt […] zu versinken.«[18]

Die in der vorliegenden Untersuchung gewählte Perspektive setzt Akzente, die sich auch von vergleichenden Forschungsfragen nach dem »Ausmaß von Nachkriegsgewalt« in den Hauptkriegsstaaten des Ersten Weltkriegs – Deutschland, Frankreich, England, Italien und Russland – abheben. Auch im Staatenvergleich müsse der Erste Weltkrieg als Ursache für die den europäischen Kontinent überspülende »Gewaltwelle« nach 1918 relativiert werden.[19] Für die Gesellschaft der Weimarer Zeit sei hinter die These einer »violent society« ein Fragezeichen zu setzen.[20] Die Dechiffrierung politischer Gewalt in den zwanziger Jahren sagt freilich noch nichts über die Austauschprozesse von Politik und Gewalt aus, – darüber, wie sich die Steigerung politischer Gewalt und die Ausprägung einer gewaltförmigen Politik gegenseitig bedingt haben. Für die Relation von »violence and society« gibt die Politik die Bemessungsgrundlage ab.

2. Bürgerkrieg als Forschungsaufgabe

Es ist schwer, aber nicht unmöglich, die Pegelhöhe politischer Gewalt in der späten Weimarer Republik genauer zu bestimmen. Dazu wird hier auf die archivalische Überlieferung der preußischen Behörden und Ministerien zurückgegriffen. An den »Akten der Reichskanzlei« wird zu verfolgen sein, wie im krisengeschüttelten Ausgang der Weimarer Republik der Bürgerkrieg zum bestimmenden Faktor von Regierungspolitik wurde.[21] Vor allem aber wird eine systematische Auswertung der meinungsbildenden großen Presseorgane für die Jahre 1930–1933 vorgenommen. Parteizeitungen und die unabhängige Presse führten einen Bürgerkrieg des gedruckten Worts, und heizten mit ihrem Kampf um die Nachrichten- und Meinungshoheit Bürgerkriegsängste mit an. Es gab einen Transfer von Befunden politischer Gewalt in die Sphäre der Politik.

Zeitungen sind als historische Quelle für das Ende der Weimarer Republik von Bernd Sösemann mit großem Ertrag für die Geschichtswissenschaft verwendet worden. In einer frühen Arbeit beschreibt Sösemann das Scheitern eines demokratischen Konzepts im Spiegel der bedeutendsten journalistischen Verteidiger der Demokratie; in einem Porträt Theodor Wolffs (1863–1943), des verantwortlichen Leiters des »Berliner Tageblatts«, zeichnet er die mutigen Versuche der Selbstbehauptung einer Publizistik nach, auf die die immer näher rückende NS-Diktatur ihre Schatten vorauswarf.[22] In der vorliegenden Arbeit werden Zeitungsquellen unter dem Gesichtspunkt einer politischen Selbstbeschreibung der späten Weimarer Republik ausgewertet.[23] Dieser Quellentyp enthüllt gleichsam das ganze historische Gewicht, das dem Bürgerkriegsproblem beizumessen ist. Auch die provokante These von der »Selbstpreisgabe« der Weimarer Demokratie, zugespitzt in der Aussage, es handele sich bei ihrem Untergang »nicht um einen Fall von Totschlag, sondern von Selbstmord«, widerspricht den zeitgenössischen Stimmen der Selbstwahrnehmung.[24] Als Presseorgane wurden benutzt: 1. die »Germania«; trotz der relativ geringen Auflage von täglich 35.000 Exemplaren(1932) war sie unter den katholischen Blättern die tonangebende Zentrums-Zeitung.[25]2. die »Neue Preußische Kreuz-Zeitung«, den Deutschnationalen nahe stehend, tägliche Auflage 1933: 13.600 Exemplare; 3. die »Rote Fahne«, Zentralorgan der KPD, mit einer Auflage von täglich 130.000 Exemplaren (1932); 4. der »Völkische Beobachter«, von Hitler herausgegeben, tägliche Auflage 1933: 110.000 Exemplare; 5. der »Vorwärts«, Zentralorgan der SPD, Auflage 1930–1932: ca. 300.000 Exemplare; 6. die »Vossische Zeitung«, liberales Vorzeigeblatt des Ullstein-Verlages, Auflage 1933: 57.000 Exemplare.[26] Obwohl das »Berliner Tageblatt« des Mosse-Verlags mit einer Wochentags-Auflage von 130.000 am Zeitungsmarkt das weit erfolgreichere liberale Blatt war, gelang es dem Chefredakteur der »Vossischen Zeitung«, Julius Elbau (1881–1965), seinem Blatt Ansehen und starke Beachtung von Seiten der Politik zu verschaffen.[27]

Die Weimarer Republik war eine Nachkriegsgesellschaft und von Anbeginn an mit dem Gespenst des Bürgerkriegs konfrontiert. In gewisser Weise kann man davon sprechen, dass sich 1930–1932 eine Situation wiederholte, die 1918–1920 überstanden worden war. Die Hypersensibilität, mit der Politik und Gesellschaft am Ende der Weimarer Republik auf Bürgerkriegsgefahren reagierten, hängt mit den Wunden zusammen, die der Bürgerkrieg der jungen Republik geschlagen hatte. Die Novemberrevolution vermachte Weimar ein Erbe an »mentaler Instabilität«.[28] An den Krisenstellen der zwanziger Jahre brach sich immer wieder das Gefühl eines »aufgeschobenen Bürgerkriegs« Bahn, aber auch in den scheinbar stabilen Phasen der Weimarer Republik waren die gewaltsamen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der Revolutionsjahre 1918/19 »eine schwer abtragbare Hypothek«.[29] Sicherlich hängt die starke Gewichtung des Bürgerkriegs mit der fehlenden Tradition demokratischer Konfliktbewältigung in Deutschland zusammen, doch für die Zeitgenossen hatte das Gewaltaufkommen die Dimension existenzieller Betroffenheit und Bedrohung.

Im November 1918 schwiegen die Waffen, doch mit dem Ausbruch der Revolution tauchte das Schreckenswort vom Bürgerkrieg auf und wurde zur ideologischen Kampfparole. Der Krieg fand seine Fortsetzung im Raum einer mit Feindbildern aufgeladenen Politik. Es waren die deutschen Kinder der russischen Oktoberrevolution, die Diktatur – nicht Demokratie riefen, und es war die im Kaiserreich politisch sozialisierte Sozialdemokratie, die das Nachkriegschaos »in demokratische Bahnen« lenken wollte. Diese Formulierung wählte das Kölner SPD-Blatt, die »Rheinische Zeitung«, um am 15. November 1918 eine »Entschließung« des Kölner Arbeiter- und Soldatenrats bekannt zu geben.

»Der A.-S. Rat Kölns erklärt sich mit den programmatischen Kundgebungen der sozialdemokratischen Regierung einverstanden. Er hält daran fest, daß die Organisation des A.-S.-Rats nur vorübergehend sein kann. Die endgültige innenpolitische Gestaltung Deutschlands muß Sache der Nationalversammlung sein. Jede Diktatur ist abzulehnen.«[30]

Man wandte sich scharf gegen die, die für radikale Lösungen plädierten, die den Bürgerkrieg als Geburtssituation einer nachbürgerlichen Ordnung herbeisehnten. »Die Befolgung der Spartakusrezepte würde binnen kurzem die komplizierte deutsche Volkswirtschaft krachend zusammenbrechen lassen, furchtbare Hungersnot würde das Land heimsuchen, der Bürgerkrieg würde entbrennen, das Ende würde das Chaos sein.« Schon 1918/19 verbargen sich hinter der Bürgerkriegssprache nackte Machtkalküle, schon hier ging es, wie am Ende der Republik, um Machtbehauptung und Machtergreifung.

Am 20. November 1918 verdammte Rosa Luxemburg in der »Roten Fahne«, damals noch »Zentralorgan des Spartacusbundes«, die »Nationalversammlung« als Camouflage der »bürgerlichen Klassenherrschaft«. »Von der ›Deutschen Tageszeitung‹, der ›Vossischen‹ und dem ›Vorwärts‹ bis zur unabhängigen ›Freiheit‹, von Reventlow, Erzberger, Scheidemann bis Haase und Kautsky ertönt ein einmütiger Ruf nach der Nationalversammlung und ein ebenso einmütiger Angstschrei vor der Idee: die Macht in die Hände der Arbeiterklasse.«[31] Luxemburg deutete diesen »Angstschrei« durchaus zutreffend. »Sie wollen der Revolution, wie Hilferding in der ›Freiheit‹ darlegt, auf diese Weise die Gewaltanwendung, den Bürgerkrieg mit all seinen Schrecken ersparen. Kleinbürgerliche Illusionen!« Die extreme Linke setzte auf den Bürgerkrieg, um in der Umbruchzeit der Novemberrevolution »den Bruch mit der geschichtlichen Vergangenheit der bürgerlichen Gesellschaft« zu vollziehen. Sie unterschätzte in ihrer Zukunftsplanung der »sozialistischen Demokratie« die Lebenskraft der »bürgerlichen Demokratie«, die sich nicht zuletzt aus deren emanzipativen Potenzialen speiste.

Stütze beim demokratischen Ausgang der deutschen Revolution von 1918/19 war aber auch die Furcht vor dem Weg in die »Diktatur des Proletariats«. Was als »kleinbürgerliche Illusion« abgetan wurde, bildete die kollektive Identität der deutschen Gesellschaft am Ende des Ersten Weltkriegs. Sie erwartete von der Politik nicht die Fortsetzung des Krieges an inneren Fronten, sondern die Herbeiführung und Gewährleistung des inneren Friedens. An der Haltung zum Bürgerkrieg entschied sich die Frage nach Deutschlands Zukunft. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die ihren Gegnern politischen Illusionismus vorwarfen, gaben sich selbst einer Illusion hin, die in der konkreten Revolutionssituation keine Zukunft hatte. Nicht nur das Kleinbürgertum, das gesamte Spektrum der »bürgerlichen Gesellschaft« war nicht bereit, sich von den Planern der »Verwirklichung des Sozialismus« einen Bürgerkrieg aufzwingen zu lassen.

Rhetorik und Politik der frühen KPD legten die Richtung fest, in der sich am Ende der Weimarer Republik die Kommunisten als eine antikapitalistische Bürgerkriegspartei immer noch bewegten. Das, was Luxemburg 1918 schrieb, galt auch 1932 noch als politischer Glaubenssatz:

»Der ›Bürgerkrieg‹, den man aus der Revolution mit ängstlicher Sorge zu verbannen sucht, läßt sich nicht verbannen. Denn Bürgerkrieg ist nur ein anderer Name für Klassenkampf, und der Gedanke, den Sozialismus ohne Klassenkampf, durch parlamentarischen Mehrheitsbeschluß einführen zu können, ist eine lächerliche kleinbürgerliche Illusion.«[32]

Vergleicht man die Bürgerkriegssituation der Anfänge Weimars mit der am Ende der Republik, fällt mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten als einer zweiten Bürgerkriegspartei neben den Kommunisten der entscheidende Unterschied sofort ins Auge. Die gleichzeitige Existenz zweier totalitärer Bewegungen bedeutete eine »kumulative Radikalisierung«.[33] Die »antibolschewistische Bürgerkriegspartei« NSDAP (Ernst Nolte) trat im Gewand einer nationalen Antibürgerkriegspartei auf. Das frivole Spiel mit dem Bürgerkrieg, das sie trieb, hätte von der deutschen Öffentlichkeit besser durchschaut werden können, wenn das in Erinnerung geblieben wäre, was Ernst Troeltsch (1865–1923) im Juni 1922 in seiner Trauerrede auf den in Berlin von rechtsradikalen Attentätern ermordeten Reichsaußenminister Walther Rathenau aussprach: die Gefahr eines Bürgerkrieges von rechts zum Sturz der Republik. Dieser »grauenvolle Mord«, so Troeltsch in seiner Rede in der »Deutschen Gesellschaft 1914« am 29. Juni 1922, fünf Tage nach dem Anschlag, »war und ist allem Anschein nach ein planmäßiger Bestandteil des Versuchs, den Bürgerkrieg vom Rechtsradikalismus aus endlich zu entfachen.«[34] Zehn Jahre später war der Rechtsradikalismus zur dominierenden politischen Kraft geworden, der alles auf eine Karte setzte, den Bürgerkrieg für sich zu entscheiden.

Das Machtspiel im Bürgerkrieg der beiden letzten Weimarer Jahre ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Es wird versucht, eine Korrelation zwischen der Richtungstendenz der Politik und dem Ausmaß politischer Gewalt herzustellen. Bürgerkrieg ist ein »schwer faßbarer Begriff«.[35] Unter Krieg versteht man gemeinhin den Zustand bewaffneter Gewaltanwendung zwischen Staaten, Bürgerkrieg ist ein Zustand bewaffneter Gewaltanwendung in einem Staat. Rivalisierende, fest organisierte Gruppen der Bevölkerung tragen Kämpfe gegeneinander aus, um in den Besitz des staatlichen Gewaltmonopols zu gelangen. Dieses wird der legalen Regierung streitig gemacht. Die sich aus der staatlichen Rechtsordnung lösende und gegen sie gerichtete Gewalt zeichnet sich durch ihren Intensitätsgrad aus. Für die Weimarer Zeit ist das Eindringen politisch motivierter Gewalt in die Poren der Gesellschaft quantifizierbar. Ob der Begriff Bürgerkrieg die Erscheinungsformen und den Umfang der Kämpfe abdeckt, kann nicht abgetrennt von der historischen Wirklichkeit festgelegt werden. Als Erfahrungs- und Deutungskategorie der Mitlebenden aber erschließt der Begriff des Bürgerkrieges eine Konfiguration, die die Weimarer Staatsordnung von innen her zerstört hat. Jedes der politischen Lager drehte aus Eigeninteresse an der Eskalierungsschraube politischer Bluttaten. Es gab in der Bürgerkriegslage der Jahre 1930–1932 keinen Stellungskrieg zwischen den verfeindeten politischen Lagern, eher einen asymmetrischen Frontverlauf. Nationalsozialisten und Kommunisten bekämpften sich zwar mit zunehmender Hemmungslosigkeit, kämpften aber auch gegen Regierungen, die das Gewaltmonopol des Staates aus schlichten Machtberechnungen aufs Spiel setzten. Heinrich August Winkler, dessen Oeuvre die historische Forschung die tiefsten Einsichten in Geschichte und Geschick Weimars verdankt, hat das Jahr 1932 unter der Kapitelüberschrift »Die Drohung des Bürgerkrieges« abgehandelt.[36] Nicht nur für den Zeitraum des Sommers 1932, auch für die beiden vorhergehenden Jahre ist es wichtig, den Anteil von Bürgerkriegspolitik an der Verschärfung der Bürgerkriegslage herauszuarbeiten. Der »drohende Bürgerkrieg« hatte in der Drohung mit dem Bürgerkrieg eine seiner Wurzeln. In der »Vermeidung des Bürgerkrieges« hat Winkler eine Konstante sozialdemokratischer Politik in der Weimarer Republik gesehen.[37] Welches Gewicht kam dieser in der Tat unveränderlichen Position in einem geschichtlichen Umfeld zu, in dem die Inhaber der Macht mit dem Bürgerkrieg hantierten und diejenigen Kräfte, die die Macht erobern wollten, auf die Entfesselung des Bürgerkriegs und die Entfachung von Bürgerkriegsfurcht setzten?

In der Endphase Weimars vollzieht sich ein Paradigmawechsel der Politik. Sie wandelt sich von einer Politik der vorausschauenden Eindämmung von Gewalt zu einer kurzsichtigen Politik der Gewaltankündigung. Das hat nicht nur die Bereitschaft gefördert, illegale politische Gewalt auszuüben. Diese Politik rückte von der Primärevidenz jeder staatlichen Ordnung ab: der Garantie des innerstaatlichen Rechtsfriedens. 1930 sah Carl Schmitt eine Entwicklung voraus, die wenig später für diesen »Staatsrechtler im Bürgerkrieg« (Ernst Forsthoff) zur großen beruflichen Herausforderung werden sollte.[38] In der schriftlichen Fassung seiner Rede über »Hugo Preuss. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre«, die er am 18. Januar 1930 in der Handels-Hochschule Berlin hielt, heißt es:

»Die Leistung eines normalen Staates besteht darin, die gegensätzlichen Gruppierungen innerhalb seiner selbst zu relativieren und ihre letzte Konsequenz, den Krieg, zu verhindern. Ist ein Staat zu dieser Leistung nicht mehr imstande, so verlegt sich das Schwergewicht der Politik von außen nach innen. Die innerpolitischen Gegensätze werden dann zu den maßgebenden Freund- und Feindgruppierungen, und das bedeutet eben latenten oder akuten Bürgerkrieg.«[39]

II. Die Kabinette Brüning

1. 1930–1931: Schwelender Bürgerkrieg und staatliche Krisenpolitik

Die Kanzlerschaft Heinrich Brünings war der misslungene Versuch, der kumulativen Dauerkrise von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu Beginn der dreißiger Jahre mit obrigkeitlicher Politik, d.h. einer Politik oberhalb der Parteien zu begegnen. Der Politikstil Brünings erinnerte an die Epoche des Kaiserreichs, als eine von der Monarchie gestützte Beamtenregierung den Zug der Zeit verpasste, demokratische Erneuerung verweigerte und im Ersten Weltkrieg den eigenen Misserfolg eingestehen und erklären musste. Brüning war kein Kriegskanzler, aber ein Kanzler des heraufziehenden Bürgerkriegs. Er stützte sich bei seiner Krisenpolitik auf einen Mann mit zweifelhafter Weltkriegserfahrung, den Reichspräsidenten Hindenburg. Wie Bethmann Hollweg für den politischen Letztentscheid seinen Kaiser hatte, so war auch der mit besonderen Verfassungsvollmachten ausgestattete »Ersatzkaiser« Hindenburg für Brüning die letzte Instanz im harten politischen Tagesgeschäft.

In der Öffentlichkeit, besonders natürlich in deutschnationalen Kreisen, wurde Brüning lange Zeit als der loyale Diener seines Herrn wahrgenommen, in dem man die Ankerfigur für einen der Krise abgerungenen nationalen Wiederaufstieg sah. Doch wie sollte dieser gelingen, wenn die innere Zerrissenheit der Gesellschaft immer häufiger in blutig endenden Parteikämpfen ihr Ventil suchte? 1931 war Hindenburg sechs Jahre im Amt, 1932 stand eine neue Reichspräsidentenwahl an. »Reichspräsidentenwahl«, diesen Titel wählte der Vorsitzende der »Vereinigten vaterländischen Verbände Deutschlands«, der Generalmajor a.D. Rüdiger Graf v.d.Goltz, für einen Grundsatzartikel, der im Februar 1931 in der »Deutschen Zeitung« erschien.[40] Mit düsteren Ahnungen wird auf das Jahr 1932 hingewiesen; in diesem Jahr trete »unser dann im 85. Lebensjahre stehender ehrwürdiger Reichspräsident zurück«. Goltz fragt nach der Lage, die der nächste Reichspräsident übernehmen werde und kommt zu dem Schluss, dass nur eine »Bismarck-Natur« ihr Rechnung tragen könne. »Der Reichspräsident, den wir brauchen, muss politischen Ueberblick haben, nicht parteipolitischen, sondern staatspolitischen. Bei unserer Parteizerrissenheit ist ein Parteimann ausgeschlossen, denn er würde jeder anderen Partei als Exponent einer mehr oder weniger feindlichen Partei erscheinen.« Die Intervention aus »vaterländischer« Sicht, sicherlich selbst parteipolitisch motiviert, ist ein wichtiges Dokument für die Stimmungs- wie Tonlage am Ende der Weimarer Republik. Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Zusammenbruch und Zerfall der bürgerlichen Mitte werden mit der »wachsenden Radikalisierung unseres öffentlichen Lebens« argumentativ verbunden, um ein Krisenszenario beträchtlichen Ausmaßes und ungewissen Endes zu zeichnen. Natürlich stellte Goltz alles, was nicht dem nationalkonservativen Lager angehörte, unter Bolschewismusverdacht und beschwor die Gefahr eines am Marxismus zugrunde gehenden Deutschland. Das sozialdemokratisch regierte Preußen sah er als »roten Diktatur-Staat (unter allmählicher Ausschaltung des Zentrums) mit roter Partei-Polizei. Das Ziel ist Einführung der preußischen roten Diktatur in ganz Deutschland.« Auch »unsere treffliche Reichswehr« werde durch Angebote des Reichsbanners zu angeblicher Verteidigung der unsicheren Polengrenzen unterwandert und solle »den außenpolitisch und wehrhaft denkenden nationalen und nationalistischen Rechtsparteien […] entfremdet werden.« Was Goltz vortrug, gehörte dem allbekannten Diskurs der politischen Rechten an; doch seine Prognose vom kommenden Bürgerkrieg traf den Nerv der Zeit und wurde über die Parteigrenzen hinweg geteilt. Sie war Reflex registrierbarer Zustände:

»Wachsende Radikalisierung unseres öffentlichen Lebens, und offener Uebergang des schon jetzt schleichenden Bürgerkriegs zu Straßenkämpfen, politischen Morden und begreiflichen Hungerrevolten. Man spricht bereits leichthin vom kommenden Bürgerkrieg, als ob das nicht das Schlimmste vom Schlimmen wäre.«[41]

In den Augen konservativer Beobachter konnte nur der Reichspräsident ein nationales Unglück abwenden, doch auch für die linke Mitte stand dieser in der Pflicht. Die Sozialdemokratie fürchtete eine »rote Diktatur« nicht weniger als die Kreise, die ihr deren Einführung als Ziel unterstellten. In der liberalen Presse wusste man zwischen SPD und KPD zu unterscheiden. Ende Januar 1930 zitierte die »Vossische Zeitung« das »Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei«, den »Vorwärts«, um »bewußte und gewollte Provokationen« der Kommunistischen Partei anzuprangern. Man teilte die »Vermutung« des »Vorwärts«, »daß hinter den kommunistischen Bürgerkriegsmanövern der Plan stehe, das demokratische Regime in Deutschland auszuschalten, und zwar zugunsten einer Militärdiktatur, von der man erwartet, daß sie die gesamte Arbeiterschaft in die Opposition treiben, die Gewerkschaften, deren Zerstörung den Kommunisten nicht gelang, auflösen und die Sozialdemokratische Partei, die bisher ein unüberwindliches Bollwerk gegen den Bolschewismus war, beseitigen werde.«[42] Die Grundlinien der von »Moskau« festgelegten Parteitaktik der Kommunisten waren Ende der zwanziger Jahre in der politischen Öffentlichkeit kein Geheimnis, wenn auch im Verlauf der weiteren Entwicklung die diffusen Bürgerkriegspläne der KPD den Vorwand für riskante politische Manöver liefern sollten, die den Bürgerkrieg eher förderten denn vermieden. 1930 jedoch wurde die KPD als diejenige der »radikalen Flügelparteien« wahrgenommen, die auf »rohe Gewalt« zur Unterminierung der Staatsordnung setzte. »Einige Zahlen zeigen«, schrieb die »Vossische Zeitung« Anfang 1930, »wie im vergangenen Jahre die radikale Agitation an Bösartigkeit und Bedenkenlosigkeit gewachsen ist. Im Jahre 1928 mußte die Polizei in 318 Versammlungen einschreiten, im Jahre 1929 bei 579. Planmäßige Störungen gegnerischer Versammlungen fanden statt: durch die Nationalsozialisten in 113 Fällen (im Vorjahr 60), durch die Kommunisten 422 (im Vorjahr 131). Vierzehn Polizisten bezahlten ihre Pflichterfüllung mit dem Tode, 311 wurden verletzt, einer dauernd erwerbsunfähig.«[43]

Unter der Regierung Brüning verschärften sich mit der Verschlimmerung der wirtschaftlichen Notlage die gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen. Bei Versammlungen, Demonstrationen und Aufmärschen kam es immer wieder zu Zwischenfällen, die Tote und Verletzte forderten. Der Kampf um Wählerstimmen, aber auch darum, Stimmungstrends in der Öffentlichkeit zu beeinflussen, wurde flankiert von der militärischen Formierung der sich feindlich gegenüberstehenden politischen Lager. Auf der extremen Rechten stand als »Selbstschutzverband« der Nationalsozialisten die SA, der rechten Mitte als Kampfbund ist zuzuordnen der Stahlhelm, der demokratischen Linken das Reichsbanner und die im Dezember 1931 gebildete Eiserne Front, der extremen Linken der Rote Frontkämpferbund, – alles Organisationen mit paramilitärischem Charakter.[44] Auf Reichsebene versuchte man den um sich greifenden »politischen Terrorismus« durch ein Bündel von Gesetzen und Verordnungen einzudämmen, doch die unmittelbare Abwehr von Gewaltakten im politischen Tageskampf war zunächst einmal Sache der Länder und der ihnen unterstehenden Polizeikräfte. Das Verbot des Rote Frontkämpferbundes im Jahre 1929 sollte für die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen staatlicher »Bürgerkriegs«-Bekämpfung von beispielhafter Bedeutung werden.

Zum 1. Mai des Jahres 1929 hatte das kommunistische »Maikomitee« der Berliner Arbeiterschaft zu einem »Maiaufmarsch« aufgerufen, der das im Dezember 1928 vom sozialdemokratischen Berliner Polizeipräsidenten erlassene »Verbot aller Versammlungen im Freien sowie aller öffentlichen Umzüge« verletzte.[45] Da der Rote Frontkämpferbund die Kampfeinheiten für die geplante Mai-Demonstration stellte, sahen die Behörden eine »unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit« gegeben und befürchteten eine »weitere Aufpeitschung der politischen Leidenschaften«. Der Kampfaufruf des »Maikomitees« konnte in den Augen der Polizei »blutige Zusammenstöße« provozieren: »Volle Arbeitsruhe am 1. Mai! Rote Fahnen heraus! Straße frei für die Massendemonstration!« In der Tat gab es beim Einsatz der Polizei gegen die nicht genehmigte Berliner Mai-Demonstration Todesopfer. Am 3. Mai 1929 verfügte der preußische Innenminister Grzesinski »für das Gebiet des Freistaates Preußen mit Zustimmung der Reichsregierung« die Auflösung des Roten Frontkämpferbundes.[46] Der Reichsinnenminister Severing, wie Grzesinski Sozialdemokrat, konnte bei einer Besprechung mit den Landesinnenministern am 10. Mai 1929 diese nicht dazu bewegen, sich dem preußischen Vorgehen anzuschließen. Da die »Polizeigewalt« Ländersache war, konnte die Reichsregierung kein »generelles Reichsverbot des RFB erlassen«.[47] Nur ein Teil der Landesinnenminister folgte der preußischen Linie. Der politischen Bekämpfung des Extremismus setzte die Weimarer Verfassungsordnung Grenzen; der Wert, der im föderativen Grundriss des Weimarer Staates lag, wurde freilich erst bewusst, als im Jahre 1932 das Reich mit seinem Schlag gegen Preußen sich anheischig machte, das alte Reich-Länder-Problem mit exekutiver Gewalt zu lösen.

Das Umsichgreifen politischer Gewalt musste nicht nur das Kabinett der Großen Koalition unter dem Sozialdemokraten Hermann Müller, sondern auch die Regierung Brüning mit Sorge erfüllen. Man konnte die Fragen der inneren Sicherheit und des inneren Friedens nicht auf die Länder abwälzen, zumal diese durchaus unterschiedlich vorgingen. Der Radikalisierung des öffentlichen Lebens freien Lauf zu lassen, hätte dem eigenen Ansehen wie auch dem der präsidialstaatlich umgeformten Republik weiteren Schaden zugefügt. In der »Diktaturkompetenz des Reichspräsidenten« erblickte man eine durch die Verfassung legitimierte »Handhabe, um die sich ausbreitenden Gewaltzustände einzudämmen.«[48] Es ging in der sich steigernden »Erregung« des Jahres 1931 um mehr als nur Front gegen »Rot Front« zu machen. Am 28. März 1931 erließ der Reichspräsident Hindenburg auf Grund des Art. 48 Abs. 2 der Reichsverfassung eine Verordnung zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen, die Sanktionen für die Radikalen beider Seiten vorsah und Reichs- wie Länderbehörden Eingriffe in die Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit ermöglichte.[49] Eine große Wirkung hätte das sog. Uniformverbot erlangen können. »Für politische Vereinigungen kann das Tragen einheitlicher Kleidung oder Abzeichen verboten werden. Das Verbot kann sich auf das Tragen bei bestimmten Gelegenheiten beschränken.« Gefängnisstrafe wurde demjenigen angedroht, der »eine verbotene Kleidung oder ein verbotenes Abzeichen trägt.« (§ 8) Diese Bestimmungen richteten sich gegen das Zentralsymbol, mit dem die sich feindlich gegenüberstehenden politischen Gruppierungen in Straßen- und Saalschlachten zogen: die Uniform. Verwässert wurden die »zugelassenen Maßnahmen« dadurch, dass sie in die Zuständigkeit der »obersten Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen« fielen. (§ 13)

Das politische Leben beruhigte sich auch nach dieser Verordnung keineswegs. Es kam zu Differenzen zwischen Reich und Ländern über die Frage, wo die Prioritäten im Kampf gegen politische Ausschreitungen liegen sollten. Hindenburg misstraute der preußischen Regierung und befürchtete ein überzogenes Vorgehen gegen die Rechte; Braun, der sozialdemokratische Ministerpräsident Preußens, sah in der Rüge des Reichspräsidenten eine Option für das nationale Lager. Anlass dieses Streits waren Presse-Restriktionen, zu denen sich die preußische Regierung im Sommer 1931 veranlasst sah. Sie legte das vom Stahlhelm betriebene Volksbegehren zur Auflösung des preußischen Landtags als Aufheizung zu politischen Gewalthandlungen aus, Hindenburg warf Preußen parteipolitisch motivierten Gesetzesmissbrauch vor.[50] Das Jahr 1931 blieb ein Jahr timider Antibürgerkriegspolitik. Auf die Notverordnung vom

28. März folgte die Zweite Verordnung zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 17. Juli 1931, geändert durch eine weitere Verordnung vom 10