Der Vogel hat keine Flügel mehr -  - E-Book

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Beschreibung

»Peter war wie eine Sternschnuppe in meinem Leben ...« Angelika Schrobsdorff Die Briefe Peter Schwieferts an die Mutter, die mit den Töchtern Angelika und Bettina im bulgarischen Exil lebt, sind ein einzigartiges Dokument: Es sind die Briefe eines jungen Mannes, der mit zärtlicher Sehnsucht an seiner Mutter hängt und nichts mehr erhofft als ein Wiedersehen, während der Krieg die beiden für immer trennt. Peter, der junge einundzwanzigjährige Sohn aus bürgerlichem, assimiliertem Haus, verlässt Deutschland 1938. Er, der ›Halbjude‹, erklärt sich als Jude und begibt sich auf eine Odyssee durch halb Europa und den Nahen Osten, bevor er schließlich mit den Truppen des Freien Frankreich gegen Hitler kämpft. Ein politischer Kampf, aber auch ein persönlicher – für das, was für ihn größte Bedeutung hat: neben Kunst und Schönheit, Freiheit und Würde. - Ein einzigartiges, intimes und zeitgeschichtliches Dokument – mit zahlreichen Photographien und Faksimiles  

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Seitenzahl: 653

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Angelika Schrobsdorff (Hg.)

Der Vogel hat keine Flügel mehr

Briefe meines Bruders Peter Schwiefert an unsere Mutter

Mit Kommentaren vonAngelika Schrobsdorff und Claude Lanzmann

Mit einem Nachwort vonUlrike Voswinckel

Deutscher Taschenbuch Verlag

Deutsche Erstausgabe 2012

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© Bildteil: Alle Photos, deren Urheber im Einzelnen nicht mehr ermittelt werden konnten, stammen aus dem Privatbesitz von Angelika Schrobsdorff.

Rechtmäßige Ansprüche werden jederzeit angemessen vergütet.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41627-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28008-2

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

Inhalt

Erster Teil

Claude Lanzmann – Eine Vorbemerkung

Die Briefe I

Bildteil

Zweiter Teil

Claude Lanzmann – Zwischengedanken

Die Briefe II

Anhang

Gesuch des Peter Schwiefert

Ulrike Voswinckel – Nachwort

Alle kursivierten Passagen im Text stammen von Angelika Schrobsdorff. Die Anmerkungen von Claude Lanzmann wurden der französischen Ausgabe entnommen, für die deutschsprachige Ausgabe wurden sie zum Teil ergänzt, insbesondere bei den Briefen. Die Textgestalt der Briefe folgt der in den 70er Jahren für die französische Ausgabe erstellten Abschrift; sie wurde heutigen Regeln behutsam angeglichen. Die Übersetzung der Briefe und Texte, die auf Französisch oder Englisch verfasst wurden, besorgte Ulrike Voswinckel.

Der Verlag dankt besonders Susanne Strajnic, Ulrike Voswinckel und Jürgen Wallenstein, sowie Claude Lanzmann, der uns das Recht zum Abdruck seiner Texte großzügig einräumte. Sie alle haben zum Entstehen dieses Buches wesentlich beigetragen.

Peter war wie eine Sternschnuppe in meinem Leben, ein leuchtender kleiner Himmelskörper, der einem entgegenfällt und erlischt. Physisch erlischt. Geistig habe ich ihn zwanzig Jahre später kennengelernt, durch seine Briefe an meine Mutter.

Angelika Schrobsdorff,»Du bist nicht so wie andre Mütter«

ERSTER TEIL

Eine Vorbemerkung

Peter Schwiefert wurde 1945 im Alter von siebenundzwanzig Jahren getötet, und seine privaten Briefe, die hier vorgestellt werden, sind alles, was er hinterlassen hat. Wenn er die Absicht gehabt hatte zu schreiben, dann ließen ihm die geschichtlichen Umstände keine Zeit dazu, so sehr hatte er zu kämpfen mit dem Überleben im Elend des Exils und später als Soldat im Krieg.

Die sechzig Briefe, die er mit Ausnahme des letzten zwischen Dezember 1938 und März 1941 an seine Mutter geschrieben hat, sind herzerschütternde Dokumente, die gerade dadurch so anrühren, weil sie absolut privat sind: Ein Mann, ein sehr junger Mann, der bis ins Herz hinein in die geschichtlichen Ereignisse verwickelt ist, legt sozusagen unwillentlich Zeugnis ab. Aber mehr als diese Zeugenschaft von den Dramen und Zerreißproben der Emigration und von der Art, wie die verschiedenen Mitglieder einer deutschen Familie auf den Nationalsozialismus reagierten, sind diese Briefe eine angstvolle Befragung einer jüdischen Mutter durch ihren »halbjüdischen« Sohn; leidenschaftlich geliebte Mutter, die aber unaufhörlich infrage gestellt und aufgefordert wird, Entscheidungen zu treffen und sich einer Situation gewachsen zu zeigen, die sie nicht bedenken will oder kann. Es ist der Sohn, der jeden möglichen Kompromiss ausschließt und sich vollkommen zum Judentum bekennt, während die Mutter schwankt. Ihn, den jungen Mann, von Rilke und Rimbaud beseelt, führte eine radikale Verweigerung zu einer Sprache von extrem politischer Modernität und entsprechend auch zum Handeln. Das war genug, um unter den damaligen Umständen ein exemplarisches und tragisches Schicksal zu erfüllen.

Der erste Brief von Peter Schwiefert aus Faro, damals ein kleines portugiesisches Dorf, ist auf den 6. Dezember 1938 datiert. Er hatte seine Heimatstadt Berlin Ende Oktober desselben Jahres verlassen. Portugal sollte für ihn nur eine Etappe sein, er hatte vor, nach Südamerika zu emigrieren. Gerade einundzwanzig Jahre alt, ohne Beruf und Geldreserven, sah er sich gezwungen, in Faro zu bleiben, wo er während der ersten Monate in großer Armut lebte. Sein Vater, der Dramatiker Fritz Schwiefert, und sein Stiefvater (der zweite Mann seiner Mutter, den er in seinen Briefen Onkel Schr. nennt) fanden seine Entscheidung völlig unangemessen und leichtsinnig und verstanden nicht, dass der Träger eines perfekt deutschen Familiennamens – und unter ihrem Schutz stehend – aus freien Stücken das Exil wählte; sie hatten ihm jede finanzielle Unterstützung verweigert. Auch seine Mutter selbst zog die Aufrichtigkeit seiner Motive in Zweifel.

(Ist es erlaubt, ein kompliziertes Privatleben zu haben, wenn die Geschichte selbst kompliziert und verrückt wird? Die Mutter von Peter – eine überaus verführerische Frau, um die man sich riss in Berlin – hatte drei Kinder, Peter, Bettina, Angelika, von drei verschiedenen Männern, alle nicht jüdisch ... Drei Kinder also, Halbbruder, Halbschwestern, alle »Halbjuden«. Und drei ganz verschiedene Schicksale.)

Vom ersten Brief an ist die Angst des jungen Mannes offensichtlich: Weniger als einen Monat zuvor, in der Nacht vom 9. zum 10. November – in der berüchtigten »Kristallnacht« –, hatte die Jagd auf die Juden in Deutschland einen Höhepunkt erreicht. Diesmal handelt es sich um ein richtiges Pogrom, das im ganzen Land von der Regierung selbst organisiert worden ist. Ohne Nachrichten von seiner Mutter fürchtet Peter Schwiefert das Schlimmste. Aber er fürchtet auch, dass sie als Preis dafür, in Berlin bleiben zu können, ihre Herkunft verleugnen würde.

Es ist wahr, dass die Mutter bis zum letzten Augenblick gehofft hat, dank ihrer christlichen Ehe durch die Maschen des enger werdenden Netzes schlüpfen zu können. Erich Schrobsdorff, der Vater ihrer jüngeren Tochter Angelika, tat alles, was ihm möglich war, um sie zu beschützen, ebenso wie ihre beiden Töchter. Die »Kristallnacht« bezeichnete, so wie es die Nazis gewollt hatten, das Ende dieser Illusionen. Die assimiliertesten, die respektabelsten, die blindesten der deutschen Juden mussten einsehen, dass sie dem allgemeinen Schicksal nicht entkommen würden. Einige Wochen nach der freiwilligen Abreise ihres Sohnes sah sich die Mutter gezwungen, ihre eigene Emigration ins Auge zu fassen. Wohin sie gehen würde, wann und wie, das wusste sie noch nicht. Aber man wird sehen, dass sie den Tod in der Seele trug ...

Claude Lanzmann, »L’Oiseau n’a plus d’ailes ...« 1974

Die Briefe I

Faro, 6. Dezember 1938

Liebes Muttilein!

Ich bin unendlich unruhig. Was ist geschehen, dass Du mir nicht antwortest? Ich habe seit nahezu einem Monat keine Nachricht von Dir. Lass mich bitte nicht in dieser Sorge. Ich bin nicht so weit aus der Welt, als dass ich nicht um alles wüsste. Ist Euch etwas zugestoßen? Bist du krank? Ich flehe Dich an: schreib mir sofort, und wenn es auch nur einige Zeilen sind.

Ich ersehne Deine umgehende Nachricht und bin Dir in Gedanken und Wünschen immer nah. Sei tapfer, kleine Frau, glaube an die Wendung. Sie kommt. Sie kommt immer. Kann Dir meine Liebe etwas helfen? Ach, wie töricht ich bin! Es kann ja nichts helfen als das eigene Leiden.

Du, dies will ich Dir ins Herz sprechen: verleugne und verfluche nicht Dein Judentum und das Deiner Kinder! Es ist Deine ganze Kraft, Du sollst keine Märtyrerin sein, Du sollst nur lieben, was Dir aufgegeben wurde als eine Auszeichnung. Es ist eine Auszeichnung. Es ist ein schwerer Auftrag. Vergiss es nicht, dass Du allem entkommen kannst, aber nie Dir selbst.

Mit dem innigsten Gebet für Euch alle bin ich

Dein Peter

Faro, 10. Dezember 1938

Meine Liebe,

ich habe verstanden und werde schweigen.

Ich wusste das alles nicht so genau. Ich hatte nur vage Nachrichten. Ich vernahm sie, begriff sie aber nicht. Ich konnte sie nicht zusammenfassen zu dieser Schwere. Erst Dein Brief hat Klarheit gebracht. Für mich erwarte ich nichts, habe es auch in den letzten Wochen nicht mehr getan. Um mich hatte und habe ich keine Sorge. Aber ich schäme mich jetzt, dass ich nur an mich dachte und über dem Eigenen alles andere vergaß. Ist es zu spät?

Ich arbeite schon. Ich gebe deutsche Stunden, werde sie ausbauen und versuchen, in der Stadt Kurse einzurichten. Ich werde tun, was ich vermag, und wenn es so nicht geht, dann auf andere Weise. Ich habe mich radikal auf das Mindestmaß des Notwendigen eingeschränkt. Ich will Dir helfen. Ich stehe Dir ganz zur Verfügung. Wenn Du mich brauchst, so sage es mir. Ich werde kommen. Ich verspreche es Dir. Wenn ich Dir irgendetwas erfüllen, Dir irgendeine Hilfe sein kann – und sei es mit dem Geringsten –, es bedarf nur eines Wortes von Dir. Alles, was ich habe, gehört Dir.

Ich schlage Dir folgendes vor: Lissabon und mein Haus. Es ist eine Möglichkeit.

Ich habe Dir zwei lange Briefe geschrieben, die Du offenbar nicht erhalten hast. Den Deinigen hatte ich seit Wochen erwartet. Auch von Liena1 höre ich nichts mehr. Es ist möglich, dass meine Mitteilungen überhaupt nicht ankommen. Ich wiederhole mit größter Aufrichtigkeit: meine Person und mein Wollen sind unwichtig geworden. Jegliche Teilnahme erübrigt sich.

Dass unter anderen Umständen meine »lyrischen Träume«, wie Ihr es nennt, eine wenn auch ferne Berechtigung haben, musst Du einsehen. Dadurch, dass ich allein war, mit keiner Hilfe mehr rechnete und meinen eigenen Weg gehen musste, ergab sich auch ein eigenes Maß2. Nun gilt ein anderes, denn ich bin nicht mehr allein. Ich habe alles erkannt und will nur noch helfen, mithelfen und mein Teil geben, soweit es in meinen Kräften steht. Glaub mir das!

Schreibe mir, küsse die Kinder und Deine Eltern. Ich bin immer bei Dir. In unendlicher Hoffnung und Liebe,

Dein Peter

Faro, 20. Dezember 1938

Meine geliebte Mutti!

Ich bin zu Weihnachten bei Euch – bei Dir, den Kindern und den Großeltern – und umarme Euch so fest wie nie zuvor. Die Weihnacht ist ja nicht wichtig, sondern nur die Gemeinsamkeit und die stille Freude, beieinander zu sein.

Es gibt nicht viel zu sagen. Meine Wünsche sind nicht aussprechbar. Wenn es nur irgend angeht, seid ein klein wenig ruhig. Und ich bitte Euch: habt mich lieb, so wie ich Euch liebe. Ich will Euch die Liebe zeigen, es soll nicht bei Worten bleiben. Ich will alles, alles tun, um Euer Sohn und Bruder zu sein. Jetzt bin ich Euch wirklich ganz nahe und fühle, dass wir uns nicht vergleichen können. Ihr wiegt zu schwer. Ach, ich kann nicht sprechen. Was soll ich auch sagen? Seid stark und haltet Euch aufrecht. Ich will Euch Gutes tun und helfen mit aller meiner Kraft. Vielleicht könnt Ihr mich doch brauchen. Das wäre mein schönstes Geschenk.

Zum neuen Jahr: Hoffnung und noch mal Hoffnung für alles, was in ihm kommen mag.

Eben habe ich einen Brief von Onkel Schr. erhalten. Ich will nicht eingehen auf die maßlosen Unterstellungen, Verfälschungen und Beleidigungen dieser »witzigen« Version von Gedanken und Aussagen, die ich nie gedacht und nie getan habe. Ich will mich nicht verteidigen. Es ist mir unendlich gleichgültig, was die Herren in Deutschland von mir denken. Und sie selbst sind mir genauso egal. Ihnen bin ich schon lange keine Rechenschaft mehr schuldig, und auf das Interesse, das sie freundlicherweise »immer noch« für mich haben, verzichte ich dankend. Sie sollen sich zum Teufel scheren und mich in Ruhe lassen mit ihrer »Meinung«. Ich will nichts von ihnen – nichts und von keinem. Zu sagen, dass ich mit meinen Briefen auf eine »Teilnahme« spekulierte, ist weiter nichts anderes als eine Frechheit. Ich brauche nichts, denn glücklicherweise hatte ich besser geplant, als es die Herren von einem lyrischen Nichtstuer annehmen. Ich werde auch keine »philosophisch untermauerten« (welch prächtiger Ausdruck!) Briefe mehr schreiben, die die Adressaten in irgendeiner Form behelligen könnten. Das Vorhergegangene ist mir eine gute Lehre gewesen. Dass ich mich Dir nicht verständlich machen konnte, ist bedauerlich, wenn auch jetzt nicht mehr wichtig.

Dir aber, aber nur Dir will ich zweierlei wiederholen. Erstens war ich nicht informiert, da ich keine Zeitungen las, selten in die Stadt kam und nur durch Zufall und erheblich verspätet von den Ereignissen erfuhr; wie ich schon sagte, waren diese Nachrichten unbestimmt, und ich erfasste sie einfach nicht – Gott weiß warum. War es, dass ich schlief, dass ich nicht das Neue, sich von früher Unterscheidende sah, dass ich in diesem Moment wirklich fern von jedem Geschehen war – war es alles zusammen oder anderes: es ist mir tatsächlich unmöglich, es zu erklären. Aber nie war es ein Nicht-verstehen-wollen, ein Egoismus, der die Dinge robust von sich schiebt. Zum anderen: Ich kann Dir vielleicht in nichts helfen. Du kennst meine Situation, und es ist ja jetzt nutzlos festzustellen, dass sie anders hätte sein können. Ich habe in meinem ersten Brief versucht, Dir sachlich meine beruflichen Chancen im Leben klarzumachen. Du weißt, dass ich nichts gelernt habe, und kannst Dir demnach ausrechnen, dass meine Möglichkeiten derart beschränkt sind, dass sie im besten Falle – es müsste denn ein Wunder geschehen – gerade ausreichten, um mich über Wasser zu halten. Dazu kommt, dass mir bis heute und höchstwahrscheinlich auch noch in den nächsten Wochen die Hände gebunden sind, da meine Niederlassung noch nicht legalisiert ist, und ich aus diesem Grunde keine Arbeitserlaubnis bekomme – das sind die Tatsachen.

Das Einzige also, was ich Dir geben kann, ist meine uneingeschränkteste Bereitwilligkeit. Nur das, was ich in der Tat besitze, kann ich Dir zur Verfügung stellen. Das ist nicht viel mehr als meine Hände und das bisschen Intelligenz. Wenn Dir das nützen kann, dann genügt ein Wort von Dir, um mich zur Stelle sein zu lassen. Aber auch, wenn Du mich nicht brauchst und ich Dir im Moment wirklich nicht helfen kann, will ich alles tun, im praktischen Sinne alles versuchen, um Dir einmal eine Hilfe zu sein.

Noch dies: nur an Dich, Deine Kinder und Deine Eltern richte ich mich in Zukunft3. Nur für Euch bin ich da und willig. Nur Euch will ich meine Liebe erweisen – mit und ohne Verständnis und wie Ihr auch über mich denkt. Alle anderen sollen mich verschonen mit ihren Gedanken und Urteilen (so, wie auch ich nichts mehr tun werde, um mich in Erinnerung zu bringen). Sie sind mir maßlos uninteressant, und ich verzichte auf alles, was von ihnen kommt. Das Odium der Undankbarkeit nehme ich liebend gerne auf mich, denn bei dem Bild, das man sich von mir macht, fällt das wohl kaum noch ins Gewicht.

Da Du ja bisher meine Briefe zum Besten des erhabenen Volkes gegeben hast, bitte ich Dich, auch diese Worte denen zu übermitteln, die sie angehen. –

Meine Lieben, verzeiht mir das Letzte. Ich denke an Euch – immer. Nehmt alles von mir und seid innigst geküsst von

Eurem Peter

Faro, 20. Januar 1939

Meine liebe kleine Mutti!

Ich war vierzehn Tage in Lissabon, um die Angelegenheit mit meiner Aufenthaltserlaubnis zu regeln, die sich wie alle amtlichen Dinge hinzog. Wenn auch nicht angenehm, da teuer, so war die Reise doch nötig, denn ich habe die Bewilligung nun endlich erhalten und hoffe, keine Schwierigkeiten mehr zu haben, wenn ich jetzt energisch mit den Stunden beginnen will.

Ich werde nun also deutsche und englische Stunden in Olhão und Faro geben und, wenn ich am ersten Februar anfangen kann und genug Schüler habe, jeden Abend mit dem Omnibus in die Stadt fahren. Nebenbei hoffe ich, Übersetzungen machen zu können. Aber es muss sich erst alles einlaufen.

Ich weiß gar nichts mehr von Dir. Wie ist Deine Stimmung? Hast Du Mut? Ach, Du wirst sehen, es wird sich alles ergeben, und Du wirst noch einmal lachen, dass Du so viele Zweifel hattest.

Ich will Dir von einer für mich wichtigen Entscheidung berichten. Ich bin des festen und unumstößlichen Willens, zum Judentum überzutreten.

Ich habe lange darüber nachgedacht und habe mir Rechenschaft gegeben.

Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich es tun muss, um Klarheit und Sauberkeit zu schaffen. Ich bin Jude und will nichts anderes sein als Ihr und alle anderen. Ich gehöre zu Euch und will es auch äußerlich festgestellt wissen. Ich weiß sehr wohl, was es bedeutet, und werde den Weg, einen schwierigeren Weg, gehen wie alle anderen. Mit welchem Recht soll gerade ich begünstigt sein? Ich will die Begünstigung nicht, und sei sie auch noch so gering. Du weißt, was ich denke. Du kennst meine Verwandtschaft mit allem Jüdischen, ich sehe keinen Unterschied, und ich erkenne ihn nicht an. Der Übertritt ist für mich natürlich und eine Notwendigkeit. Ich will mich nicht länger verwischen oder verwischen lassen. Ich erfülle nur eine Pflicht mir gegenüber. Der Übertritt ist kein religiöser. Ich kenne keine christliche oder jüdische Religion. Das Judentum als solches ist aber die einzige Form der jüdischen Existenz, und ich habe keine Möglichkeit, mich auf andere Weise zu dokumentieren. Also werde ich das Mögliche tun.

Seltsam (und ich musste oft lächeln) ist die Reaktion der Juden auf meinen Wunsch. Alle beschwören mich, es zu unterlassen. Alle, aber auch alle kommen mit praktischen Erwägungen. Es ist mir auch in Portugal unmöglich, die Formalitäten zu vollziehen. Ich sprach mit einem Herrn der sephardischen Gemeinde. Er fragte mich immer wieder nach meinen Gründen und betrachtete mich wie ein seltenes Tier. Außerdem als Christen. »Wir nehmen niemand auf«, sagte er. Mit Kopfschütteln verabschiedete er mich. Er muss ein sehr guter Jude sein.

Mir blieb vorläufig nur eines (und damit ergeben sich auch praktische Veränderungen – allerdings anderer Art), ich habe am vierzehnten Januar auf dem deutschen Konsulat in Lissabon eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass ich willens bin, zur jüdischen Religionsgemeinschaft überzutreten, und den formellen Übertritt, sobald ich dazu in der Lage bin, vollziehen werde. In gleicher Erklärung bat ich, mich schon jetzt als Juden zu betrachten und die Gesetze auch auf mich anzuwenden.

Wird die Erklärung in Berlin als gültig befunden, so werde ich den Vermerk »J« in meinen Pass bekommen und den Vornamen Israel4 annehmen. Ich bin damit vollgültiger Emigrant und kann nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Außerdem wird man mich dann in einiger Zeit ausbürgern. So sagt das Konsulat.

Wie sich die Dinge in dieser Frage entwickeln, weiß ich noch nicht. Auf jeden Fall werde ich offiziell übertreten, sofort, wenn sich eine Gemeinde bereiterklärt.

Denk Dir, mein Kater Nicky ist gestorben. Er hat sich scheinbar vergiftet, und es war schon zu spät, als ihm der Tierarzt ein Mittel gab. Er starb in meinen Armen auf dem Rückweg von der Stadt. Die Südländer sind mit Tieren von einer Rohheit, die nicht wiederzugeben ist. Sie hatten sich überhaupt nicht um ihn gekümmert und sagten nur: »Ja, ja, er wird wohl sterben. Nun, wir werden einen anderen arrangieren.« Als ich dann zum Tierarzt lief, herrschte allgemeine Heiterkeit. Ich hätte sie schlagen mögen, diese Weiber.

Muttilein, leb wohl. Gib mir endlich nähere Nachrichten. Mach’s gut. Ich bin immer bei Dir. Ich umarme Dich,

Dein Peter

Faro, 21. Januar 1939

Lieber Papa!

Ich möchte Dir folgende Mitteilung machen:

Ich habe am vierzehnten Januar auf dem deutschen Konsulat in Lissabon eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass ich des Willens bin, zum Judentum überzutreten, den Übertritt, sobald ich dazu in der Lage bin, vollziehen werde und deshalb bitte, mich schon jetzt als Juden zu betrachten und dementsprechend die geltenden Gesetze auch für mich in Anwendung zu bringen.

Wird diese Entscheidung in Berlin als gültig erkannt, so erhält mein Pass den Vermerk »J«, und ich werde den Namen Israel annehmen. Damit bin ich meinen Pflichten dem Deutschen Reich gegenüber enthoben (z. B. was die Wehrdienstfrage anbetrifft), vollgültiger Emigrant und nicht mehr in der Lage, nach Deutschland zurückzukehren. Außerdem steht dann zu erwarten, dass ich diesen Tatsachen zufolge in absehbarer Zeit ausgebürgert werde.

Ich gebe Dir diese Information, um eventuellen Nachfragen, die Dich unvorbereitet treffen, und Ungelegenheiten, die Dir daraus entstehen könnten, zuvorzukommen.

Herzlichst,

Dein Peter

Faro, 21. Januar 1939

Meine kleine Mutti!

Ich danke Dir für Deinen Brief. Verzeih, wenn ich Dir den meinen durch Liena zuschicken lasse, aber die Briefmarken sind entsetzlich teuer, und ich muss doch sparen.

Wie war nun Euer Weihnachten. War es Euch sehr schwer? Bei mir konnte ja von »Feiern« nicht recht die Rede sein. Es war mir aber auch wirklich nicht wichtig. Ich saß am Heiligabend bei meiner »Familie« – als da sind: Carmo mit ihren beiden Kindern, meine Wirtin Rosaria mit ihrer Tochter und der Hausknecht Antonio, der mit einer geradezu göttlichen Einfalt gesegnet ist. Ja, wir gehören nun schon fest zusammen und bilden sozusagen einen einigen Block in der Marine-Gesellschaft. Ich nehme allerdings – fast gegen meinen Willen – eine bevorzugte und irgendwie patriarchalische Stellung ein und werde mit großer Zuvorkommenheit behandelt. Ich esse ja nun auch seit dem fünfzehnten Dezember mit der Familie zusammen, und Carmo sorgt hervorragend für mich. Zu Weihnachten also machte ich den Weihnachtsmann, indem ich jedem ein kleines Geschenk überreichte, was bei den Kindern große Freude auslöste, da sie sonst nichts geschenkt bekamen. Das war ja nun sehr schön, und auch die Damen vermochte ich zu beglücken, indem ich ihnen Photos von mir gab, die sie sich gewünscht hatten. Diese stehen nun in den verschiedenen »Salons« und bilden den Stolz des Inhabers. Das Fest mit der »Bescherung« wäre damit eigentlich beendet gewesen, wären wir nicht plötzlich auf die Idee gekommen, zur Mitternachtsmesse in die Stadt zu gehen. Dies geschah, und ich hörte und sah die erste Messe meines Lebens. Wenn ich ehrlich sein soll, war der Eindruck überraschend gering. Die Kirche ist nicht gerade hässlich, aber die diversen ausdruckslosen Heiligen, gekleidet in den farbenprächtigsten Plunder, und besonders ein heiliger Sebastian in Ritterrüstung, sind unerträglich. Eine wie immer geartete Feierlichkeit tat sich nicht hervor, es war dazu viel zu geschäftsmäßig, und der Chor hatte offenbar niemals etwas von Takt gehört. Bemerkenswert war nur der eine Messdiener, der sich bewegte wie ein Shakespeare’scher Bedienter und auch so aussah. Nun ja, es ist etwas Seltsames um die Einrichtung der Kirchen, und in dieser Stunde wurde mir besonders klar, wie sinnlos sie im Grunde sind und wie unendlich wenig sie mit Gott (und sei er auch der katholische) zu tun haben.

Über das Neue Jahr gibt es nichts zu sagen. Es kam lautlos.

Auch über mich gibt es wenig zu berichten. Es ist nicht leicht, und Du weißt ja, dass alles sich immer schrecklich in die Länge zieht. Aber ich werd’s schon schaffen. Wenn Du sagst, dass mich die Umwege meinem Ziel nähern, so ist das etwas, was ich ja schon lange wusste. Ich wollte mich auch gar nicht davor bewahren, nur hatte ich so meine eigene Zeitrechnung, Dass sie nun umgeworfen wurde, ist nicht erheblich, da ja in einem selbst vieles sich verändert. Außerdem verliere ich ja nun nicht mehr, was ich mir einmal erworben habe, und wenn diese Klarheit lebt, ist alles notwendig, was kommen soll, und gerade das Unvorhergesehenste und scheinbar Schwerste ist das tiefste Bedürfnis.

Küsse die Kinder und die alten Leutchen,

Ich umarme Dich,

Dein Peter

In dieser Zeit stand unsere Mutter vor der bitteren und nicht mehr aufschiebbaren Entscheidung, Deutschland zu verlassen. Damals lebte sie schon einige Jahre von meinem Vater getrennt. Die menschliche Beziehung zwischen meinen Eltern war ungewöhnlich gut, nicht aber die Ehe, an deren Scheitern sich unsere Mutter die Schuld gab. Eine gemeinsame Emigration meiner Eltern stand daher auch nicht zur Debatte, wohl aber hoffte unsere Mutter, durch die Ehe mit einem Christen geschützt, in Deutschland bleiben zu können. Sie hoffte bis kurz vor Toresschluss, erkannte dann aber die Gefahr und erklärte sich bereit, Deutschland zu verlassen. Wann, wie und wohin sie gehen sollte, stand noch nicht fest. Schließlich wurde das Problem der Emigration folgendermaßen gelöst: Bulgarische Freunde meiner Eltern hatten einen Bulgaren (Dimiter Lingorsky) vermittelt, einen herzensguten, jungen Mann, der sich für eine gewisse Geldsumme bereiterklärte, mit unserer Mutter eine Scheinehe zu schließen. Auf diese Weise kam sie in den Besitz eines bulgarischen Passes und zu gegebener Zeit unbehindert über die deutsche Grenze. Meine Eltern ließen sich scheiden, was zu einem Nervenzusammenbruch unserer Mutter führte. Die Eheschließung mit dem Bulgaren sollte, um keinerlei Verdacht zu erregen, auch kirchlich vollzogen werden. Zu diesem Zweck begann sich unsere Mutter mit dem russisch-orthodoxen Glauben zu beschäftigen. Sie geriet dabei an Vater Johann (Père Jean), einen russischen Popen und ehemaligen Fürsten. Dieser Mann mit dem schweren goldenen Kreuz auf der Brust und dem schönen durchgeistigten Gesicht eines Christus übte eine derart starke Faszination auf unsere Mutter aus, dass sie in ihm und seinem Glauben die Rettung zu sehen begann. Was zuerst nur opportunistische Klugheit und praktische Erwägungen gewesen waren, wurde jetzt zu einem aufrichtigen Suchen nach religiösem Glauben. Sie ließ sich taufen und von Vater Johann in der russisch-orthodoxen Kirche trauen. Peter, der zur gleichen Zeit, da unsere Mutter zum Christentum übertrat, zum Judentum konvertieren wollte, nannte es nicht zu Unrecht eine »Groteske«.

Faro, 13. Februar 1939

Meine liebe Mutti!

Dein Zusammenbruch hat mich dadurch, dass Du mir mitteiltest, ihn überwunden zu haben, nicht weniger erschreckt. Bitte, mach mir keine Geschichten! Bist Du völlig wiederhergestellt? Bitte, sage mir auf das Genaueste, wie es Dir geht. Du wirst Dir denken können, dass ich mir nicht geringe Sorgen mache. Kannst Du nicht versuchen, Dich ganz auf das Kommende zu konzentrieren? Damit nähmest Du der Gegenwart, indem Du sie betäubst, ihren gefährlichsten Einfluss. Du musst Dich zwingen, sie nicht mehr auf Dich wirken zu lassen als unbedingt notwendig. Dir bleibt keine andere Möglichkeit, denn an sich sind die Folgen nicht erstaunlich. Aber bist Du Deinem vorläufigen Ziel nicht schon nah genug, um Dich nach ihm auszurichten?

Ich hoffe, Du bist es. – Sind das sehr läppische Dinge, die ich da rede?

Ich möchte Dich dringendst bitten, meine wiederholten Nachfragen über Deine Lage nicht ganz zu übergehen. Sie haben für mich nicht nur allgemeines und natürliches, sondern auch überaus reales Interesse.

Ich muss jetzt wissen, worum es sich handelt. Du weißt, dass wir in unserer Situation täglich vor Entscheidungen stehen und deshalb mehr als klare Sicht benötigen. Ich nehme nicht an, dass es in Deinem Sinne ist, dass wir uns ganz voneinander entfernen. Ich jedenfalls lege größten Wert auf eine jederzeit mögliche Verbindung – nicht etwa zu meinem Nutzen. Aber diese Dinge sind ja selbstverständlich – also bitte sei so lieb und gib mir Antwort. Was wirst Du mit Angelika und Bettina tun? –

Ich selbst habe keine Pläne, die Dir nicht bekannt wären. Was sollte ich schon tun? Ich bleibe natürlich hier und hoffe nur, dass sich meine »Lehrtätigkeit« etwas entwickelt. Bis jetzt ist es sehr spärlich, aber daran ist zweifellos der Karneval schuld. Im März wird es sich wohl leidlich anlassen – so versichert man mir wenigstens allerorten. – Nun zu unserer »Groteske«.

Vor allem sollst Du wissen, dass auch für mich vielleicht das Wichtigste ist, dass Dir dieser Schritt aus der Depression geholfen und Dich aufgerichtet hat, wo Du der Aufrichtung doch so sehr bedarfst. Vor allem geht es ja um Deine Kraft.

Dies sage ich Dir vorher – und es ist die Wahrheit –, da ich nicht weiß, was ich noch alles sagen werde.

Deine Ironie, die mich nicht so arg berührt, wie Du Dir wohl wirst denken können, ist nicht schön. Du solltest nicht andere Entscheidungen belächeln, wo Deine eigene – objektiv betrachtet – zwar nicht belächelt, aber bedauert werden kann. Deine Ironie ist etwas krampfhaft. Du weißt zu gut, dass Du Dir etwas vormachst, obgleich Du immer behauptest, nur ich mache mir etwas vor. Vielleicht ist es in Deinem Fall richtig, ja unumgänglich, dass Du Dir etwas vormachst – ganz im Gegensatz zu dem meinen. Ich will damit sagen, dass Du Dich in den Zynismus rettest und retten musst, wie dies immer geschieht, wenn die eigene Position nicht ganz hieb- und stichfest ist.

Denn – weiterhin objektiv gesprochen – es gibt die Notwendigkeit der Taufe nicht. Es hat sie nie gegeben, selbst in den wüstesten Zeiten nicht, gegen die die unsere trotz allem ein Kinderspiel ist. Das weißt Du, und deshalb wirst Du zur Ignorantin. Du könntest diesen Schritt überhaupt nur unter einer Voraussetzung tun: Dich zu der Auffassung zu zwingen, dass »es nicht darauf ankommt« und dass opportunistische Klugheit obenan steht. Denn Dein stärkstes Argument ist das schwächste. Die zugegebene katholische Neigung, der Gewinn, der Dir aus dieser Verbindung entsteht, die, abgesehen von der überwiegend ästhetischen, seelische Befriedigung und Stärkung schafft, hat seine Berechtigung verloren. All diese Dinge, die ich Dir unbesehen glaube, sind schief durch die Wahl des Zeitpunktes. Du hast sechs Jahre lang Zeit gehabt – und hast nichts unternommen, da es nicht »notwendig« war. Wärest Du in dieser langen Spanne, in der die ganze Angelegenheit eine reine Glaubensfrage gewesen wäre, katholisch geworden, so wäre daran nichts zu deuteln. Nun aber, wo es seit fünf Jahren und am allermeisten heute nicht mehr um religiöse Neigungen geht, da besinnst Du Dich auf diesen eigentlich verjährten Wunsch und baust Dir daraus eine komplementäre Rechtfertigung auf. Es ist evident, dass es sich in diesen Tagen nicht um religiösen Glauben handeln kann und handelt – bei Dir nicht, bei mir nicht, bei keinem. Die ganze Frage hat sich in einer politischen Richtung entwickelt und ist aus einer persönlichen zu einer allgemeinen geworden. Es handelt sich nicht mehr um Judentum und Christentum, sondern einzig und allein um das Hep-Hep. Und dies gilt ja nicht dem jüdischen Glauben wie in den Zeiten der Inquisition, sondern dem jüdischen Menschen, weil er Jude ist. Es heißt: Haut den Juden! und man haut ihn. Der Jude kann sich schlagen lassen, kann sich zur Wehr setzen, kann lächeln und fragen: Was tut ihr mir schon damit? Kann jammern, kann beten. Kann listig sein und entwischen, kann klug sein, indem er das nächste Mal nicht auf die Straße geht – er kann alles tun, was die Stufenleiter menschlicher Reaktionen umfasst. Nur eins kann er nicht. Er kann nicht sagen: Ich bin’s ja gar nicht, den ihr meint.

Denn er ist’s immer und solange er lebt: Er mag jüdisch sein oder katholisch, Kosmopolit oder beseelt von glühendster Liebe zu Deutschland, er mag Lord Beaconsfield sein oder Moses Mosessohn aus der Frankfurter Straße, mag sein Judentum lieben oder hassen, hochhalten, hinnehmen oder verfluchen, mag zwanzig jüdische Großelternteile haben oder ... Halbjude sein – immer, immer ist er’s, und immer ist es ein ganz spezielles Hep-Hep, das ihm in die Ohren gellt. Er mag aussehen, wie er will – innen und außen.

Darauf kommt es an. Darauf, dass wir Juden SIND, wir mögen noch so viele Verwandlungen durchmachen. Es ist etwas in uns, ein nicht in Worte zu Fassendes, ein Rest auf dem tiefsten Grund unserer Seele – vielleicht nicht mehr als eine unbewusste Erinnerung oder ein ganz seltsam untergründiges Wissen – ein Etwas, das wir niemals sagen könnten, aber alle fühlen. Du und ich und alle, und das unablässig fortwirkt. Trotzdem Du Dein Judentum lässt, es abwerfen willst wie eine Schlange, die sich häutet, ist dieses Letzte in Dir. Und ich mag so unjüdisch sein wie ich will, so innerlich blond wie nur je ein Goi, auch in mir ist es. Hierin sind wir uns völlig gleich.

Und nun, wo wir Juden sind, wo keine religiöse Unterscheidung mehr verfängt – weder die meine sozusagen gebürtige noch Deine neu angenommene –, wird das Ganze zu einer Einstellungsfrage. Hierin sind wir uns ungleich: wir stehen auf zwei Ebenen – diesmal vollkommen ohne Verbindung.

Du musst ja wissen, was Du tust, und wie Du es vor Dir verantworten kannst. Wenn Du Dich schützen musst, wenn es eine Notwendigkeit war ... Aber ich kann Dich nicht verstehen. Ich bin wohl zu jung dazu. Ich kann mich nicht hereindenken in Deine Gedanken und diese Art von »Klugheit« – Mutti, verzeih mir, verzeih mir tausendmal. Du kennst mich, ich bin so anders, und warum soll ich es Dir nicht sagen – Du fühlst es ja sicher auch –: Ich bin sehr traurig, dass Du das getan hast. Es kam ganz unerwartet, und ich hatte nie an diese Möglichkeit gedacht. Deshalb antworte ich Dir auch so spät. Ich habe lange nachgedacht über alles, habe viele Male versucht, Dir zu schreiben, und glaubte, dass ich doch etwas finden würde, was Dich erklärt. Aber ich finde nichts. Ich kann Dich nicht verstehen. Was ich auch rede und wie ich es auch denke: es bleibt das Eine. Du kannst glühendste Katholikin sein, Du kannst Dein jüdisches Blut verabscheuen, Du kannst alles Jüdische hassen – es bleibt das Eine. Es sei denn, Du vermöchtest alles aus Dir herauszureißen und wärest es nicht mehr. Aber es zu SEIN und zu SAGEN: Ich bin es nicht mehr – das geht nicht,

Mutti, es mag ja sein, dass ich Unrecht habe, wenn ich so spreche.

Aber Du warst zu offen zu mir, als dass ich nicht wüsste, dass es bei Dir keine Äußerlichkeit ist, sondern tiefer geht, sehr tief, bis zur Verleugnung. Ich wünschte, ich wünschte brennend, Du wärest nicht so offen gewesen. Nenn mich beschränkt, einen Chauvinisten, einen Don Quixote, aber schau: man kann sich über alles hinwegsetzen, kann ein Fouché sein, ein Mephisto, kann Gott und die Welt verneinen (ich selbst negiere ja viel mehr als Du: Religion, Heimat) – es gibt ein Absolutes, wo wir nicht mehr hinreichen, nicht mit Überzeugung, nicht mit Ablehnung, ein Absolutes, wo Worte keinen Sinn mehr haben, wo Stolz und Ehre verwaschene Begriffe sind, weil sie sich blähen und spreizen und Marktschreier sind: Schaut her, schaut auf mich, was für ein Kerl ich bin! Ein Absolutes, das unser innerstes Wesen ausmacht und dieses Wesens innersten Kern, das sich allem entzieht, jeglicher Beurteilung und jeglichem Verständnis, da es GEGEBEN ist wie unser Leben, wie die Welt, Urexistenzen, die für uns ja auch ganz unerreichbar und unaussprechbar sind. Und diese jüdische Erscheinungsform ist mir und in mir das Absoluteste, das, was ich denken und fühlen kann, so wie es außerhalb von mir Gott, das Göttliche ist, von dem man ja auch nicht sagen kann: Ich glaub’ es – ich glaub’ es nicht.

Siehst Du, deshalb kann ich nicht über mich hinaus und mich zu dem Verständnis zwingen, für einen Menschen zwingen, dem dies fehlt – und sei dieser Mensch selbst meine Mutter. Da die Dinge so klar sind und mir meine Reaktion so selbstverständlich erscheint wie keine meiner früheren Handlungen, kann ich nicht begreifen, dass es überhaupt eine Wahl gibt zwischen Erkannt-Werden und Nicht-erkannt-Werden.

Du weißt, wie ich fremden Menschen in diesem Punkt gegenüberstehen würde. Du bist meine Mutter, ich liebe Dich und werde nicht aufhören, eine Erklärung zu suchen. Ich will nicht glauben, was ich nach allem Bisherigen glauben musste, und bitte Dich, bitte Dich inständig: versuche, mir eine Antwort zu geben, die mich die Dinge anders sehen lässt. Ich wollte erst sagen: Sprechen wir nicht mehr davon, aber das ist ganz unmöglich. Bitte sprich – vielleicht bist Du im Recht und ich ein Narr, ich wünschte nichts mehr – und wenn Du es jetzt nicht kannst, so sage mir, dass Du es tun wirst, wenn wir uns sehen.

Vielleicht verstehst Du mich aber jetzt etwas besser. Ich habe meinen Entschluss nicht gefasst, um ein anderer zu werden (ich weiß, dass ich nie ein Jude, wie Du ihn Dir vorstellst, sein werde), nicht, um irgendwem zu nützen oder gar zu kämpfen (wieso denn ein Don Quixote? Ich kämpfe doch nicht). Das alles hat ja gar nichts damit zu tun. Du missverstehst mich so völlig: Ich tat das doch nicht, um etwas zu ändern wie Du: Ich nehme doch nichts an, ich wechsle doch nicht über den Weg. ICH BIN JUDE UND SAGE ES, so wie ich es immer getan habe. Ist das denn etwas Besonderes, etwas Neues? Von anderen weiß man’s – die brauchen es nicht erst zu sagen. Von mir weiß man’s nicht – also muss ich es sagen. Das sind Selbstverständlichkeiten, Mutti, denn Du kannst tun, was Du willst, Du wirst es nicht ausradieren können, dass ich eine jüdische Mutter habe. Und das soll mir einmal leidtun, dass ich nicht verheimliche, was ich bin? Wieso sollte ich denn verkehrt lang denken – was hat denn überhaupt der Verstand damit zu tun? Ich hatte doch nie eine Wahl, ich habe mich doch nicht zu einem Standpunkt durchgerungen. Ich habe getan, was für mich zu tun das Natürlichste auf der Welt war, was sich ganz von selbst ergab. Innere Klarheit – äußere Klarheit, Angriff – Antwort. Aus. Ich bin DER GLEICHE geblieben, Mutti, und darauf kommt es an. Denn wie käme ich dazu, bitte, sage mir, wie käme ich dazu, mich einmal dazuzurechnen und das andere Mal nicht, weil es günstiger für mich wäre?

Dies soll das Letzte sein, was ich sage: Ich gehöre zu einer Gruppe von Menschen, die ein besonderes Leben lebt. Es ist ihre Aufgabe, diese Besonderheit nicht zu verbergen, sondern deutlich zu machen. Die Besonderheit ist kein Verdienst, sondern eine vieltausendjährige historische Tatsache. Die Völker mögen tun, was sie wollen: sie haben die Macht, sie lassen sie uns fühlen – gut, wir müssen und werden sie erleiden, ein jeder wie er kann. Uns bleibt nur eins: den Weg, den wir gehen müssen, gerade und aufrecht zu gehen – in dem Bewusstsein, nicht gezeichnet, sondern ausgezeichnet zu sein (diese Auszeichnung soll nicht Überheblichkeit bedeuten, sondern NUR Verpflichtung) und ... in Menschlichkeit. Die spätere Antwort wird nicht ausbleiben. Einmal wird sie gegeben – von vielen vielleicht, oder nur ganz wenigen, Einzelnen. – Was Onkel Schr. anbetrifft: Er endete seinen Brief mit dem ominösen Satz: an meinem Entschluss ändert sich nichts mehr (was für ein Entschluss um Gottes Willen? Glaubte »der Gute«5 im Ernst, dass ich nach Deutschland zurückkäme?). Also: auch an meiner Haltung ändert sich nichts mehr. Sollte ich ihm noch Dank schuldig sein, so danke ich ihm hiermit.

Muttilein, ich erinnere Dich an ein Versprechen: ein Bild von Dir. Viel Glück für alles. Ich wünsche Dir so viel Gutes und ... schaff’s!

Und keine neuen Geschichten von Depression, hörst Du. Ich küsse Dich in aller Liebe,

Dein Peter

Faro, 18. Februar 1939

Liebe Mutti!

Du verstehst mich also wieder einmal nicht und weißt nicht, was ich will. Seltsam – Du hebst doch häufig hervor, dass Du eine so gute Psychologin bist. Diesmal scheint Deine Psychologie zu versagen – also muss ich deutlich werden. Es hat sich herausgestellt, dass ich noch lange nicht einsam genug bin. Es gibt noch zu viele Menschen, die sich mit mir beschäftigen, ohne dass ich sie darum gebeten hätte. Im Gegenteil: Ich will, dass die Menschen mich vergessen. Ich will frei sein. Begreifst Du, was ich meine: so frei sein, dass mein Leben und alles, was ich in ihm tue, mir allein gehört und nicht ständig beurteilt, beredet, für richtig befunden oder abgegriffen wird. Die Menschen können ja reden und urteilen, soviel sie wollen, aber sie sollen mich damit verschonen. Du musst nicht etwa glauben, dass ich Furcht hätte vor ihrem Urteil, weiß Gott nicht! Es ist mir nur so ganz unaussprechlich gleichgültig, was sie denken, was sie alle denken: Onkel Schr., Papa, Enie6, Tante Lucie etc. etc. Es langweilt mich, ihre Ansichten zu hören, es langweilt mich, ihre Briefe zu lesen, es ist ja doch immer dasselbe. Ich habe nicht die geringste Lust, meine Situation klarzulegen. Ich habe mich doch nicht zu verantworten. Sage mir nur einmal: mit welchem Recht halten sich eigentlich alle über mich auf und erzählen mir große Geschichten über MEIN Leben und das, was »richtig« wäre. Was wissen denn sie, was für mich richtig ist? Ich bin ja nicht im Geringsten gekränkt, ich wundere mich bloß immer wieder über das Wissen, das diese Menschen haben.

Du verstehst mich vielleicht noch nicht richtig: ich will endlich losgelöst sein von allem und allen. Ich will frei sein und Herr meiner Handlungen. Ich will nichts mehr wissen von all den Menschen, nicht etwa, weil sie mich nicht verstehen – das soll ja vorkommen –, sondern weil ich kein Interesse habe, mich verständlicher zu machen. Ich will keine Briefe mehr bekommen und keine mehr schreiben. Sie leben ihr Leben, und ich lebe das meine. Ich weiß, was ich tue und was ich zu tun habe. Und ich will es ohne fremde Teilnahme tun und ohne darüber zu diskutieren. Was geht es sie an, ob ich arbeite oder nicht, ob ich »Einsichten« habe oder nicht, ob ich hochstaple oder betteln gehe?

Die Phrase »wir meinen es doch gut mit dir« macht mich erbrechen. – Weißt Du, was mein Traum ist? An einem Ort zu sein, wo mich niemand kennt und wo es keine Post gibt – völlig allein, ohne einen einzigen Menschen. Von niemandem hören, von niemandem wissen und selbst vergessen sein – in Wahrheit oder wenigstens dem äußeren Anschein nach. Nichts reden, nichts erklären und das tun, was der Augenblick bestimmt. Leben irgendwie – heute so, morgen anders, ohne Gestern, ohne Morgen, ohne Bindung und Verbindung, ohne Pläne und Zukunftsgedanken – leben, leben, willkürlich, ohne Ballast, ohne Reminiszenz, ohne Vergleich – frei sein, besitzlos und unbesessen sein, vagant zu sein wie Villon, Rimbaud ... leben mit dem Tag, mit der Nacht ... leben und sehen und wach sein ... leben und schreiben ...

Ja, ein Rimbaud möchte ich sein, nach Afrika möchte ich gehen oder in irgendein fernes, unbekanntes Land; dort möchte ich leben und vergessen – all die kleinen und großen Sinnlosigkeiten, Inferioritäten, Überheblichkeiten, Wichtigtuereien, den ganzen bombastischen Bau aus Lüge, Überschätzung, Konvention, Kleinlichkeit, Lächerlichkeit, Gewalt und Verbrechen, der sich Europa nennt, diese ausgeklügelte Maschinerie, in der jede Umdrehung eine Vergewaltigung ist, jeglicher Teil, der Gesellschaft, Stadt, Staat, Zivilisation heißt, oder wie auch immer, eine Monstrosität an Falschheit und Unwert und jedes Produkt, das dieses Wunderwerk verlässt – sei es nun eine aufgebackene Tradition, eine heilbringende Idee oder eine siegesgewisse Weltanschauung –, ein Kadaver, in dem die letzte Hoffnung gerade gestorben ist. All dies möchte ich vergessen und verachten, so wie er es tat. Mit ihm möchte ich sagen »Je regrette l’Europe ...«, weil das Leben, die Welt, die Wahrheit woanders ist und weil ich das große Glück habe, das zu begreifen und danach zu handeln ...

Du wirst vielleicht entsetzt sein, wirst sagen: Du Egoist. Vielleicht hast Du nicht unrecht. Denn in anderen Zeiten wäre ich von Euch fortgegangen – von Euch, versteh mich recht: von Dir und Liena – eines Tages nach einem letzten Blick und dann, ohne mich umzusehen. Und ich wäre weit gegangen, viel, viel weiter, als ich es vor fünf Monaten tat, und Ihr hättet nichts mehr von mir gewusst. Oder ich ginge heute, nach einer Zeit der Prüfung, und vielleicht noch weiter und noch heimlicher. Aber immer hätte ich mich freigemacht mit der letzten und schwersten Konsequenz, und nichts hätte mich halten können. Denn der Wunsch nach Freiheit wäre stärker gewesen, stärker als Liebe und Gemeinsamkeit, stärker als alles – das fühle ich jetzt.

Heute ist das ein Traum ... Die Konstellation ist eine andere, auch in mir. Ich kann und will nicht von Euch fortgehen. Ein Größeres als wir selbst und unsere wildesten Wünsche hält uns zusammen. Wir müssen füreinander da sein und in jeder Minute bereit, uns ganz zurückzustellen und das Menschenmögliche zu tun. Das habe ich mehr als eingesehen, und danach richte ich mich. So ist die Verbindung mit Euch eine selbstverständliche.

Dass diese ganzen Dinge nichts mit der Liebe zu tun haben, ist offensichtlich. Weder entspränge der Wunsch, sich ab- und auszulösen, einem Mangel, noch ergibt sich die heute unbedingte Verbundenheit aus einem Mehr an Gefühl. Dieses ist immer das gleiche, und wer liebte Dich mehr als ich, und von wem würde Liena mehr geliebt als von mir? Nein, diese Sehnsucht nach Freiheit – die eine ganz tiefe und echte Zusammengehörigkeit nicht ausschließt, denn einmal wäre ich ja auch zurückgekommen – und nach wahrer Einsamkeit (denn was ist die jetzige schon?), dieser Egoismus, wenn Du willst, ist eine Bedingung in mir, die ganz woanders hingehört.

Aber ein weniges an Freiheit will ich doch haben. Außer für Euch und ein paar andere, die ich mir aussuche, bin ich unwiderruflich in das fremde Land gegangen, aus dem ich nicht mehr zurückkehre. Ich will von niemandem mehr auch nur die geringste Teilnahme. Ich wünsche mir nichts mehr, als vergessen zu werden. Ich habe nichts mehr gemein mit ihnen – ob sie es nun schlecht oder gut mit mir meinen. Ich will allein sein, verstehst Du mich denn nicht? Ich will nicht mehr reden und nicht mehr angeredet werden. Ich will meine Ruhe haben. Ist das nicht klar? Es ist mir vollkommen egal, ob ich die Menschen vor den Kopf stoße oder nicht. Wenn sie die ungeschminkte Wahrheit nicht vertragen können, ist es ihre Sache. Die Verbindung mit ihnen hat keinen Wert mehr für mich. Also ist es ganz unerheblich, ob ich zertrümmere oder nicht. Das Zertrümmern ist bequemer. Deine Version, dass ich davon Schaden haben werde, ist läppisch. Ich will doch von niemandem mehr etwas. Ich lebe doch nicht mehr in ihrer Sphäre. Also brauche ich mich auch nicht mehr nach ihnen auszurichten. Ich tue die Dinge, die ich für richtig halte, und wünsche keine Kritik an ihnen, da sie nur mich allein angehen. Ich bin nicht mehr abhängig, sondern stehe »auf eigenen Füßen«. Willst Du noch mehr? Und mein Leben ist anders als das ihre, folglich haben wir uns nichts mehr zu sagen, da ich nicht daran denke, mich verständlich zu machen. Das ist alles.

In einem kann ich Dich aber ganz beruhigen: diese Einsichten sind mir ganz gewiss nicht darum gekommen, weil ich hilflos und unglücklich bin und glaube mich »verrannt« zu haben (ach Muttilein ...), ich weiß ganz vorzüglich, was ich tun muss, und brauche keinen Menschen und keinen Rat. Alles entwickelt sich zu meiner größten Zufriedenheit, und es geht mir ausgezeichnet. Ich bin vollkommen ehrlich und mache Dir nichts vor: Du brauchst Dir um mich und meine Zukunft nicht die geringsten Sorgen zu machen. Was ich tue, schrieb ich Dir ja schon. Näheres hörst Du, wenn es sich etwas eingelaufen hat. Ich bin ja erst am Anfang. –

Muttilein, hierin warst Du ja nun eine ganz schlechte Psychologin. Das, was Du Arroganz nennst, ist weiter nichts als der Wunsch, nicht mehr belästigt zu werden. Weiter will ich ja gar nichts. Das ist Selbsthilfe, Mutti, und keine Hilflosigkeit. Das, was ich tue und denke, geht nur ein paar Menschen an: Dich, Liena, die Großeltern, Tatjana. Aus. Dein guter Rat, etwas rückgängig zu machen, erübrigt sich wohl nach meinem vorigen Brief völlig.

Leb wohl, Muttilein, und schreib mir bald. Mach Dir nicht zu viel Sorgen, es wird alles werden. Die Großeltern haben am schwersten zu tragen – hoffentlich nicht für lange. Küsse sie tausend Mal von mir. Ich hab’ sie so lieb.

Komm doch her. Du, das wär’ so schön. Und für Dich das Beste und Heilsamste, was Dir die Erde im Moment geben kann. Du würdest Kraft sammeln für viele Jahre und – es wäre wahrhaftig das Vernünftigste, was Du tun könntest. Ein paar Wochen hier und dann los! Du sollst mal sehen, wie anders Du von hier fortgehst, als Du gekommen bist. Und Du kämst in die schönste Zeit und hättest Deine geliebte Sonne von morgens bis abends. Und wir könnten uns auch sicher über Verschiedenes klar werden, was vielleicht nicht ganz unwichtig ist.

Na ja, wie ich mich dazu noch freuen würde, kannst Du Dir ja denken. Alles Liebe den Kindern und Dir tausend gute Wünsche.

Ich umarme Dich,

Dein Peter

Hast Du Liena mal gesehen?

Faro, 2. März 1939

Mein liebes Muttilein!

Du antwortest mir nicht, trotzdem ich sehr darauf warte. Wenn Du jetzt böse wärst – das wäre grotesk. Ich möchte Dir was erzählen: Ich bin engagiert. In einem Konserven-Export mit vielen Sardinen. Ich führe die englische, deutsche und französische Korrespondenz. Letztere mehr oder weniger »auf Verdacht«. Aber das tut nichts. Am Ersten habe ich angefangen und verdiene für die ersten ein bis zwei Monate als Probezeit vierhundert Escudos. Das ist nicht überragend, aber mehr als ich brauche. Nach der Probe neues Arrangement bei gegenseitiger Zufriedenheit. Chef nett, bis jetzt noch sehr von mir eingenommen, macht mich bald zum Vertreter. Arbeitszeit von neuneinhalb bis zwölf und von zwei bis sechs.

Ich gehöre jetzt also dem Kaufmannsstande an. Vielleicht entdecke ich noch eine diesbezügliche Ader. Sehr wahrscheinlich ist es allerdings nicht, aber ich bin ja an Überraschungen gewöhnt.

Nebenher habe ich einige Stunden, und mein Leben ist sozusagen revolutioniert, Aber das ist ja nichts Besonderes. Wenn Du mir schreiben würdest, könntest Du mir auch sagen, ob Du Dich nun nicht doch entschlossen hast herzukommen. Es kostet Dich nur die Reise, und die ist billig. Muttilein, lass mir die Illusion: ich erwarte Dich mit Sicherheit.

Ich hab’ Dich lieb, Küsse an die anderen!

Dein Peter

Faro, 19. März 1939

Meine geliebte Mutti,

endlich habe ich Nachricht von Dir; ich habe so sehr gewartet. Tausend Dank für Deine beiden Briefe, tausend Dank für Deine Erklärungen, tausend Dank für Deine letzten Worte; es ist gut, es ist richtig, es ist nichts Schlechtes dabei.

Nun brauchen wir nicht mehr viel zu reden darüber – in Briefen nicht –, denn meine ganze Angst ist verflogen, seit ich zu ahnen beginne, wie sich die Dinge in Dir entwickelt haben und zu einer Notwendigkeit wurden. Ich sehe ein, dass Du es tun musstest. Dass ich es nie gekonnt und nie getan hätte, ist eine andere Sache. Darin wollen wir uns auch gar nicht vergleichen.

Das Schönste aber und das Wesentlichste ist, dass Dein Entschluss, der Dir bestimmt nicht leicht war und keineswegs selbstverständlich – wie ich zuerst so sehr fürchtete, da ich Deine Worte nicht anders zu lesen vermochte, und nun erst nachträglich erfahre, dass Du nicht skrupellos warst –, seine innerliche Rechtfertigung erhielt dadurch, dass Du zum Glauben kamst.

Da kann ich Dich nun allerdings nicht ganz verstehen, da mir das, was das Wesen der Religion ausmacht, die Anbetung, unendlich fremd ist.

Dass das Göttliche existiert, brauchen wir nicht zu diskutieren. Das ist eine Wahrheit über allem, und aller Sinn und alle Schönheit in der Welt sind in ihr beschlossen. Nur das Verhältnis zu Gott, die Entfernung zwischen Menschlichem und Göttlichem, wenn wir bildlich sein wollen, ist das unendlich Variable, um dessen Festlegung wir uns ja ständig bemühen. Und für mich ist Religion ein Unwert, da sie ein Drittes ist, da sie uns entfernt, anstatt uns näher zu bringen, da sie Bilder hat und Gesetze ausser den unmittelbar göttlichen, die schon allein zu begreifen und zu umfassen ein Leben meistens nicht hinreicht.

Und diese Ambition zur Gesetzgebung und der daraus unweigerlich folgenden Frage von Gut und Böse – einer gänzlich ungöttlichen Unterscheidung, die schon in etwas reineren Gebieten, die sich aus der menschlichen Verwirrung herausheben, wie z. B. der Kunst, aufhört zu wirken – und weiterhin der Verirrung von Verbot und Verdammnis: kurz der Wertung des menschlichen Verhältnisses zu Gott, eines Lebenselementes, das sich wie kein anderes jeglicher Kategorisierung und Verallgemeinerung entzieht: dieses Streben also eignet jeder Religion. Nun gar der katholischen! Auf solche Weise wird sie zum Selbstzweck, ja muss es notgedrungen werden. Nun, damit erübrigt sich auch ihre Berechtigung.

Es gibt meines Erachtens nach keine Institution, die dem Verlangen des Menschen zu Gott zu kommen, in anderen Worten: mit ihm und in ihm zu leben und ihm so nah oder fern zu sein wie seinem eigenen Innern, so viel Schwierigkeiten bereitete wie die Kirche. Eine Gesellschaft, die den Zorn Gottes und die Furcht vor ihm predigt, ist für mich außerstande, überhaupt nur zu sagen, was das Göttliche eigentlich ist. Und eine solche, die seine Liebe rühmt und beweisen will, ist seinem Wesen beinahe noch ferner. Denn es ist eine dieser seltsamsten Erscheinungen, die gar nicht lieben, sondern nur geliebt werden können.

Aber, siehst Du, das ist nun gar nicht so sehr wichtig, was ich hier alles sage. Es kommt nämlich im Grunde überhaupt nicht darauf an, woran wir glauben. Denn das ist das Eigentümliche, dass alle Dinge einen Sinn bekommen, wenn sie einen Mittelpunkt haben. Womit auch unser Sinn in ihnen und unsere Verpflichtung an ihnen offenbar werden.

Und das ist ja alles, was wir brauchen. Du glaubst – das ist gut. Du hast einen Inhalt gefunden, der Dir Ruhe und ein ganz losgelöstes Glück gibt – das ist schön. Dir ist ein Père Jean begegnet – und Du bewunderst und wirst demütig. Welch unerwartete Wirkungen.

Nein, nichts Schlechtes ist dabei. Du darfst nur nicht verleugnen. Du wirst es nicht tun. Ich wusste ja, dass Du es nicht tun würdest. Denn das ist das andere Wesentliche: die »allgemeine Frage«. Die ist nun ganz unabhängig von Deinem Glauben und Deiner Abneigung. Kein Mensch verlangt von Dir, dass Du Dich freuen sollst, wo Du Dich nicht freuen kannst. Aber es gibt eine Loyalität, die zu beobachten unsere oberste Pflicht ist. Auch die Deine. Es gibt das ganz primitive »Geschlagen-Werden«, es gibt den Zwang zur Antwort – und es gibt das schöne Wort »Brüderlichkeit«. Dir sagt es in diesem Falle nichts. Du fühlst nichts – nun, das ist nicht zu ändern, denn die Menschen sind verschieden. Aber eins kann man von Dir verlangen: Loyalität.

Zu Deinen zwei Bezeichnungen »Proklamation und Präsentierbrett«, die beide ein Extrem bedeuten, das nicht ganz der Wahrheit entspricht, will ich Dir Folgendes sagen: es gibt Momente in unserem Leben, die uns zwingen, nicht nur die Klarheit in uns zu haben, sondern sie auch auszusprechen. Du vergisst vielleicht, dass auch Heirat und Einsegnung Proklamationen sind. Du vergisst ferner, dass ich dem Konsulat ja nicht meinen Standpunkt darlegen, sondern nur die mir zur Verfügung stehenden Mittel benutzen wollte, um eine »rechtliche« Unterscheidung zu liquidieren, was nicht mehr als billig ist. Außerdem glaube ich nicht ganz zu Unrecht zu handeln, wenn ich durch meine Person zu beweisen imstande bin, was ein Jude ist – oder vielleicht, was auch ein Jude ist in einer Zeit, die nach dem Inferioren verurteilt.

Was Du von »meinem Land« sagst, ist gänzlich verfehlt. Es ist nicht mein Land und wird es nie sein. Uns zu einer Nation formen zu wollen, ist Verkennung unseres Wertes und der Sinnfälligkeit unserer Geschichte. Ganz abgesehen davon, dass mir dieser Begriff überhaupt nichts sagt und ich, ohne das geringste Bedauern und ohne irgendeinen Verlust dabei zu empfinden, heimatlos bin (Heimat ist dort, wo mir etwas gegeben wird; die ganze Erde kann Heimat sein, wenn man das glückliche Temperament besitzt, überall zu empfangen), werde ich nie versucht sein, mich in einer solchen Frage zu entscheiden. Weder für mein »Heimatland« noch für Palästina. Deutschland verdanke ich nur die Sprache, das ist allerdings viel. Dafür ist sie auch das Einzige, was ich behalten durfte und behalten will. Palästina verdanke ich nichts, und der Zionismus ist ein schlechtes Plagiat aller unsinnigen Bestrebungen in unserer Zeit. Was wäre schon damit gewonnen, dass wir »ein Volk« wären? Doch nicht mehr als zurückzugehen anstatt vorwärts. – Wenn Du nun also auch ohne diese Aussicht meine Entscheidung gutheißen kannst, weil sie notwendig ist – so wie ich die Deine, da sie für Dich notwendig war –, so wäre für uns nicht mehr und nicht weniger erreicht als eine unbegrenzte Achtung vor unseren entgegengesetzten Zielen.

Ich wiederhole Dir, dass ich Dich verstehe und Dir nichts Objektives mehr entgegenzustellen habe. Alles, was es noch zu sagen gibt, können wir mündlich besprechen, um uns vollends zu erklären.

Welch wunderbare Aussicht. Wirst Du nun zu mir kommen? Ach bitte, tu’s doch. Du weißt gar nicht, wie sehr man Dich erwartet.

Man kann schon an nichts anderes mehr denken.

Sei ganz sicher. Du, das Pendel wird bald zur Ruhe kommen. Du musst nicht so schwarzsehen, es ändert sich alles. Wie ich Dir die Ruhe wünsche, brauche ich wohl nicht zu sagen.

Was ich Dir nun zu Dimiter sagen soll, weiß ich nicht recht. Die Ereignisse überfallen mich ja, und eine konventionelle Gratulation ist ganz und gar sinnlos. Dass Dir diese Verbindung nur Gutes bringen möge, ist mein natürlichster und sehnlichster Wunsch. Ich kenne ihn nicht – warten wir darum ein wenig. Ich werde ihm immer ein Freund sein.

Etwas hat mich befremdet; Ihr feiert ... Was ist das: feiern? Was feiert Ihr denn? Mir ist das nicht mehr so ganz gegenwärtig.

Dass Du mich verstehst, macht mich froh. Du bist doch noch die alte Mutti, die immer an meiner Seite war. Nun, sei ganz sicher, dass auch ich Dich verstehe und immer bei Dir und mit Dir sein werde. Immer, hörst du? Ich bitte Dich, geh doch zu Liena und Tatjana. Ich höre von Liena seit langer Zeit nichts. Ich weiß nicht, was wieder los ist. War sie denn krank? Es bedrückt mich so sehr, wenn Liena mir einmal nicht schreibt. Ich habe immer Angst, weißt Du. Ich liebe sie – immer gleich und immer mehr. Sie ist meine einzige Frau. Ich habe, solange ich sie kenne, an eine andere nicht einmal gedacht. Seit ich von ihr fortging, war ich das, was man treu nennt. Ganz ohne Zwang, ganz ohne Gewalt. – Na ja, ich wollte es Dir ja bloß einmal sagen.

Meine geliebte Mutti, mach Dir nie Sorgen. Wir finden immer zusammen. Das ist mir jetzt klarer als alles. Ach Du, ich möchte mit Dir sprechen. Bitte.

Alles andere später. Es geht mir gut, ich bin etwas müde. Mein Kater Ariel macht mir unbeschreibliche Freude. Am vergangenen Sonntag war ich zum ersten Mal im Meer; es war herrlich.

Muttilein, alle Liebe und ... Du weißt, ich warte. Ich küsse Dich vieltausendmal.

Immer Dein Peter

Den alten Leutchen und den Kindern mein Liebstes. Ich werde an Onkel Schr. schreiben.

Faro, 5. April 1939

Liebe Mutti!

Euch allen die besten Wünsche zu Ostern und Pessach.

Solltest Du in die russische Kirche gehen, so wirst du dort ja Liena und Tatjana7 treffen. Was bei Euch gespielt wird, ist mir leider schleierhaft. Auf jeden Fall wird es mir allmählich langweilig, meine Anfragen dauernd zu wiederholen.

Von Dir habe ich wieder mal seit nahezu drei Wochen keine Nachricht, und Definitiveres hast Du ja auch in den vorhergegangenen hartnäckig verschwiegen. Nun gut, es wird auch so gehen.

Liena ihrerseits hat mir seit eindreiviertel Monaten nicht geschrieben und wird wohl etwas Näherliegendes gefunden haben – was außerdem zu erwarten war. Nun, auch dies vermag ich nicht zu ändern, so gern ich es täte. Es ist nur schade, dass es so wenige Menschen gibt, die das Schwere auf sich nehmen um des anderen willen, der genauso schwer oder schwerer trägt. Die erkennen, dass die Welt aus Schwerem besteht, und die es vermögen, den Gewinn in der Bürde zu sehen.

Der anachronistische Rilke hat gesagt: » ... denn alles ist schwer und das Schwerste ist die Liebe«.

Ich habe noch nicht viel geliebt in meinem Leben. Aber beide Male, wo ich mich ganz gab und so, als wäre es für immer, hingab mit aller Liebe und allem Guten, was in mir war, keinen Rest für mich behaltend und keinen Vorbehalt mir selbst zugestehend – diese beiden Male erhielt ich nicht einen Teil von dem, was ich gab. Das wäre an sich nicht weiter bedenklich, wenn die größte und einzige Prüfung bestanden worden wäre. Aber zu erfahren, dass Trennung scheinbar notwendig das Ende bedeutet – das ist traurig für den, der die Transformation aller Dinge und aller Vorgänge mit seinen eigenen verbindet, um aus allem eine Wirklichkeit zu ziehen: die Wirklichkeit der Liebe. Und solchermaßen lebt. –

Ich danke den Großeltern für ihre beiden Briefe, die ich beantworten werde, sobald ich etwas mehr Zeit habe. Alles Gute. Ich küsse Dich,

Peter

Unsere Mutter emigrierte im März 1939 nach Bulgarien. Meine Schwester Bettina und ich blieben bei meinem Vater in Berlin. Wir sollten erst später, wenn sich alles ein wenig eingelaufen hatte, folgen. Die ersten Wochen lebte unsere Mutter in einem Hotel in Sofia, und ihre Verzweiflung war unbeschreiblich. Sie, die ihr Leben lang verwöhnt, geliebt und von einem großen Freundeskreis umgeben gewesen war, stand nun plötzlich allein in einer fremden Stadt, unter fremden Menschen, die eine fremde Sprache sprachen. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde sie mit der neuen Situation nicht fertigwerden.

Faro, 26. April 1939

Meine geliebte Mutti!

Ich danke Dir für Deine beiden Briefe, die Gsovsky-Photos und auch noch nachträglich für die Grammatiken, die neu zu kaufen ja nun nicht nötig war. Ich schreibe Dir erst heute, da Dein letzter Brief mit der bulgarischen Adresse fünf Tage auf der Post lag, ohne dass ich es wusste.

Dein Brief hat mich erschreckt. Nun bist Du also draußen, und so sieht das aus. Wie soll das weitergehen? Ich habe nur die eine Hoffnung, dass die Tage, die auf Deine Nachricht folgten, Dich verändert und erleichtert haben. Dass es nur die Reise war und der Abschied, das Neue, das Ungewohnte und noch ganz Unvertraute. Dein Zweifel und Deine Traurigkeit verstehe ich so gut wie kein anderer. Und ich bin so bei Dir, dass Du es fühlen musst. Aber, Muttilein, Du musst nun erst einmal abwarten und etwas ruhiger werden. Du musst nicht alles am ersten Tag wissen wollen. Es kann Dir niemand antworten.