Der Weg heimwärts - Monica Weber-Nau - E-Book

Der Weg heimwärts E-Book

Monica Weber-Nau

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Beschreibung

Richard Fischer wird 1933 wegen »kommunistischer Umtriebe« in Simmern, einer Kleinstadt im Hunsrück, verhaftet. Er kann fliehen, lebt zunächst in den Wäldern Frankreich, zieht in den spanischen Bürgerkrieg, flieht nach dem Sieg Francos zurück nach Frankreich, wo er in einem Internierungslager festgehalten wird. Wieder gelingt ihm die Flucht. Als Mitglied der Résistance taucht er in der Region Tarn unter. Zwölf Jahre nach seiner Verhaftung kehrt er 1945 zurück zu Frau und Töchtern. Nach dem Tod ihrer Eltern und fünfzig Jahre nach dem Tod ihres Großvaters Richard beginnt die Autorin Monica Weber-Nau mit der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte. Sie schildert den Weg ihres Großvaters vom Schlosserbuben aus dem Westerwald, der als Stahlarbeiter bei Krupp in Essen zur SPD kommt, als Heizer auf einem Frachtschiff den Ersten Weltkrieg und den Matrosenaufstand erlebt und schließlich Mitglied der KPD wird. Die Autorin schildert auch das Leben ihrer Großmutter Regina, die in dieser Zeit in Simmern als Tochter eines Schlossers den Ersten Weltkrieg und seine Folgen erlebt. Sie erzählt wie Richard und Regina, ihre Großeltern, sich dort kennen lernen, heiraten und Eltern werden. Richard versucht in dieser Zeit eine KPD-Ortsgruppe aufzubauen. Mit seiner Verhaftung beginnt für Regina und die Töchter Anneliese und Rosmarie eine Zeit großer Not. Die Armut, Ausgrenzung und Demütigungen, die sie in dieser Zeit erleiden, hinterlassen bei ihnen schwere seelische Verletzungen. Die Autorin schlägt eine Brücke zu ihrer Kindheit in den 50er und 60er Jahren, in denen sie im postfaschistischen Milieu der Kleinstadt aufwuchs, mit einer Mutter die die dunklen Jahre ihrer Kindheit nie verwunden hat und ihre Verletzungen unbewusst an ihre Kinder weitergibt. Der Kampf des Großvaters für eine gerechte Welt, aber auch ihre Herkunft, haben das Leben der Autorin stark geprägt. Beides aber hat auch ihren Weg zur einer selbstbestimmten Identität möglich gemacht, die sie sich entgegen der damals erzkonservativen Nachkriegszeit erkämpfen konnte. Am Ende führt auch ihr Weg heimwärts, ähnlich dem Weg ihres Großvaters Richard.

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© 2023 – e-book-AusgabeRHEIN-MOSEL-VERLAGZell/MoselBrandenburg 17, D-56856 Zell/MoselTel 06542/5151 Fax 06542/61158Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-89801-945-3Ausstattung: Stefanie ThurTitelfoto: privat (Erster Geburtstag der Autorin. Unteres Reihe von links nach rechts: Monica, Großvater Richard Fischer, daneben Großvater Fritz Nau. Hinter Monica ihre Mutter Anneliese, daneben Friedel Nau.)

Monica Weber-Nau

Der Weg heimwärts

Rhein-Mosel-Verlag

Für Viola und Enea

Heimkehr

Der Reisende, der im Juli 1945 in Simmern, einer Kleinstadt im Hunsrück, am Bahnhof ankam, war der einzige Fahrgast, der an diesem Mittag aus dem Zug stieg. Einen Moment stand er am Gleis, schaute sich um. Unterdessen setzte sich die Lok mit schrillem Pfiff wieder in Bewegung.

Die sonnendurchflutete Bahnhofshalle war leer bis auf den Fahrkartenverkäufer, der hinter der Scheibe des einzigen Schalters saß und nun erstaunt aufschaute. Er sah den Fremden, der um sich blickend in der Halle stand, neugierig an. Der graue Anzug hing an dem hageren Reisenden, als sei er zwei Nummern zu groß. Langsam durchquerte der Fahrgast die Schalterhalle, und trat auf den Vorplatz, in die gleißende Sonne. Außer einem abgeschabten Lederkoffer hatte er nichts dabei.

Von der Heimkehr meines Großvaters Richard aus dem Exil erzählte man sich oft in unserer Familie. Und wenn ich später die Bahnhofshalle betrat, um zu verreisen, musste ich an den Alten und an seine Ankunft denken.

Schon einmal, 1921, war er auf diesem Bahnhof aus einem Zug gestiegen. Damals war er als junger Elektromonteur in die Stadt gekommen. Aber das war in einem anderen Leben. Viel war inzwischen geschehen. Die Welt von einst gab es nicht mehr, und auch er war ein Anderer geworden. Nach zwölf Jahren Exil kam er nun erneut auf diesem Bahnhof an.

Der Fahrkartenverkäufer sah dem Fremden nach, als der hinaustrat auf den Vorplatz. Er stand auf, um den Mann durch ein Fenster nochmal zu mustern. Der hatte den Koffer auf den Boden gestellt und zündete sich eine Zigarette an. Die Packung flach und leuchtend blau. Keine Amizigaretten, dachte der Bahnangestellte, vermutlich französische. Er schaute noch einen Moment auf den Mann, der rauchend vor dem Bahnhofsgebäude stand, kehrte dann schulterzuckend auf seinen Platz zurück. Was ging ihn an, wer das war. Schon lange hatte er sich abgewöhnt, allzu neugierig zu sein. Je weniger man wusste, desto besser.

Richard zog den Rauch seiner Gauloises tiefin die Lungen, schaute sich um. Die halbe Welt lag in Schutt und Asche und auch hier, in der beschaulichen Kleinstadt, hatte der Krieg Verwüstungen hinterlassen. Einige Häuser neben dem Bahnhof waren zerbombt. Kurz vor Kriegsende hatten die Amerikaner ihre tödliche Fracht noch einmal über der Kleinstadt ausgeklinkt.

Richard versuchte sich zu erinnern, wer in den Häusern einst gewohnt hatte. Er kam nicht drauf. Zu lange war er schon fort gewesen. 1933 hatte man ihn hier verhaftet. Er hatte fliehen können. Nun war er zurück.

Er trat seine Kippe aus, überlegte wie Frau und Töchter ihn empfangen würden? Womöglich erkannten sie ihn nicht einmal mehr.

Die Mittagshitze ließ die Luft flimmern. Kein Windhauch regte sich. Schlaff und staubig hingen die Blätter in den Bäumen. Niemand auf der Straße, kein Vogel zu hören. Wie betäubt lag die Stadt unter der Glut des Sommers.

Er ging nochmal zurück in die Bahnhofshalle, trat an den Schalter. »Wo ist die französische Kommandantur untergebracht?« Der Fahrkartenverkäufer blickte auf. »Im Schloss.« Als er den Weg dorthin erklären wollte, schnitt der Fremde ihm das Wort ab. »Ich kenne die Stadt.« Damit verließ er die Vorhalle. Und der Mann hinter dem Schalter fragte sich, ob er den Fremden nicht doch kannte.

Der Krieg war zu Ende, offiziell seit dem 8. Mai. Bereits im März waren amerikanischen Panzer in die Stadt gerollt. Die Siegermächte hatten Deutschland unter sich aufgeteilt. In Simmern hatten im Juli, knapp drei Monate nach Einmarsch der Amerikaner, die Franzosen diese abgelöst. Simmern war nun französische Besatzungszone.

Auf seinem Weg durch die Stadt kam Richard an weiteren Ruinen vorbei. Von weitem dann sichtbar die Trikolore vor dem Schloss. Jeder, der dort vorbeikam, musste vor der Flagge salutieren. Manche nahmen lieber einen Umweg in Kauf, als die Fahne der Besatzer zu grüßen. Der Heimkehrer ging einfach daran vorbei.

Im französischen Hauptquartier legte er ein Schreiben der Sevennengemeinde Aiguefonde vor, mit dem das dortige Komitee zur Befreiung von der deutschen Besatzung bestätigte, dass Richard Fischer als Mitglied der Résistance dort gekämpft hatte.

Bienvenue mon Ami! Capitaine André Néher, der französische Kommandant, empfing den deutschen Widerstandskämpfer persönlich und ließ es sich nicht nehmen, mit ihm ein Glas Rouge auf den Sieg und das Ende der Barbarei zu trinken. Dann schickte er einen seiner Soldaten los, die Frau des Heimkehrers zu holen.

Regina bediente gerade eine Kundin in ihrem Milchlädchen, als der französische Soldat eintrat und sie aufforderte mit in die Kommandantur zu kommen. Für einen Moment war es still im Verkaufsraum. Mitleidig schaute die Kundin auf Regina, die blass geworden war. Der Befehl, sich im Hauptquartier der französischen Besatzer einzufinden, konnte alles Mögliche bedeuten. Meist nichts Gutes.

Regina überließ es Tochter Anneliese, die Kundin weiter zu bedienen, zog mit zitternden Händen die Schürze aus. Mit klopfendem Herzen folgte sie dem Soldaten. Zu oft hatte sie erleben müssen, was solche Befehle bedeuten konnten. Doch das war während der Nazizeit. Jetzt auch noch die Franzosen. Was wollten die jetzt von ihr?

Im Schloss führte man sie in ein leeres Zimmer. Kurz darauf ging die Tür auf. Vor ihr stand ein Fremder, ein Knochenmann im Anzug. »Na, mein altes Mädchen!« Da erkannte sie ihn, ihren Richard mit seinem schiefen Lächeln.

Viertausend Tage hatte sie auf ihn gewartet; hatte fest an seine Heimkehr geglaubt. »Er kommt zurück, ich weiß es.« Immer wieder hatte sie das zu ihren beiden Töchtern gesagt. Hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Nun knickten ihr doch die Beine weg. Sie wäre gestürzt, hätte Richard sie nicht aufgefangen. Er war wieder da. Endlich. Tränen liefen ihr übers Gesicht, während er sie an seine Brust drückte.

Der Offizier, lächelnd in den Raum getreten, ließ ihr Zeit, die Freudentränen zu trocknen, verabschiedete sie dann mit festem Händedruck. Versonnen schaute er dem Paar hinterher. Er, ein Mann des Ausgleichs und der Versöhnung, freute sich, dass einer von den Anständigen zurückgekommen war.

Richard, auf dem Weg durch die zerstörte Stadt, legte den Arm um die Schultern seiner Frau. War sie noch kleiner geworden in diesen zwölf Jahren? Ihr Häuschen, so erzählte sie, habe den Krieg überstanden, sogar den Milchladen habe sie noch. Nur ein Loch im ersten Stock der Vorderfront hätte ein amerikanischer Panzerfahrer beim Einmarsch mit seinem Kanonenrohr durchbrochen, weil er kaum durch die enge Straße kam. Mit Brettern hätten sie es provisorisch schließen können. Richard lachte: »Da komme ich ja gerade richtig.«

Unruhig hatten Anneliese und Rosmarie, die beiden Töchter auf die Rückkehr der Mutter gewartet. Schauten nun ängstlich auf den Fremden, der mit ihr den Laden betrat. Misstrauisch musterten sie den hageren Mann mit den hohlen Wangen.

»Wollt ihr euren Vater nicht begrüßen«, fragte der Fremde lachend. Wortlos schauten die beiden auf den Mann, der so gar nicht wie der Vater aussah, den sie vor zwölf Jahren zum letzten Mal gesehen hatten. Zaghaft reichten sie ihm die Hand, musterten das fremde Gesicht. »Na, ihr zwei, habt ihr gut auf eure Mutter aufgepasst, während ich fort war?« Wieder das Lachen. Wortlos nickten die beiden.

Richard machte sich seine eigenen Gedanken, als er seine beiden Töchter, inzwischen junge Frauen, anschaute. War er hier überhaupt noch willkommen? Nach so vielen Jahren. Sie kannten einander doch gar nicht mehr. Vieles, zu viel hatte sich zwischen sie geschoben. Wie sollte er vom schweren Leben in den französischen Wäldern erzählen, wie den Bürgerkrieg in Spanien erklären? Woher sollten sie wissen, für wen und warum er dort gekämpft hatte? Wie konnte er die Flucht über die Pyrenäen, durch Schnee und Eis, beschreiben? Wie vom den zahllosen Frauen und Kindern, die auf dem Marsch nach Frankreich gestorben waren, verhungert, erfroren, geschwächt, von Kampffliegern erschossen. Wie vom Sterben der Kameraden im Internierungslager sprechen, und wie seiner Frau von der Kampfgefährtin erzählen, die auch seine Geliebte gewesen war?

Nur wenig Worte über all das. Erst einmal ankommen. Das Erlebte verdauen. Auch die Frauen fanden keine Sätze für das, was sie nach seiner Verhaftung erleben mussten. Das bittere Gefühl, als Nachbarn plötzlich die Straße wechselten, wenn sie ihnen begegneten oder einfach durch sie hindurchsahen. Sie fanden nicht die richtigen Sätze für die Angst vor der Gestapo, ihre Fassungslosigkeit als die Staatspolizei ihnen mitteilte, dass man dem Ehemann und Vater die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt hatte. Sie konnten ihre Verzweiflung, nicht in passende Worte fassen, nicht die grenzenlose Hilflosigkeit, als er sie alle zurückgelassen hatte, schutzlos.

Nun war er zurückgekehrt, lebte wieder in ihrer Mitte, nur, dass dazwischen zwölf Jahre eines gemeinsamen Lebens fehlten. Wie, fragte sich Regina, konnte man ihm, der so viel Schreckliches erlebt hatte, die eigenen Sorgen und Nöte erklären? Wie erzählen, dass sie an manchen Tagen am liebsten im Bett geblieben wäre, Decke über den Kopf, oder weggelaufen vor diesem ganzen Elend und dann doch weitermachte und hoffte. Warum hatte er auch damals keine Ruhe geben können?

Dass sein Widerstand richtig gewesen war daran bestand jetzt kein Zweifel mehr. Der braune Terror war vorbei. Die Menschen wechselten nun nicht mehr die Straßenseite oder schauten durch sie hindurch. Im Gegenteil. Sie grüßten wieder, betont freundlich sowieso. Alle wussten, dass Richard bei den Franzosen ein- und ausging, ein gutes Wort einlegen konnte, wenn man einen »Persilschein« brauchte. Da war es besser, sich gut mit ihm zu stellen und auch mit seiner Frau.

Und Richard machte weiter, als wäre er nie fortgewesen. In den französischen Wäldern hatte er das Köhlerhandwerk gelernt. Nun brannte er vor den Toren der Stadt Holzkohle, baute mit einem Bekannten ein Auto zum Holzvergaser um, fuhr damit zum »hamstern« über Land und brachte Reginas Krämerlädchen wieder in Schwung.

Achtzehn Jahre später, die Franzosen hatten die Trikolore schon lange eingeholt und waren in ihre Heimat zurückgekehrt, starb er. Nicht einmal siebzig Jahre war er geworden. Die Strapazen seines ruhelosen Lebens hatten seinem Körper zugesetzt.

Hager und knochig, die Wangen hohl, sein Haar schütter, so kannte ich ihn. Doch, wenn er mich auf seine Schultern setzte und mit mir ins nächste Dorf marschierte, sang er mit kräftiger Stimme, die Lieder, die er schon in jungen Jahren gesungen hatte: Völker hört die Signale … Und so lernte auch ich sie.

Als er starb, trauerte ich heftig, doch dann vergaß ich ihn fast, bis ich ihn, den Widerstandskämpfer, aus meiner Vergangenheit holte. Es machte sich gut unter linken Frankfurter Politikstudenten, einen Großvater vorweisen zu können, der keine braune Vergangenheit hatte, nicht einmal Mitläufer war, sondern gegen die Nazis und sogar gegen Franco in Spanien gekämpft hatte.

Das war damals meine Eintrittskarte in die linken Kreise, deren Revolte gegen unsere Elterngeneration und ihre »Das war schon immer so und soll so bleiben«-Haltung meiner Wut dagegen entsprach.

Ich hatte mich inzwischen über den zweiten Bildungsweg in die Universität hineingekämpft. Vorgesehen war das nicht. Die Tochter eines Schreiners unter Akademikern? Nicht einmal Großvater hätte an so etwas gedacht. Man verriet nicht seine Herkunft, und als Frau den für sie festgeschriebenen Platz erst recht nicht. Da konnte im Grundgesetz stehen was wollte. Von wegen Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Mann geht hinaus ins feindliche Leben … und drinnen waltet die züchtige Hausfrau …« Klassenkampf hin oder her. Da lebte selbst der alte Revoluzzer nach den Regeln des Patriarchats.

Und er? Er versuchte weiter die Menschen von den Segnungen einer sozialistischen Gesellschaft zu überzeugen. Von Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle, davon hatte er schließlich schon als Jugendlicher geträumt.

Wenn er von seiner Kindheit und Jugendzeit zu erzählen begann, dann schaute er mit abgeriegeltem Gesicht in die Vergangenheit, vergaß alles um sich herum und verwandelte sich wieder in den Schlosserbuben der raus wollte aus seinem Elternhaus am Rande des Dorfes im Westerwald.

Wenn in den Winternächten der Sturm gegen das Fachwerk des kleinen Hauses am Ortsrand krachte, die Balken ächzten und wimmerten, als würden sie aus dem Fundament gerissen, dann erzählte er, habe er oft wach gelegen, mit knurrendem Magen auf seinem Strohsack, und darüber nachgedacht, warum seine Familie so leben musste.

Aufbruch

1895 im Westerwald als Sohn des Schlossermeisters August Fischer und seiner Frau Helene geboren, sprach er oft von dieser Zeit, in die er und seine Geschwister hineingeboren worden waren. Eine Vergangenheit in der ich nie sein würde, und eine Armut, die ich nie kennenlernen musste. Umso tiefer prägten sich mir seine Erzählungen ein.

»Nicht einmal genug Geld für ordentliche Mahlzeiten hat mein Vater verdient«, so schilderte er sein Leben als Junge. »Morgens hat es oft kaum mehr als einen Kanten trocknes Brot gegeben, und der Kaffee war eine Plörre aus gerösteten Eicheln. Abends kam eine Suppe mit ein paar Kartoffeln, Steckrüben oder auch Graupen auf den Tisch. Selten ein Stück Fleisch.«

Voller Wut habe er an die reichen Bauern gedacht, die bei seinem Vater neue Schlösser bestellten und dann, wenn die Arbeit gemacht war, behaupteten, sie sei schlampig ausgeführt und das geforderte Geld nicht wert. Und wie er sich für seinen Vater geschämt habe, der um seinen Lohn feilschen musste und sich schließlich doch mit weniger als gefordert zufriedengegeben habe. »Das habe ich kaum ertragen.«

Der buckelnde Vater war ein Bild, das Großvater bis ans Ende seines Lebens mit sich herumschleppte. »Warum lässt du dir das gefallen?« Immer wieder habe er seinen Vater das gefragt. Doch der habe nur resigniert die Schultern gezuckt: »Was soll ich machen, wer die Macht hat, hat das Recht!«

Er habe damals oft nicht gewusst, wen er mehr hassen sollte, die Bauern, die durch Besitz und Stellung ihre Macht ausspielten, oder den Vater, der sich nicht aufzulehnen wagte. Immer krummer sei der Alte geworden vom vielen Buckeln, ständig mit hochgezogenen Schultern herumgelaufen, als erwarte er Prügel.

»Zu Hause hat er dann den Tyrannen gegeben. Da herrschte sein Gesetz.« Doch Richard dachte nicht daran, sich zu fügen. »Ich war immer wütend«, erzählte er.

Wenn ihn Zorn überkam, dann war nichts Freundliches mehr an ihm. Dass er ein Kerl war, mit dem man sich besser nicht anlegte, zeigte sich früh. Lachend erzählte er von der Schlägerei zwischen ihm und einem Bauernsohn, mit dem er in der Schule saß. Dieser Bub, der ihn um einen Kopf überragt habe und doppelt so dick wie er gewesen sei, habe ihm eines Tages Prügel angeboten. Aber da sei er an den Falschen geraten. »Am Ende der Prügelei fehlte dem fetten Kerl ein Vorderzahn, und er sah noch blöder aus als vorher. Danach hat sich keiner mehr mit mir angelegt.«

Nach sechs Schuljahren aber musste Richard die Schule verlassen. »Einfach abgemeldet hat mein Vater mich. Dabei hätte ich gerne weiter gelernt.« Der Alte aber sei unerbittlich geblieben. »Schule können sich Reiche leisten. Für einen Schlossersohn reicht, was sie dir bis jetzt beigebracht haben. Ich kann dich in der Schmiede besser brauchen. Wofür hat man denn Söhne?«

Mit siebzehn Jahren habe er, so der Großvater, dann immer klarer gesehen, dass es in seinem Heimatort für die Familie keine Zukunft gab. Immer wieder habe er vorgeschlagen, das Haus zu verkaufen und fortzuziehen: »Bei Krupp in Essen suchen sie Männer. Stahl ist die Zukunft, die Geschäfte der Hütten, der Eisen- und Stahlfabriken laufen auf Hochtouren.«

Doch sein Vater war ein ängstlicher Mann: »Hier weiß ich, was ich habe«, so seine ständige Antwort. »Und, was hast du hier?« Das habe er dem Vater nach ihrem kargen Mahl wieder einmal an den Kopf geworfen. »Jeden Tag einen Tritt in den Hintern, das hast du!« Laut geworden sei er an einem dieser Abende, sehr laut. Danach war es für einen Moment totenstill in der Küche. »Hüte deine Zunge, Sohn«, habe der Alte schließlich gezischt, sei raus, habe die Tür hinter sich zugeschlagen.

Diese Szene hat Großvater gerne erzählt. Richard am Tisch der Familie, an dem Vater August, Mutter Helene, meine Urgroßeltern, seine Schwestern Clara und Änne und Willi, sein jüngerer Bruder saßen. »Idiot«, mehr habe der zum Ausbruch seines Bruders nicht zu sagen gewusst während die Mutter seufzend Teller, Löffel und Suppenschüssel vom Tisch räumte und seine Schwestern der Mutter halfen. Wie immer wortlos.

»Kannst du nicht einfach Ruhe geben«, habe Willi noch gefragt. Aber ich habe den Mund nicht gehalten. Hab doch gesehen, was der Vater und der Bruder nicht sehen wollten: Es war einfach unmöglich, aus der Armut herauszukommen, dort wo wir lebten. Andere hatten das längst gesehen und verließen die Gegend. Manche wanderten gleich nach Amerika aus.

Schließlich musste auch der Vater einsehen, dass die Familie in dem Dorf keine Zukunft hat. »An einem sonnigen Tag« so Großvater Richard, »packten wir dann Möbel, Koffer und Kisten auf ein Pferdefuhrwerk, und verließen den Ort. Das Fachwerkhaus am Ende der Straße, auch die Schlosserei hatte der Alte verkaufen können. Als im März die Krokusse aus der Erde kamen, ging es in den Ruhrpott, nach Essen.

Großvater und sein Bruder fanden Arbeit bei Krupp, die Eltern eröffneten mit den Töchtern eine Gaststätte. In der Nähe des Essener Bahnhofs hatten sie ein Haus gefunden. Im Erdgeschoss war eine ehemalige Gastwirtschaft, deren Pächter aufgegeben hatte. Für kleines Geld konnten sie die Einrichtung übernehmen. »Es war alles vorhanden, wir konnten sofort loslegen.«

Sie hofften auf die Arbeiter und Angestellten aus dem Stahlwerk und den Kohlegruben und nannten die Kneipe Glück auf. Der Name war ein Versprechen und der Aufsteller vor dem Eingang, den Mutter Helene vor dem Eingang platzierte, sowieso: Futtern wie bei Muttern!

Ein Foto, schwarz-weiß, nicht größer als ein Handteller, Großvater kurz vor seinem Tod aufgenommen. Den Kopf in die Hand gestützt. Nachdenklich sitzt er in seinem Sessel. Am Ende seines Lebens saß er immer häufiger dort, versunken in der Vergangenheit. Kaum vorstellbar, dass dieser in sich gekehrte Mensch sich durch das Jahrhundert der Weltkriege, der Unruhen und Umwälzungen gekämpft hatte. Wie sah seine Lebensbilanz nach diesem Kampf aus? Als er starb, war ich elf Jahre alt. Zu jung, um zu fragen, zu dumm, um ein solches Leben in diesem Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen zu begreifen.

An seinem festen Willen, für eine bessere Welt zu streiten, an seiner Wut über die bestehenden Verhältnisse, hatte das Leben der Familie in Essen nichts geändert. Und so kam es, wie es kommen musste. Schon nach einem Jahr war bei seinem neuen Arbeitgeber für ihn »Schicht im Schacht.« »Von Krupp gemaßregelt, wechselte ich die Arbeit.« So las ich es in seinem Lebenslauf. Doch was sich wie eine freie Entscheidung liest, war in Wirklichkeit ein Rauswurf mit Ansage.

Seinen Anfang nahm dieser Rausschmiss, wie er erzählte, als er eines Morgens in der Schlange vor der Stempeluhr in der Stahlgießerei hörte, wie sich zwei seiner Kollegen über die Regeln und Verbote unterhielten, die Alfred Krupp von seinen Mitarbeitern verlangte. Absolute Loyalität, das strikte Verbot der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder der SPD. Selbst das Lesen des Vorwärts, der SPD-Zeitung war, auch außerhalb des Firmengeländes verboten.

Da habe er den Mund nicht halten können: »Kontrollieren die hier auch, wie man pinkelt?«

»Hast ’ne ziemlich große Klappe, dafür, dass du erst so kurz hier bist«, habe der Kollege geantwortet.

»Wieso, von der Wiege bis zur Bahre scheint ja alles fest geregelt zu sein. Zwölf Stunden Maloche, und nicht mal am eigenen Küchentisch darf man lesen, was man will. Na, vielen Dank auch!«

»Und nicht zu vergessen: der Eid der Kruppianer!« Ein Dritter habe sich lachend ins Gespräch eingemischt.

Da war ich doch fassungslos. »Wie, sollen wir auch noch auf die Firma schwören? Die spinnen doch.«

Alfred Krupp hatte tatsächlich einige Zeit zuvor versucht, seine Arbeiter den Krupp-Eid schwören zu lassen, dabei auch auf die Unterstützung der Stadt Essen gehofft. Krupp und Essen, Werk und Stadt waren fest miteinander verbunden: Täglich rief die Werkssirene, die alle den Kruppschen Esel nannten, achtzigtausend Menschen zur Arbeit. Doch das mit dem Eid ging sogar der Stadtregierung zu weit. Die Firmenleitung musste die Idee fallen lassen.

Gleichwohl, wer den Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, war quasi mit der Firma verheiratet. Für ihre Loyalität bekamen die Arbeiter Krankenversorgung, konnten oder sollten einkaufen beim firmeneigenen Konsum, es gab Betriebswohnungen, einen Schulplatz für die Kinder und eine Betriebsrente, die nach vierzig Jahren Maloche ausgezahlt wurde. Bei einem Rauswurf freilich verloren die Arbeiter alles.

Nicht, dass Richard die Betriebsordnung nicht gelesen hätte, als er und sein Bruder sich einstellen ließen. Aber, so beruhigte er sich, bei einer so großen Belegschaft konnte doch nicht jeder Einzelne überprüft werden. Falsch gedacht. Das Kontrollsystem des Konzerns funktionierte bestens. Dafür sorgten vor allem die Hundertprozentigen, jene Arbeiter, die stolz darauf waren, Kruppianer zu sein.

Nach der Schicht, so erzählte Großvater, hätten ihn ein paar Kollegen gefragt, ob er nicht Lust habe auf ein Bier in ihrer Stammkneipe. In dieser Gaststätte, das hörte er an diesem Abend, habe die SPD ihren Parteitag abgehalten. Bald schon hielt auch Richard ein SPD-Parteibuch in seinen Händen denn noch am selben Abend habe er den Mitgliedsantrag der Partei von Liebknecht und Bebel unterschrieben.

Von da an war er nach Feierabend und an den Wochenenden unterwegs für die SPD, verteilte Flugblätter, ging zu Parteiversammlungen und Diskussionen, und hielt auch im Betrieb mit seinen politischen Ideen nicht hinterm Berg. Die Rechnung kam prompt. Man setzte ihn vor die Tür.

Wer in dieser Zeit gefeuert wurde, hatte nichts zu lachen. Arbeitslosengeld kannte man im Kaiserreich nicht. Wer seine Arbeit verlor, war auf Almosen angewiesen oder auf die Familie. Dass mein Großvater den Arbeitsplatz wegen seiner sozialistischen Ansichten und Aktivitäten aufs Spiel setzte, war für seine Familie der blanke Irrsinn. Vater August tobte, Mutter Helene jammerte und Bruder Willi war fassungslos, dass sein Bruder wegen seiner »politischen Hirngespinste« den Rauswurf provoziert hatte.

»Reg dich ab«, habe er seinem Bruder geantwortet und erzählt, dass er sowieso vorhatte, auf einem Schiff anzuheuern. »Das ist allemal besser als für eine Firma zu schuften, die immer mehr zur Waffenschmiede wird.«

Auf einem Frachtschiff in Hamburg fand er dann kurz darauf Arbeit als Heizer. Aber auch dieser Wechsel seines Arbeitsplatzes änderte nichts an seiner Wut über die herrschenden Verhältnisse. Niemandes Herr, niemandes Knecht! Dafür wollte er weiterkämpfen.

Spurensuche

Ein Park in Berlin-Lichterfelde. Wie leuchtende Fetzen funkelte Sonnenlicht durch das Laub der Bäume. In Gedanken versunken lief ich auf das Hauptgebäude des Bundesarchivs zu. Summte, ohne es zu merken, den Refrain der Internationalen. Der spöttische Blick eines Mannes, der mir entgegenkam, ließ mich peinlich berührt verstummen. Völker, hört die Signale!Das Lied musste mir in den Sinn gekommen sein, weil ich hier nach Spuren meines Großvaters suchen wollte.

Kurz vor ihrem Tod hatte Mutter mir eine Mappe in die Hand gedrückt. Ausgerechnet sie, die ständig »ausmistete« wie sie ihre Räum-und Wegwerfaktionen nannte, hatte die verblichene, mit Paketkordel verschnürte Mappe verschont, sie schließlich aus der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks herausgeholt. »Das sind Papiere von Opa, vielleicht kannst du etwas damit anfangen.«

Damals schaute ich die Dokumente nur flüchtig durch. Briefe steckten darin, die Großvater aus dem Untergrund in Frankreich geschrieben hatte, auch die Heiratsurkunde meiner Großeltern, daneben das Urteil ihrer Zwangsscheidung, der Haftbefehl gegen ihn, die Aberkennung seiner deutschen Staatsbürgerschaft. Eine Art Pass oder Passierschein, der den Ausgebürgerten als Kämpfer der Internationalen Brigaden auswies mit einem Bild von ihm und einem gefälschten Namen. Ein weiterer Ausweis bescheinigte dem Heimkehrer den Status Opfer des Faschismus. Ausführlicher ein anderes Dokument: eine Kladde, in die er seine politischen Gedanken notiert hatte, und ein kurzer Lebenslauf. Irgendwer hatte zuletzt auch die Sterbeurkunde in die Mappe gepackt. Verstreute Spuren. Fragmente seines ruhelosen Lebens.

Weitere Antworten, das wusste ich beim Anblick dieser Zeugnisse, würde nur die Suche nach noch vorhandenen Spuren in den Archiven bringen. Und dennoch: eine merkwürdige Scheu, da wirklich einzusteigen, hielt mich lange davon ab. Fühlte mich wie jemand, der wusste, dass, wenn man mit einem Stock in einem klaren Teich herumstochert auch Schlamm aufwühlt.

Was würde mich erwarten in den Akten, die man mir aushändigte? Was war geschehen und was geblieben von den Wegen, Taten und Entscheidungen meines Großvaters? Was hatte man ihm angetan und er Anderen? Und was hatte er mit seinem Kampf und den Folgen seiner Frau, den Töchtern und schließlich auch uns, seinen Enkeln aufgebürdet? Wenn ich mich einlassen würde auf das Leben meines Großvaters, dann, das ahnte ich, würde diese Suche bei ihm nicht enden, die ganze Familiengeschichte würde aufgerührt. Und zuletzt würde sie gewiss auch bei mir selbst landen. Doch dann siegte der Wunsch mir Klarheit zu verschaffen.

Im Bundesarchiv, dem Ort, an dem die Spuren deutscher Geschichte aufbewahrt werden, begann meine Suche. Dort lagern auch die 1945 von den Amerikanern in Gewahrsam genommenen NSDAP-Akten.

Am Haupteingang strenge Kontrolle. Nach zehn Minuten Fußweg durch den lichten Park erreichte ich das Gebäude mit dem Lesesaal. Eine Mitarbeiterin des Archivs hatte sich, nach meiner schriftlichen Anfrage, auf die Suche gemacht. Es hatte eine Weile gedauert, bis die Antwort kam. »Es konnte mit Hilfe der zentralen Kartei Antifaschistischer Widerstand in den Beständen des Reichssicherheitshauptamtes der Name ihres Großvaters gefunden werden.« Völker, hört die Signale.

Im Lesesaal viel Licht und eine fast klösterliche Stille. Kein Geräusch durchdrang die hohen Fenster, auch nicht das Krächzen der Elstern draußen. Was ich schließlich in den vorbereiteten Akten fand, war weniger, als ich erhofft hatte. Immerhin aber wusste ich nun, dass die Geschichten, die ich im Laufe meines Lebens von meinem Großvater gehört hatte, keine Räuberpistolen waren.

Am Spätnachmittag des nächsten Tages hatte ich gelesen, was die Akten über ihn hergaben. Die Sonne stand weit im Westen. Noch immer hüpften Elstern auf dem Rasen herum. Gezänk um einen Wurm. Futterneidische Revierkämpfe. Wie schon am Vormittag brach sich das Sonnenlicht zwischen den Blättern der Bäume.

Was meinen Großvater zum Widerstandskämpfer hatte werden lassen, stand nicht in den Akten. Doch das wusste ich ohnedies seit meiner Kindheit.

Eine Figur aus Elfenbein, die auf dem Nachttisch neben Großvaters Bett stand, kam mir in den Sinn. Damals fand ich diese filigrane, daumengroße Figur faszinierend: Ein Mann mit Federhut, kurzem Wams und engen Beinkleidern, auf einer Flöte spielend, während er zügig voranschreitet. Um seine Füße wimmeln Ratten. Der Sage nach hatte dieser Mann die Stadt Hameln von der Rattenplage befreit. Die Bürger der Stadt hatten ihm dafür eine Belohnung zugesagt, ihr Wort jedoch nicht gehalten. Also rächte sich der Rattenfänger, indem er mit seiner Flöte alle Kinder verführte und aus der Stadt lockte.

Für Großvater hatte diese Figur starke Symbolkraft. Um seinen gerechten Lohn hätten die Bürger den Rattenfänger gebracht, das habe der nicht akzeptieren können, so wenig wie er selbst. Auch er habe Ausbeutung und Unrecht nie ertragen.

Wenn er erzählte, von der Not und der Armut in seiner Jugend, von der Maloche in Essen und als Heizer auf einem Schiff, den Kämpfen in Frankreich und Spanien, wurde seine Stimme manchmal laut. Bis heute sehe ich den Samtsessel mit den abgeschabten Armlehnen, in dem er am liebsten saß, sehe, wie er zornig wurde. Im Erzählen verwandelte er sich dann in den wütenden Schlossersohn, der einen Ausweg suchte aus Not und Armut.

Mutter hingegen hatte selten über die dunklen Jahre ihrer Kindheit gesprochen. Hatte das meiste verdrängt und geglaubt, mit der Zeit würde all das Trübe und Dunkle verschwinden. Falsch gedacht. Die Gemeinheiten, die man ihr nachgerufen, die Ausgrenzungen, die sie erlitten hatte, Einsamkeit, Angst, fehlender Halt, Not und Elend hatten sich wie Wundbrand in ihre Seele gefressen. Und ohne es zu wissen, ja nur zu ahnen, gab sie an uns weiter, was sie aus dieser Zeit mit sich rumschleppte. Schmerz und Wut, Enttäuschung und Angst.

Als sie mir die Mappe mit Großvaters Papieren übergab, zögerte ich lange, seine Wege nachzuvollziehen. Ließ mir viel Zeit, recherchierte lang, ging Umwege. Manche Erinnerungen vertrug ich nach wie vor nur in kleinen Happen. Also portionierte ich die Familiendramen, Lebenslügen, Sehnsüchte, die Übergriffe und Ängste, verschaffte mir Stück für Stück Übersicht. Nichts Überraschendes, Unerklärliches, Unbekanntes sollte es mehr geben.

Heute kennt in der Stadt kaum noch jemand Richard Fischer. Als Kind war er mein Held gewesen, einer von den Guten, die gegen das Böse gekämpft hatten. Doch als ich älter wurde, änderte sich das Bild. Hatte er unabhängig von seinen politischen Ideen nicht auch Verantwortung für Frau und Töchter? Hatte er sich nur einen Moment gefragt, was er ihnen antat, indem er sie zu Außenseitern machte? Niemals darüber nachgedacht, dass man sie in ein Lager bringen könnte?

Die Fragen blieben. Und so begann ich mich, Jahrzehnte später, mit ihm, uns und der deutschen Geschichte zu beschäftigen. Mir war klar, dass das, was damals unter dem Hakenkreuz geschah, auch bei denen, die damals noch Kinder waren, Narben hinterlassen hatte. Da musste man nicht im Gefängnis oder im Lager gesessen haben. Doch niemand wollte am Ende noch etwas hören von erlebter Gewalt und Zerstörung, zerschellten Träumen, von Einsamkeit und erzwungenem Schweigen, verstummten Freunden, und auch nicht von Nachbarn die denunzierten. Die meisten wollten so schnell wie möglich vergessen, was geschehen war. Niemand wollte zurückschauen. Auch Opfer wie meine Mutter nicht.

Die Schrecken ihrer Kindheit und Jugend mochten vorüber sein, aber sie steckten ihr in den Knochen, wie eine Krankheit, chronisch, unheilbar. Was damals geschehen war, hatte einen unglücklichen Menschen aus ihr gemacht. Immer wieder ließen dunkle Erinnerungen Wut und Verzweiflung in ihr aufsteigen. Stets erwartete sie das Schlimmste.

Zu spät wurde mir bewusst, dass auch ich Mutter nie intensiv genug gefragt hatte: Wie hast du dich gefühlt, als sie deinen Vater abholten? Und wie hat es sich angefühlt, als er dann für lange Zeit fort war und ihr nicht wusstet, ob ihr ihn wiedersehen würdet. Was, so hätte ich sie fragen sollen, hat das mit dir gemacht? Hatte ich all die Jahre nicht gefragt, weil ich ahnte, dass ich keine befriedigende Antwort bekommen würde? Über Befindlichkeiten zu reden davor schreckte sie zurück. Sie hätte sich gefühlt, als zwinge man sie, sich nackt zu zeigen. Stark sein, und nicht in jeder Miene deine Seele zeigen … So hatte man es ihr beigebracht. Doch das gelang ihr oft nicht. Wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie wollte, verwandelte sie sich in ein schreiendes, prügelndes Wesen. Und in diesen Momenten zeigte sich das wahre Ausmaß ihrer Verletzungen. Das aber begriff ich erst als es längst zu spät war.

Ende und Anfang

Ein düsterer Tag. Wolken, dunkelgrau wie Granitblöcke, drückten auf die Erde. Am Abend der Anruf meiner Schwester. »Mutter ist gestorben.« Ihr Tod kam nicht unerwartet. Ihr Herz war krank, seit langem. Und doch erschütterte mich die Nachricht.

Nach der ersten Operation, vor mehr als dreißig Jahren, hat sie gekämpft, auf ihren Körper geachtet, sogar das Rauchen aufgegeben. Bei Wind und Wetter war sie draußen gewesen. Lief um ihr Leben.

Unsere Mutter Anneliese starb in einer Klinik, weit weg von dem, was sie Daheim nannte. Ausgerechnet sie, die unter Heimweh litt, sobald sie ihren Kirchturm nicht mehr sah, die festgewachsen war an ihrem Ort wie Efeu an einem Gemäuer, sie, das »Herdentier«, die Menschen um sich brauchte, ausgerechnet sie starb in der Fremde, alleine. »Ein Wetter, als hätte der Himmel ihr den Abschied von der Welt erleichtern wollen«, dachte ich, als ich mich auf den Weg machte. Solange sie lebte, hatte sie dieses raue kalte Klima gehasst. Ihr Lebenselixier war die Sonne. Licht und Wärme ließen sie auch die Kälte vergessen, die in ihr steckte, all die düsteren Gedanken. War der Himmel blau, strahlte die Sonne, dann konnte man sie sogar singen hören. Ich schau den weißen Wolken nach und fange an zu träumen …

Ich wollte sie noch einmal sehen. Es war schon spät, die Autobahn leer. Leichter Schneefall hatte eingesetzt, winzige Flocken, die ersten in diesem Jahr, schwebten vom mondlosen Himmel. Die nächtliche Stille auf der einsamen Strecke ließen Bilder in mir aufsteigen, Erinnerungen, die wie im Zeitraffer vorbeirauschten. Einzelne Szenen, ungeordnet. Mutter Anfang dreißig, mit Pullover und enger Hose, die Hände auf die Knie gestützt, steht sie lachend in einer Sandkiste, zwischen ihren schlanken Beinen hocke ich. Dann Mutter, Arm in Arm mit einer Freundin, beide in fließenden Röcken, die gleichen Frisuren, zurückgesteckte Locken, unbeschwert fröhlich. Mutter im schwarzen Kleid mit kleinen roten Rosen und weitem Rock, tanzend. Kichernd mit Freundinnen, an einem Sommersonntag frühmorgens vor dem Haus, nach durchfeierter Nacht.

Sie war eine schöne Frau gewesen, bevor Alter und Kummer immer mehr Besitz von ihrem Gesicht ergriffen hatten.

Andere Szenen schieben sich vor die Bilder unserer fröhlichen Mutter. Ich sehe sie, wie sie wütend Vater einen Teller hinterherwirft, weil der bis zum frühen Morgen mit seinen Freunden unterwegs war. Der sieht zu, dass er aus der Tür kommt.

Sie, die weinend am Bügelbrett steht, nachdem ihre verhasste Schwägerin triumphierend ihre neuesten Pumps vorgeführt hat, genau solche wie die, die sich Mutter so sehr gewünscht hatte. Doch die waren nicht drin.

Ich sehe, wie sie zuschlägt mit der Hand, dem Kochlöffel rasend vor Wut. Sehe ihr verbissenes Gesicht, das durch uns alle hindurchblickt, als wären wir nicht da. Auch das konnte sie gut, uns in Grund und Boden schweigen.

Man sagt, jeder Mensch werde mit einer bestimmten Fähigkeit zum Glück geboren. Mutter war diese Fähigkeit in jungen Jahren abhandengekommen. Ihre Fröhlichkeit war immer nur von kurzer Dauer. Diese Augenblicke wurden oft überlagert von ihrem Seelenschmerz, ihrem Pessimismus und Misstrauen gegenüber der ganzen Welt. Gefühle, die ihr stets im Weg standen.

Auf dem Flur des Krankenhauses nur wenig Licht. Niemand zu sehen. Totenstille. Auch im Krankenzimmer gedämpftes Licht, eine Kerze auf dem Nachttisch. An der Wand, über dem schmalen Bett, ein schlichtes Kreuz. Die Augen von Mutter geschlossen, das kurze weißgraue Haar ließ sie noch blasser erscheinen. Ihr Mund leicht offen. Würde stumm bleiben von nun an. Ihr Gesicht war mir jetzt schon fremd. Das Vertraute verschwunden. Nun hast du wahrgemacht, womit du so oft gedroht hast, dachte ich. So weit zu laufen, bis dich niemand mehr sieht. Wehmut machte mir die Kehle eng.

Ein letztes Mal strich ich ihr über die Wangen die schon kalt waren. Dachte darüber nach, was ich ihr, neben meinem Leben, zu verdanken hatte. Trotz allem! Vieles war ich ihr schuldig geblieben. Statt Dank Undank, statt Geduld, Ungeduld, statt Verständnis Unverständnis. Wie oft hatte ich gelacht über ihre spießigen Ansichten, den Kopf geschüttelt, wenn sie mir vorhielt, sie habe nächtelang wach gelegen, aus lauter Sorgen um mich. Ich schaltete sofort auf Abwehr, wenn sie darüber lamentierte, wie ich mir mein Leben eingerichtet hatte, oder wenn sie an meinem Äußeren herummäkelte. Und dennoch rief ich wie selbstverständlich als erstes sie an, wenn ich Hilfe brauchte. Sie war stets für mich da.