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Dirk Blasius

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Beschreibung

Dirk Blasius beschreibt die wechselvolle Geschichte der Psychiatrie in Deutschland unter dem doppelten Gesichtspunkt der praktischen und theoretischen Psychiatrie. In der NS-Zeit gelangte sie an ihren absoluten Tiefpunkt. Dem Autor gelingt es, die Verbindung von Wissenschafts-, Institutionen- und Sozialgeschichte gedanklich klar herauszuarbeiten. Übersichtlich wird die Stofffülle gegliedert und die Entwicklung der Psychiatrie in die großen Fragezusammenhänge der neueren deutschen Geschichte eingeordnet. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Dirk Blasius

»Einfache Seelenstörung«

Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800–1945

FISCHER E-Books

Inhalt

VorwortEinleitung Fragen an die PsychiatriegeschichtePsychiatrie in der frühen bürgerlichen Gesellschaft1. ›Tollhaus‹-Psychiatrie2. ReformpsychiatriePsychiatrie zwischen Revolution und Reichsgründung1. Anstaltspsychiatrie2. AnstaltspsychiaterPsychiatrie im deutschen Kaiserreich1. Armutspsychiatrie2. OrdnungspsychiatriePsychiatrie in Krieg und Nachkriegszeit1. Der Erste Weltkrieg2. Die Weimarer RepublikPsychiatrie im »Dritten Reich«1. Rassenpsychiatrie 1933–19392. Vernichtungspsychiatrie 1939–1945SchlußbemerkungAnhangI. Ärztlicher Bericht aus der Irrenheilanstalt zu Siegburg vom Jahre 1858II. Briefwechsel zwischen dem Psychiater Kurt Schneider und dem Philosophen Karl Jaspers aus dem Jahre 1942AbbildungsnachweisQuellen und LiteraturI. QuellenII. LiteraturRegister

Vorwort

Die Psychiatrie, so hat man gesagt, sei die Lehre von den Seelenstörungen, vom seelisch Abnormen, seinen Erscheinungsweisen und Behandlungsmöglichkeiten.[1] Psychiater haben es mit leidenden Menschen zu tun, die aus den Gewohnheitshierarchien des Lebens- und Denkalltags ausgebrochen sind. Diese Menschen sind sich selbst fremd geworden; in den Augen ihrer Mit- und Umwelt hat ihr rätselhaftes und absonderliches Verhalten etwas Bedrohliches. Geisteskranke, deren zersplittertes Ich sie hilfsbedürftig macht, haben in der langen Geschichte der Psychiatrie selten eine Zuwendung erfahren, die aus humaner Verantwortung für menschliche Randexistenzen erwuchs. Mauern und verschlossene Türen erinnern noch heute daran; sie sind aber auch der sichtbare Ausdruck einer Verdrängung von Leid, das, wäre es nicht ummauert, hart an die Nieren gehen würde.

Dieses Buch beschreibt mehr als nur den Weg von der ›Einschließung‹ zur ›Entgitterung‹, die in den letzten Jahrzehnten den historisch gewachsenen Typ des psychiatrischen Großkrankenhauses verändert hat. Es bezieht vielmehr Psychiatriegeschichte auf die Wegstrecken der neueren deutschen Geschichte und bindet sie an deren unheilvolle Peripetien im 20. Jahrhundert an. Auch in Deutschland zeigt die Geschichte der Psychiatrie die Nachtseiten einer besitzsatten Gesellschaft, die den ›Wahnsinn‹ hinter Anstaltsmauern verbannte, um eine bürgerliche Leistungskultur störungsfrei aufbauen zu können. Doch in keinem anderen Land ist die Psychiatrie auf eine so fatale Weise politisch eingeknickt. Im »Dritten Reich« stellte sie sich in den Dienst einer rassenideologisch motivierten Mordpolitik, die aus dem bisherigen Wenigersein und -gelten psychisch Kranker ein Niemehrsein machen wollte.

›Einfache Seelenstörung‹ ist eine statistische Kategorie des späten 19. Jahrhunderts, unter der bis in die Jahre des »Dritten Reiches« hinein die schwersten seelischen Störungen, Schizophrenien und Zyklothymien (manisch-depressives Irresein), zusammengefaßt wurden.[2] Menschen, die an diesen Krankheiten litten, bildeten die Kernpopulation, auf die sich die nationalsozialistischen Vernichtungsmaßnahmen richteten. ›Einfache Seelenstörung‹ ist eine Chiffre sowohl für die Formgewinnung der Psychiatrie als Wissenschaft wie für ihren politischen Absturz; dieser psychiatrische Basalbegriff verweist auf die historischen Zusammenhänge, in die das Verhängnis der deutschen Psychiatrie zu stellen ist.

Ich danke Frau Margret Löbbert-Urhahn für die wie immer sorgfältige Herstellung des Buchmanuskripts und meinem Mitarbeiter, Herrn Christoph Jakubowski, für manche praktische Hilfe und gedankliche Anregung. Herrn Dr. Walter H. Pehle bin ich seit vielen Jahren für Ermutigung und Kritik verbunden.

 

Essen, im August 1993

Dirk Blasius

Einleitung Fragen an die Psychiatriegeschichte

Die Geschichte der Psychiatrie ist fraglos ein Teil der Medizingeschichte; dieser geht es vor allem um die Herausarbeitung medizinischer Erkenntnisfortschritte, die kranken Menschen im Verlauf der Menschheitsgeschichte zugute gekommen sind. Lange Zeit stand ein rein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz im Zentrum der Medizinhistorie. Ihm haben auch die im engeren Sinne psychiatriegeschichtlichen Arbeiten weitgehend Rechnung getragen.[3] Wenn heute die Medizingeschichte sich stärker dem historisch-politischen Kontext ihres Gegenstands öffnet, so hängt dies mit Impulsen zusammen, die von der sozialgeschichtlichen Bearbeitung psychiatriegeschichtlicher Themen ausgegangen sind. Die Sozialgeschichte der Psychiatrie hat auch die allgemeine Medizingeschichte zu Innovationen gedrängt, so daß diese dabei ist, den »Binnenraum einer Fortschrittsgeschichte« zu verlassen und die »Grenzen dessen zu überschreiten, was das System Medizin zur Bearbeitung vorgab«.[4]

Ohne Frage war Michel Foucault mit der von ihm an der »Geschichte des Wahns« entfalteten Theorie der modernen bürgerlichen Gesellschaft der große Anreger eines sozialgeschichtlichen Zugriffs auf den Wahnsinn.[5] Er inspirierte Klaus Dörner, die Wissenschaftsgeschichte der frühen Psychiatrie auf das fragile Verhältnis zwischen Bürgern und Irren hin zu untersuchen.[6] Foucaults Ansatz hat die historische Beschäftigung mit Fragen der Sozialpathologie besonders im angelsächsischen und französischen Sprachbereich angeregt. Hier war man aufnahmebereiter für die provokante These, daß der Bildungsprozeß der neuzeitlichen Gesellschaft keineswegs im Zeichen des Fortschritts, der Mehrung bürgerlicher Freiheiten und der Verwirklichung von Menschenrechten gestanden habe. Den Gesellschaftsentwurf der Aufklärung rückte Foucault in die Perspektive einer geradezu dämonologisch gefaßten »Disziplinargesellschaft«, die immer verfeinertere Techniken der Sozialkontrolle ausgebildet habe. Irrenhaus und Gefängnis sollten in dieser Lesart den Formationsprozeß eines gesellschaftlichen Zwangszusammenhangs symbolisieren, der sich wie ein nicht abschüttelbarer Mehltau auf das Denken und Handeln des modernen Menschen gelegt hat.

Foucaults eher philosophische Deutungsperspektive der »Geschichte der Gegenwart« ist in der historischen Literatur auf eine Spielart von ›labeling‹ zurückgenommen worden. Man fragt, wenn es um eine phänomenologische Bestimmung von ›Irresein‹ geht, nach der Definitionsmacht der sozialen Kontrollinstanzen. Aufgrund stigmatisierender Zuschreibungsprozesse gelten psychische Krankheiten als Ausdruck unterschiedlicher Machtverteilung in der Gesellschaft. Für die amerikanische Geschichtsforschung setzte David J. Rothman mit seinem Buch »The Discovery of the Asylum« einen Markstein.[7] Das rapide Anwachsen des Anstaltswesens in den Jahrzehnten nach 1820, der sogenannten »Jacksonian era«, scheint seinen Grund weder in medizinischen Erkenntnisfortschritten noch in einer um sich greifenden gesellschaftlichen Philanthropie zu haben, sondern im Zusammenhang mit neuen Ordnungsstrategien von »Politik« zu stehen. Sie waren die Antwort auf gewisse Zerfallstendenzen, die die amerikanische Gesellschaft in dieser Phase zeigte und die auch ihre Wertordnung nicht unberührt ließen. Asyle wurden gebaut, so die Interpretation Rothmans, um die Asylordnung, das in dieser Mikrowelt versammelte Ensemble von Gewohnheiten, Denkstilen und Disziplinierungen für die Gesamtgesellschaft verbindlich zu machen. Weil man den ›Wahnsinn‹ als Demonstrationsobjekt brauchte, verschärfte sich die Etikettierungspraxis. Die »wohlgeordnete« und »wohlgefüllte« Anstalt sollte die Richtung anzeigen, in der gesellschaftliches Wohlverhalten insgesamt herzustellen war.

So blickscharf eine Institutionengeschichte der Psychiatrie die übergreifenden Manipulationsstrategien, die hinter der Psychiatriepolitik gestanden haben mögen, auch einzufangen vermag, den einem grenzenlosen Anstaltselend ausgesetzten kranken Menschen wird sie nicht gerecht. Das gilt auch für Andrew Sculls »Museums of Madness«, eine Arbeit, die die »soziale Organisation« von Geisteskrankheit auf die Gebote des kapitalistischen Marktsystems im England des 19. Jahrhunderts bezieht.[8] Am Beispiel Frankreichs ist für das sogenannte »goldene Zeitalter des Irrenwesens«, das 19. Jahrhundert, das Feld einer doppelgesichtigen psychiatrischen Fürsorgepolitik neu vermessen worden.[9] Auch bei Robert Castel findet die repressive Grundierung der Psychiatriegeschichte starke Beachtung. Die »psychiatrische Ordnung« sei, so lautet seine These, von einer Vernunft geschaffen worden, die alles den Rhythmus des bürgerlichen Lebens Störende habe ausgrenzen und in streng bewachten Psychiatriekasernen einschließen wollen. »Grell sticht der Wahnsinnige vom Hintergrund der Vertragsgesellschaft ab, den die Französische Revolution schafft. Als Unvernünftiger ist er kein Rechtssubjekt; als Unverantwortlicher kann er keine Strafen auf sich ziehen; unfähig zu arbeiten oder zu ›dienen‹ tritt er nicht in den geregelten Kreislauf des Tausches ein, jene ›freie‹ Zirkulation von Waren und Menschen, deren Matrix das neue bürgerliche Rechtsverhältnis ist.«[10]

Die Psychiatriegeschichte hat lange Zeit im mächtigen Schatten Foucaults gestanden. Seit neuerem jedoch scheinen die theoriegeschichtlichen Vorgaben dieses Denkers an Verbindlichkeit einzubüßen; auch seine Bedeutung für die Geschichtswissenschaft flacht immer mehr ab.[11] Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß sich innerhalb der Psychiatriegeschichte der Interessenschwerpunkt zeitlich verschoben hat. Für Foucault hatte sich das tragende Muster der modernen Disziplinargesellschaft bereits in der Frühen Neuzeit, der Entstehungsphase des modernen Staates, ausgebildet. Diese Phase kam im späten 18. Jahrhundert zum Abschluß. Lassen sich, das ist die entscheidende Frage an eine Psychiatriegeschichte Foucaultscher Provenienz, die Verwerfungen der Psychiatrie im 20. Jahrhundert mit einem Ansatz erklären, der nichts anderes als den Vorgang der Metastasierung von Sozialkontrolle im Blick hat?

Es ist nicht zufällig, daß einer der Vorreiter der englischen historischen Psychiatrieforschung, Andrew Scull, in einer Publikation jüngeren Datums zu einem verhaltenen ›Oublier Foucault‹ aufruft.[12] Eine revisionistische Perspektive sei angezeigt, weil der verschlungene Professionalisierungsweg der Psychiatrie im 20. Jahrhundert weitgehend im dunkeln geblieben sei; auch bedürften für dieses Jahrhundert die gegenseitigen Bedingtheiten von psychiatrischer Macht und psychiatrischem Können einer weiteren kritischen Aufarbeitung. Kurz: Im Unterschied zum 18. und 19. Jahrhundert sei unser eigenes, bald zu Ende gehendes Jahrhundert zu großen Teilen noch immer ein dunkles Loch in der Psychiatriegeschichte.

Die angelsächsische Forschung kann sich der Zeitgeschichte der Psychiatrie unbelasteter zuwenden als die deutsche. In Amerika wird der Zweite Weltkrieg in seiner Bedeutung für die Psychiatrie zwar unterschiedlich gewertet,[13] nie aber wird er in einen Zusammenhang mit dem Mord an Psychiatriepatienten gebracht. Die These von einem in Kriegserfahrungen wurzelnden ›Paradigmawechsel‹ der amerikanischen Psychiatrie, die nach 1945 Zugang zu tiefenpsychologischen und sozialpsychiatrischen Konzepten fand, mag in der angelsächsischen Welt umstritten sein, für Deutschland haben die »lessons of war« einen ganz anderen Sinngehalt. Sie werfen Grundsatzfragen der neueren deutschen Geschichte auf, die weit über den Fragezusammenhang von Wissenschaftsgeschichte hinausgehen. Dennoch braucht auch eine Geschichte der Psychiatrie im »Dritten Reich« ›Foucault‹ nicht gänzlich beiseite zu legen, hat sein Werk doch den Blick auf jene Austauschprozesse gelenkt, die in der neuzeitlichen Gesellschaft zwischen politischer Macht und der Macht des ›Wissens‹ stattfinden.

Im Unterschied zu angelsächsischen, amerikanischen und französischen Arbeiten, die sich der Langzeitgeschichte der Psychiatrie aus einem sozialgeschichtlichen Blickwinkel nähern, hat sich die deutsche Forschung, soweit sie die Zeitgeschichte der Psychiatrie zum Gegenstand hat, auf einen Zugriff festgelegt, der Ideengeschichte mit Politikgeschichte kombiniert. Die beiden letzten Jahrzehnte haben, nachdem die Psychiatrieopfer des Nationalsozialismus lange Zeit dem Vergessen anheimgefallen waren, eine wahre Literaturflut gebracht; die erschienenen Arbeiten sind von sehr unterschiedlicher Wertigkeit.[14] Wurde anfangs die sich in der Struktur des ›Hitler-Staates‹ verflüchtigende Opferperspektive mit viel Forscherenergie aufgegriffen, so scheint die Psychiatriegeschichte des »Dritten Reiches« heute wieder stärker in die Bahn einer Tätergeschichte einzuspuren. Viel wissen wir über nationalsozialistische Herrschaftsgeschichte, aber im Grunde wenig über die, die dieser Herrschaft wirklich unterworfen waren. Sie sind die Opfer des NS-Unrechtsstaates, der von der Obödienzgesinnung der ›arischen‹ Mehrheitsgesellschaft lebte. Noch immer tauchen Archivbestände mit Tausenden von Krankengeschichten auf, welche die Lebensgeschichte von Menschen dokumentarisch festhalten, die von einer mörderischen Politik aus dem Heer der Hilfsbedürftigen ausgekämmt und in den Gastod geschickt wurden.[15]

Eine neue Variante von NS-Herrschaftsgeschichte stellt das ›Modernisierungs‹-Paradigma dar, das mit dem Anspruch auftritt, universalhistorische Einsichten zu vermitteln.[16] Der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wird eine »Herrschaftsrationalität« unterstellt, die mit der Rationalität identisch sein soll, die den Vorgang kapitalistischer Modernisierung eingeleitet und vorangetrieben hat.[17] Die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus werden, folgt man dem Ansatz eines »modernisierungstheoretisch gewendeten Antikapitalismus«, auf einen »stets mordbereiten Kapitalismus« zurückgeführt.[18] Der Mord an den Schwächsten ist gleichsam die höchste Steigerungsstufe kapitalistischer Ausbeutung, Völkermord eine Form, die »soziale Frage« durch Eliminierung ihres sozialen Substrats zu lösen. »Die verschiedenen im Deutschland der Jahre 1939 bis 1945 realisierten und darüber hinaus noch geplanten Massenmorde haben einen gemeinsamen utilitaristischen Nenner, der nicht einfach als ›nazistisch‹ aus dem Gesamtprozeß gesellschaftlicher Modernisierung isoliert werden kann.«[19] Hinter dem von gespreizter Aufgeregtheit begleiteten Fahnden nach der eigentlichen historischen Wahrheit des Nationalsozialismus droht die Wirklichkeit jener zwölf Jahre zu verblassen, die im Zeichen einer rücksichtslos durchgeführten rassistischen Politik gestanden haben. Mit dieser Forschungskehre verlieren auch Opferaspekte an Gewicht, deren Berücksichtigung viel zur Erschließung der Verbrechenswirklichkeit des »Dritten Reiches« beigetragen hat. Die NS-Zeit darf keiner De-Historisierung anheimfallen, die aus dem brennenden Wunsch nach Demystifizierung der kapitalistischen Moderne erwächst.[20]

Die Geschichte der Psychiatrie in Deutschland, und das gilt auch für deren Tiefstand in der Zeit des Nationalsozialismus, sollte nicht zu ideologischen Fixpunkten hin verlängert, sondern an die großen Verlaufslinien der neueren deutschen Geschichte angeschlossen werden. Psychiatriegeschichte ist ein Teil der allgemeinen Geschichte und zeigt ebenso wie diese die Bedeutung der jeweiligen politischen Ordnung für Handlungen wie für Unterlassungen. Klaus Dörner, ein Psychiater mit Gespür für geschichtliche Tendenzen, hat mit nachvollziehbaren Argumenten von der historischen Langlebigkeit einer »Ethik der industriellen Brauchbarkeit« gesprochen.[21] In der NS-Zeit richtete sie sich mit tödlicher Konsequenz gegen die ›industriell‹ Unbrauchbaren. Wenn es eine Sicherung gegen den von Dörner stets für möglich gehaltenen Absturz in eine inhumane Brauchbarkeits-Ethik gibt, dann sind es die auf Demokratie gegründeten Formen und Verfahren, in denen politische Entscheidungsprozesse ablaufen. Die Geschichte der Psychiatrie in Deutschland bedarf der historisch-politischen Kontextualisierung. Im »Dritten Reich« ging die Zerstörung der Politik der Vernichtung von Menschen voraus.

Psychiatrie in der frühen bürgerlichen Gesellschaft

1. ›Tollhaus‹-Psychiatrie

Blickt man auf die Vorgeschichte der modernen Psychiatrie zurück, so begegnet über einen langen Zeitraum nicht viel mehr als Hilflosigkeit gegenüber geistigen Krankheiten. Der »Wahnsinn« blieb in das Dunkel irrationaler Mystifizierung gehüllt. Erst die Säkularisierung, jene große geschichtliche Tendenz der europäischen Neuzeit, schob den Nebelschleier aus Aberglaube und religiösem Glauben, der bisher auf der Krankheit des Geistes gelegen hatte, ein wenig zur Seite. Die Medizinalisierung des Problemfeldes »Psychiatrie« begann sehr verzögert, und von einer Verwissenschaftlichung konnte in diesen Anfängen noch keine Rede sein.

Wie klein die Humanisierungsschritte des großen geschichtlichen Vorgangs der Verweltlichung seelischer Krankheiten gewesen sind, zeigt nichts deutlicher als jene Merkwürdigkeiten, mit denen 1746 das »Große vollständige Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste«, der sogenannte »Zedler«, Phänomene wie »Unsinnigkeit, Tollheit, Dollheit, Raserey, Tobsucht, Tollsucht, Wahnwitz« bedachte. Es heißt hier zu möglichen therapeutischen Verfahren: »Sonst aber hat man überhaupt in der Unsinnigkeit, es mag solche entstanden seyn, woher sie immer wolle, auf einige besondere und bewährte Specifica zu dencken: Wie denn als ein besonderes und gewisses Specificum das Eselsblut, vornehmlich aber dasjenige, so hinter den Ohren abgezapffet worden, … angerühmet wird. Desgleichen soll auch das Gehirne eines Hundes oder Widders, wenn es gekochet, und für dergleichen Personen zugerichtet wird, etwas gutes ausrichten.«[22]

Es war ein langer Weg, den der medizinische Fortschritt aus der Frühen Neuzeit heraus anzutreten hatte. Er verlief entlang der Kraftlinien jenes historischen Prozesses, der aus der vormodernen die moderne Welt entstehen ließ. Bis zum Beginn der Neuzeit waren psychisch Kranke Objekte des mittelalterlichen Caritasgedankens gewesen. Sprengte Geisteskrankheit den aus heutiger Sicht beeindruckend weiten Toleranzrahmen der bäuerlichen Lebenswelt, wurden Kranke in zumeist Klöstern angeschlossenen Hospitälern verwahrt. Ihre Zahl war relativ klein, und, auch das sollte betont werden, ihre Behandlung in diesen kirchlichen Instituten unterschied sich nicht wesentlich von der anderer Insassen wie Alten, organisch Kranken, Pilgern oder Waisen. Die großen sozialökonomischen Umbrüche im ausgehenden Mittelalter, nicht zuletzt auch die politischen Auswirkungen von Reformation und Dreißigjährigem Krieg setzten auch für das Irrenproblem neue Daten. Den traditionellen kirchlich-caritativen Instanzen wurde die Kompetenz in der Irrenfrage häufig entzogen, oft aber sahen sie sich auch von dieser sich quantitativ neu stellenden Frage überfordert. Im 17. Jahrhundert schob erst allmählich, dann jedoch immer intensiver der Staat sein ihm zur Verfügung stehendes Instrumentarium an Sozialkontrolle in das Irrenwesen hinein. Zucht- und Arbeitshäuser wurden die neuen Aufenthaltsorte psychisch Kranker. Über diese dunkle Phase der Irrengeschichte ist viel geschrieben und spekuliert worden. Sie diente vor allem im 19. Jahrhundert als Rechtfertigung eines Handelns, das zu einem Anstaltsbau von gigantischen Ausmaßen geführt hat. Großanstalten als das Nonplusultra der psychiatrischen Versorgung anzusehen war früher keineswegs die Ausgeburt eines kranken Gehirns, sondern in hohem Maße Ausdruck einer besonderen historischen Wachheit. Erst die Anstalt griff geistige Behinderung unter dem Gesichtspunkt einer behandelbaren Krankheit auf.

Die Zuchthäuser des 17. Jahrhunderts symbolisieren gewissermaßen die Repressionstradition der Psychiatrie. Doch diese älteren Anstalten hatten keinen in erster Linie strafenden Charakter, wie wir das von der uns geläufigen Wortbedeutung her annehmen müssen. Die damaligen Zuchthäuser waren zugleich Waisen- und Armenhäuser; sie beherbergten die Problempopulation der frühneuzeitlichen Gesellschaft, »Bettler, Landstreicher und ander böses Gesindel«, wie es in einer Quelle von 1714 heißt.[23] Nicht auf der Strafe, sondern auf der Erziehung lag der Akzent, und die Arbeit galt als das wichtigste Erziehungsmittel. Durch die Unterbringung von Irren in Arbeitshäusern konnte die Arbeitsverrichtung des Spinnens zum Symbol des Irreseins schlechthin werden.

Jeder nostalgische Rückblick auf die Anfänge des psychiatrischen Versorgungssystems wäre sicherlich fehl am Platze; dennoch gilt es, bestimmte historische Merkposten festzumachen. Die vom absolutistischen Staat betriebene Internierung der Geisteskranken war eine Polizeimaßnahme, die den Gedanken der »Sicherheit des Publikums« in den Mittelpunkt stellte. Die Interessen der Allgemeinheit legten den Schutz vor dem Irren, nicht den Schutz des Irren nahe. In der Frühen Neuzeit hat dieser Grundsatz ohne Frage zu einer Brutalität im Umgang mit Geisteskranken geführt. Aber damals versteckte sich diese Brutalität nicht hinter Barmherzigkeit. Die Ausgrenzung der Irren wurde mit offenem Visier betrieben. Wahn- und Tiefsinnige müssen, wie ein Zuchthausarzt 1804 schrieb, »aus der Gesellschaft der Vernünftigen ausgehoben und in dazu bestimmten Anstalten untergebracht werden«.[24] Hier ist sicherlich ein strenges historisches Urteil angebracht. Dennoch muß hinzugefügt werden, daß gerade vom Sicherheitsgedanken her der Anstaltsbedürftigkeit im 17. und 18. Jahrhundert äußerst enge Grenzen gezogen waren. Der harmlose Irre behielt seine Freiheit, nur eine begrenzte Anzahl von Geisteskranken verschwand hinter den Mauern von Detentionshäusern (das sind Straf- und Arbeitshäuser). Der Kranke traf hier auf Hausgenossen, die er von früher sehr gut kannte: Arme, Sieche, Säufer, Müßiggänger und Prostituierte, kurz, die vielen Randgänger der frühneuzeitlichen Gesellschaft.

Festzuhalten bleibt für das Irrenwesen in der vormodernen Welt zweierlei: einmal der relativ hohe Schwellenwert beim staatlichen Zugriff auf krankheitsbedingte Normverletzungen; daneben bringen die Populationen der Zucht- und Arbeitshäuser schon sehr früh das zum Ausdruck, was die Irrenfrage bis heute so brisant macht, ihren Charakter als soziale Frage. Es ist nicht bloß statistische Willkür, wenn in den Bestandsverzeichnissen der Zuchthäuser im 18. Jahrhundert »Arme und Melancholische« eine gemeinsame Rubrik bilden. Man schätzt den Anteil der Geisteskranken an der Gesamtzahl der Internierten auf 40 Prozent. So befanden sich z.B. 1724 in dem sächsischen Zucht-, Waisen- und Armenhaus zu Waldheim »95 Epileptici, Melancholici und Furiosi«, 105 Waisenkinder und 105 Arme.[25]

Die historisch gewachsenen Mischformen des Anstaltswesens, also die Verflechtungen von Wohltätigkeits- und Strafanstalten, gerieten am Ende des 18. Jahrhunderts immer stärker in eine vom Gedankengut der Aufklärung inspirierte Kritik. Sie zielte darauf ab, den Irren aus der Straf- und Disziplinierungswelt des absolutistischen Staates herauszulösen. Heinrich Balthasar Wagnitz, Prediger in Halle, veröffentlichte 1791/94 »Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland« – ein geradezu ergreifendes Plädoyer für eine weitreichende Verbesserung des Anstaltswesens.[26] Wagnitz kritisierte das Verbundsystem bestehender Anstalten, das heißt die mangelnde Differenzierung in Zucht-, Armen- und Irrenhäuser. Gerade die Irren würden mit einer Indolenz verwahrt, die dem auslaufenden 18. Jahrhundert durchaus nicht zur Ehre gereiche. »Dazu kommt die schimpfliche Beymischung von Verbrechern aller Art, mit denen die Unglücklichen, die so sehr unser ganzes Mitleid verdienen – mags seyn, getrennt, in besondern Zellen, doch unter einem Obdach wohnen, mit ihnen auf gleiche Art verwahrt und eingeschlossen gehalten, oft auf gleiche Art behandelt …« werden.[27]

Der ehemalige preußische Justizminister Albrecht Heinrich v.Arnim, der sich nach seinem Ausscheiden aus dem Amt Gedanken über die »zweckmäßige Einrichtung der Gefangenenanstalten« machte, akzentuierte 1803 ähnlich die bestehenden Mißstände: »Die meisten unserer Strafanstalten sind nicht für sich bestehende Anstalten. Sie sind fast überall mit Armenanstalten, mit Waisenhäusern, Hospitälern und Irrenhäusern verbunden. Dies ist unter andern der Fall, bei dem Zuchthause zu Halberstadt, zu Tapiau, zu Rössel, zu Halle, zu Jauer, zu Stettin, zu Stargard, zu Wesel … und haben daher in allen diesen Anstalten, so wie in fast allen in gleicher Verbindung stehenden Arbeits- oder sogenannten Policeizuchthäusern, die … bemerkten Inconvenienzen statt.«[28]

Wenn im frühen 19. Jahrhundert das alte »Zucht- und Tollhaus« in seine Komponenten zerfiel,[29] so hing das nicht nur mit den registrierten Übelständen des Anstaltswesens zusammen, sondern mit jenem tiefgreifenden Gestaltwandel der mitteleuropäischen Gesellschaft, den die Französische Revolution eingeleitet hatte. Er färbte auch auf die angelsächsische Welt, auf England und Amerika, ab. Überall begegnet eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber dem Wahnsinn, und es zeichnen sich in den verschiedenen Ländern verwandte Lösungen der Irrenfrage ab. Man trifft auf ganz ähnlich gelagerte gesellschaftliche ›Wahnsinns‹-Debatten. Sie hatten einen gemeinsamen geschichtlichen Wurzelboden.

Für die sich herausbildende bürgerliche Gesellschaft stellte gerade der Irre eine besondere Herausforderung dar. Ging es hier doch letztlich um die Konsistenz von Prinzipien, denen geschichtliche Zukunftsmacht zugeschrieben wurde. Das Vernunftpotential der Aufklärung, die entscheidende Mitgift auf dem Weg der frühen bürgerlichen Gesellschaft, machte aus der Irrenfrage eine Testfrage für die Reichweite von Menschenrechten. Von ihnen sollten auch seelengestörte Menschen nicht ausgenommen sein, auch sie sollten in den Genuß von Humanitätsfortschritten kommen. Diese historischen Basisvorgänge unterschlägt Michel Foucaults These vom ›ansich-bösen‹ Grundcharakter der bürgerlichen Gesellschaft.

Die Irrenreformbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein Epiphänomen der großen Revolutionen in Frankreich und Amerika. In dieser Zeit wurde der Irre im Heer der gesellschaftlich Abgeschriebenen neu entdeckt, und man drang bei ihm auf eine menschenwürdige Behandlung. In Frankreich knüpft sich an die Tätigkeit Philippe Pinels im Hôpital de Bicêtre der Mythos einer revolutionsinduzierten »Kettenbefreiung« der Irren.[30] Hier stellte in Fortsetzung dieses Aufbruchs das Gesetz vom 30. Juni 1838 über die Irren die erste große gesetzgeberische Maßnahme dar, die ein Recht auf Fürsorge und Pflege anerkannte.[31] Rein quantitativ waren Irre – übrigens nicht nur in Frankreich – gegenüber Armen ohne große Bedeutung. Zur Zeit der Revolution gab es einige tausend Wahnsinnige, 1834 beliefen sich Zählungen auf kaum zehntausend. Dem standen ca. 2 Millionen Arme, dreihunderttausend Bettler, hunderttausend Landstreicher und hundertdreißigtausend Findelkinder gegenüber.

Die Irrenfrage rührte sehr viel stärker als die Armutsfrage an das Selbstverständnis der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft. Was für Frankreich angeführt wurde, läßt sich auch auf andere europäische Staaten und auf Amerika übertragen.[32] Der Optimismus der Aufklärung, den Menschen aus seiner Unmündigkeit herausführen zu können, hatte sich in einen ›Mythos der Heilbarkeit‹ von Irresein umgewandelt, dem sowohl die politisch Verantwortlichen wie besonders die nach politischer Verantwortung strebenden bürgerlichen Mittelschichten anhingen. In Holland kam es 1841 zu einem ersten Irrengesetz, das stark unter französischem Einfluß stand.[33] Diese frühen Gesetzgebungen sind durch die Omnipotenz der Bürokratie und den geringen Einfluß der Mediziner gekennzeichnet. Die Verwaltung, die Anstalten schuf, wollte das Einweisungs- und Entlassungsmonopol nicht aus der Hand geben, sicherlich aus der nicht zu gering zu veranschlagenden Furcht, daß Mißbrauch mit den Anstalten getrieben werden könne.

Auch in England vollzogen sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidende Wandlungen in der Organisation des Irrenwesens. Sie hängen nicht mit Initiativen des Staates, sondern mit der Betroffenheit einer vergleichsweise breiten Öffentlichkeit zusammen. Sie stieß sich am überkommenen System der englischen Irrenversorgung. Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurden Irre primär von Privatanstalten gepflegt. Sie hatten geradezu ein Monopol in der Irrenversorgung, da es Gemeinden und Städte trotz verschiedener gesetzlicher Anläufe (z.B. 1808) wegen finanzieller Überbürdung ablehnten, Irrenanstalten zu errichten.[34] Doch der von Privatanstalten betriebene »trade in lunacy« geriet in den 1840er Jahren immer stärker in das Schußfeld der öffentlichen Kritik. Von den 20893 Anstaltsinsassen im Jahre 1844 befand sich der größte Teil in Privatanstalten. Erst das Irrengesetz von 1845 brachte eine einschneidende Änderung. Es schuf den Typ des öffentlichen Hospitals für arme Irre und bedingte somit erst einen Wandel im Sozialprofil der Privatanstalten. Sie wurden Reservate für psychisch Kranke aus der englischen Mittel- und Oberschicht. Ob die breite Schicht der armen Irren im System der kommunalen Versorgung besser gestellt war, ist mit Recht umstritten, gerade weil die alten Privatanstalten keineswegs reine Aufbewahrungs- und Ausbeutungsinstitute gewesen waren. Öffentliche Irrenfürsorge bietet sich auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England noch wesentlich als Teil einer ›Disziplinargesellschaft‹ dar, für die die Organisation des Irrenhauses mit seiner Disziplin-, Ordnungs- und Arbeitsmoral die anzustrebende Gesellschaftsorganisation symbolisierte. Doch diese Disziplinargesellschaft stand keineswegs mehr auf einem festen gedanklichen Fundament.

Die Entwicklung in Amerika zeigt die gesellschaftsgeschichtliche Einbindung der »breakthroughs in the field of medicine«. Für die »Jacksonian era«, also die Dekaden nach 1820, hat man von einem »age of the asylum« gesprochen. Auch hier verläuft die Entwicklung des Irrenwesens sehr ähnlich der auf dem alten Kontinent. New York und Massachusetts errichteten Anstalten in den 1830er Jahren, Vermont, Ohio, Tennessee und Georgia folgten. 1860 besaßen 28 von 33 Staaten öffentliche Irrenanstalten. Was stand hinter dieser auch in Amerika sehr abrupt verlaufenden Entwicklung, von der man gesagt hat: »a cult of asylum swept the country«?[35]

Die Antwort auf diese Frage ist umstritten. Waren es die Modernisierungsängste einer sich rasch verändernden Gesellschaft, die sie den Weg einer verschärften Sozialkontrolle einschlagen ließen? Oder war es eine eher optimistische Einschätzung hinsichtlich der Beherrschbarkeit des Irrenproblems, die hinter dem Ausbau der psychiatrischen Infrastruktur stand? Daß zur Vorgeschichte des modernen Irrenhauses mehr als das Ordnungskalkül der für die »Kontrolle« von Irren Zuständigen gehört, zeigt die preußisch-deutsche Entwicklung. Die Irrenfrage bildet im 19. Jahrhundert ebenso die frühen Emanzipationsanläufe der deutschen Gesellschaft ab wie die Verflüchtigung des Emanzipationsgedankens in den Strukturen des Obrigkeitsstaates; diese Frage zeigt aber auch den Weitblick einer Kraft, die in bestimmten Phasen der geschichtlichen Entwicklung mehr als Herrschaft war: der Bürokratie.

Der Beginn der Irrenreform in Deutschland fällt in das Zeitalter der preußischen Reformen. Sie versuchten, die Bewegung, die von der Französischen Revolution ausgegangen war, zu kanalisieren. Politische Eruptionen wie in Frankreich sollten vermieden, Erneuerungsbedürfnissen, die aus dem Raum der Gesellschaft erwuchsen, aber Rechnung getragen werden. ›Von oben‹ wollte man »soziale Gerechtigkeit« herstellen, um zu vermeiden, daß die Staatsgesellschaft »von unten« in Frage gestellt wurde.

Die preußische Reformbürokratie stellte mit ihrer Agrar-, Gewerbe- und Städtegesetzgebung am Beginn des 19. Jahrhunderts die Weichen für einen Verbürgerlichungsschub des gesellschaftlichen Lebens. Dieses war bisher feudal geprägt gewesen; der absolutistischen Staatsverfassung hatte eine Gesellschaftsverfassung entsprochen, die sich durch eine starre ständische Gliederung auszeichnete. Die Gesellschaft des ›ancien régime‹ büßte im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr an historischer Kraft ein. Die deutsche Geschichte vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründungszeit war, so hat man gesagt, »in ihrem Kern durch den Aufstieg und die Ausformung der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt«.[36] An diesem Prozeß hatte eine reformbereite und zukunftsoffene Bürokratie großen Anteil. Sie betrachtete auch die Irrenfrage als eine drängende Reformfrage und trug so dazu bei, daß aus der ›Tollhaus‹-Psychiatrie eine Reformpsychiatrie wurde.

Es war ein hochrangiger preußischer Ministerialbeamter, der nicht nur »den Anfang der modernen Irrenheilkunde in Deutschland« bezeichnet,[37] sondern der auch am Beginn einer modernen Irrenversorgung steht. Johann Gottfried Langermann (1768–1832) war nach einer wechselvollen Beamtenlaufbahn im Ministerium des Innern und der Polizei zum Chef des preußischen Medizinalwesens aufgestiegen.[38] Mit seinem Namen verknüpfen sich Anstaltsreformen, die vom Geist ›bürgerlicher Besserstellung‹ des Irren getragen waren. 1797 promovierte Langermann in Jena zum Doktor der Medizin. Seine Dissertation beschäftigte sich mit dem Wesen und den Heilungsmöglichkeiten von Geisteskrankheiten. Nicht als Theoretiker, wohl aber als Praktiker hat Langermann Spuren in der Psychiatriegeschichte hinterlassen. Er war nach dem Studium als Arzt im Zucht- und Irrenhaus in Torgau tätig und sah hier mit eigenen Augen die Mißstände, die sich aus der Verwürfelung einer sehr unterschiedlichen Anstaltspopulation ergaben. Langermann hatte auch in Bayreuth praktiziert, und so fiel 1803 die Wahl auf ihn, als Hardenberg die Zustände des Bayreuther Irrenhauses, das im Vorort St. Georgen lag, untersucht wissen wollte. Langermann bekam den Auftrag, einen Plan zur Behebung der vorgefundenen Mängel vorzulegen. Die vereinigten Markgrafschaften Ansbach und Bayreuth waren 1791 an Preußen gekommen. Langermann begann damit, das Bayreuther ›Tollhaus‹ in eine »psychische Heilanstalt für Geisteskranke« umzuwandeln, und stand ab 1805 dem »ersten Experimentierfeld dieser Art in Deutschland« (D. Jetter) für kurze Zeit als Direktor vor. Nachdem Bayreuth im Zuge der von Napoleon erzwungenen Neugliederung der deutschen Staatenwelt an Bayern gefallen war und auch nach dem Wiener Kongreß nicht mehr preußisches Hoheitsgebiet wurde, fand Langermann in Berlin eine neue Wirkungsstätte. Die Berliner Tierarzneischule und die Organisation des tierärztlichen Dienstes in Preußen sind hauptsächlich sein Verdienst. Doch dieser Irrenreformer der ersten Stunde ließ die Verbindung zu seinem alten Arbeitsgebiet nicht abreißen. Er war vertraut mit dem Stand der Irrenfürsorge in England und Frankreich und machte seinen Einfluß geltend, als der preußische Staat im rheinischen Siegburg (1825) und im schlesischen Leubus (1830) zwei »Heilanstalten« errichtete, die Modellcharakter haben und der Irrenversorgung insgesamt die Richtung weisen sollten.

Durch Persönlichkeiten wie Langermann wurde in Preußen die Tradition einer modernen Irrenfürsorge zu begründen versucht. Der Geist der preußischen Reformen, so sehr er auch im Vormärz zurückgedrängt wurde, hat auch im politischen Klima der Restauration in der Irrenfrage weitergelebt. Auf höchster Regierungsebene erkannte man durchaus, daß psychische Krankheiten gegenüber körperlichen Krankheiten einen Sonderfall darstellten und daß hier besondere Maßnahmen angebracht seien. So heißt es 1845 in einem Schriftsatz des Innenministeriums an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV.:

»Die Irren-Heil-Anstalten sind Kranken-Heil-Anstalten, Anstalten zur Heilung von Seelenkranken, und bilden mithin die höchste Stufe der Kranken-Anstalten. Ärzte leiten die Behandlung in gewöhnlichen Kranken-Anstalten, Irrenärzte die Behandlung der Seelenkranken in Irren-Heil-Anstalten. Der dirigierende Arzt einer Irren-Anstalt muß der Mittelpunkt, die Seele der ganzen Anstalt und ihrer hohen Bestimmung sein. Er darf, um seinen Beruf erfüllen zu können, keine selbständige Macht neben oder gar über sich haben, er soll der geistige Träger des Ganzen und Einzelnen sein, weil die Irrenheilkunst nicht nur die somatische und psychische Einwirkung auf die Kranken durch den Arzt, sondern auch durch die Anstalt an sich umfaßt. Gleichwie die Anstalt Mittel zum Zwecke der Heilung der Irren, so ist sie auch nach allen Beziehungen ein wesentliches, oft allein ausreichendes Heilmittel für Seelenkranke, über welches der Arzt zum Besten der Kranken im Ganzen und Einzelnen durchaus frei und ungestört schalten können muß.«[39]

In dieser Phase der Psychiatriegeschichte hatte die Heilparole auch auf dem Boden der Staatspolitik feste Wurzeln geschlagen. Freilich blieb sie gesellschaftlich umstritten. Die in der alten Ständegesellschaft privilegierten Sozialgruppen lehnten sie ab, während sie für die neu aufsteigenden bürgerlichen Schichten eine Art Identitätsausweis war. Der gesellschaftliche Umgang mit der Irrenfrage in der Übergangsgesellschaft des Vormärz stützt die These, daß die »frühe bürgerliche Gesellschaft als eigenständiger Typus« gesehen werden kann, als eine Formation, in der die Vertreter der bürgerlichen Bewegung den Versprechen der Aufklärung geschichtliche Realität zu verleihen versuchten.[40] Die Psychiatriegeschichte verweist auf den Weg, den die bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert gegangen ist. Sie war in ihren Anfängen noch keine ausschließlich von Eigeninteressen geleitete Klassengesellschaft; das wurde sie erst durch die großen gesellschaftlichen Veränderungsschübe, die Industrialisierung und Urbanisierung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mit sich brachten. Die frühe bürgerliche Gesellschaft fühlte sich einem Gesellschaftskonzept verpflichtet, das universalistisch angelegt war und im Dienst aller Menschen, auch der Schwächsten, stehen sollte. Hinter den institutionellen Neuerungen, die während des Vormärz in der Irrenversorgung zustande kamen, stand neben der grundsätzlichen Reformbereitschaft des Staates auch das »idealistische Pathos« bürgerlicher Schichten.

Im folgenden sollen die sozialen und politischen Implikationen der Frühgeschichte der deutschen Psychiatrie am Beispiel der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der preußischen Rheinprovinz gegründeten »Heilanstalt« Siegburg beschrieben werden. ›Siegburg‹ war der bedeutendste und folgenreichste psychiatrische Reformversuch im 19. Jahrhundert und ist weit mehr als nur ein regionales Beispiel.[41] Hier lassen sich die Möglichkeiten, aber auch die vom geschichtlichen Kontext gezogenen Grenzen bürgerlicher Aneignung der Irrenfrage deshalb gut aufzeigen, weil es eine breite Quellenüberlieferung gibt. In den letzten Jahren sind über das bisherige Archivmaterial hinaus aus den Unterlagen des »Rheinischen Provinzialinstituts« Krankenakten von Siegburger Patienten zugänglich geworden, die neues Licht auf das Binnenleben dieser Anstalt und die Lebensgeschichte der ihr anvertrauten Menschen werfen. Auch auf diese Überlieferung wird hier zurückgegriffen.[42]

2. Reformpsychiatrie

Im Jahre 1825 wurde in der ökonomisch fortschrittlichsten Region Preußens, der Rheinprovinz, die Anstalt Siegburg als reine, von pflegerischen Aufgaben entlastete Irren-Heilanstalt gegründet. Von seinen Ausmaßen her übertraf Siegburg alle anderen Versuche in Deutschland, die Irrenversorgung auf eine neue institutionelle Grundlage zu stellen.[43] Da Irre traditionell zur großen Schicht der Armen gehörten, waren auch sie in das für Armut zuständige Verwaltungsnetz eingebunden.[44] Es bestand in Preußen aus den lokalen Verwaltungsbehörden und den für die Angelegenheiten der gesamten Provinz zuständigen Behörden.[45] Letztere verdankten ihre Entstehung der Nichteinlösung eines Verfassungsversprechens, das der preußische König Friedrich Wilhelm III. während Preußens ›großer Zeit‹ im Ringen mit Napoleon gegeben hatte. Statt einer gesamtstaatlichen Verfassung wurden 1823 in jeder der acht Provinzen Provinzialstände eingeführt, die in ihrer Zusammensetzung stark an die historisch abgelebte alte Ständewelt erinnerten.[46] Diese Gremien, in die der Adel, das städtische Bürgertum und die landbesitzenden bäuerlichen Schichten Vertreter entsandten, hatten keine politischen Kompetenzen, wohl aber wies ihnen das »Verfassungsrecht« des preußischen Staates bestimmte provinziale Selbstverwaltungsaufgaben zu. Irren-, Armen- und Pflegeanstalten fielen in ihre Kompetenz.[47] So bilden die Versammlungen der rheinischen Provinzialstände das Forum, auf dem sich der schwierige Definitionsprozeß der alten und neuen gesellschaftlichen Kräfte gegenüber dem Irren abspielte – sowohl derjenigen, die die Führung in der »frühen bürgerlichen Gesellschaft« beanspruchten, wie der, die ihre ins Wanken geratene Führungsposition zäh verteidigten. In dieser Phase spiegelt die Psychiatriegeschichte sehr genau einen Wandel des sozialen Bewußtseins.

Welches waren nun die gesellschaftlichen Führungsgruppen in der Rheinprovinz? Diese Provinz nahm eine gewisse Sonderstellung im überwiegend agrarisch geprägten preußischen Staat ein. Es gab in ihr Zentren der Frühindustrialisierung mit einer vergleichsweise hohen Bevölkerungsdichte.[48] Dazu gehörte einmal das niederrheinische Gebiet zwischen Krefeld und Aachen und zum anderen der bergischmärkische Raum zwischen Wupper und Ruhr. Das niederrheinische Gebiet war eine alte, vom Textilsektor geprägte Gewerbelandschaft. Wenn auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die Heimgewerbe-Struktur vorherrschte, so gab es doch daneben schon die Manufaktur-Betriebsform und Ansätze fabrikähnlicher Produktion, so besonders im Aachener Raum. Im Bergischen Land war zwar Elberfeld ein Zentrum der rheinischen Textilindustrie, doch die eisenverarbeitende Tradition von Städten wie Remscheid und Solingen ließ das Fabriksystem relativ schnell Wurzeln schlagen.

Die Rheinprovinz hatte, gemessen an den anderen preußischen Provinzen, in sozialökonomischer Hinsicht einen Entwicklungsvorsprung. Das hing nicht zuletzt mit ihrer »französischen« Rechtsverfassung zusammen. Handels- und Wechselrecht sowie der Gesamtbereich des bürgerlichen Rechts blieben auch nach dem Sturz Napoleons in den ehemaligen Besatzungsgebieten weiterhin in Geltung; bürgerliche Rechtsnormen waren wichtige Entwicklungshelfer im sozialökonomischen Modernisierungsprozeß der Rheinlande.

Ausdruck fand dieser vor allem auch in der Heranbildung eines rheinischen Wirtschaftsbürgertums. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts an läßt sich dieser Vorgang verfolgen. Die ›bürgerliche Gesellschaft‹, mehr gesellschaftliche Zielprojektion in den Köpfen der preußischen Reformbürokratie als gesellschaftliche Wirklichkeit, hatte in der Rheinprovinz am frühesten ein soziales Substrat. Zu ihm wäre auch die breite Schicht des freiberuflich tätigen, akademisch gebildeten Bürgertums zu rechnen – wie Ärzte, Rechtsanwälte, Notare usw. Auf dem Hintergrund dieses hier nur anzudeutenden Sozialprofils ist das Problem der ständischen Repräsentanz zu sehen.

Die Zusammensetzung der rheinischen Provinzialstände trug der Gesellschaftsverfassung der Rheinprovinz in keiner Weise Rechnung. Bei der gesamtstaatlichen Einführung der Provinzialstände war 1823 das Grundeigentum zur unerläßlichen Bedingung der Standschaft gemacht und dieses Prinzip durch die Nennung von Besitzfristen noch verschärft worden. So war die Wählbarkeit an einen 10 Jahre ununterbrochenen Grundbesitz gebunden. Das mußte ein Bürgertum diskriminieren, das in bezug auf Grundbesitz meist traditionslos war, dank seines Kapitalbesitzes aber eine führende gesellschaftliche Rolle spielte. So wurden im Rheinland die Provinzialstände nicht zu Unrecht als eine Institution angesehen, von der man nicht wisse, ob sie mehr der wirklichen Vertretung der Provinz oder mehr der Ausschließung eines bedeutenden Teils ihrer Einwohner von der Vertretung diene.[49] Dennoch hatte das Bürgertum über den Stand der Städte Einflußmöglichkeiten. Er war der dritte Stand, neben dem Fürstenstand, dem Stand der Ritterschaft und dem Stand der Landgemeinden. Der Fürstenstand ging als einziger nicht aus Wahlen hervor; er wurde von fünf führenden Familien gebildet. Die anderen Stände hatten jeweils 25 Stimmen; die Folge war, daß »in Streitfragen zwischen Grundbesitz und mobilem Kapital« die ›Städte‹ »gegen die 55 Stimmen der drei grundbesitzenden Stände niemals durchdringen« konnten.[50]

Nun gehört das Irrenproblem auf den ersten Blick sicherlich nicht zu den zentralen Streitfragen zwischen Grundbesitz und mobilem Kapital. Dennoch hat es die Gegensätze in einer Frage hervortreten lassen, die von den ›politisch‹ unterrepräsentierten Vorreitern der modernen bürgerlichen Gesellschaft anders gesehen wurde als von der Nachhut der alten Sozialordnung.

Man darf freilich, gerade auch für die Rheinprovinz, nicht die Eigendynamik des rechtlich und ökonomisch angestoßenen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses aus den Augen verlieren, der die von der alten Ordnung errichteten Barrieren zunehmend unterlief. So war im Stand der Ritterschaft bis zur Jahrhundertmitte eine nicht unbeträchtliche Zahl von ›Industriellen‹ als Besitzer von Rittergütern vertreten. Da auch Notare, Advokaten und Kaufleute vermehrt »Grundbesitz auf dem Lande« erwarben, tauchten sie schon Anfang der 1830er Jahre auf den Provinziallandtagen als Abgeordnete der Landgemeinden auf. Man muß somit den gesellschaftlichen Prozeßcharakter im Blick haben, das zunehmende Gewicht der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ auch in Fragen politischer Artikulation sehen, will man die sich wandelnde gesellschaftliche Einstellung zum Irrenproblem in den Griff bekommen.

Drei Fragen sind es, die bei einer Geschichte des Irrenwesens zu stellen sind und denen hier für die Rheinprovinz nachgegangen werden soll: Wann wurden Irre zum Problem, für wen wurden sie zum Problem, und wer machte sich an die Lösung dieses Problems? Hinzu kommt noch die Veränderung des Problems selbst im Zuge seiner Handhabung, die gesellschafts- und psychiatriegeschichtlich aufgeschlüsselt werden muß.

Es waren »Verwaltungsbehörden«, die in der Rheinprovinz – unmittelbar nach der erfolgten Eingliederung der rheinischen Gebiete in den preußischen Staat – die »Wichtigkeit und das hohe Interesse des Gegenstandes« ›Irre‹ erkannten.[51] Anstoß war die »große Anzahl von Irren«, aber auch ihre »traurige Lage«. Über die Zahl der Irren im Rheinland zu Beginn der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gibt es nur sehr ungenaue Schätzungen. Man sprach von 2000 in »öffentlichen Anstalten und in Familien befindlichen« Irren. Eine geringe Zahl, kaum Sand im Getriebe des anlaufenden ›bürgerlichen‹ Produktionsprozesses. Warum also diese Aufmerksamkeit?

Sicherlich haben hier die genannten französischen und englischen Irrenreformbewegungen am Ende des 18. Jahrhunderts auf den deutschen Bereich ausgestrahlt. Sie schufen eine Sensibilität für die Irrenfrage, die aber bezeichnenderweise der Staat und nicht die Gesellschaft aufgriff und programmatisch umzusetzen suchte. Die preußische Bürokratie lief mit ihren Initiativen der gesellschaftlichen Entwicklung voran, und auch das Irrenproblem spiegelt diese Vorreiterfunktion. ›Verbürgerlichung‹ als Programm bedeutete auch Ausmerzen gesellschaftlicher Krankheitsherde. Der Irre unterschied sich in den Augen der Bürokratie vom Armen dadurch, daß dieser sein Schicksal selbst zu verantworten hatte, während für jenen Verantwortung übernommen werden konnte, ohne mit dem bürgerlichen Grundsatz der Eigenverantwortung zu brechen.

Der preußische Staat, und zunächst nicht die im Rheinland noch im Aufbau begriffene ›bürgerliche Gesellschaft‹, machte sich also Gedanken über die Situation der Irren. Diese Überlegungen führten zur Einrichtung von Siegburg.[52]

Siegburg war ein Institut, das die preußische Bürokratie konzipiert hatte, das aber, wie geschildert, zu den Kommunalangelegenheiten gehörte, die von den Ständen der Rheinprovinz finanziert werden mußten. Hier war Konfliktstoff von vornherein angelegt. Das Novum an Siegburg war, daß der Gedanke des Heilens ganz im Vordergrund stand. Eine am bürgerlichen Rationalismus orientierte Bürokratie, überzeugt von der Planbarkeit einer Gesellschaft und somit auch von der Einhegung ihrer Defizite, mußte gleichsam die bestehende Gesellschaft über ihre Möglichkeiten aufklären und diese ihr gegenüber durchsetzen. Das war in England, Frankreich und Amerika anders. Hier war die Gesellschaft selbst der Treibriemen der Reformbewegungen. Die schiefen Fronten in Deutschland hatten ihre Gründe im Entwicklungsrückstand der Gesellschaft. Das Bürgertum war hier noch zu schwach, als daß seine Normen ohne bürokratische Abstützung hätten Geltung erlangen können. Planerische Vorgaben für Siegburg beschworen Konflikte mit den vom Adel dominierten Provinzialständen herauf.

Siegburg sollte eine Heilanstalt für 200 Irre werden, und durch ein striktes Aufnahmereglement wollte man verhindern, daß dieses »Institut« doch wieder zu einer »Aufbewahrungsanstalt von unheilbaren Irren« werden könne.[53] Nicht aufgenommen wurden: seit längerer Zeit an Irrsinn leidende Kranke; die von Geburt oder von der ersten Kindheit an Blöd- oder Schwachsinnigen; die aus Altersschwäche in Geisteszerrüttung Verfallenen; die an Epilepsie Leidenden. Dieser Negativkatalog spiegelt ein Konzept des Ausfilterns, bei dem der Gesichtspunkt verbliebener Chancen gesellschaftlicher Wiedereingliederung und damit gesellschaftlicher Verwertbarkeit im Vordergrund stand. Dieses Konzept mußte vom Staat gegenüber einer Gesellschaft vertreten werden, deren feudale Überhänge noch ein solches Gewicht hatten, daß der Versuch eines massiven Konterkarierens der ›bürgerlichen‹ Heilparole unternommen werden konnte. Trotz der genannten Selektivitäten bedeutete die anvisierte Krankenrolle des Irren eine immense Verbesserung seiner Lage. Doch Wohltaten kosten Geld, und hier kam es zum Konflikt mit den Ständen.

Die Bau- und Einrichtungskosten für Siegburg betrugen 143000 Taler.[54] Auch die Unterhaltungskosten erreichten beträchtliche Summen, vor allem aber stiegen sie im Laufe der Jahre beträchtlich an. So hatte die Rheinprovinz 1825 für die Unterhaltung dieser Irrenanstalt 10834 Taler aufzubringen; 1842 war dieser Bedarf auf 35264 Taler angestiegen. Umgelegt auf die Krankenzahl mußten 1842 für einen Irren täglich 15 Silbergroschen oder jährlich 190 Taler ausgegeben werden. Daß diese Zahlen Konfliktstoff in sich bargen, zeigt ein Vergleich mit den Kosten von Armenhäusern als den traditionellen Orten der ›Irrenaufbewahrung‹. Im Trierer Armenhaus befanden sich – ebenfalls 1842 – 155 Irre; die »Verpflegungskosten« betrugen hier jedoch pro Kopf nur 66 Taler jährlich.

Die Kosten für Siegburg hatten die einzelnen rheinischen Regierungsbezirke aufzubringen. Nach einer gesetzlichen Vorschrift war die Grundsteuer die Hauptfinanzierungsquelle.[55] Wenn man sich die Zusammensetzung des Provinziallandtags vergegenwärtigt, überrascht es nicht, daß gegen die Ausklammerung der Gewerbesteuer Sturm gelaufen wurde. Fast jeder Landtag stellte einen Antrag auf Heranziehung der Gewerbesteuer für ein Unternehmen, dessen ›bürgerliche‹ Provenienz und ›bürgerlicher‹ Zweck auf der Hand zu liegen schienen. Die Stoßrichtung der Argumentation illustriert sehr gut eine »Beschwerde« der Kreistagsabgeordneten des Kreises Prüm.

1829 wurde ein Antrag auf Abschaffung des Grundsteueraufschlags für Siegburg mit folgenden Fragen polemisch eingeleitet: Warum werde der Beitrag für eine Irrenanstalt gerade »von dem durch die direkten Abgaben am härtesten bedrückten Landmann« erhoben? »Weshalb nicht in stärkerem Grade von der gedrängten Bevölkerung der Fabrikländer, der großen Städte, als von der ackertreibenden Klasse des Volks? Denn die Stände glauben, daß das Unglück der Geistes-Verwirrung und Gemütsschwäche häufiger in den Städten und Fabrik-Gegenden angetroffen wird, als auf dem Lande. Daher scheint ihnen auch eine Verteilung nach der Mahl- und Schlacht- und Klassensteuer richtiger zu sein; etwa auch mit Hinzunahme der Gewerbesteuer.«[56] Siegburg war für die sowohl in den Kreis- wie in den Landständen politisch dominierende agrarische Oberschicht ein »edles, aber entfernter liegendes Ziel«; »näher« stand sie der »Unterdrückung der Bettelei und der Verbesserung der Gefängnisse«. Irre sollten da bleiben, wo sie schon immer waren: im Landarmenhaus zu Trier. In der feudal durchwirkten deutschen ›bürgerlichen Gesellschaft‹ der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts provozierte der bürgerliche Heilungsgedanke nur; er hatte gesellschaftlich nur die Chancen, die das Bürgertum zu dieser Zeit politisch besaß.

Wurde Siegburg von den Ständen abgelehnt, so stießen sich untere Verwaltungsbehörden an den festgelegten Aufnahmekriterien. Sie wollten diese Anstalt zur Lösung eines Irrenproblems nutzen, das sich für sie in der Perspektive der Unheilbaren stellte. Denn jene Irren, so schrieb die Koblenzer Regierung 1829, waren es, die »wie Verbrecher eingekerkert sind, ja ihrer Krankheit wegen im hiesigen Gefängnis noch übler sich befinden«.[57] Warum also nicht auch unheilbare Irre nach Siegburg schicken, einem »Unterbringungsort«, für den man jährlich ohnehin 12000 Taler aufwenden mußte?

Der Charakter Siegburgs als Heilanstalt geriet immer stärker in eine doppelte Schußlinie. Diese Anstalt stellte ohne Frage für die Kommunen eine nur unzureichende Entlastung vom Irrenproblem dar. Die große Masse der Irren mußte weiterhin in Gefängnisse, Arbeits- und Armenhäuser gesteckt werden, oder man baute an kommunale Krankenhäuser, sofern sie bestanden, einfach Irrenverschläge an. Wenn man mit Irrenzahlen für diese Zeit auch sehr vorsichtig operieren muß, so vermittelt eine Analyse der Aachener Regierung aus dem Jahre 1826 doch einen Eindruck von der Lagerung des Problems.[58]1825 wurden im Regierungsbezirk Aachen 313 Irre gezählt, 196 Männer und 117 Frauen. Von diesen wurden eingestuft als ›heilbar‹: 17; ›unheilbar‹: 296. Unter den 313 Irren waren 37 ›gefährliche‹ und 32 ›epileptische‹. Interessant ist nun die Form der Unterbringung dieser Irren. Nur sieben wurden auf Kosten der Provinz, also in Siegburg, versorgt; 34 von den Gemeinden; 26 von »vermögenden Verwandten«; 90 von »unbemittelten Verwandten«; 50 von »ganz armen Verwandten«; 50 Irre lebten von »eigenem Erwerb oder Vermögen«; 56 von »milden Gaben«. Das Problem war also der unheilbare und arme Irre. Er fiel in Unterbringung und Versorgung den Gemeinden anheim, diese aber hatten weder Mittel noch Raum.

Auf diesem Hintergrund mußte die ›Exklusivität‹ Siegburgs provozieren. Es war eine soziale Exklusivität, die sich auch in der inneren Einrichtung der Anstalt niederschlug. Zum Programm einer humanen Behandlung gehörten z.B. die Ansätze einer Art Arbeitstherapie. Seit 1833 hatte Siegburg einen Seilspinnapparat und mehrere Webstühle. Auch wurden die Patienten im kleinen Garten der Anstalt beschäftigt. Eine Kegelbahn und ein Karussell, Musikinstrumente und eine Reitmaschine sollten für Abwechslung sorgen. Ferner war der Personalbestand der Anstalt ungewöhnlich hoch. Den 150 bis 200 Kranken standen 50 Wärter gegenüber sowie mindestens zehn Wärterinnen. Daneben gab es Dienstleute, Köchinnen, Tischler, Gärtner, Vieh- und Küchenmägde, Haus- und Pferdeknechte. Täglich wurde für über 200 Personen gekocht, und zwar in vier »Tischen«, d.h. in vier verschiedenen Qualitätsklassen. Auch was Heizung, Beleuchtung und Wasserversorgung angeht, gehörte Siegburg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den wohl am besten ausgestatteten Irrenanstalten Deutschlands.

Der bürgerlich ausgerichteten Infrastruktur der Anstalt entsprach das Sozialprofil der Anstaltsinsassen. Auch hier äußerte sich unverhohlen der Mißmut der Stände. Ihnen war der bürgerliche Zuschnitt Siegburgs ein Dorn im Auge. Diese Anstalt nahm von ihrer Eröffnung bis zum Ende des Jahres 18421461 Irre auf.[59] Von diesen gehörten zum »Stande« der Beamten (Militärpersonen, Ärzte, Lehrer): 255; der Rentner: 28; der Ackerbauern: 162; der Handeltreibenden: 177; der Gewerbetreibenden: 528; der Gewerblosen und Tagelöhner: 311. Der soziale Schwerpunkt der Anstaltsfürsorge lag also auf der Klasse der Handel- und Gewerbetreibenden.

Es ist natürlich unsinnig anzunehmen, daß nur bürgerliche Schichten für heilbaren Wahnsinn prädisponiert gewesen seien. Hier muß man das Verfahren der Anstaltsaufnahme unter die Lupe nehmen.[60] Der Direktor der Siegburger Anstalt entschied über den Unterbringungsantrag nach Akteneinsicht. Anträge konnten von Behörden, aber auch von Privatpersonen gestellt werden. Ihnen war jeweils ein ärztliches Gutachten beizugeben. In ihm sollte der Zustand des Kranken, vor allem aber das erste Auftreten seiner Krankheit vermerkt sein. Die Gemeinden ließen meist den zuständigen Armenarzt gutachten. Neben der Schwere der Symptome bildete der Zeitpunkt der Krankheit das Hauptkriterium für die Heilbarkeit. Man folgte hier der damals gängigen Meinung, daß Geisteskrankheit nur im Frühstadium heilbar sei. Damit entledigte man sich natürlich der sogenannten ›schweren‹ Fälle, d.h. der chronisch Kranken, die weiterhin in städtischen Armenasylen ihr Dasein fristen mußten.

Abb. 1Carl Wigand Maximilian Jacobi (1775–1858), Direktor der Heilanstalt zu Siegburg und prominenter Vertreter der »somatischen« Schule im Richtungsstreit der Vormärz-Psychiatrie

Der Direktor der Siegburger Anstalt war einer der hartnäckigsten, aber auch erfolgreichsten Reformpsychiater des frühen 19. Jahrhunderts: Carl Wigand Maximilian Jacobi (1775 – 1858). Ohne die Entschiedenheit Jacobis wäre Siegburg schon sehr bald in das dunkle Loch der repressiven Verwahrpsychiatrie zurückgefallen. Jacobi war der jüngste Sohn des Dichters und Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), der Wegbegleiter Goethes in dessen »Sturm und Drang«-Jahren gewesen war. Verheiratet war Maximilian Jacobi mit der Tochter von Matthias Claudius (1740 – 1815