Der Weg aus dem Nichts - Bubi Scholz - E-Book

Der Weg aus dem Nichts E-Book

Bubi Scholz

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Beschreibung

Der erfolgreiche Berliner Boxer Gustav »Bubi« Scholz war in den fünfziger und sechziger Jahren Inbegriff für den Wiederaufstieg Deutschlands aus dem Nichts. Geboren im Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg, aufgewachsen in den Ruinen des Zweiten Weltkriegs, boxte er sich buchstäblich nach oben. Nach dem Ende seiner Karriere allerdings führte sein Lebensweg ebenso schnell wieder nach unten. Alkoholprobleme und die Unfähigkeit mit der Popularität fertigzuwerden, endeten in der öffentlich sichtbaren Katastrophe: 1984 erschoß Gustav Scholz seine Frau und mußte für 6 Jahre ins Gefängnis. Sein 1980 erstmals erschienener, hier unverändert vorgelegter Lebensbericht »Der Weg aus dem Nichts« ist ein bis heute höchst lesenswertes Zeitdokument. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 472

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Bubi Scholz

Der Weg aus dem Nichts

Die Autobiographie

FISCHER Digital

Inhalt

Einleitung1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.25.26.Kampf-Rekord Gustav ScholzPersonenregister

Einleitung:

Ich habe mich auf jeden meiner rund hundert Kämpfe als Profiboxer mit größter Sorgfalt vorbereitet. Ich wußte immer: Was du im Training, aus Bequemlichkeit oder aus Schludrigkeit versäumst, fehlt dir im Kampf, das bekommst du an den Kopf, und das kann Folgen fürs Leben haben.

Auf dieses Buch habe ich mich so lange vorbereitet wie auf keinen Kampf: über zwei Jahre waren es!

In meinem zweiten Leben nach dem Boxen, das nun schon eineinhalb Jahrzehnte dauert, bin ich von unendlich vielen neuen Erlebnissen überspült worden; in der Erinnerung an damals ist manches vielleicht ausgewaschen oder von einem gewissen eitlen kleinen Mann, den jeder in sich trägt, kosmetisch verklärt worden. Darum die zwei Jahre, darum heute: nach bestem Wissen und Gewissen …

Wo es um die sportlichen Ereignisse ging, da war es relativ einfach. Journalisten wie der Berliner Gerry Reimann oder der Hamburger Jürgen Juckel, die mich als Sportler publizistisch begleitet haben, relativierten meine Erinnerungen oder frischten sie auf. Ihnen verdankt dieses Buch manche Farbstriche, sehr poppige zum Teil.

Mein Verleger hat zu mir gesagt: »Sie sind Bubi Scholz, der Boxer!« Die Betonung lag dabei auf Boxer. Das ist richtig, und ich kann verstehen, daß er darauf bestanden hat, ein gutes Teil dieses Buches auf das große und so eindeutige Schwarz-Weiß-Spiel des Boxens zu beziehen, das soviel brutaler ist als unser heutiges Leben mit seinen vielfältigen sozialen Sicherungsnetzen: Einer liegt unten, und einer ist oben. Ich, der Autor.

Wenn man in etwa hundert Kämpfen nur zweimal verloren hat, beide Male umstritten durch das Urteil von ein paar Kampfrichtern, deren Namen niemand mehr kennt, und wenn man Europameister, also Europas Bester, in zwei Gewichtsklassen – Mittel- und Halbschwergewicht – war, dann könnte so ein Manuskript eine Art von Rekordbuch sein, ein Buch der Aufzählung und der Statistik. Doch eine Statistik erzählt nichts über das Leben eines Jungen vom Prenzlauer Berg in Berlin; heute Ost, muß man hinzufügen. In der steht nichts von grauen Hinterhöfen, in denen die Mauern geweint haben würden ob der Trostlosigkeit, wenn Steine Tränen hätten. Die Zimmerlinde meiner Mutter war so ungefähr der einzige Baum, den ich als kleines Kind gesehen habe.

Prenzlauer Berg, Choriner Straße – das ist nichts, was mich heute beschämt. Ein paar Straßenzüge weiter ist mein Freund Hans Rosenthal aufgewachsen. Aus dem ist ja schließlich auch etwas geworden, oder? Ohne Boxen. Dalli-Dalli.

Aber wenn der Hans und ich uns heute irgendwo auf einer Party treffen, dann gibt es da manchmal so einen schnellen Blick, so ein Verstehen ohne Worte. Den können nur zwei aus demselben Kiez wechseln, zwei, die nicht vergessen haben, wie diese Hinterhöfe mit den rotznäsigen Gören und den Kötern ohne Stammbaum aussahen, wie es in den Treppenhäusern ewig nach Braunkohlebriketts und den Wäschepötten mit Windeln für die sich Jahr für Jahr einstellenden Babies roch.

Die Statistik sagt auch nichts über die Erfahrungen eines vierzehnjährigen Bubi Scholz hinter den Panzersperren im verwesenden Berlin der letzten Kriegstage, über die Gläubigkeit des Pimpfen und Fahrrad-Melders an den Endsieg, und über den Eindruck, den der Einmarsch der Sowjets ihm machte. Nichts über die Überlebens-Übungen der folgenden Jahre, die lebens-wichtig waren und für heute Vierzehn- oder Fünfzehnjährige wie Erzählungen aus der Märchenwelt der Brüder Grimm klingen mögen.

Da sind die sprudelnden, vibrierenden fünfziger Jahre Berlins schon lustiger, mit den nicht endenden Jazz-Nächten in der Badewanne und der Rock ’n’ Roll-Akrobatik von Kalle Gaffkus und Karin Baal, als der tiefe Pessimismus meiner Stadt sich endlich und gottlob löste, und die Menschen versuchten, mit Vergnügungen aller Art ihre Probleme wenigstens für Stunden zu vergessen. Selbstbetrug – aber ohne kommt das Leben nun einmal nicht aus, auch heute nicht.

Der Kalle, der heute ein übergewichtiger Budiker ist, der schmiß nicht nur dieses blonde Zaubermädchen Karin Baal beim Rock ’n’ Roll unter die Decke, der symbolisierte auch so ein bißchen uns alle: unten das schäbige, abgelatschte Parkett, aber darüber das gleißende Licht der neuen Neonröhren – die miese Vergangenheit und die (hoffentlich) strahlende Zukunft.

Das Schicksal, das – nach dem Klischee – den Boxer andauernd im Ring streift, hat mich gebeutelt, als ich monatelang in einem Schwarzwald-Sanatorium in der Tbc-Station lag. Ein 25jähriger, der in der scheinbaren Unerschöpflichkeit beneideter Körperlichkeit bedenkenlos gelebt hatte, ist da nachdenklich geworden. Ich werde das ausführlich erzählen, weil es mich, meine ich, entscheidend geprägt hat.

Es hat mir auch etwas mitgegeben, das ich im Leben immer wieder verwertet habe und sicherlich noch oft benutzen kann – die Erfahrung, aus einem abgrundhäßlichen Negativ-Erleben noch einen positiven Erfahrungstropfen zu keltern.

Das alles, die glücklicherweise rarer gewordenen schwarzen Stunden der Enttäuschung und die Euphorie, der Spaß, das ist mein ganz persönlicher Weg aus dem Nichts, das ist der Inhalt dieses Buches. Wenn ich es richtig geschrieben habe, werden sich allerdings viele darin wiederfinden, jedenfalls in den Ereignissen; eine ganze Generation, meine Generation, die in den ganz schlimmen Tagen zu jung zum Rauchen, aber alt genug fürs Sterben war.

Der Weg aus dem Nichts, doppelbödig, weil er für einen und für alle gilt, ist ein Buch der Erinnerungen, geschrieben von einem Boxer a.D., der nun seit bald zwanzig Jahren als Werbekaufmann arbeitet und Erfolg sucht. So etwas verändert das Denken und – beim Korrekturlesen ist mir das erst so richtig klar geworden – die Sprache.

Das Icke, icke, olle Bubi ist am Prenzlauer Berg liegen geblieben, auf den Trümmergrundstücken zwischen Schutt und alten Konservendosen. Es ist nicht mehr meine Sprache, ich beherrsche sie nicht mehr, ich habe darum gar nicht versucht, sie aus dem Gedächtnis hervorzuwühlen.

Einige Passagen dieses Manuskriptes hat Harald Juhnke gelesen, seit vielen Jahren ein wirklich guter Freund. Jeder dieser egozentrischen Bühnen-Menschen, der bereitwillig etwas liest, worin nicht eventuell die nächste Rolle stecken könnte, ist ein sehr guter Freund.

Harald Juhnke hat dem von Zweifeln geplagten Jung-Autor Scholz (50), der nach Zuspruch und Ermutigung gierte wie früher der ausgelaugte Fighter Scholz nach einem saftigen Steak, liebevoll-spöttisch gesagt: »Mensch, Bubi, du bist ja ein Poet. Biß’ken Fontane, und so ’ne Art Zille-Verschnitt.«

Damit kann ich leben, Harald. Denn ein bißchen Poesie ist in jedem und allem.

Noch eine Lebenserfahrung.

1.

Als die Scheinwerfer mich packten, die vier bleichen Lichtfinger aus dem im Dunkel mehr erahnten Massiv der Tribüne des Berliner Olympiastadions, ließ ich automatisch den Kopf etwas nach vorn fallen und begann mit einer Art reduziertem Schattenboxen. Tänzelnd, mit dem Oberkörper pendelnd und angedeutete rechte und linke Haken schlagend nähere ich mich dem Ring. Das hält die Kampfmaschine auf Touren, läßt das Blut zirkulieren und die Zuschauer wohlig aufseufzen! Gleich, ein paar Minuten noch, dann geht’s los.

Mir ist das, wenn man heraus war aus der Zelle, wie ich die Kabine in der letzten Stunde vor dem Fight immer empfunden und genannt habe, immer wie der Beginn der Show vorgekommen, dieser erste Blickkontakt mit dem vollen Haus oder dem überfüllten Stadion. In Film- und Fernseh-Studios ist das genauso, wenn es endlich »Achtung, Aufnahme!« heißt.

Nur, daß vor den Kameras das Drehbuch festliegt: da ist man der Gute oder der Böse, die Schöne oder die Intrigante. Beim Boxen dagegen hat man noch eine Minute oder weniger zum Ring, und keiner weiß so richtig: bist du Held, oder bist du Opfer, gehst du diese albernen paar Meter zurück als Star mit der sonnigen Zukunft oder als Arbeitsloser? An die Trage, die da in der Nähe für den Berufsunfall bereit steht, gar nicht zu denken.

Reiß dich zusammen, Bubi, zuviel Phantasie schadet in diesem Geschäft! Das belastet nur.

Die vier Scheinwerfer, die mich grell beleuchten, haben am anderen Ende des Stadion-Dachs vier Brüder. Die treiben das Spiel mit Charles Humez, dem französischen Mittelgewichts-Europameister, mit dem ich gleich um den Titel boxen werde. Was der wohl denkt? Einmal hat er ja schon die Entscheidung der Punktrichter gegen mich bekommen. Meine einzige Niederlage … Naja, in Paris.

Je näher wir an den Ring kommen, desto näher rückt der Konvoi meiner vier Begleiter an mich heran: mein Trainer Lado Taubeneck, der wache Freddy Teichmann, mein Chauffeur, Telefonist, Sparringspartner, eben Mädchen für alles in den letzten Wochen, Manager Fritz Gretzschel und der in Paris lebende Emigrant Max Stadtlander, Gretzschels Interessenvertreter. Sie agieren, obwohl sie viel kurzatmiger sein müßten als ich, wie emsige Geleitschiffe, die einen Schirm bilden. Schade, daß sie mich beim Rendezvous mit Monsieur Humez nicht auch so hingebungsvoll schützen können.

Während ich mechanisch den Kreislauf auf Touren halte – rechte Haken, zweimal, kurz die Linke hinterher –, steigt mir scharfer Eukalyptus-Duft in die Nase. Schweiß und Massagealkohol, die unverkennbare Duft-Komposition, parfum boxeur oder wie das heißen mag, wenn sie mich verstehen, Monsieur Humez. Aber um mein Französisch geht’s ja nicht heute abend. Da würde ich lieber nicht in den Ring steigen, Monsieur. Man muß wissen, wann man aufgibt. 30000 sind an diesem 4. Oktober 1958 ins Olympia-Stadion gekommen, und es ist phantastisch, wenn man im Zotteltrab auf so eine Riesen-Masse Mensch zuläuft. Das murmelt und raunt und wird immer stärker, als ob man in tiefer Nacht auf das Meer zugeht: erst ist es nur ein einziger Geräuschbrei, dann hört man die Brandung heraus, und zuletzt jede Welle, wie sie an den Sand klatscht. Und dann hat man nasse Füße und weiß: Hallo, das ist es.

Jetzt habe ich, zwischen Gretzschels Bauch und Taubenecks Tasche mit den Sekundanten-Utensilien, doch einen Bekannten entdeckt: Wolfgang Müller steht da, der mit Neuss, dem anderen Wolfgang, dem Mann mit der Pauke, gerade den Riesenerfolg mit dem Wirtshaus im Spessart hat, ein Film, der in allen Kinos läuft. Er steht da mit einem Kollegen, an den Namen kann ich mich nicht erinnern, aber er hat auch eines dieser Schauspieler-Gesichter, die zivil ohne Schminke irgendwie nackt aussehen.

Im Vorbeitänzeln klopfe ich ihm auf die Schulter und flachse ihn an: »Heute abend wird mal nicht vom Theater gequatscht, das Thema ist Boxen!« Wolfgangs unvergleichliche Komödianten-Visage, die mit den nach der Pointe abrupt hochgezogenen Augenbrauen zum Ausrufezeichen werden kann – Begriffen!? Dann klatscht gefälligst! –, gerät aus den Fugen. Jetzt sieht er aus wie ein leibhaftiges Fragezeichen der Ratlosigkeit. Noch Jahre später nannte er mich den Boxer mit der größten Chuzpe.

Neben mir murmelt Gretzschel etwas, was ich nicht verstehe. »Lausekopp!« wird’s wohl gewesen sein, oder vielleicht »Abgebrühtes Frettchen!« Manager-Jargon, den ich seit Jahren kenne.

Die Regie scheint zu klappen. Wir kommen an den ersten Reihen vorbei, 30 oder 40 Meter vor Charles Humez, wie es sich gehört: er ist der Gast, er ist mit 31 drei Jahre älter als ich, und er ist schließlich – noch! – der Titelverteidiger, der Ranghöhere. Nix faux pas, Monsieur, nix in Berlin. Na ja, Französisch. Geboxt wird wenigstens international, und da, Pardon, Monsieur, bin ich perfekt!

Als ich die erste Stufe zum Ring hinaufklettere, gibt es den vorprogrammierten Beifalls-Sturm (wenn ich nicht selbst schreiben müßte, würde ich Orkan sagen). Keiner sitzt auf seinen Händen, als ich, zweifarbiger rundlicher Teddybär in grünen Trainingshosen und blauem, vom Stallgefährten Uli Nitschke noch schnell ausgeliehenen Bademantel über dem eigenen weißen, in die Ringmitte steppe und mit meiner Vorstellung beginne.

30 Sekunden später ist Humez da, und der Applaus bekommt nun Akzent: schließlich ist Berlin alliiert besetzt, und wer von der französischen Garnison nicht gerade Dienst schiebt, will den Löwen von Flandern erleben. Am liebsten, wie er im Ring den Bubi aus Berlin zerreißt.

Ich gehe hinüber in die Ecke von Charles Humez und lächele ihn an. Hinter ihm stehen Marcel Petit, sein Trainer, und der Korse Philippe Filippi. Das ist sein Manager, von dem man an der Gerüchtebörse des internationalen Boxens tolle Dinge flüstert über seine Beziehungen zu geheimen Unterwelt-Organisationen. Filippi und Petit haben Mienen aufgesetzt, die man eigentlich für die Beerdigung eines ehrenwert-lästigen Konkurrenten reservieren sollte. Humez ist infiziert von dieser Stimmung.

Erst als ich, und ich strapaziere jetzt zum letzten Male mein nur in homöopathischen Dosen vorhandenes Französisch, zu Humez »Merde!« sage, was in diesem Falle nicht »Scheiße!«, sondern »Viel Glück!« oder »Toitoi!« bedeutet, reißt sein kantiges Gesicht mit den blauschwarzen Bartstoppeln zu einem Lächeln auf. Den Zahnschutz hat er noch nicht im Mund, und ich sehe die breite Lücke, wo mindestens zwei Zähne fehlen. Er sieht so friedlich aus wie ein altgedienter Pirat unmittelbar vor dem Enterkommando.

Ich gehe zurück in meine Ecke, zu Taubeneck, dem Chefsekundanten, und Freddy Teichmann, dem zweiten Mann. Ich setze mich auf meinen Schemel, lehne den Oberkörper gegen die in der Ringecke gespannte Matte und stelle die Beine entspannt vor mich. Das ist Routine, das hilft der Blutzirkulation. Freddy Teichmann lockert den breiten Hosenbund: das lenkt ab, ist gut für die Psyche. Es atmet sich leichter. Tausendfach geübte, mechanische Handgriffe sind das. Taubeneck geht in die Ringmitte, wo der italienische Ringrichter Tinelli auch Petit zum Auslosen der Handschuhe – wie es die Regeln der Europäischen Box-Union vorschreiben – hinbeordert hat.

Tinelli ist schön. Er ist vielleicht 40, der Typ des Roman Lover, braungebrannt, mit pechschwarzen Haaren und vollen Lippen.

Er ist so umwerfend, daß ich mich frage, warum sie ihn nicht längst in die römischen Filmstudios geholt haben, damit sich die Lollo und die Loren um ihn reißen. Ein großer Italiener. Er überragt uns fast um Haupteslänge.

Dann sehe ich wieder hinunter, in die Menschenmenge, die da um den Ring sitzt. Berlins Regierender, der hieß damals noch Willy Brandt, ist da. Die Prominenz des Boxens, die Aktuellen und die Ehemaligen wie Gustav Eder, Walter Neusel und natürlich der Größte von allen, Max Schmeling.

Meine Freunde aus der Zelluloid-Branche: Wolfgang Müller habe ich schon gesagt, sein Partner Neuss, der Regisseur Alfred Weidenmann, Canaris hat er gedreht und den Bundesfilm-Preis bekommen, Wolfgang Preiss, Harald Juhnke, O.E. Hasse, Uschi Lingen, Kurt Meisel. – Freunde, Bekannte und Prominente, zu deren Premieren ich gegangen war und die nun zu meiner Gala gekommen sind. Natürlich kann ich sie nicht alle sehen. Es interessiert mich auch in dieser Phase nicht. Aber die Presse war voll davon, wer, mit wem und wie gekleidet am Ring sein würde.

Irgendwo sitzt Curd Jürgens und wirft diese Blicke aus blauen Augen, Lassos für Frauenherzen, diskret in die Nachbarschaft. Diskret, weil seine junge Frau Simone Bicheron sich an ihn schmiegt, vielleicht zum ersten Mal nicht in Harmonie mit Curd – schließlich ist sie Französin und Humez Franzose.

Die Hauptkämpfer stehen immer im Blickpunkt. Aber vor so einem großen, einem so entscheidenden Kampf schauen die Tausende besonders fasziniert auf die Akteure im Ring, und da ist sicherlich viel Rätselhaftes und auch falsch Hinein-Interpretiertes, was die letzten Minuten vor dem ersten Gong angeht. Da sitzt ein Humez, da sitzt ein Scholz, umsorgt werden sie wie die Neugeborenen, da wird hantiert und geflüstert in der Ecke und vermutet rund um den Ring. Aber was passiert eigentlich in diesen letzten Sekunden?

Da passiert nichts, worüber man sich den Kopf zerbrechen oder wozu man die Phantasie bemühen müßte. Alles ist sichtbar: Hände werden bandagiert mit Mullbinden und die werden wiederum sorgsam mit Leukoplast befestigt, Handschuhe werden übergestreift und ordentlich verschnürt. Ordentlich, das heißt: sie müssen fest sitzen, aber sie dürfen den Blutkreislauf nicht hemmen. Das ist Handwerk, vergleichbar dem Treiben eines Konditors, der seine Torte noch überzieht. Man kann es mit ein bißchen Aufwand tun, die Mona Lisa auf den Kuchen spritzen, oder einfach eine saubere Glasur abliefern. Entscheidendes, den bevorstehenden Zusammenprall von 145 Pfund Mensch (im Mittelgewicht), die Risikobereitschaft, Leidensfähigkeit, Boxkunst (das Wort benutze ich mit allem Ernst) und vor allem den Charakter Beeinflussendes geschieht da nie.

Kein Trainer wird sagen: »Der Humez sieht aber heute mies aus, dem ist der Spinat nicht bekommen, also hau ihn auf den Bauch!« Der Boxer würde nach dem Psychiater für seinen Trainer schreien.

Kein Manager ist jemals zu seinem Fighter gestürzt und hat geschrien: »Ich habe da eben noch eine tolle Information erhalten: Humez ist total fertig, seine Frau Suzanne will sich scheiden lassen.« Nebenbei: Suzanne Humez sitzt im Hotel Lichtburg, sie hat ihren Mann noch nie im Ring gesehen, sie wartet immer nur auf ihn. Vielleicht betet sie auch für ihn.

Das gibt’s also alles nicht, und ich habe auch noch nie gehört, daß es so etwas gegeben hat, seit J.S. Douglas, der achte Marquess of Queensbury, die 1867 nach ihm benannten und publizierten Grundregeln des modernen Boxens verfaßte.

Was zu besprechen ist, die Allerweltsweisheit von der strammen Rechten des Charles Humez oder seiner Methode, in der Halbdistanz die Widerstandsfähigkeit und Kondition aus seinen Gegnern herauszuschlagen, das ist das kleine ABC. Das hat man seit Jahren drin, das ist eingebrannt wie Emaille: spätestens hat man sich, im Falle Bubi Scholz, für die Eigenheiten, Schwächen und Stärken dieses Herrn zu interessieren begonnen, als man selbst am 19. Mai 1951 gegen einen gewissen Herrn Schneider aus Celle Deutscher Weltergewichtsmeister wurde und der Herr Humez vier Wochen später am 13. Juni gegen den Kollegen Eddie Thomas in Porthcawl irgendwo in England die Europameisterschaft dieser Klasse errang.

Da war diese lockere Verbindung mit einem, den man nie gesehen hatte: Deutscher Meister, Europameister – Bruder, in der Hitliste bist du der Nächste! Schließlich möchte jeder Obergefreite einmal Unteroffizier werden, oder?

Im Weltergewicht waren wir nie zusammengekommen. Konrad Adenauer und Robert Schuman hatten zwar schon 1951 die Montan-Union erfunden und damit die deutsch-französische Kooperation vorangetrieben, aber für die Zusammenarbeit der Boxer hieß das gar nichts. Box-Funktionäre sind nicht so flexibel, so pragmatisch wie Politiker, die nehmen auf die angeblichen Ressentiments ihrer zahlenden Zuschauer Rücksicht.

Das habe ich übrigens bestimmt nicht gedacht, als ich in meiner Ringecke Charles Humez gegenüber saß und auf den ersten Gong wartete. Das fällt mir nur jetzt ein, in der Distanz von reichlich zwei Jahrzehnten, in denen ich mich auch verändert habe. Es ist eine Reflexion meiner späten Jahre, sie schleicht sich ein, sie gehört hier nicht hin. Entschuldigung, das hat der heutige Scholz so eben einmal gedacht.

Da gibt es also in der Ecke nur noch eine gewisse Sorte Small Talk. »Haste drüben die Knef gesehen?« fragt der Teichmann, nur um irgend etwas zu sagen. »Habe ich!« sage ich, und denke an ganz etwas anderes. An was?

In der Kabine, dieser kalkweißen Klause mit einer Massagebank, im Grunde genommen gar keinem Umkleideraum, sondern nur einer Notunterkunft für einen Abend, in der die Sechzig-Watt-Birne nicht einmal einen Schirm hatte und nur so aus dem improvisierten Anschluß baumelte, da hatte ich noch selbst gedacht. Ich selbst, der Mensch Gustav Scholz, den sie Bubi nannten (und immer noch nennen, 20 Jahre später, das ist nicht abzuwaschen).

Da hatte ich in der Einsamkeit der Zelle, denn Taubeneck, mein Trainer, und Teichmann, mein Schatten, sekundierten wie üblich meine Stallgefährten Nitzschke, Borczowskowski und Wemhöner in den Rahmenkämpfen (die 20 Prozent an meiner Börse ließen Manager Gretzschel schließlich nicht die Prozente an deren kleineren Börsen mißachten), vor mir den Film abgespielt, den mein Unterbewußtsein für dieses Alleinsein, Allein-gelassen-werden, bereit hielt. Es war mein 72. Kampf, und reichlich fünfzigmal hatte ich den Streifen schon gesehen.

Es fing eigentlich an mit meinem ersten Fight, den ich als Achtzehnjähriger bekam. Ich wollte ihn nicht.

Ich hatte in einer Sportschule trainiert, und obwohl ich Löcher in den Sohlen hatte, war das eigentlich im Stil eines Herrensportlers geschehen: ich fand es chic, und ich genoß auch meine offenbar vorhandenen und manchmal von Oldtimern bestätigten Talente fürs Boxen. Aber eine innere Beziehung dazu hatte ich zunächst gar nicht.

Ich dachte also, Schnitt zurück zum Humez-Kampf: Wenn du jetzt auf dem Weg zum Ring umknickst, dir den Knöchel verstauchst, vielleicht brichst – Krankenhäuser kennst du! –, dann brauchst du nicht zu boxen! Hallelujah!

728 Möglichkeiten dieser Art habe ich mir in den Jahren einfallen lassen seit meinem Eichler-Kampf im Oktober 1948, in dem ich die Unschuld verlor. Ich bin immer in den Ring gegangen.

Routine hat eben auch ihre Werte. Man spielt eine Situation – den Knöchelbruch beispielsweise – in der Phantasie durch, aber man tut es ohne Leidenschaft. Die Erfahrung sagt: natürlich boxt du!

Aber ist es nicht schön, sich in solch einem Wachtraum den ungeliebten Risiken und Konsequenzen zu entziehen?

Ich weiß aus meinem Erleben: ob man gegen einen davongelaufenen Bananen-Pflücker aus Nicaragua boxt (was ich nie getan habe), oder gegen einen wirklichen, aus dem Wissen und dem Gefühl heraus ehrlich respektierten Champion wie Humez – der Film ist, von Nuancen abgesehen, stets derselbe.

Für mich hat es immer nur eine Zäsur gegeben. Das war der erste Schritt hinein in die Arena, in das Stadion, oder wo immer sie das seilumspannte Viereck aufgebaut hatten. Dann war die Angst vorbei, ich hatte mich eingefangen. Natürlich hatte die Realität des Vertrages mit Garantiesumme und Beteiligung an den Einnahmen eine Dimension, die mich für den Kampf motivierte. Wenn ich durch die Seile stieg, rückte das jedoch in weite Ferne. Jetzt beherrschte mich nur noch ein Gedanke: Wie komme ich hier gesund wieder raus. Der Sieg stand erst an zweiter Stelle.

Boxen ist ein riskanter Sport. Der Risikozuschlag der Versicherungen stand in keiner Relation zu meinen Einnahmen. Also war ich meine eigene Versicherung. Trainingsfleiß verschaffte mir Kondition. Und Kondition Sicherheit. In der nächsten Stunde mußte sich meine Philosophie wieder bewähren, denn 15mal drei Minuten mit jeweils einer Minute Pause zwischen den Runden sind eine Stunde. In dieser Stunde war ich allein auf mich gestellt. Da konnten mir niemand und nichts helfen.

Ein paar Freunde, die da in der Nachtkühle im Olympiastadion auf ihren 200-Mark-Plätzen hockten, würden mir – falls nötig – nach dem Kampf zur Seite stehen. Und natürlich Helga, meine Frau, die Cleverness, Ruhe und Optimismus um sich verbreitete und es nicht ausgehalten hätte, wie Suzanne Humez an einem Telefon zu sitzen. Helfen, das wußte sie wie die Französin, konnte sie mir nicht in der nächsten Stunde. Aber bei mir sein, mich erleben im Positiven oder Negativen, das wollte sie. Meine Frau, der Fixstern an einem Himmel voller Sternschnuppen.

2.

Wie bei allen Berliner Kämpfen spielen Helga und ich auch diesmal wieder unsere Spielchen. Schon seit langem bildet sie sich ein – und hat auch mich davon überzeugt –, daß ein neues Kleid oder Kostüm oder ein neuer Mantel den Ausgang meines Kampfes jeweils positiv beeinflußt. Und das stimmte in der Vergangenheit ja auch immer. Ergebnis: Helga sitzt in einem klassisch geschnittenen, neuen Wollmantel mit Nerzkragen in der ersten Reihe. Ihr Spiel. Meine Rechnung.

Jetzt bin ich am Zuge: Ganz klar, Helga steht in den letzten Stunden vor dem Kampf im Mittelpunkt. Ich bin ja aus der Öffentlichkeit verbannt. Publikumsverkehr in der Garderobe unerwünscht! Also nimmt Helga die Toitoitois in Empfang, die mir gelten. Auch die guten Ratschläge und die besorgten Fragen. Und sie genießt diese Rolle, für die sie sich nicht geplagt hat, weit mehr, als sie zugeben mag.

Gerechterweise muß ich allerdings einräumen, daß sie meine Launen während der Trainingsmonate stets mit freundlicher Gelassenheit erträgt. Deshalb gönne ich Helga auch ihre kleine Show, was mich aber nicht daran hindert, ihren Blick zu suchen. Das mag sie nicht, weil das sofort die Neugier des Publikums wachruft. Jede Menge Augenpaare richten sich auf Helga. Sie fühlt sich ungemütlich, schlägt prompt die Augen nieder und wendet sich schnell zur Seite. – Die Amtsanmaßung ist gesühnt. Spiel zu Ende.

Ich muß grinsen, Freddy Teichmann sieht mich irritiert an. »Is was, Bubi?« fragt er besorgt. »Alles bestens, Freddy«, antworte ich und verscheuche das Lächeln. Inzwischen werden unter größter Aufmerksamkeit der 30000 Besucher schon die Handschuhe ausgelost.

Dieses Auslosen, das ist vor Meisterschaften auch so eine pseudo-sakrale Handlung. Die Handschuhe ähneln sich natürlich wie ein VW dem anderen: sie wiegen, vor Titelkämpfen, nach alter Tradition fünf Unzen. Das Boxen kommt aus England, die alte englische Ounce hat 28,35 Gramm, und nun kann sich jeder ausrechnen, was an Leder und Polsterung eine Boxerfaust schützt oder, andersherum, einen Schädel bei einem Profikampf trifft. Von den Bandagen, Mullbinden von zweieinhalb Meter Länge und genau vorgeschriebener Breite, gar nicht zu sprechen. Denn die haben, sorgsam gewickelt, auch eine doppelte Funktion: sie sind Schutz für das Knochengerüst der eigenen Hand und Waffe beim Aufprall auf den Körper oder Kopf des Rivalen.

Die Handschuhe selbst, die vor dem Kampftag eine Sportartikel-Firma aus einem Regal anliefert, in dem wahrscheinlich Hunderte genau gleich aussehender Exemplare liegen, haben erst nach dem Kampf Bedeutung: die vom Sieger bekommen einen Ehrenplatz in einer Sportschule oder, wenn der neue Champ noch sehr jung und trophäenhungrig ist, in seinem Privat-Museum. Der Verlierer schmeißt seine in der ersten Reaktion wahrscheinlich mit einem wüsten Wort in eine dunkle Ecke.

So ist das also mit den Handschuhen.

Lado Taubeneck und Teichmann helfen mir in die braunroten Dinger, jetzt wird es tatsächlich ernst. Jetzt muß sich zeigen, ob die Schinderei der letzten Wochen, die Läufe durch den Grunewald, die vielen hundert Trainingsrunden in der Sportschule, die drei Wochen der Askese im Hotel Gerhus, sich bezahlt machen. Besonders das Gerhus liegt mir auf dem Magen. Da habe ich konsequenter gelitten als ein Mullah im Ramadan, dem islamischen Fastenmonat.

Wie meistens ging es um das Gewicht, um diese magischen 145 Mittelgewichts-Pfunde. Die Steaks sahen so aus, daß man sie auf einem Kinderteller Pippi Langstrumpf reklamiert hätte, und am schlimmsten war es mit den Getränken. Dazu das beinahe totale Abgeschnittensein von Freunden – selbst das Telefon wurde abgeschirmt. Ich kann mir gut vorstellen, wie einem entmachteten und in Schutzhaft genommenen Spitzenfunktionär in einer Diktatur zumute ist.

Mit Freddy Teichmann, den ich zu meinem ständigen Begleiter ernannt hatte, war ich in dieser letzten Phase mehr zusammen gewesen als mit meiner Frau seit unseren Flitterwochen. Dabei ziehe ich eigentlich die Nähe von weiblichen Wesen vor …

In der BILD-Zeitung hatte Jürgen Juckel meine Ehe mit Freddy, der Chauffeur, Bodyguard, Amme und Irrenwärter in einer Person war, sehr schön beschrieben. Betitelt war die Geschichte: Der Hund, der Herr Teichmann hieß, weil Freddy angeblich sogar mit dem Rücken an der Tür des Kühlschranks geschlafen hatte, in dem die Säfte und das Selters standen.

Ihn und Lado Taubeneck, den anderen Sklaventreiber mit den sanften braunen Augen und der leisen Stimme eines Beichtvaters, habe ich in einem besonders durstigen Augenblick, mit trocken-kratzender Kehle, irrem Augenflackern (wie die beiden hinterher behaupteten), dabei aber geradezu genial-treffend (wie ich meine), als »Kapos, die man aus einem sibirischen Zwangsarbeitslager wegen übergroßer Grausamkeit gefeuert hat«, beschimpft.

Der Satz paßt auf die letzten Wochen vor allen meinen wichtigen Kämpfen. In einer ähnlichen Formulierung und mit der gleichen Inbrunst haben ihn Tausende anderer Boxer gedacht.

Tinelli winkt. Zu dritt stehen wir nun in der Mitte des Ringes, der für die nächste Stunde uns dreien gehört: dem eleganten, schon etwas feist werdenden italienischen Ringrichter, dem in sich hineinbrütenden Charles Humez, und mir. Tinelli murmelt irgend etwas, noch einmal Show für die Masse. Das notwendige Gespräch über Kommandos und Regeln hatte es vor einer Stunde schon gegeben. Dann der entlassende Klaps auf den Rücken und das klassische: »Kämpft, wenn ihr jetzt aus den Ecken kommt!«

Ich habe die Augenlider gesenkt, als ich in meine Ecke gehe, ich konzentriere mich und horche noch einmal in mich selbst hinein. Teichmann zieht mir den Bademantel von den Schultern. – Lohnt sich das alles?

Dann kommt es: »Ring frei – zur ersten Runde!«

Humez nimmt mich an wie der Stier den Torero. Die erste linke Gerade, der erste Versuch, eine Hakenserie zu schlagen! Ich blocke ab, mit vorgeschobener Schulter, stoße ihm zum ersten Male die rechte Gerade steif ins Gesicht. Der Fanzose schüttelt sich, marschiert sofort wieder auf mich zu.

Charles Humez kann nicht anders, er muß versuchen, ein hohes Tempo zu gehen und mir seine Haken nicht einmal, sondern gleich massenhaft zu verkaufen – wie im Sonderangebot, meistens ist es nix, aber manchmal findet man auch etwas.

In Paris, in diesem einzigen Fight, den ich bisher verloren habe und der mich immer noch wurmt, habe ich gegen diese menschliche Dampfwalze erst in den letzten drei von zehn Runden ein wirksames Konzept gefunden. Spät, aber wertvoll. Nicht mehr für Paris, obwohl ich heute noch meine, daß ich da auch ein Unentschieden verdient gehabt hätte, aber wertvoll für diese Europameisterschaft: was man einmal gefunden hat, braucht man nicht neu und zeitraubend zu suchen. Und risikovoll!

In Paris, da hat Humez wahrscheinlich – bestimmt! – Glück gehabt, daß nach zehn Runden alles vorbei war! Hier geht’s über 15 Runden!

Verdammt! Mich durchzuckt ein rasender Schmerz. Einer seiner linken Haken ist wie eine Granate in der Nierenpartie eingeschlagen! Das ist ein verbotener Schlag, aber so etwas passiert schon einmal in einem Schlagabtausch. Nicht soviel denken, machen. Die Rechte hineinstoßen in den herandrängenden Humez, eine Linke hinterher. Perfekt war sie nicht, aber vorsichtiger läßt sie ihn vielleicht werden. Ich spüre den Schlag immer noch.

In Paris hat mir Charles Humez mit einem ähnlichen Treffer eine Rippe gebrochen. Mit solch einem linken Hammer hatte Joe Louis 1938 im Weltmeisterschaftskampf Max Schmeling einen Dorn der Wirbelsäule demoliert und alles entschieden. Ich habe eine irrsinnige Angst vor solchen Grüßen. Ihre Wirkung strahlt paralysierend bis in die Beine, und alles kann ich mir leisten gegen diesen Franzosen, bloß meine Beweglichkeit muß ich mir erhalten.

Gleich muß Rundenschluß sein. Mir gelingt eine Rechte, ein kurzer linker Stopper. Gut so, und da ist der Gong.

60 Sekunden Erholung, 60 Sekunden innerliches Aufarbeiten dieser Eröffnungsrunde und neue Konzentration. 60 Sekunden können eine wunderschöne Ewigkeit sein, mit einem geliebten Menschen. Im Boxring sind sie schäbig kurz.

Der Mann, dessen Titel ich haben will, beginnt Runde 2, wie er die erste aufgehört hat: als ein schlagendes, schnaufendes Ungewitter. Wo Humez eine Blöße zu sehen glaubt, schlägt er. Wenn er keine Blöße sieht, aber die Distanz stimmt, hämmert er bedenkenlos auf meine Deckung.

Und ich antworte, methodisch und immer reaktionssicherer. Mit rechten Jabs, steifen Haken, hinter denen das ganze Körpergewicht liegt, und kurzen linken Geraden, die ich vom Brustbein schlage und den anrennenden Gegner damit kontere.

Am Seil pendele ich die meisten seiner verbissenen Schlagversuche aus (gleich nach dem Betreten des Ringes hatte ich mich probeweise hineinfallen lassen, um mich zu überzeugen, ob es, wie angeordnet, straff gespannt ist). In der Hüfte bin ich beweglicher als der Franzose, mein gutes Reaktionsvermögen hilft mir, den Kopf um den Zentimeter aus der Schlagrichtung zu nehmen, oder auszupendeln.

Unten am Ring stöhnen sie auf, wenn ich am Seil stehe. Sicherlich brüllen ein paar gute Freunde längst »Raus aus dem Seil, Bubi!« Ich höre das nicht, ich fühle mich ziemlich wohl. Und ich schlage, aus dem Pendeln, Beine fest auf dem Canvas (so heißt der Ringbelag), Rechte und Linke, Linke und Rechte.

Sie treffen ein anstürmendes Ziel, sie hinterlassen Wirkung. Das ist einfache Physik, das Gesetz von Masse und Beschleunigung, das ist der Alltag der Unfall-Chirurgie. Damit ist es erzählt: das hab’ ich in Paris gelernt!

Ich kann heute, nach mehr als 20 Jahren, nicht mehr jede Runde und jeden der Schläge, ausgeteilte und erhaltene, eines Kampfes aufzählen. Das verschwimmt in der Erinnerung, das ist, als ob ein Zug in der Nacht an einem vorbeirast: helle Fenster, dunkle Fenster, eine flimmernde Kette.

In dieser zweiten Runde habe ich Charles Humez, ich meine mit einer harten Linken, das Nasenbein gebrochen und die Lippe gespalten. Für viele Boxer wäre das genug gewesen. Sie hätten aufgesteckt. Ich kann nicht sagen, wie ich mich selbst in einer solchen Situation verhalten hätte, die ich mir allerdings nie vorstellen konnte und die mich auch nie ereilt hat. Aber viele, die ich kenne, und ich meine erstklassige, beherzte Fighter, hätten hier aufgegeben.

Nicht Charles Humez.

Und ich will jetzt einmal etwas Grundsätzliches sagen über diesen Boxer, den man in Frankreich den Löwen von Flandern getauft hatte, zu Recht, wie ich felsenfest glaube, und der im November 1979 in Nizza als 53jähriger einem Blutsturz erlegen ist. Viel zu früh.

Charles Humez – das war der Härteste, das Verbissenste, was der europäische Boxsport in diesen Jahren aufbieten konnte. Der frühere Bergmann war ein Produkt des nordfranzösischen Reviers, in dem jedes Jahr Millionen Tonnen Kohle produziert werden und vielleicht jedes Jahrzehnt einmal so ein Mann: Kantig, mit einem nur mit dem Preßlufthammer zu zerstörenden Kampfgeist, mit der körperlichen Physis eines Riesen in einem nicht einmal übermäßig muskulös erscheinenden Körper.

Er lebte in der Tradition der gegen sich selbst schonungslosen französischen Boxer, die mehr geben wollten, als die Vernunft zuließ. Ich denke da an Emile Pladner, der als halbblinder Mann noch in den Ring ging. An den eleganten Halbschwergewichtler George Carpentier, der den K.o.-Spezialisten und Schwergewichts-Weltmeister Jack Dempsey akzeptierte, als man ihn bei der Ehre nahm. Schließlich an Marcel Cerdan, der es fassungslos weinend nicht verstehen konnte, daß ihn nach 15 Profi-Jahren ohne entscheidende Niederlage die Beine nicht mehr zu einer neuen fürchterlichen Runde mit Jake LaMotta tragen wollten.

Der Boxer und Bergmann Humez hatte immer nach dem Kodex napoleonischer Offiziere geboxt: Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht. So war es auch in dieser Nacht in Berlin. Humez steckte Schläge ein, die ihn entsetzlich geschmerzt haben müssen. In der fünften Runde schlug ich ihm zum ersten Male den Mundschutz heraus. Das passierte wieder und wieder, zuletzt warf er ihn weg. Es kostete ihn, kleine Münze in so einem Aufeinanderprall, einen Goldzahn.

Ich habe auch eine Krise gehabt, bei mir war es die achte Runde. Der Gang vorher war unheimlich gewesen. Mit der Energie und dem Überlebensdrang eines Steinzeitmenschen, so schien es mir, hatte Humez mich angegriffen. Vielleicht spielte da der Aberglaube eine Rolle, die Sage, daß die siebente eine besondere Runde ist. Um das zu belegen, wird immer wieder die Boxgeschichte herangezogen.

In der siebenten Runde hat Max Schmeling einmal einen schon verloren scheinenden Kampf gegen Hein Domgörgen herumgerissen.

In der Magischen mußte sich Walter Neusel zum ersten Mal in seiner Karriere gegen Hein ten Hoff auszählen lassen.

In ihr setzte der Ring-Methusalem Jersey Joe Walcott, der 38 Jahre alt war und dem Titel 20 Jahre lang nachlaufen mußte, Ezzard Charles auf die Bretter.

In einer siebenten Runde glaubte sich Jack Dempsey allerdings auch schon gegen Gene Tunney, den boxenden Intellektuellen, Sieger und verlor doch noch.

Es soll irgend etwas sein an dieser siebenten Runde, etwas, das ich nie gespürt habe, aber vielleicht hatte Charles Humez andere Informationen. Er schien alles auf eine Karte zu setzen. Blutend und prustend, die gebrochene Nase mußte ihm das Atmen unglaublich erschweren, stürmte er immer wieder auf mich ein, einen roten Atem-Sprühregen vor sich hinblasend. Und Wirkungstreffer, die ich mit Dutzenden von Kontern bei ihm landete, waren ihm einfach nicht anzumerken.

Vielleicht fehlte mir das Stimulans des Erfolges. Vielleicht war es unbemerkt Resignation, die sich einschlich, weil Schläge Humez scheinbar überhaupt nicht stoppen konnten – die achte Runde wurde für mich kritisch.

Ich erreichte einen toten Punkt – ob aus körperlichen oder anderen Gründen, weiß ich nicht genau. Meine Beine waren träge, als hätte ich Marmelade in den Adern, mein Timing – der Sekundenbruchteil, in dem man die Ideal-Position zum Gegner und für einen Schlag erkennt und nutzt – stimmte nicht, mir fehlte der zündende Funke.

Humez aber riß sich den Mundschutz heraus, schleuderte ihn achtlos in seine Ecke, um besser atmen zu können, und griff weiter an. Verzweifelt bemühte ich mich, mit diskretem Halten und Klammern Zeit schindend, wenigstens ab und an und mehr aus optischen Gründen, diese Kampfmaschine zu kontern und mit rechten Geraden zu bremsen. Ich war froh, als diese endlosen 180 Sekunden vorbei waren.

Es war mir auch egal, daß ich sie wahrscheinlich – zum ersten Male an diesem Abend – auf den Punktzetteln verloren hatte.

In meiner Ecke ging es in der Pause nicht gerade fröhlich zu. Ich war zwar bemüht, ruhig und beherrscht auf meinem Schemel zu sitzen, und ich fixierte auch weiterhin unentwegt und kühl Humez in seiner Ecke. Aber Lado Taubeneck kannte mich viel zu genau, um nicht zu wissen, was tatsächlich los war.

Ich stieg in dieser Pause in den inneren Menschen Gustav Scholz hinab. »Du hast alles Menschenmögliche in der Vorbereitung zu diesem Kampf getan«, sagte ich mir. »Du hast dich geschunden, hast dich gefordert bis an den Rand deiner physischen Kräfte. Hast gelebt wie ein Asket. Du hast dir nichts vorzuwerfen.« Moralisch waren wir uns wieder einig, ich und der Boxer.

In der neunten Runde stand wieder der alte Scholz im Ring, der richtige Scholz. Der tote Punkt war vergessen. Aus irgendeinem geheimen Reservoir strömten mir offenbar neue Kräfte zu. Die Beine wurden wieder locker, das Timing stimmte wieder.

Es gelang mir, Humez beim ersten Schlagabtausch in diesem neunten Gang kalt zurückzuschlagen: mit Treffern, die Druck hatten und Präzision.

Die 30000 Zuschauer im Dunkel des Olympiastadions, die mit angehaltenem Atem und zuletzt wahrscheinlich mit vielen Ängsten um den Bubi Scholz diese Ringschlacht verfolgt hatten, merkten es vielleicht noch gar nicht: in dieser Runde habe ich den Kämpfer Charles Humez zerbrochen! Ich habe ihm noch nicht den entscheidenden Schlag mitgegeben. Aber als er in seine Ecke abdrehte, nach dem trockenen Scheppern des Gongs, da hatte ich den Glauben an eine erfolgreiche Titelverteidigung aus ihm herausgeschlagen.

Ich wußte es instinktiv, und ich fühlte es, als wir uns zur zehnten Runde trafen: plötzlich fehlte seinen Schlägen der Biß. Er ging zwar noch roboterhaft nach vorn, die Fäuste wirbelten noch, aber das tat er mechanisch. Die Flamme war erloschen, die einen Europameister Charles Humez getrieben hatte, die die Gegner verbrannt hatte. Er war demoralisiert.

In der elften Runde hat dieser Humez, der größte und tapferste Gegner, auf den ich jemals getroffen bin, einen verzweifelten Zwei-Fronten-Krieg geführt: gegen mich, der ich nun eindeutig bestimmte, und gegen sich selbst.

Er hat ihn, müde, blutend, leidend, von Atemnot gequält, in der zwölften noch einmal aufgenommen. Zwei Minuten und 20 Sekunden lang.

Aus einem Schlagabtausch heraus drehte Charles Humez dann ab. Der Europameister hob den rechten Arm, er ließ den Oberkörper Halt suchend auf das Seil fallen. Die Augen unendlich traurig in seine Ecke gerichtet, in der Filippi und Petit bleich geworden sind, kommt es gurgelnd aus seinem Mund: »Je n’en peux plus – ich kann nicht mehr …«

Ich höre den Satz, und ich höre ihn nicht. Ich stehe zwei Schritte von Humez entfernt, die Fäuste vor der Brust, bereit zum nächsten Angriff, und ich muß den Satz, die armen, kurzen vier Worte, erst verarbeiten. Gibt’s das – Humez kann nicht mehr? Charles Humez!?

Ich habe nicht umsonst gehungert, gedürstet, mir die Lunge aus dem Hals gerannt, mich selbst kasteit. Ich bin da, wo ich hin will. Mein eigener Nanga Parbat ist erklommen, so fühlte sich Amundsen, als er den Pol erreichte, Edison, als er die Glühlampe erfand, und Otto Lilienthal, als er zum ersten Male flog. Denn es ist nicht die Sache. An die glaubt man ohnehin, sonst finge man überhaupt nicht an. Es ist, für einen Menschen persönlich, das Ziel, das er plötzlich erreicht hat. – Ich bin Europameister!

Während mir diese Gedanken durch den Kopf schießen, wende ich mich meiner Ringecke zu. Doch Humez hält mich zurück. Mit beiden Fäusten reißt er meinen rechten Arm hoch. Mein erster Gratulant, Charles Humez.

Und nun bricht das Chaos los.

Man hängt mir einen Riesenkranz um die Schultern, einen mit diesen widerlich pieksenden, goldbronzierten Lorbeerblättern. Das war noch zu ertragen. Der Ring wimmelt von Menschen, Offiziellen, Fotografen, Managern und Betreuern. Ich werde hin- und hergestoßen, die Blitzlichter flammen auf, die ersten Mikrofone stoßen mir, gefährlich wie die Haken von Humez, vor das Gesicht.

Der Franzose ist in seiner Ecke, sie schneiden ihm die Verschnürungen der Handschuhe auf, haben ihm das Blut aus dem Gesicht gewischt. Alle wollen mit mir reden, keiner spricht mit dem Ex-Europameister.

Ich dränge mich durch zu ihm. Er lächelt mühsam, schüttelt mir die Hand. Ich nehme ihn mit in die Ringmitte, in das Gewitterzucken der Fotoapparate. Jetzt müssen sie ihn mit aufs Bild nehmen, so geht das doch nicht. Schwer atmend, mit gesenktem Kopf und Schweißperlen im Gesicht und auf der Brust mit der dunklen Behaarung, steht er unglücklich neben mir. Charles Humez ist kein routinierter Verlierer. Er hatte wenig Gelegenheit, es zu lernen.

Seine Betreuer holen ihn in ihre Ecke zurück. Ich werde im wahrsten Sinne des Wortes vom Jubel gepackt und geschlagen. Schulterklopfen links, Schulterklopfen rechts, rechte Hand gedrückt, linke Hand gedrückt. Fürs Siegesküßchen wird mein Kopf bald hierhin bald dorthin gezerrt. Selbst vor Umarmungen bin ich nicht sicher. Wahrlich ein anstrengender Sieg. Und alle meinen es so gut mit mir!

Polizei bildet einen Schirm um mich, als ich endlich aus dem Ring klettern kann. Plötzlich drängt sich ein massiver, dunkelhaariger Mann zu mir durch, legt den Arm um mich. »Bubi, laß dir helfen!« Das ist Gerhard Wendland, Platten-Troubadour und einer, der mit Gedanken, Wünschen und Hoffnungen ganz nah bei mir gewesen ist. Der darf mich stützen, obwohl es ohne Hilfe vielleicht bequemer für mich gewesen wäre, der braucht das – nach all der Aufregung.

Vor meiner Kabine wartet, bescheiden im Hintergrund, ein anderes vertrautes Gesicht auf mich: mein Vater, weiße Schläfen, brauner Hut und in den Augenwinkeln verdächtiges und eigentlich fremdes Naß. »Hallo, Papa!« rufe ich.

Er macht ein paar Schritte auf mich zu, hebt die Hand und dreht dann ab. Das ist nicht seine Welt, dieser Trubel, diese nervösen Lacher und angefangenen und nie zu Ende gebrachten Sätze der Boxclique, wenn die Spannung vorbei und alles zu einem guten Ende gekommen ist. Mein Vater verschwindet im Dunkel. Dabei war er mir so nahe, innerlich, das weiß ich bestimmt, wie niemals seit dem Tage, als ich die ersten Schläge von ihm bekam.

Helga, die nicht nur tüchtig Daumen gedrückt hatte, sondern meinen Sieg auch durch den Kauf eines neuen Mantels vorprogrammiert hatte – was bedeutete schon mein schweißtreibendes Training gegenüber Helgas gutem Omen? –, war wie immer sofort nach dem Kampf zusammen mit Freunden verschwunden. Sie wußte, daß der jetzt folgende Presserummel genauso wichtig und unvermeidlich war wie die Publicity vor dem Kampftag. Außerdem gab es zwischen Helga und mir die stille Übereinkunft, daß die erste private Stunde nach dem Fight mir ganz allein gehörte. Die brauchte ich, um mich zu regenerieren und zu sammeln. In dieser Stunde wollte ich niemanden sehen und von niemandem gesehen werden. Das war wichtig für mich, und Helga akzeptierte diesen Wunsch.

Weder mein Vater noch meine Frau waren Boxsport-Enthusiasten. Aber für Scholz wurden sie es.

»Was zieht Sie bloß zum Boxen, diesem blutigen, grausamen Sport?« hat eine Dame, die bereits drei Ehemännern einen K.o. versetzt hatte und mit dem vierten gerade im Ring war, meine Frau einmal gefragt.

»Ich gehe nicht zum Boxen, ich gehe zu meinem Mann«, hat Helga ganz kühl geantwortet. (Hätte von mir sein können.)

Ich kann aber auch, und Helga pflichtet mir da bei, eine Madame Humez verstehen, die im Hotel Lichtburg auf ihren Mann wartet. Und wie wartet! Sie versteht kaum ein Wort Deutsch, aber sie hat um ein Radio gebeten und sie hat sich die Direkt-Übertragung des RIAS angehört. Sie hat elf Runden lang, elfmal drei Minuten und elf Pausen, auf die unbekannten, ihr hart ins Ohr dringenden Worte des Reporters gelauscht, fremde, unverständliche Silben und Laute. In der zwölften Runde hat sie, das ist international, »k.o.« verstanden.

Dann war da »Bubi Scholz – Champion!« Frau Humez hat’s gehört, aber sie hat verwirrt und nervös sich selbst nicht getraut. Glauben konnte sie das schon gar nicht. Sie geht zum Telefon und ruft den französisch sprechenden Empfangschef an. »Bitte«, sagt sie ängstlich, »bitte sagen Sie mir – wer hat gewonnen?«

»Gustav Scholz!« antwortet der Empfangschef, »durch k.o. in der zwölften Runde!«

Madame Humez fragt zurück: »Sie meinen, Scholz ist k.o.?«

»Es tut mir leid, Ihr Gatte hat nach einem phantastischen Kampf verloren. Scholz ist Champion.«

Der Mann an der Rezeption hört einen tiefen Seufzer. Dann knackt es in der Leitung.

So jedenfalls erzählte er die Geschichte meinem Blumenhändler, den ich damit beauftragt hatte, einen Strauß Blumen für Madame Humez abzugeben. Es kann keiner besser siegen, als Ihr Mann verloren hat, stand sorgfältig ins Französische übersetzt auf der Karte, die ich beifügen ließ.

Der Rezeptionschef muß übrigens einen ausgeprägten Sinn für Publicity und gute Pressekontakte gehabt haben. Denn anderntags konnte man die Story, noch um einige Ausschmückungen bereichert, bereits in den Zeitungen lesen.

An Madame Humez mußte ich denken, als ich im Olympiastadion noch den 30000 gehörte. Man geht in solch eine Arena, ich habe davon gesprochen, immer mit ein wenig gemischten Gefühlen. Denn viele halten einem die Daumen, aber es gibt auch andere, die warten nur darauf, daß man endlich einmal verliert. So ist das Leben, Schwachsinn, es sich anders zurechtzudenken.

Aber als an diesem Abend auf ein Kommando des Sprechers in dem riesigen Oval plötzlich 30000 Zündhölzchen aufflammten, ein hinreißendes Flackerwerk des Triumphes meines Sieges, da waren sie mir pauschal sympathisch, alle 30000.

Bei soviel Feuer fällt es eben auch einem Skeptiker wie mir schwer, nicht erwärmt zu werden.

Aber das war bei weitem nicht alles. An diesem Abend habe ich in Deutschland einige Dinge ausgelöst, von denen ich noch keine Ahnung hatte, als ich mich in meinen Wagen setzte – nicht ohne gewisse Dinge zwischen Freddy Teichmann und mir wieder geradezurücken.

»Den Wagenschlüssel bitte«, sage ich zu Teichmann.

»Du bist doch viel zu aufgeregt«, wehrt er sich.

»Autofahren beruhigt die Nerven!« bescheide ich ihn und fahre über die Heerstraße, am Funkhaus vorbei, zum Kurfürstendamm und in die Bayerische Straße. In meine Wohnung, die ich drei Wochen nicht gesehen habe.

Endlich fühle ich mich wieder privat.

3.

Ich fühlte mich privat, aber einige andere Leute waren mit dem Ereignis Scholz Europameister im Mittelgewicht! noch lange nicht fertig.

In Stuttgart unterbrach Peter Frankenfeld, mit dem ich manche Partie Schach gespielt habe, seine Fernseh-Show. Mit ernster Miene begann er: »Es ist kein nationales Unglück …«, dann unterbrach er sich, sah bedeutungsvoll in die Runde und nestelte an seinem karierten Jackett, um noch einmal zu beginnen: »Es ist kein nationales Unglück für Frankreich, daß der neue Europameister im Mittelgewicht Bubi Scholz heißt!«

In der Sportredaktion von BILD, die Zeitung saß damals noch in dem klobigen Ullstein-Gebäude in Tempelhof und nicht an der Kochstraße mit dem Blick über die Mauer, wirbelte eine aus allen Redaktionen zusammengeholte Experten-Besetzung: man druckte zum ersten Male in der Geschichte dieses großen Blattes eine Sonderausgabe, die noch vor Mitternacht auf dem Kurfürstendamm und an anderen zentralen Punkten des nächtlichen Wochenend-Berlins kostenlos verteilt wurde. Das ist etwas, worauf ich noch heute stolz bin – etwas, das ich eingeleitet habe und das seitdem bei wichtigen Gelegenheiten von BILD wiederholt worden ist.

Vor einiger Zeit ist mir erzählt worden, daß es auch bei einer anderen Zeitung etwas Sensationelles gab: bei der Rheinischen Post in Düsseldorf, einer der bedeutenden deutschen Regionalzeitungen, nahm man in der Montag-Ausgabe erstmals einen Sportartikel auf der ersten Seite auf. Bis dahin hatte es bei dem konservativen Blatt, dessen Verwaltungsrat ein Bischof vorstand, auf der Kopfseite gerade eben Raum für die Ergebnisse der Fußball-Oberliga West (die Bundesliga war ja noch nicht geboren) gegeben. Geburtshelfer waren von dem Humez-Kampf faszinierte Kultur-Redakteure und ihre Kollegen aus dem politischen Ressort …

Bei meinen engen Freunden ging es nicht so ernsthaft, dafür aber feuchter zu. Gustav Knuth und Walter Gross betranken sich gemeinschaftlich, und das in fürchterlicher Weise.

Bei Harald Juhnke, der eine Siegesfeier mit Strömen von Champagner arrangiert hatte, versuchte Wolfgang Preiss zwischen Bodenvasen, Snacks und vollen Gläsern meinen Fight mit den Ausdrucksmitteln des Schauspielers noch einmal darzustellen. In der Runde acht – da hatte ich meinen toten Punkt zu überwinden – brach er zehn Sekunden, bevor der rettende Gong ertönte, zusammen. Nicht ganz authentisch, aber natürlich ungeheuer effektvoll.

Die Feier bei Harald Juhnke stand mir noch bevor, und sie sollte mir körperlich fast ebensoviel abverlangen, wie die zwölf Runden mit Charles Humez. Aber das wußte ich noch nicht, als ich in der Bayerischen Straße ankam.

Mille Böhm, die schon Kindermädchen meiner Frau gewesen war und die wir als Haushälterin übernommen hatten, stand schon in der Tür, ein bißchen besorgt, ein bißchen stolz, ein bißchen gerührt. Sie kannte mich zu gut, um jetzt unpassende Fragen zu stellen oder eine unbeholfene Gratulation anzubringen.

Mille wußte, wonach mir der Sinn stand, wonach ich geradezu lechzte. Und ihre Frage lautete denn auch ganz praktisch: »Wieviel Eigelb sollen in den Drink, Herr Scholz?« »Fünf«, sagte ich. Alles andere hatte sie schon vorbereitet: Milch, Traubenzucker, Honig, Früchte waren schon im Mixer. In Windeseile hatte Mille einen Liter dieses Aufbaugetränks fertig. Ganz frisch. Und unendlich köstlich für einen, der wochenlang asketisch gelebt und eben erst viel Schweiß bei einem Kampf um die Europameisterschaft vergossen hatte. Das war Milles Glückwunsch. Und auf den hatte ich schon gewartet und mich gefreut.

Während die ersten Telegramme eintreffen und Gerhard Wendland und Freddy Teichmann, die hinter mir hergefahren waren, die Wohnung okkupieren, Platten auflegen und einen Sektkorken knallen lassen, habe ich mich mit meinem Literglas ins Bad verzogen. Mille hatte schon Wasser ein- und ständig warm nachlaufen lassen, das gehörte zum Ritual meiner Berliner Kämpfe. Darüber brauchten wir gar nicht zu reden, Mille und ich.

 

Mollig-warm ist es im Bad, und die Essenzen – wozu haben wir zwei Parfümerien? – duften himmlisch. Durch die Tür höre ich verschwommen die Unterhaltung von Wendland und Teichmann. Die Stereo-Anlage vermittelt mir ein Rendezvous mit Frank Sinatra, Les Baxter und André Kostelanetz – süß, sentimental, wie ich es mag, Musik zum Träumen.

Ich versinke im Badeschaum, neben mir den kühlen Drink, und ich träume tatsächlich. Nicht von der Zukunft, ich bin ein Realitätsmensch, die wird mir schon noch begegnen. Mehr von den Jahren hinter mir, in denen wenig Zeit für Tagträume war. Ich bin, die Musik ist schön, das Wasser wärmt mich, und der Tag war gut und glücklich, rundherum zufrieden. Zufrieden auch mit mir, und – was noch mehr ist – mit meinem Leben.

Für einen Jungen aus der Choriner Straße, Berlin N58, heute sowjetischer Sektor, denke ich, kannst du auch zufrieden sein. Chancengleichheit, was für ein Wort, die gab’s da sowenig, wie man das vielbenutzte und heute schon beinahe abgegriffene Wort überhaupt kannte. Du willst eine Chance vom Leben? – Nimm sie dir doch, wenn du es schaffst! Ich habe sie mir genommen und habe gewonnen.

Die Sicherheit, daß es tatsächlich passiert ist, daß ich auf dem Treppchen stehe, nicht dem soviel zitierten des Olympiasiegers, das allzuoft nicht mehr ist als eine Luftschaukel für ein paar Lebensaugenblicke, sondern auf dem in eine gute Zukunft, wärmt mehr als das Wasser. Das Gefühl schießt mir geradezu in die Adern.

Ich sehe mich in der ordentlichen Welt von Helgas kleinem Badezimmer um. Die Zahnputz-Gläser mit den Bürsten, die so zueinander geneigt sind, als ob sie sich dringende Dinge zu erzählen hätten. Vertraulichkeit und Intimität, die ich mit Helga habe und genieße.

Ihr flauschiger, weicher Bademantel – der symbolisiert Geborgenheit, Eingehülltsein. Die Tiegelchen, Töpfchen, Flacons – der Hauch von Luxus und Wohlleben, von dem ich mich so ungern für diese notwendig-lästigen Eremiten-Wochen vor den Kämpfen trenne, und zu dem ich dann so gern zurückkehre.

Alles für einen Bengel, dem die Hosen mal zu lang über die Knie saßen, weil sie auf Zuwachs gekauft waren, und mal zu kurz waren, weil sie noch ein paar Wochen halten mußten. Der sich in Hinterhöfen beim Fußballspielen die letzten Schuhe zerkloppt hatte an Blechdosen, wenn der einzige Ball in der Choriner Straße gerade wieder einmal den Atem verloren hatte. Der sich seine Murmeln mühsam zusammengespielt hatte und der, als er genug hatte, dafür eine Kompagnie Zinnsoldaten eintauschte – damit Mutter sie, ich weiß immer noch nicht warum, eines Tages wegwarf.

Auch die Betrübnisse, die kindlichen Kümmernisse, fallen mir wieder ein.

Ich denke an den blassen Bengel mit der blonden Tolle, den sie in die Kinderlandverschickung verstoßen hatten. So sah ich das damals. In Wahrheit sollte ich natürlich nur heraus aus dem schon aus vielen Wunden blutenden Berlin mit seinen Fliegeralarmen, Versorgungs-Schwierigkeiten und Ausfällen von Schulstunden. Ein paar Pfund mehr auf den Rippen, hat man damals wohl gedacht, könnten mir auch nicht schaden.

Für den elf- oder zwölfjährigen Bubi war Kinderlandverschickung gleich Exil. Lieber meinen Kiez mit allen seinen Nachteilen, aber auch Freundschaften und kleinen Alltäglichkeiten, als die dicken Brotscheiben mit Butter, die Bratkartoffeln und die ungestörten Nächte unter erstickend-heißen Federbetten in Ostpreußen und Thüringen.

Zweimal bin ich abgehauen. In der Gruppe bin ich jedesmal hingefahren, allein bin ich wiedergekommen – ein blinder Passagier mit nackten Beinen und einem häßlichen, braunen Pappkoffer. Gelenkig, mißtrauisch und wachsam wie eine streunende Katze, ohne Lebenserfahrung, aber mit einem gesunden Instinkt für das Machbare. So sagt man das jedenfalls heute.

Das Bild des abgeschriebenen, Tbc-kranken Boxers Scholz, der im Schwarzwald-Sanatorium liegt, kommt mir flüchtig in den Sinn, mir, dem 28jährigen Europameister Gustav Scholz in seiner Badewanne nach seinem bisher größten Fight. Viele Bilder aus meinem Leben zogen damals an mir vorbei: apokalyptische gefolgt von frechen, rührende gefolgt von brutalen, lustige vermischt mit verliebten und kühl geschäftsmäßigen. Alles lief durcheinander und ergab doch ein Ganzes …

Für Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, werde ich versuchen, ein wenig Ordnung in mein Leben zu bringen. Nicht zuviel natürlich. Sonst würden mich meine Freunde in diesem Buch nicht wiedererkennen. Ich neige nun einmal zu spontanen Sprüngen beim Erzählen. Warum das verleugnen?!

4.

Ich saß in einem Zug, es war dunkel, und jedes Rattern über die Schwellen brachte mich ein kleines Stück weiter nach Hause. Die Fenster waren mit schwarzen Rollos aus dickem Packpapier zugezogen, von der Decke baumelte eine blauangestrichene, trübe blinzelnde Glühbirne, und in dem fast undurchdringlichen Dämmer leuchteten die Zigaretten rot wie Glühwürmchen auf. Es roch beißend nach Machorka, dem scharfen, die Kehle kratzenden russischen Tabak, der fachmännisch in Zeitungspapier zu einer plumpen Zigarette gedreht worden war. Dazwischen mischte sich der Geruch von Karbol, letzter Gruß der Entlausungsanstalt aus den Weiten der Sowjetunion. In Schneidemühl hatte ich den D-Zug Königsberg-Berlin erwischt, einen Fronturlauber-Express. Wenn ich, im Begriff einzuschlafen, zur Seite kippte, scheuerte ich an rauhem Uniform-Feldgrau.

Mein kleiner Koffer hatte einen schmalen Platz zwischen Tornistern und solide, aber ungeübt mit dickem Papierbindfaden verschnürten Paketen im Gepäcknetz gefunden. Ab und zu fiel mir ein Tröpfchen salziger Lake ins Gesicht: einer hatte doch tatsächlich ein Fäßchen Salzheringe in Rußland ergattert, die nun in Hamburg, Köln oder Stuttgart den Speisezettel der Familie bereichern sollten.

Es war 1943, die Zeit der seligen Kaffee- und Schokoladen-Pakete – ganz zu schweigen von seidenen Strümpfen – aus Frankreich, Belgien und Holland lag drei oder vier Jahre zurück. Jetzt war Sonnenblumenöl das übliche Mitbringsel, ein Stück Speck eine Occasion.

Aber die großartige Stimmung, die optimistischen Erzählungen vom Panzervorstoß über die Maas bei Sedan, von der Schlacht in Flandern und dem Wettrennen mit den Engländern nach Dünkirchen gehörten ja auch der Vergangenheit an. Was die Männer in Feldgrau sich erzählten, kurz wie ein Stenogramm und immer beendet mit einem fatalistischen Schulterzucken, waren Geschichten von der Räumung Charkows, von der Hölle bei Orel und vom Rückzug aus dem Kuban-Brückenkopf.

Und die Gesichter waren anders. Es war immer noch der preußisch kurze Haarschnitt und der charakteristische rote Rand an der Stirn, da, wo der Stahlhelm sich hineingebissen hatte. Aber diese Soldatengesichter leuchteten nicht mehr von innerem Optimismus und dem Gedanken an zukünftige Siege. Die Männer wirkten grau, müde und schrecklich alt.

Die Spangen und Orden waren zahlreicher geworden. Ich kannte sie alle: das schwarzweißrote Bändchen vom EK II, das silberne, baumelige Infanterie-Sturmabzeichen, das schwarze Verwundeten-Abzeichen, die Ostmedaille, die sie den Gefrierfleischorden nannten, weil sie nach dem schrecklichen ersten Rußland-Winter 1941 mit seinen Zigtausenden von Erfrierungen beinahe inflationär verliehen werden mußte. Das EK I saß auf der linken Brust, die Stoffaufnäher mit der Panzer-Silhouette erzählten von erfolgreichen Abschüssen mit der Panzerfaust oder anderen Nahkampfmitteln. Ärmelschilde wiesen Veteranen von Narvik oder der Krim aus.

Die Vergangenheit der letzten zwei oder drei Jahre trugen diese jung Gealterten ablesbar an der Brust, und ich war im Deuten Experte. Ich und meine ganze Generation.

Was uns nicht so sehr auffiel, vielleicht wollten wir es auch nicht sehen, waren die anderen Nachrichten aus dieser Kriegswelt, in der es so korrekt zuging mit Orden für Kriegsleistungen, mit der sorgfältigen Entlausung, um die Heimat nicht durch die kleinen Blutsauger zu erschrecken: die Krücken, die im Abteil neben den Karabinern standen, die leeren Ärmel der Uniformjacken, die in dieser ordentlichen Welt so unordentlich dahinschlenkerten.

Da gab es immer nur ein kameradschaftlich-höfliches »Laß, Kamerad, ich mache das schon!«, wenn so ein Krüppel seinen Koffer in das Gepäcknetz heben wollte, aber ich habe nie die kameradschaftlich-mitfühlende Frage »Warum mußte das bloß passieren?« gehört. Wahrscheinlich wollte ich die auch gar nicht hören, wahrscheinlich wäre sie mir in meiner kindlichen Unbeholfenheit der Gefühle sogar unfein vorgekommen.

Ich fühlte mich wohl und akzeptiert in dieser Männer-Gesellschaft. »Na Buttje, auch zu Muttern?« hatte mich einer, ein Hamburger sicherlich, begrüßt. Die anderen hatten nur freundlich genickt. Zu Muttern, das Synonym für nach Hause, für Familie und die schöne private Welt ohne Appelle, Angst und Blut, eben Frieden.

Eine Welt, an die ich, mit neun in den Krieg und mit zehn in die erste Jungvolk-Uniform hineingewachsen, mich kaum noch erinnern konnte und die fast nicht mehr vorstellbar war.

Ich habe in Berlin die ersten Schuljahre in der 15. Volksschule in der Kastanienallee abgesessen. Gleich nach dem Kriegsbeginn wurde die Schule in die Eberswalder Straße verlagert. Mein alter Schulkomplex mit dem riesigen Pausenhof eignete sich vorzüglich als Drillacker für HJ und Pimpfe: die übernahmen darum auch alles.