Der Wisent - Konrad Bogusław Bach - E-Book

Der Wisent E-Book

Konrad Bogusław Bach

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Beschreibung

Ein kleiner Ort mitten in Polen und zwei Männer kurz vor der Rente, die nie vorhatten, ihre Heimat zu verlassen: Heniek und Andrzej, Mechaniker und Tischler, brechen aus Gajerudki auf und folgen der A2, der „Autobahn der Freiheit“, gen Westen. Sie wollen Beatka zurückholen, die zur Saisonarbeit in die Niederlande gefahren ist und ihren Mann Heniek nun nach 36 Jahren Ehe verlassen hat, ohne ihm den Grund dafür zu nennen. Als jedoch die beiden Freunde nach einem Wildwechselunfall in Deutschland stranden, beginnt für sie eine Irrfahrt durch das verhasste Europa und ihr bisheriges Selbstverständnis. Andrzej und Heniek lernen ihre Abgründe neu kennen – und, als sie einem Wisent begegnen, auch ihre Vergangenheit.

Eine Geschichte mit Sogwirkung, erzählt in einem mal tragikomisch-derben, mal legendenhaft verknappten Ton.

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Seitenzahl: 513

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Zum Buch

Der Automechaniker Heniek, der in seinem Leben kaum aus seinem polnischen Heimatort Gajerudki herausgekommen ist, versteht die Welt nicht mehr. Warum nur hat ihn seine Frau Beatka nach so vielen Jahren verlassen? Haben sie nicht die zahllosen dramatischen Umbrüche in ihrem Land gemeinsam durchgestanden? Und hat er nicht sogar sein Auto für Beatkas Schönheitsoperation geopfert? Als Heniek in Schwermut zu versinken droht, überredet ihn sein alter Kumpel Andrzej, nach Holland zu fahren, um Beatka zurückzuholen.

Ohne Geld, Plan und Sprachkenntnisse machen sich die beiden Männer in einem alten Mercedes, den Heniek eigentlich für einen Kunden reparieren sollte, auf den Weg …

Zum Autor

Konrad Bogusław Bach wurde 1984 in Nakło nad Notecią (Polen) geboren und wuchs in Hannover auf. Er studierte Theaterwissenschaft und Katholische Theologie, Klassische Philologie und Drehbuch in Berlin, Krakau und Rom. 2020 promovierte er über »Das Lachen in der Aufführung«; zurzeit ist er Lehrer in Frankfurt (Oder). Er erhielt das Nürnberger Autorenstipendium und nahm an der Drehbuchwerkstatt München und der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung teil. Konrad Bach lebt mit seiner Familie in der deutsch-polnischen Grenzstadt Guben/Gubin zwischen den Kulturen. »Der Wisent« ist sein erster Roman.

KONRAD BOGUSŁAW BACH

DER

WISENT

ROMAN

BLESSING

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Konrad Bogusław Bach

und Karl Blessing Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Serifa, München

Layout und Herstellung: Ursula Maenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29726-8V004

www.blessing-verlag.de

ERSTER TEIL

Im Frühjahr 2017 verließ ein polnischer Wisent seine Herde in den Wäldern bei Mirosławiec und schritt über die angrenzenden Kartoffelfelder Richtung Westen. Bereits nach wenigen Kilometern musste er das erste große Hindernis bewältigen: die viel befahrene zehnte Landesstraße, die Szczecin mit Warszawa verbindet. Es ist nicht bekannt, wann und wo er sie überquerte, doch das Kunststück gelang, und so konnte das Tier unversehrt weiterziehen.

In den folgenden Wochen erschreckte der Wisent zahlreiche Bauern im Süden der Woiwodschaft Westpommern und im Norden der Woiwodschaft Lebus, indem er plötzlich neben ihren Rindern auf den Weiden graste oder gemächlich an ihren Gehöften vorbeischritt. Unzählige Meldungen gingen bei der Polizei, der Feuerwehr, den örtlichen Förstern und im Umweltministerium ein, doch die zuständigen Behörden zeigten sich ausgesprochen gelassen und mahnten gleichfalls zur Gelassenheit: Man solle sich, ließen sie unermüdlich verlauten, dem Wisent nicht zu sehr nähern und ihn im Übrigen einfach gewähren lassen. Und so tat man es auch. Trat ein Mensch auf etwa fünf Schritte an das Tier heran, so wandte sich der Wisent diesem zu und stampfte und scharrte mit seinen mächtigen Vorderhufen. Dies genügte aber auch schon, um jeden aberwitzigen Halbstarken zurückweichen zu lassen. Zu einem Unfall kam es nicht ein einziges Mal. Und da der Wisent ansonsten friedlich, unbekümmert und unermüdlich seinen Weg fortsetzte, gewöhnten sich die Menschen langsam an den Anblick dieses gewaltigen, immerhin ja größten Landtieres Europas vor ihrer Haustür, das sonst nur in den Naturreservaten Ostpolens und hin und wieder hinter dem Gehege eines Tierparks anzutreffen war.

Und bald schon schlossen sie den Wisent in ihr Herz.

Als er im Sommer Gorzów erreichte, war er bereits eine kleine Berühmtheit in der polnischen Öffentlichkeit. Man nannte ihn liebevoll den Wanderwisent, Gowisent (in Anlehnung an die Stadt Gorzów GoŻubr) oder einfach nur unseren Wisent und spekulierte über den weiteren Verlauf seiner Reise. Im Netz häuften sich Aufnahmen von dem Wisent, wie er zwischen parkenden Autos umherschritt, stark befahrene Straßen überquerte – er tat dies übrigens, indem er ruhig auf eine Lücke im Verkehr wartete – und vor allem, wie er immer weiter gen Westen zog.

Zur Erntezeit erreichte er die kleine Gemeinde Owczary, die an der Oder gelegen ist. Der mächtige Grenzfluss stellte ein natürliches Hindernis für die Reise des Wanderwisents dar, und so blieb das Tier mehrere Wochen im Dorf. Es hatte keine Eile; weder entspräche diese seinem Naturell noch den Umständen, in denen sich der Wisent befand. Unbehindert konnte er über die Weiden stolzieren und in den Obstgärten nach herabgefallenen Äpfeln und anderen Früchten suchen. Er fresse sich, so sagten die Experten, seinen Winterspeck an, und dann würde er wahrscheinlich umkehren und zu seiner Herde zurückkehren.

Doch der Wisent tat etwas anderes. Am 14. September tauchte er in die Oder und begann zu schwimmen. Ohne größere Mühe durchquerte er den gewaltigen Fluss. Wenige Minuten später stand er auf deutschem Boden, schüttelte sich einmal und setzte seine Westreise fort.

Einen Tag später war er tot.

1

Schuld war Europa.

Fragte man Heniek, warum er neuerdings sein Haus nicht mehr verließ, so brummte er missfällig unter seinem vollen Schnurrbart, Europa sei schuld.

– Die Scheiß-EU mit ihren offenen Grenzen und all dem Scheiß. –

Dann schob er sich einen weiteren zu heißen oder zu kalten und stets übermäßig gewürzten Bissen in die Backe und ergänzte mit vollem Mund:

– Und vor allem Scheiß-Holland. –

Und unwillkürlich schaute er aus dem Fenster. Die Aussicht auf den Garten mit den zwei Obstbäumen, der Kirsche und der Pflaume, bei der sich sein Herz stets geweitet hatte, schien ihm nun klein, beengend und armselig. Und der Tisch, an dem er saß, war zu groß für ihn allein.

Heniek hatte einem ruhigen und unaufgeregten Lebensabend in Gajerudki entgegengeblickt, als ihm Europa einen Strich durch die Rechnung machte, indem es ihm seine Frau raubte. Seine Frau, das war Beatka, und sie liebten einander abgöttisch, behauptete er. Sie war die schönste Frau in Gajerudki gewesen.

– Schöner noch als Brigitte Bardot, – sagte Heniek, und Andrzej, sein Nachbar, nickte bei diesen Worten zustimmend.

– Eine vollkommene, makellose, wunderbare Frau. Sie hätte in Hollywood Karriere gemacht, wenn Gajerudki Hollywood wäre und nicht Gajerudki. –

Wenn Heniek ›Hollywood‹ sagte, dann tat er das mit dem Akzent auf einem langen Y und einem klar artikulierten W – Holliewud –, sodass man zuerst nicht verstand, was er meinte.

Doch die Jahre vergingen, und Schönheit verblasste. Aber was machte das schon? Sie konnten nicht ewig Anfang zwanzig sein. Das war der Lauf der Dinge. Ihre Kinder waren nun so jung wie sie damals, und die Bäume waren groß.

Ein Jahr nachdem Jaruzelski den Kriegszustand verhängt hatte, gebar Beatka Kuba. Heniek nahm einen Spaten, grub im Garten ein Loch und pflanzte die Kirsche.

Dann kam der Papst nach Polen, der runde Tisch entstand, die ersten freien Wahlen wurden veranstaltet, Wałęsa gewann, und Wałęsa verlor wieder, und KwaŚniewski sprach fließend Russisch. Da gebar Beatka Kasia, und wiederum ging Heniek in den Garten und pflanzte die Pflaume. Schließlich wurde es ruhiger in Polen, im Fernsehen machten halb nackte Frauen Werbung für die Seife der Marke Fa, die EU kam, der Euro kam nicht, die Justizreform kam, die Flüchtlinge kamen nicht, und die Ruhe kehrte auch bei ihnen zu Hause ein. Die Kinder machten in die Windeln, in den Nachttopf und ins Klo, fuhren mit und fuhren ohne Stützräder, schrieben Diktate und schrieben Diktate ab, rauchten heimlich und rauchten offen und verließen schließlich das Haus.

Heniek pflegte den Garten mit seinen zwei Bäumen, erntete die Früchte und verarbeitete sie zu Marmelade und zu einem süßen Likör, den alle in seiner Nachbarschaft sehr schätzten, vor allem Andrzej. Niemand in Gajerudki kannte das Geheimnis, warum Henieks Likör so ungewöhnlich lecker schmeckte. Sie alle hatten die gleichen Kirschbäume auf dem gleichen Boden, kauften den gleichen Dünger und ernteten zur gleichen Zeit, und doch hatte nur Henieks Likör neben aller Süße eine feine frische Note, die ihn von den anderen abhob. Man probierte verschiedene Beigaben in Gajerudki wie Minze oder Limette oder gar Thymian, doch niemand kam je dahinter, was Heniek anders machte. Es war dies auch das einzige Geheimnis, das er vor Andrzej hatte. Wenn die Kinder jeden zweiten Sonntag mit ihren Familien zum Mittagessen kamen, dann stellte er eine ausgewählte Flasche auf den Tisch und war dabei so stolz wie ein Bildhauer, der sein gerade erst fertiggestelltes Meisterwerk präsentiert. Im Frühjahr brachte Heniek das Haus auf Vordermann, im Sommer grillte er im Garten, im Herbst sammelte er Pilze im Wald, und im Winter brannte er Schnaps im Keller. Und in der Garage stand der Audi A6, sein Falke, in den er so viel Zeit investiert hatte,

– Und … –

Hier stockte Heniek jedes Mal.

– … und nichts weiter. Das war’s so ziemlich. Was braucht man auch mehr? –

Doch Beatka reichte das nicht. Während es sie in die Weite zog, wurden die Kreise, die er um sein Haus zog, immer enger. Als würde er die Entwicklung der ersten Lebensjahre im Alter wieder umkehren wollen, schaute er zuerst nicht mehr bei Kasia vorbei, die am Rand von Gajerudki wohnte. Seine Tochter versuchte, ihn aufzumuntern und zu sich einzuladen, doch Heniek brummte nur Unverständliches unter seinem Schnurrbart und folgte keiner Einladung mehr. Dann ging er auch nicht mehr zu Kuba. Der Sohn machte sich ernsthafte Sorgen um seinen Vater, doch keine Neuigkeit über die Entwicklung der Enkelkinder, kein Grillabend und kein zu reparierender Rasenmäher konnte Heniek mehr zu ihm locken. Bald kaufte er nicht einmal mehr ein, sondern saß nur noch im Garten. Und schließlich war er auch dort nicht mehr zu sehen, sondern schritt einen immer enger werdenden Kreis im Wohnzimmer ab, bis er sich zuletzt auf das Sofa setzte, von wo er nur noch zur Verrichtung der allernotwendigsten Dinge aufstand. Er trank nicht einmal, er saß nur noch da.

Anfangs kamen seine Kinder, Schwiegerkinder und Freunde noch, um ihn zu trösten oder zu tadeln, doch bald verloren sie die Lust und ließen ihn allein in seinem Alleinsein.

Nur Andrzej hielt noch zu ihm. Er suchte ihn regelmäßig auf und klagte, was aus Heniek geworden sei, sprach ihm Mut zu, zählte die hübschen, älteren, geschiedenen oder verwitweten Frauen auf, die Heniek nun alle haben konnte, und erklärte sehr lang und ausgiebig, was er an seiner Stelle mit all der gewonnenen Freiheit tun würde.

Doch Heniek zeigte kein Interesse. Er wollte nur Beatka, mit der er sechsunddreißig Jahre lang zusammengelebt hatte – mehr als die Hälfte seines bisherigen Lebens, und fast sein gesamtes Leben als erwachsener Mann. Sechsunddreißig Jahre, zwei Kinder, zwei Enkelkinder –, das konnte keine Frau mehr ersetzen, selbst wenn sie – was ausgeschlossen war – so ein besonderer Mensch wäre wie seine Beatka: Heniek, da war er sich sicher, hatte keine weiteren sechsunddreißig Jahre mehr zu leben. Niemand in Gajerudki war jemals siebenundneunzig geworden.

In der Folge kam Andrzej seltener, aber gereizter, warf ihm vor, dass er in seiner Trauer nur an sich denke, dass er seine Kinder, Enkel und Freunde vernachlässige, dass er ihm, Andrzej, zum Beispiel noch achttausend Złoty schulde und dass er offenbar überhaupt nicht daran denke, diese Schuld zu begleichen.

Das wirkte zumindest ein wenig. Heniek begann wieder, einige Stunden am Tag in seiner Werkstatt zu arbeiten; leidenschaftslos zwar und mechanisch, aber immerhin tat er nun etwas und saß nicht mehr den ganzen Tag auf dem Sofa vor dem Fernseher. Und wenn Andrzej ihn jetzt aufsuchte, lagen immer ein paar Scheine auf dem Tisch. Andrzej steckte sie mit einer Mischung aus Scham und Schuldgefühlen ein. Es war ihm peinlich, dass er Heniek in dieser Lage an so etwas Banales wie Schulden erinnert hatte. Doch sein Freund nahm es ihm nicht übel. Es war, als könnte er überhaupt nie wieder irgendwem irgendetwas übel nehmen in Anbetracht des einen übergroßen Übels, das ihm seine Frau angetan hatte. Andrzej verzweifelte und wandte sich ratlos ab. Er war ein Mann der Tat, wie man so sagt, und konnte Untätigkeit nicht ertragen.

In der Folge kam er wochenlang gar nicht mehr. Doch als er dann wieder erschien, war er unrasiert und ungewaschen. Wortlos setzte er sich neben Heniek, begann zu trinken und stand ebenfalls nicht mehr vom Sofa auf.

2

Schuld waren Europa und Marysia.

Marysia war, wie Heniek sagte, die nichtsnutzige Kollegin seiner Tochter. Sie hatte nie etwas gelernt in ihrem Leben, außer – wie Heniek ebenfalls sagte – mit dem Hintern zu wackeln und den Hintern hinzuhalten. Und zu tratschen. Sie hatte einen falschen Leberfleck über dem Mundwinkel genau wie …

– Marilyn Monroe? –

– Ja, genau. Wie Marilyn Monroe. –

Dieses Gajerudki war voller Filmstars. Holliewud.

Immer wenn Marysia ausging, nahm sie einen schwarzen Stift in die Hand und zeichnete sich diesen falschen Fleck über die Lippen, und dann schaute sie bei Heniek und Beatka vorbei, gab vor, mit Kasia verabredet zu sein, setzte sich selbstgefällig an das Ende des Küchentisches mit der geblümten Plastikdecke und schlürfte Beatkas Nescafé oder, ohne dass man Heniek um Erlaubnis gebeten hätte, seinen Likör. Beatka vergötterte sie und hing an ihren Lippen, genauer: einen Zentimeter über den Lippen, an dem falschen Leberfleck, der sich bei jedem Kräuseln des Mundes oder Spitzen der Lippen oder bei jedem selbstgefälligen Grinsen verformte, als wüsste er selbst nicht, ob er lieber Kreis oder Dreieck oder Strich sein wollte. Und jedes von Marysias Wörtern nahm Beatka auf, als wären es die allerkostbarsten Schätze, die die Welt zu bieten hätte:

– Hoteljob. Holland. Saisonarbeit. Aufräumen. Acht Euro fünfzig die Stunde. Plus Trinkgeld. –

Während Heniek längst die Küche verlassen hatte und im Wohnzimmer genervt durch die Programme zappte – zuerst die Nachrichten, dann eine Polit-Satire und schließlich die Telefonsexdauerwerbesendung –, während er also dergestalt genervt und gelangweilt, mit zu einem Drittel harten Schwanz und vor allem aber voller Sehnsucht nach seiner Frau im Fernsehsessel saß, malte drüben in der Küche Marysias tanzender Leberfleck ein üppiges Bild von diesem Holland in der EU, dem gelobten Land, dem Land, wo Milch und Honig fließen, dem Eldorado der Gastarbeiter aus Gajerudki. Und Beatkas Augen folgten dem Leberfleck auf seinen Sprüngen und funkelten voller Abenteuerlust und Goldgier, und der ehemals Brigitte-Bardot’sche Busen hob und senkte sich vor Erregung im gleichen Takt über dem blumigen Küchentisch. Gegen diese Erregung kam Heniek nicht an.

Noch Stunden nachdem Marysia gegangen war und das Ehepaar endlich, wie es sich gehörte und wie sie es sich vor dem Traualtar geschworen hatten, zusammen im Bett lag, sah er, wie ihr Blick in die Ferne glitt, durch die Zimmerdecke hindurch bis in das entlegene Holland, und wie ihr Mund noch einmal stumm die magischen Worte formte:

– Saisonarbeit, acht Euro fünfzig, Trinkgeld. –

Heniek gab sich alle Mühe, Beatka auf andere Gedanken zu bringen. Er erzählte ihr, was er in den Nachrichten gesehen hatte, und fragte sie nach ihrer Meinung. Sie hatte keine Meinung dazu.

Er wiederholte die besten Witze aus der politischen Satire-Show. Sie lächelte nur abwesend.

Er hatte Sex mit ihr. Sie ließ es geschehen.

Doch als er sich erschöpft auf seine Seite des Bettes legte und schwer atmete, schlich ihre Hand auf Fingerspitzen herbei und legte sich auf seine Brust. Wie immer, wenn sie noch mit ihm sprechen wollte, begann sie, mit seinen grauen Brusthaaren zu spielen, und drehte und wog sein kleines, blechernes Marienmedaillon, das er an einer Kette um den Hals trug. Sein Onkel Franek – Gott habe ihn selig – hatte ihm dieses Medaillon vor vielen Jahren einmal aus Jasna Góra, dem Ort der Schwarzen Madonna, mitgebracht, und seither hatte Heniek dieses Medaillon nie abgenommen. Zweiundfünfzig Jahre waren seitdem vergangen. Onkel Franek war schon längst an einem Kehlkopftumor gestorben. Aber zumindest lag er jetzt in Zduńska Wola neben seiner Frau, Seite an Seite, bis zum Tod und noch über den Tod hinaus, und die beiden Körper wärmten einander in der Kälte des Grabes.

So gehörte sich das.

Keine tausend Kilometer zwischen ihnen, keine zwei Landesgrenzen. Onkel Franek war in Polen geboren und in Polen gestorben. Von Gajerudki nach Zduńska Wola waren es siebeneinhalb Kilometer, von Zduńska Wola nach Łódź sechsundfünfzig und von Łódź nach Warszawa hundertunddreißig. Dorf, Kleinstadt, Großstadt, Metropole, alles war in der Nähe. Wollte man im Sommer ans Meer, so fuhr man nach Hel, wollte man im Winter in die Berge, so fuhr man nach Zakopane. Burgen? Malbork. Sanktuarium? Jasna Góra. Wälder? Überall waren Wälder. Polen hatte alles. Onkel Franek hatte in seinem ganzen Leben die Heimat nicht ein einziges Mal verlassen. Und wichtiger noch: Tante Jadwiga auch nicht. Als er starb, verging nur ein Tag, nicht einmal ganze vierundzwanzig Stunden, wenn man es genau nimmt, und Jadwiga starb auch. Franek zog sie mit sich ins Grab, sagten nachher alle auf der doppelten Beerdigung.

So gehörte sich das.

Doch das Ungehörige kräuselte bereits seine Brusthaare. Die rot lackierten Fingernägel strichen sanft über seine Narbe, und die flache Hand drückte gegen die Hautschicht, unter der sich nur wenige Zentimeter tiefer sein Herz befand.

Als Beatka endlich sprach, machte sie es zumindest kurz.

– Ich möchte nächstes Jahr mit Marysia mitfahren. –

– Wohin? – fragte Heniek. Er hasste es, so zu tun, als wüsste er nicht, worum es ging. Und doch tat er es immer wieder in ihren Ehegesprächen.

– Nach Domburg. In Holland. –

Heniek dachte nach. Sollte er es ihr verbieten? Sie würde ja doch fahren. Sollte er eine Szene machen? Sie würde ja doch fahren. Sollte er ihr seine Meinung über Marysia sagen? Sie würde ja doch fahren. Nichts half, nichts konnte helfen. Er war müde, und vielleicht zum ersten Mal in den vierunddreißig Jahren, die sie damals verheiratet waren, kam es nicht sofort zu einem Streit. Stattdessen fragte er wie der Ehemann, der er immer sein wollte:

– Warum? –

Beatka war überrascht. Jede andere Reaktion ihres Mannes hätte es ihr einfacher gemacht: Sie war bereit, ihre Stimme zu heben und ihm zu sagen, dass er nicht über sie bestimmen könne, dass dies nur wenige Wochen seien, für welche die Szene, die er gerade mache, nicht gerechtfertigt sei, dass er Marysia gar nicht kenne und daher keine Ahnung habe, wer sie sei.

Sie hatte sich noch anderes zurechtgelegt, wie etwa, dass Holland sicher sei, bestimmt sicherer als Polen, dass es gutes Geld sei und er schließlich immer gemeint habe, sie würde zu wenig verdienen, und jetzt sei ihm das auch nicht recht, und so fort.

Sie hatte sich daran gewöhnt, mit ihrem Mann zu streiten, aber sie war nicht in der Lage, mit ihm zu sprechen. Schnell prüfte sie die Antworten, die sie sich ausgedacht hatte, als sie sich im Bad die Ohrringe abgenommen und als er mit ihr geschlafen hatte, fand, dass die letzte Antwort mehr oder weniger auf seine unerwartete Frage passte, und sagte etwas gehetzt, weil sie sich insgeheim für den Ton und Inhalt schämte:

– Wir können das Geld gut gebrauchen. –

Dagegen war nichts einzuwenden. Geld konnte man immer gut gebrauchen, besonders in Polen, besonders in Gajerudki. Heniek wusste das und sagte nichts mehr. Er seufzte nur leise, und Beatka legte ihren Kopf auf sein weich gekräuseltes, graues Brusthaar.

3

Seit der Mittagsstunde saßen Andrzej und Heniek zusammen und tranken. Jetzt war es zwei Uhr nachts. Vierzehn Stunden lang betranken sie sich, nüchterten aus, aßen eine Kleinigkeit und tranken weiter – den zwölften Tag in Folge. Die ganze Zeit über lief der Fernseher und zeigte die immer gleichen Bilder: Bilder eines Sturms, der über einen Wald bei Gdańsk gefegt war und dabei alle Bäume umgeknickt hatte, und Bilder eines roten Jäckchens, welches das einzige Überbleibsel eines vermissten Mädchens darstellte.

– Schlimm, was da geschieht. – sagten mal Andrzej, mal Heniek alle drei bis vier Stunden.

Mehr sprachen sie nicht.

Und trotzdem wusste Heniek sofort, was Andrzej meinte, als er plötzlich und unvermittelt fragte:

– Hast du versucht, sie anzurufen? –

Und so erwiderte er schnell:

– Nein, sie kann mich mal. –

– Richtig so. –

Eine halbe Stunde verging. Heniek ergriff die Fernbedienung und schaltete von der Nachrichtendauerschleife zuerst auf die Wiederholung des Champions-League-Finalspiels – Mario Mandžukić schoss gerade das zwischenzeitliche 1:1 für Juventus Turin gegen Real Madrid –, dann auf einen Softporno – ein Pärchen trieb es in einem Jeep während einer Safari – und schließlich wieder zurück auf die Nachrichten. Das rote Jäckchen war noch immer die einzige Spur des vermissten Mädchens. Andrzej wartete, bis Heniek die Fernbedienung wieder hingelegt hatte, und sagte:

– Vielleicht solltest du es trotzdem tun. –

– Wozu? –

– Sie könnte dort unglücklich sein. –

– Na und? –

– Vielleicht möchte sie zurückkehren. –

– Das kann sie vergessen. –

– Hm. Aber wäre es nicht eine Genugtuung zu hören, dass es ihr scheiße geht? –

Heniek antwortete nicht, und auch Andrzej wartete kurz. Die Unehrlichkeit der letzten Sätze war offenkundig. Darum machte es keinen Sinn, weiter in diese Richtung zu gehen. Stattdessen fing er wieder von vorne an:

– Komm schon, ruf sie mal an! –

Heniek antwortete nicht.

– Du willst es doch bestimmt auch. –

Heniek antwortete immer noch nicht.

– Wenn du sie anrufst … –

– Sie nimmt nicht ab. – fiel ihm Heniek gereizt ins Wort.

Er schenkte sich schnell nach und trank, ohne auch Andrzej etwas einzugießen oder zu ihm aufzuschauen. Sein Freund nahm es ihm nicht übel, weder, dass er ihm nicht gleich die Wahrheit gesagt, noch, dass er seine gastgeberischen Pflichten vergessen hatte. Er arbeitete bereits an einer Lösung.

– Hast du es von einer anderen Nummer aus probiert? –

– Ja. Von verschiedenen Telefonzellen in Gajerudki, Zduńska Wola und Łódź aus, mit unterdrückter Nummer. Und einmal habe ich mir auch eine neue SIM-Karte gekauft. Es hat keinen Zweck. –

– Soll ich es probieren? –

– Es ist kurz vor drei. –

– Egal. –

– Aber sie muss morgen sicher zur Arbeit. –

– Hör auf, ständig Rücksicht auf sie zu nehmen. –

– Warum sollte sie bei dir rangehen? –

– Ich weiß es nicht. Was schadet ein Versuch? –

Heniek trank noch einmal und schaute in Andrzejs Augen, in denen Entschlossenheit und Herausforderung funkelten.

– Scheiß drauf. Tu es! –

Andrzej holte schnell sein Handy hervor und wählte Beatkas Kontakt aus. Er wollte nicht, dass Heniek es sich noch einmal anders überlegte. Ohne aufzuschauen, drückte er auf ›Anrufen‹ und schaltete den Lautsprecher an. Dann erst blickte er seinem Freund in die Augen.

Sowie der erste Freiton zu hören war, stellte Heniek den Fernseher auf lautlos. Gemeinsam lauschten sie: Der Piepton ertönte und verstummte in unerbittlichem Wechsel. Andrzej und Heniek hielten beide den Atem an und starrten auf das Display mit dem grünen Hörersymbol und den drei Pfeilen, die immer wieder aufleuchteten. Als würde das Feuer eines letzten Streichholzes in ihrer Hand zu erlöschen drohen, wagten sie keine Bewegung: Sie hatten Angst, dass ihr Ausatmen oder das Quietschen des Kunstledersofas unter einer Bewegung ihres Körpers ihre letzte Hoffnung vereiteln würde. Noch nie war es so leise in Henieks Haus gewesen, und zwischen den Tönen schien ganz Gajerudki auf lautlos gestellt.

Dann verstummte das Handy, und der grüne Hörer mitsamt seinen Pfeilen verschwand.

– Keine Mailbox? – fragte Andrzej.

– Was gäbe ich dafür, noch einmal ihre Stimme zu hören! – seufzte Heniek.

Im Fernsehen begann die Wiederholung eines Beitrags über die zunehmende Zahl von Feuerbestattungen in Polen. Auch diese Kurzdoku kannten Andrzej und Heniek bereits, sie hatten sie vor drei Tagen gesehen: Zuerst wurde den Zuschauern erklärt, was Feuerbestattungen überhaupt sind und wie sie durchgeführt werden. Darauf folgten ein Vergleich der Kosten beider Bestattungsarten, bei dem die Feuerbestattungen deutlich günstiger abschnitten, ein paar Bilder von völlig überfüllten Friedhöfen und Interviews mit Bürgermeistern, die behaupteten, sie wüssten nicht, wohin mit all den Toten. Doch zum Schluss nahm der Beitrag wieder eine andere Wendung: Ein Geistlicher der Päpstlichen Universität in Kraków kam zu Wort und erklärte, dass die Christen an die leibliche Auferstehung glauben würden und dass die Verbrennung des Körpers daher ein heidnischer Brauch und als solcher abzulehnen sei. Und die letzten Bilder galten in diesem Sinne wieder einem Friedhof am Allerheiligenfest: Während überall um sie herum die Gräber geputzt und mit Blumen und Lichtern geschmückt wurden, sagte eine alte Frau, dass sie seit zwanzig Jahren an das Grab ihres Mannes komme, um hier seine letzte Ruhestätte zu pflegen und für ihn, die große Liebe ihres Lebens, zu beten.

Heniek schaltete den Ton nicht wieder an. Er blickte dumpf auf die flimmernden und rauschenden Bilder. Nachdem sie für Beatkas Oberarmstraffung den Flatscreen verkauft hatten, war er in den Keller gestiegen, hatte den alten Röhrenfernseher hervorgeholt und wieder im Wohnzimmer angeschlossen. Obwohl er ihn erst vor einem Jahr gegen das neue Modell eingetauscht hatte, schien ihm die Technik nun unglaublich veraltet.

Andrzej stellte sein Glas besonders laut auf den Tisch und verharrte in dieser vorgebeugten Haltung. Dann stemmte er seine Arme auf seine Oberschenkel, presste Lippen und Augen für einen Augenblick zusammen und sagte:

– Lass uns hinfahren! –

Heniek reagierte nicht.

– Ich meine es ernst. Lass uns zu Beatka fahren. –

Heniek schaute weiterhin auf die stummen Bilder des Fernsehers.

– Hol sie dir zurück, Mann! –

– Sie hat mich verlassen. – sagte Heniek, wobei er das ›sie‹ und das ›mich‹ besonders betonte.

– Na also, er lebt noch! – rief Andrzej wie zu einem unsichtbaren Zuschauer und lehnte sich wieder zurück.

– Ja, sie hat dich verlassen. Aber das heißt nicht, dass sie jetzt glücklich ist. Ihr wart dreißig Jahre zusammen. –

– Sechsunddreißig. –

– Sechsunddreißig, genau. Und jetzt wollte sie mal einen anderen Schwanz spüren, und gut ist. Das heißt nicht, dass sie dich nicht mehr wiedersehen will. –

– Woher willst du das mit … dem anderen Schwanz wissen? –

Andrzej musste fast lachen:

– Werd erwachsen! –

Doch sofort hielt er inne: Heniek schaute ihn plötzlich fest an, ganz anders als sonst. Andrzej konnte diesen Blick nicht einordnen und sprach daher schnell weiter.

– Weißt du, was ich an deiner Stelle tun würde? Wenn Iwona und nicht Beatka nach Holland gefahren wäre? –

– Was? –

– Ich würde da noch heute Nacht, jetzt gleich, hinfahren, morgen früh an ihrer Tür klopfen, dem Scheiß-Holländer, sofern es einen gibt – ist ja gut! –, eine runterhauen und sie auf Armen zurücktragen. –

– Durch ganz Deutschland? –

– Durch ganz Europa, wenn es sein müsste. –

Heniek schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal seit Wochen lächelte er, während er sich in Erinnerungen an Beweise verlor, die bezeugten, dass Beatka die Liebe seines Lebens war. Er dachte daran, wie er zu ihrer ersten Verabredung den Fiat 125p ausgeliehen hatte: Zwei Wochen lang lag er seinem Vater mit der Bitte im Ohr, und um die Schlüssel endlich zu erhalten, musste er versprechen, einen Monat lang seine Großmutter jeden Abend zur Messe nach Zduńska Wola zu begleiten. Er dachte daran, wie er selbstverständlich sein bestes Hemd angezogen hatte, obwohl es ihn so fürchterlich im Nacken kratzte, und wie er alle Regeln der Höflichkeit befolgt hatte, die ihm seine Mutter im Vorfeld mit einem strahlenden Lächeln beigebracht hatte, das vielleicht noch schlimmer zu ertragen war als die dreißig Messen mit seiner Oma. Und dann war er einverstanden gewesen, die Hochzeit so auszurichten, wie es sich Beatka vorstellte, und auch ihre Wünsche bezüglich des Zusammenlebens hatte er stets umgesetzt: Noch immer dachte Heniek mit großem Schmerz daran, wie er seine Eltern bitten musste, das größte und schönste Zimmer des Hauses zu räumen, weil Beatka meinte, dass es Heniek und ihr zustehe. Und das vielleicht größte Opfer war, dass sie nur zwei Kinder hatten, obwohl er mindestens vier gewollt hatte. Und beide Kinder waren nach Beatkas Familie benannt worden: Kasia nach Beatkas Mutter Katarzyna und Kuba nach ihrem berühmten Großvater Jakub.

Und dann dachte er an nahezu seinen ganzen Besitz, den er verkauft hatte, nur um Beatka die Operationen zu ermöglichen, die sie sich so sehr gewünscht hatte. Und plötzlich kam ihm ein nicht unbedeutender Zweifel:

– Und wenn sie … gar nicht will? –

– Das wird nicht der Fall sein. –

– Warum nicht? –

– Weil sie inzwischen gemerkt hat, dass Holland auch nicht besser ist, und sie vermisst dich und die Kinder und die Enkel bereits. Und wenn du dann plötzlich vor ihr stehst, wird sie wieder wissen, was sie an dir hatte. –

Andrzej hielt inne. Die Worte waren ihm leicht über die wodkagetränkten Lippen gegangen. Doch nun, wo er ihre Wirkung auf Heniek sah, verspürte er plötzlich ihre Konsequenz.

– Ich habe kein Auto. – sagte Heniek in einem Ton, den Andrzej sehr gut an ihm kannte: Er war schon überzeugt und wollte nur noch die letzten Schritte bis hin zum Entschluss getragen werden. Doch in seiner Stimme lag auch Bitterkeit. Die Erinnerung an seinen verlorenen Audi, den geliebten Falken, schmerzte noch immer.

– Meins können wir leider auch nicht nehmen. –

– Warum nicht? –

– Ich habe es gerade zurückgegeben. Ich war nicht zufrieden damit. –

– Was war damit? –

– Der Motor ging unruhig. –

– Und du hast es nicht zu mir gebracht? –

Sowohl der Freund als auch der Mechaniker in Heniek waren empört.

– Es hatte noch Garantie. –

Heniek dachte nach. Doch er sah keine andere Möglichkeit, nach Domburg zu gelangen. Im Leben nicht hätte er die Optionen Zug, Bus oder Flugzeug in Betracht gezogen. Wenn er kein Auto hatte, konnte er sich nicht fortbewegen.

Andrzej war dagegen wie immer schneller darin, Lösungen zu finden:

– Was ist mit dem Mercedes, der in der Einfahrt steht? –

Er deutete dabei auf den Platz vor der Werkstatt.

– Die Bremsklötze. Und die Lüftung funktioniert nur auf den letzten beiden Stufen. –

– Ansonsten fährt er? –

– Ja. –

– Lass uns doch den nehmen! –

– Bist du verrückt? Das ist nicht mein Wagen. –

– Bis wann sollst du ihn fertig haben? –

– Nächste Woche. –

– Also! Wir sind übermorgen zurück. Und der Besitzer merkt wahrscheinlich gar nicht, dass da zweitausend Kilometer mehr auf dem Tacho sind. –

Sie schauten sich beide an.

– Auf jeden Fall, – sagte Heniek, – müsste ich die Bremsklötze austauschen. So können wir nicht fahren. –

– Und ich kümmere mich um Verpflegung. –

– Was ist mit der Route? Meinen Atlas können wir nicht nehmen, der ist viel zu alt. –

Andrzej legte sein Smartphone auf den Tisch.

– Das navigiert uns überallhin. –

Und dann ergänzte er:

– Ich muss nur Iwona Bescheid sagen, dass ich zwei Tage weg bin. –

Sie schauten sich wieder an und dachten nach. Es war verblüffend, wie wenig sie brauchten, um loszufahren: ein Fahrzeug, etwas Proviant, eine Landkarte.

4

Für Heniek und Andrzej war die Zeit ohne den jeweils anderen nur eine vage Erinnerung, wie an einzelne Schattenbilder an der Wand über dem Kinderbett oder wie an den Tannenbaum des ersten Weihnachtsfestes, das man erlebt hat. Sie hatten, so konnten sie ohne Übertreibung behaupten, ihre Leben zusammen gelebt, so unterschiedlich ihre Charaktere auch waren. Denn es gibt Menschen, die finden Wege, und es gibt Menschen, die finden Gründe. Andrzej gehörte der ersten Gruppe an. Er war zwar einen Kopf kleiner als Heniek, dafür aber energischer. Und wagemutiger: Er schlug zuerst den wilden Dobermann des alten Reifenhändlers Bronisław mit einem Knüppel, er warf als Erster eine Papierkugel gegen die strenge Musiklehrerin in der Grundschule, und er schob zum ersten Mal einem Mädchen seine Hand unter den Rock. Seine Mutter machte sich Sorgen, was aus diesem Bengel nur werden sollte, der ständig dreckige Hosen und ein verschmitztes Lächeln trug und dessen schlitzförmige Augen vor Verschlagenheit nur so strahlten. Und von dem alle sagten, er sei ein Taugenichts, ein Nichtsnutz, genau wie sein Vater.

Aber Andrzej wusste sich gegen das Leben zu behaupten. Er war kein guter Schüler, doch ein Genie darin, unbemerkt abzuschreiben. Arbeit hatte er keine, doch fand er stets neue Wege, um in den späten Siebzigerjahren an Zigaretten, Wodka und – am wichtigsten – an hellblaue Jeans zu kommen. Und wenn er auch ungehobelt und arm war, so schlich er sich doch in die Herzen und Betten zahlreicher Mädchen. Und genauso schnell, wie er hineinkam, war er auch wieder draußen.

So schien es zuerst auch mit Iwona. Sie fühlte sich von Anfang an zu Andrzej hingezogen, sehr zum Missfallen ihrer Eltern. Um ihre Tochter von dem nichtsnutzigen Schürzenjäger fernzuhalten, ließen sie ihr kaum eine freie Minute. Iwona arbeitete von frühmorgens bis spätabends als Plätterin in Zduńska Wola. Die Eltern schärften der Inhaberin, einer Bekannten, ein, auch in der Mittagspause stets ein Auge auf ihre Tochter zu werfen. Nach Feierabend musste sich Iwona sofort auf den Heimweg machen und durfte nicht eine Minute später nach Hause kommen, als ihr Vater, der die Strecke einmal zur Probe mit ihr gegangen war, für den Weg gebraucht hatte. Dann galt es, ihrer Mutter in der Küche zu helfen. War das Abendessen beendet, wusch Iwona ab und half den jüngeren Geschwistern bei den Hausarbeiten. Danach herrschte Bettruhe. Ausgehen durfte sie selbstverständlich nicht, und so war es eigentlich unmöglich, einen freien Augenblick mit ihr zu verbringen.

Doch Andrzej fand einen Weg. Er lieh sich die WSK M06 – Wueska genannt – von seinem Cousin aus und erwartete Iwona damit am Abend hinter der ersten Biegung nach der Mangelei. Statt dass sie den Heimweg nun zu Fuß bestreiten musste, stieg sie auf das kleine Motorrad. Andrzej fuhr, obwohl er keinen Führerschein hatte, so schnell er konnte, bis er auf halbem Wege zwischen Zduńska Wola und Gajerudki anhielt, wo die beiden die Wueska hinter drei großen Büschen verbargen und sich hastig auszogen.

Eine Woche lang hatten Andrzej und Iwona auf diese Weise eine halbe Stunde am Abend für sich. Er setzte sie immer kurz vor Gajerudki ab, damit man sie dort nicht zusammen sähe, und sie erschien mit geröteten Wangen zu Hause. Ein Mal fuhr Andrzej Iwona auch morgens zur Arbeit, doch der kalte Tau im Gras und die morgendliche Stunde entsprachen nicht seinem in dieser Hinsicht sehr bequemen Wesen.

Nach dieser Woche musste Andrzej, wie er Iwona erklärte, die Wueska an seinen Cousin zurückgeben, und sie konnten sich nicht mehr sehen. Iwona weinte, als er es ihr erklärte, und sie sah auch, dass er dabei bereits mit einer Hand am Gasgriff spielte.

Als er sie zum letzten Mal vor Gajerudki absetzte, schaute er nicht einmal mehr zurück. Er war bereits mit Beatka verabredet.

5

Wenn man in Gajerudki verabredet war, ging man in den Laden. Einen Namen hatte er nicht. Er brauchte keinen, er war der einzige in der Stadt. Tagsüber verkaufte Teresa Nowak hier Milch, Strumpfhosen, Wodka, Tampons und Grablichter; abends stellte ihr Mann, Waldemar Nowak, Plastikstühle und Tische auf die Veranda, bedeckte Letztere mit Tischdecken aus leicht klebrigem Wachstuch, verteilte Aschenbecher und betrieb eine Art Bar. Dies war der einzige Ort in Gajerudki, an dem man abends ausgehen konnte, und so sagte man, wenn man sich verabredete: – Wir treffen uns im Laden – oder: – Morgen bei Nowak. – Meist reichte aber auch eine vage Verabredung wie: – Am Freitag auf ein Bierchen? –, und wenn nicht explizit ein anderer Ort benannt wurde, so wussten alle, dass es um den Laden ging.

In diesem Laden hatten Andrzej und Beatka ihre dritte Verabredung. Sie saßen einander nicht mehr gegenüber, sondern bereits nebeneinander. Andrzejs rechte Hand ruhte auf der ihren, und seine linke glitt hin und wieder auf ihren nackten Oberschenkel unter dem kurzen Kleid. Sie sprachen nicht viel, sie küssten sich mehr. Beatka ließ sich alles gefallen, seine verrauchten Küsse und die Berührungen der einen wie auch der anderen Hand.

Doch plötzlich stapfte Iwona hinzu. Sie war sichtlich wütend und verzweifelt und drohte sofort, eine gewaltige Szene zu machen. Andrzej bedeutete Beatka, kurz zu warten, und führte Iwona von der Gästeveranda hinunter und um den Laden herum in den kleinen Wald, der dahinter begann. Um zu unterstreichen, dass er gleich wieder zurück sein würde, ließ er seine Zigarettenschachtel auf der bunten Tischdecke neben seinem Glas liegen. Beatka griff hinein und zündete sich eine der fünf filterlosen Sporty an, die noch übrig waren. Andrzej konnte sich nur die billigste Marke leisten.

– Nun, was ist? – brummte er, als er mit Iwona allein war und ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat.

– Das fragst du mich noch? –

– Ja. –

– Beatka ist los, und dass du nicht mehr kommst, und das mit dem Motorrad ist auch nur eine Ausrede, und überhaupt bist du ein verantwortungsloses Schwein! – brüllte sie und begann sofort, mit geballten Fäusten auf seine Brust einzuschlagen.

– Ich habe dir nie etwas versprochen. –

Ihre Augen weiteten sich, ihre Schläge wurden härter. Andrzej hatte Mühe, ihre Fäuste abzuwehren. Vorsichtig wich er zurück, verfing sich dabei aber mit den Füßen in einem Ast und stürzte zu Boden.

Iwona gab ihm sofort einen Tritt. Mit aller Gewalt und vollem Spann traf sie ihn in der Magenkuhle. Andrzej winselte. Aber Iwona ließ nicht von ihm ab. Immer und immer wieder holte sie weit aus und trat den Liegenden so fest, wie sie nur konnte.

– Ich hasse dich, ich hasse dich! – rief sie und spuckte auf ihn hinab. – Wäre ich dir doch nie begegnet! –

Als ihn ihr Fuß am Kinn erwischte, wurde die Stelle sofort heiß, und die Hitze breitete sich über sein Gesicht bis hin in seine Schläfen aus.

Jetzt hatte Andrzej genug. Er nahm den Ast, über den er gestolpert war, und schlug, als sie ihn wieder treten wollte, gegen ihr Bein. Sie hielt kurz inne und wich zurück. Da sprang er hoch und warf sich auf sie, umklammerte sofort ihre Arme und riss sie zu Boden. Mit den Knien setzte er sich auf ihre Schultern und gab ihr, weil sie noch immer versuchte, ihn, wenn auch nicht zu schlagen, so doch zumindest zu beißen, eine Ohrfeige.

– Beruhige dich, du übergeschnappte Schlampe! – schrie er und ergriff dabei ihren Hals mit einer Hand.

Sie beruhigte sich nicht. Er gab ihr noch eine Ohrfeige, doch sie spuckte ihm ins Gesicht. Dann würgte er sie, nur leicht, aber doch stark genug, dass sie wehrlos wurde.

Iwona begann zu weinen.

– O verdammt, – fluchte Andrzej –, jetzt weinst du, ja? Erst schlägst du mich wie eine Bekloppte, und jetzt weinst du? –

Er atmete schwer und brauchte kurz, um seine Gedanken zu sortieren.

– Hör jetzt sofort auf und hör mir zu! –

Durch die Tränen hindurch schaute Iwona ihn kurz an.

– Gut. Endlich. Also. Du willst es hören, du sollst es hören: Wir hatten eine Woche, Iwona. Das war schön, aber das ist jetzt vorbei. Wir werden uns nicht mehr treffen. Nie mehr. Komm drüber hinweg. –

Iwona begann wieder zu weinen, doch nun schon leiser, innerlicher. Andrzej stand auf und ließ sie auf der Erde liegen.

– Ein Pflaster muss man mit einem Ruck abreißen. – sagte er und drehte sich von ihr weg. – Schade, dass es so enden musste. –

– Andrzej. – rief sie ihm nach.

– Was noch? –

– Ich bin schwanger. –

Andrzej schaute sie mit offenem Mund an.

– Warum hast du das nicht gleich gesagt? – fragte er schließlich.

– Du saßt mit Beatka. Und dann war … –

Doch Andrzej ließ sich auf die Knie sinken und unterbrach sie:

– Bist du sicher? –

– Ja. –

– Wirklich sicher? –

– Ja. –

– Du bist also … schwanger? –

– Ja. – sagte Iwona wieder.

– Das ist ja wundervoll! –

– Wundervoll? –

Iwona schaute ihn vorsichtig an. Ihre Wangen waren feucht, ihr Bein schmerzte von dem Schlag mit dem Ast, kalte Erde klebte an ihrem Rücken. Eben hatte sie noch wie wild geschrien, jetzt konnte sie nichts mehr sagen.

Neben ihr kniete Andrzej, seine Augen funkelten.

– Ich werde Vater. Wir werden Eltern! –

Und gleich darauf setzte er eine besorgte Miene auf.

– Steh nur schnell auf, dass du dich nicht erkältest. –

Dabei reichte er ihr die Hand.

Sie schaute ihn unschlüssig an.

– Komm schon, gib mir deine Hand. –

Vorsichtig ergriff sie sie und ließ sich hochziehen. Andrzej klopfte zärtlich den Dreck von ihrem Kleid, zuerst von den Schultern, dann vom Rücken und schließlich vom Po. Als er ein Laubblatt aus ihren Haaren zog, streichelte er sanft ihr Gesicht.

– Wir werden ein Kind haben. – flüsterte er und lachte dabei.

So gingen sie zusammen los. An den Laden und Waldemar Nowak und an Beatka, die mit seinen Zigaretten auf der Veranda auf ihn wartete, dachte Andrzej nicht mehr.

6

Andrzej schlief bis weit in den Nachmittag. Heniek schlief überhaupt nicht. Nachdem sein Nachbar gegangen war, blieb er noch auf dem Sofa sitzen und wartete, bis er, wie in den Wochen zuvor, irgendwann vor dem Fernseher in den Dämmerzustand fallen würde, der, seit Beatka ihn verlassen hatte, an die Stelle des Schlafes getreten war. Doch die Gedanken an die Fahrt, an die unverhoffte Aussicht, Beatka in weniger als vierundzwanzig Stunden gegenüberzustehen, und an die Möglichkeit, dass sie übermorgen bereits wieder zu Hause sein könnte, ließen ihn kein Auge zumachen. Kurz nach Sonnenaufgang gab er endgültig auf, schaltete den Fernseher aus und ging in seine Werkstatt, um den Wagen für die Fahrt vorzubereiten. Die Bremsklötze waren kein Problem; er hatte bereits passende gekauft, und die Reparatur gehörte zu den Standardeingriffen, die er auch übermüdet und betrunken ausführen konnte. Schwieriger war die Belüftung. Sie gehörte zu den Fummel- und Friemelarbeiten, die jeder Mechaniker hasste. Vorsichtig entfernte Heniek die Verkleidung der Steuerkonsole im Innenraum und probierte verschiedene Kontakte, Knöpfe und Kabel aus. Die Arbeit war anstrengend und frustrierend, und nach ein paar Stunden gab Heniek auf. Letztlich, so dachte er sich, war die Belüftung nicht so wichtig: Man könnte auch einfach die Scheiben runterkurbeln.

Nachdem sich Heniek noch einmal den Motor im Leerlauf angeschaut und den Füllstand aller Flüssigkeiten überprüft hatte, befand er, dass der Wagen so weit fahrbereit war. Er ging zurück ins Haus, packte sein bestes Hemd und seine beste Hose in die Reisetasche, rasierte sich gründlich, duschte, zog seine Cordhose, ein kariertes Hemd und die schwarze Lederweste an, die er das ganze Jahr über trug, und legte sich schließlich wieder auf das Sofa.

Andrzej kam erst Stunden später. Er brachte zehn frische Eier von seinen Hühnern im Garten, eine Reisezahnbürste und einen fürchterlichen Kater mit.

Beim Rührei legten sie ihr Geld zusammen und zählten. Viel hatten sie nicht.

– Das reicht kaum für die Spritkosten. –

Dieses Mal war es an Heniek, eine Idee zu haben.

– Wir betanken ihn mit Pflanzenöl. –

Andrzej lachte laut auf, wurde dann aber wieder ernst: Heniek hatte keinen Witz gemacht.

– Geht das? –

Knapp eine Stunde später standen sie in einem dieser neueren Hypersupermärkte bei Zduńska Wola vor dem Regal mit den Speiseölen.

– Raps- oder Sonnenblumenöl? – fragte Andrzej, noch immer misstrauisch.

– Egal. –

– Wie viele Flaschen brauchen wir? –

– Alle. –

Andrzej blickte die schier endlose Reihe aus Plastikflaschen mit gelber Flüssigkeit an, nahm die erstbeste in die Hand und schaute auf das Etikett. Heniek sah, wie Andrzej mit sich rang: Auf der einen Seite hasste er es, belehrt zu werden, besonders von Menschen, die ihm nahestanden, auf der anderen war er neugierig. Mit einem Schmunzeln stellte er fest, dass Andrzejs Neugier schließlich gewann:

– Ist das nicht schlecht für den Motor? –

– Bei einem neueren Diesel: ja. Aber der W124 … hat noch die Reiheneinspritzpumpen von Bosch. Der verbrennt dir alles. Die beste Baureihe von Mercedes. Ich würde sogar sagen, … der letzte echte Mercedes überhaupt. An ihm wäre der Konzern fast Pleite gegangen, weil der ewig fährt. Unzerstörbar. Bei den späteren Modellen haben sie eingeplant, dass man … dass die nach spätestens zweihunderttausend Kilometern kaputt sind. Dann kaufst du dir einen neuen. So verdienen sie mehr. Nicht einmal die Lacke waren danach noch rostfrei. –

– Gut, gut. –

Sie stellten je eine Flasche von jeder Sorte auf das Warenband und ließen die Verkäuferin den Inhalt ihrer beiden bis oben hin gefüllten Einkaufswagen zählen.

– Ist das eigentlich legal? – fragte Andrzej.

– Wir fahren nachts. – erwiderte Heniek kurz. Die junge Verkäuferin schaute auf, bemerkte dann aber, dass sie nicht mehr wusste, wo sie beim Zählen stehen geblieben war. Mit einem Seufzer begann sie von vorn.

– Wegen der Abgase? –

– Niemanden interessieren die Abgase. Die Werte … sind auch gar nicht schlechter. –

– Warum dann? –

Doch noch ehe Heniek antworten konnte, hatte Andrzej die Antwort bereits selbst gefunden. Wenn man nicht wusste, worum es ging, dann ging es, so sagte eine Redewendung, ums Geld.

– Wegen der Steuern? –

Heniek nickte.

– Diese Schweine. –

Die Verkäuferin hatte gerade die Zählung des ersten Einkaufswagens abgeschlossen und mischte sich plötzlich in das Gespräch ein.

– Es geht nur darum, dass Lebensmittel aus gutem Grund geringer besteuert werden als Treibstoff. Wenn Sie dagegen Speiseöl als Benzin benutzen, umgehen Sie die höhere Steuer. Das ist doch logisch. –

Heniek und Andrzej tauschten einen überraschten Blick.

– Das sagt sich einfach, wenn man im Supermarkt an der Kasse steht. – antwortete Andrzej. – Aber wenn das junge Fräulein – hier zuckte ihr Mundwinkel kurz zusammen –, nicht in der Lebensmittelbranche tätig wäre, sondern zum Beispiel als Fernfahrer, dann hätte es sicherlich eine andere Perspektive auf den Benzinpreis. –

Die Verkäuferin sagte nichts mehr. Mit bestimmten Menschen, so hatte sie in ihrem Leben gelernt, kann man sich nicht unterhalten.

Heniek dagegen war noch drei Stunden später, als der Wagen bereits vollbepackt und vollgetankt in seiner Einfahrt stand und Andrzej das Tor aufhielt, über die Verkäuferin empört: Dass sich so eine Zwanzigjährige einfach in ihr Gespräch einmischte! Und dann noch tadelnd. Zu seiner Zeit wäre das undenkbar gewesen. Kinder und Fische, sagte ein altes Sprichwort, haben keine Stimme. So gehörte sich das.

Erst als er sich hinter das Steuer setzte und den Wagen startete, klärte sich seine Miene wieder auf. Er hatte das Zündungsgeräusch schon sein ganzes Leben lang geliebt. Nach einigen Jahren Ehe hatte Beatka immer wieder auf ihn eingeredet, sich doch eine andere Arbeit zu suchen, mit ihr zusammen in den Direktvertrieb einzusteigen. Sie verstand einfach nicht, wie diese alten, verschmutzten und schrottreifen Autos seine Leidenschaft und sein Lebensinhalt sein konnten. Sie sah in der Werkstatt nur Öl, Benzin, Rost und Abgase: Nichts, womit sie sich freiwillig länger als absolut notwendig abgeben würde. Und so mied sie diesen Ort. Doch leider blieb die Werkstatt nicht dort, wo sie war, sondern wurde von Heniek Tag für Tag in ihr Haus und Leben getragen: Wenn er sich die Hände wusch, klebten schwarze, ölige Striemen am weißen Porzellanbecken. Wenn er sich in seiner Arbeitshose an den Küchentisch setzte, ließ er manchmal Flecken auf der Polsterung zurück. Und wenn er sich nachts neben sie legte, roch er nach Benzin und Metall, und dieser Geruch hing auch dann noch an ihm, wenn er gerade geduscht hatte. Ja, selbst im Urlaub, als er eine Woche nicht an Autos gearbeitet und stattdessen jeden Tag im See gebadet hatte, blieben ihm die an den Rändern geschwärzten Fingernägel und der leicht stechende, toxische Geruch, die ihn sofort als Mechaniker verrieten.

Für Heniek war die Sache dagegen ganz einfach: Beatka hatte nie wirklich begriffen, dass er im Reparieren von Dingen etwas an sich Wertvolles, ja Beglückendes sah. Wenn er zum Beispiel nach Tagen des Suchens und Grübelns, weshalb der Ford Focus der Grundschullehrerin nicht mehr ansprang, feststellte, dass lediglich der Nockenwellensensor ausgetauscht werden musste, so fühlte er sich – das stellte er sich zumindest vor – nicht anders als einer der Ärzte in Beatkas Seifenopern, der einem hoffnungslosen, schon totgesagten Fall mit einer mutigen Diagnose in letzter Sekunde das Leben gerettet hatte. Und die erleichterte Freude der armen Pädagogin, die sich jetzt sicherlich kein neues Auto oder eine teure Reparatur hätte leisten können, versetzte ihn noch Tage danach in eine nicht zu erschütternde Zufriedenheit mit sich, der Welt und dem Leben.

Nur manchmal, wenn sie die Löcher in den Socken ihres Mannes stopfte oder eine zerrissene Jeans flickte, schaute Heniek insgeheim mit einer gewissen Sehnsucht auf seine Nachbarin Iwona. Denn Beatka reparierte schon lange nichts mehr. Und jedes Mal, wenn sie etwa sah, dass er noch immer den gelockerten Griff eines Schraubenziehers an den Schaft klebte, anstatt, wie sie vorschlug, einfach einen neuen zu kaufen, schüttelte sie nur den Kopf und meinte:

– Du lebst noch in der Volksrepublik. –

Zur Zeit des Sozialismus hätte man das, was man besaß, nicht einfach weggeschmissen, nur weil es eventuell kaputt war. Beatka selbst hatte ihr Hochzeitskleid nach der Hochzeit zweimal gefärbt – zuerst hell-, dann dunkelblau – und dreimal umgenäht. So konnte sie noch mehrere Silvesterfeiern damit abdecken. Und aus dem überschüssigen Stoff, der zurückgeblieben war, als sie aus dem bodenlagen Kleid ein kurzes gemacht hatte, konnte sie noch Kleidchen für Kasia anfertigen. Das hatte Eindruck auf Heniek gemacht: Beatka war eine unglaublich talentierte Schneiderin. Und er hatte gedacht, dass sie in der Frage, wie man mit dem veralteten oder kaputten Besitz umgehen solle, gleicher Meinung waren. Doch sobald sich Mitte der Neunzigerjahre die Regale in den Geschäften zunehmend mit Waren füllten und diese nach jedem Leerkauf wie von Wunderhand unermüdlich von Neuem aufgefüllt wurden und als dann bald schon internationale Kaufhäuser aus dem Boden schossen mit Namen wie Auchan oder Intermarché oder Tesco und mit Regalreihen, deren Längen man in Polen bisher nur aus der Nationalbibliothek oder dem Archiv der Geheimpolizei kannte, da gehörten für Beatka jegliche Formen der Änderungsschneiderei, des Reparierens oder Aufbewahrens älterer Dinge der trostlosen und schnell zu vergessenden Vergangenheit an.

Das führte am Anfang häufig zu Streit. Doch bald fanden sie einen Kompromiss: Sie kauften zwar immer neue Dinge, doch die alten schmiss Heniek gegen Beatkas Willen und ohne ihr Wissen nicht weg. Stattdessen lagerte er sie fernab von ihrem Blick in der Garage und im Keller, wo er sie zum Großteil wieder in Schuss setzte und manchmal, wenn sie doch gebraucht wurden, hervorholte. So war es etwa mit dem Röhrenfernseher gewesen. Doch alle Schraubenzieher, Lampen oder Waschmaschinen, die er in seinem Leben repariert hatte, waren nichts im Vergleich zu der Komplexität und Eleganz von Kraftfahrzeugen.

Mit geübtem Ohr lauschte Heniek jetzt dem hohen Stottern der Zündung, dem kurzen Aufheulen der Gaszufuhr und dem sich einstellenden, regelmäßigen Brummen der tiefen Umdrehungen. Zufrieden, auch wenn er selbst am Motor nichts gemacht hatte, legte Heniek den Rückwärtsgang ein und lenkte den Wagen aus der Einfahrt. Dann ging er in den Leerlauf und wartete, bis Andrzej das Tor geschlossen hatte und zu ihm in den Wagen stieß.

– Bereit? –

Ein letztes Mal schaute Heniek über die Rückbank mit den Schlafsäcken und der Reisetasche, der Einkaufstüte mit dem Proviant, dem Kasten Bier und den vielen Rapsölflaschen – denn nicht alle hatten in den Kofferraum gepasst – hinweg auf das Haus, in dem er sechsunddreißig Jahre lang mit Beatka gelebt hatte und das nun in der Abenddämmerung still, dunkel und friedlich dastand, als wäre die ganze Familie darinnen und würde bereits schlafen: der kleine Kuba in seinem gelb-weiß gestreiften Strampler und Kasia an die von ihrer Mutter genähte Stoffpuppe gekuschelt und im Schlafzimmer das junge und glückliche Ehepaar in stiller Umarmung.

Alle Zweifel, die Heniek in den letzten Stunden befallen hatten, verflogen. Jetzt sah er wieder das Bild, für das er das alles tat: Dahin galt es zurückzukehren, dafür galt es, alle Mühen der Welt auf sich zu nehmen.

– Bereit. – antwortete Heniek, warf den ersten Gang ein und gab Gas.

Im Seitenspiegel sah er noch, wie die Umrisse der Obstbäume im Garten verschwanden, und dann erlosch das Licht in der Einfahrt, und dann waren sie auch schon an Andrzejs Haus vorbei, wo man hinter der beleuchteten Gardine Iwona in der Küche erahnen konnte, und dann fuhren sie die Straße entlang an weiteren Häusern vorbei, überquerten die eine Kreuzung Gajerudkis, bekreuzigten sich an der etwas verwitterten hellblauen Statue der heiligen Madonna, fuhren an Waldemars Laden vorbei, in dem sich außer den Sommerhits, die im Radio liefen, in den letzten vierzig Jahren nichts verändert hatte, passierten die Kapelle und den Friedhof, auf dem ein paar Grablichter rötlich schimmerten, fuhren die Straße weiter entlang, an vielen Häusern von Freunden vorbei, vorbei an der Zufahrt zum Sägewerk und dann zum Schrottplatz, und dann kam auch schon das Grundstück von Kuba und kurz darauf das von Kasia. Und dann hatten sie Gajerudki verlassen und fuhren hinaus in den untergehenden Abend.

7

Ein Jahr zuvor hatte Beatka dieselbe Reise zuerst und zum ersten Mal unternommen. Neun gereizte Monate lagen zwischen dem kurzen Gespräch im Bett und dem Augenblick, als Beatka und Marysia in den Reisebus stiegen. Zu der Innigkeit jener Sekunden kehrten Heniek und Beatka nie wieder zurück. Stattdessen war die Zeit geprägt von bissigen Bemerkungen und halb ausgesprochenen Vorwürfen.

Auch der Abschied war kühl. Als aber Beatka in den Bus stieg, hatte sie zumindest Marysia an ihrer Seite, Heniek dagegen musste allein mit ihrem dritten Koffer, den sie doch nicht hatte mitnehmen dürfen, über den leeren Busbahnhof zurück zu seinem Auto gehen. Er betätigte die Fernbedienung, und der Audi piepte zweimal munter und fahrbereit auf. Doch für Heniek klang es, als würde ihn sein Fahrzeug verhöhnen. Schwermütig setzte er sich in den Fahrersitz und versuchte, das Glück aufzusaugen, das sonst der Geruch der Lederausstattung verbreitete. Es war ein cremefarbener 2005er A6, den Heniek nach einem Totalschaden für ein paar Złoty gekauft und komplett neu aufgebaut hatte. Über zwei Jahre hatten die Arbeiten gedauert: auseinanderschrauben, günstige Ersatzteile auftreiben, ersetzen, schweißen, lackieren, zusammenbauen, polieren. Zum Schluss hatte Heniek sogar die eintausendeinhundert Złoty und fünfzig Groszy gezahlt, um dem Audi in einem kleinen zeremoniellen Akt ein individuelles Nummernschild zu verpassen: SOKÓŁ – Falke sagten einem schwarze Buchstaben auf weißem Grund, wenn man von den 4,2 Litern Hubraum überholt wurde. Heniek dachte dabei an die berühmte Liedzeile: ›Hej, hej, hej, ihr Falken, / fliegt über die Berge, Wälder und Täler dahin!‹ Er hatte das Lied geliebt, als er noch Pfadfinder war und man es gemeinsam am Lagerfeuer zur Gitarre gesungen hatte. Der Text handelte eigentlich von einem jungen Kosaken, der sich von seinem Mädchen in der Ukraine verabschiedet und in den Krieg zieht. Dennoch gehörte es nicht nur zum Erbe der Volksweisen, sondern auch und vornehmlich zu den patriotischen Liedern. Die junge polnische Armee hatte es kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges in den beiden darauffolgenden Kriegen gesungen: im Polnisch-Ukrainischen Krieg, welchen man, da es sich dabei um einen Angriffskrieg handelte, in den polnischen Geschichtsbüchern lieber als ›die Entstehung der polnischen Grenzen‹ im Vagen hielt, und im Polnisch-Sowjetischen Krieg, welcher, da es sich dabei um einen Verteidigungskrieg handelte, als der Polnisch-Bolschewistische Krieg bezeichnet wurde. Und da Heniek darüber hinaus mit vielen anderen die Westukraine weiterhin als eigentlich polnisch, als Gebiet des früheren polnischen Großreiches betrachtete, das man nur aufgrund der unglücklichen polnischen Teilungen, der Fehlentscheidung der Pariser Friedenskonferenz und schließlich aufgrund des Ribbentrop-Molotow-Paktes verloren hatte, war auch das Besingen des Mädchens, welches in der Ukraine auf den Kosaken wartet, ein sehr patriotischer Akt.

Indem Heniek seinen Audi ›Falke‹ getauft hatte, gab er seinen tiefsten und edelsten Gefühlen Ausdruck: der Liebe zu seinem Vaterland, der Empörung über dessen tragische Geschichte, der romantischen Vorstellung, auf gewisse Weise selbst Kosak zu sein – wenn auch nicht auf einem Pferd, sondern auf dreihundertfünfzig Pferdestärken –, während zu Hause das geliebte Mädchen auf einen wartete, und schließlich auch der Erinnerung an die Jugendzeit, als man in Pfadfinderuniform durch die Wälder streifte und sich als König der Welt fühlte. Der restaurierte A6 erfüllte ihn stets mit noch größerem Stolz als sein Kirschlikör mit der geheimen Zutat und war seine größte Liebe über die eine große Liebe hinaus.

Doch die eine große Liebe war nun fort. Da half auch der Geruch des Leders nicht.

Heniek drehte den Schlüssel im Zündschloss um und hörte, wie der Motor aufknurrte. Nur kurz freute er sich über die ungeheure Kraft, die hier gleichmäßig und leise unter den niedrigen Umdrehungen lauerte, seufzte und fuhr los.

Der Falke spendete nur wenig Trost. Denn es war alles von Grund auf falsch: Der Kosak hatte das Mädchen zu verlassen, nicht sie ihn, und schon gar nicht Richtung Westen.

Heniek kehrte in das leere Haus zurück, und erst langsam drang zu ihm durch, dass er völlig allein war. Seit – damals – fünfunddreißig Jahren zum ersten Mal. Planlos schlurfte er durch die Räume, brachte Beatkas dritten Koffer wieder zurück ins Schlafzimmer, räumte die Tasse weg, an der zum letzten Mal noch Spuren ihres Lippenstiftes klebten, und setzte sich auf ihren Liegestuhl im Garten.

Nach zweiundzwanzig Stunden schickte ihm Beatka eine SMS, in der sie kurz mitteilte, dass sie ohne Zwischenfälle am Ziel in Domburg angekommen waren, diesem Ort, von dem er nicht einmal genau wusste, wo er lag. Eigentlich hatte er sogar nur eine vage Vorstellung davon, wo Holland lag.

Um sich die Zeit zu vertreiben, ging er in das Zimmer von Kasia. Sie hatten für die beiden Kinderzimmer nach deren Auszug keine Verwendung gefunden, und so hatten sie sie einfach so gelassen, wie sie waren. Kasia war immer die bessere Schülerin gewesen, daher standen die meisten Bücher – ein Brett von achtzig Zentimeter Breite voller Schulbücher – bei ihr. Alle übrigen Bücher – es waren vor allem Fotoalben – befanden sich ganz unten in der Schrankwand im Wohnzimmer. Heniek setzte sich an Kasias alten Schreibtisch aus Sperrholz, an dem, wie er sofort bemerkte, die Holzimitatfolie an der Kante nicht mehr klebte, und nahm den Atlas in die Hand. Zum ersten Mal schaute er nach, wohin es seine Frau gezogen hatte, und er wunderte sich ein wenig über die Gestalt der Niederlande. In seiner bisherigen Vorstellung sahen die Niederlande eher wie Belgien aus, und Belgien wie Luxemburg, und an Luxemburg hatte er bisher noch nie in seinem Leben gedacht. Langsam las er die Namen, die wie ein vages Echo aus dem Geografieunterricht seiner Kindheit und aus seltenen Nachrichten in ihm aufstiegen:

– Brukselia, Antwerpia, Amsterdam. –

Es dauerte lange, bis er endlich Domburg fand, dieses kleine Städtchen direkt am Meer, fast schon mit Blick auf England, wie er überrascht feststellen musste. England hatte ihm immer besonders weit weg geschienen. Schon auf halbem Wege nach Amerika.

Heniek blätterte um auf eine Seite mit kleinerem Maßstab und wollte nun die Strecke, die seine Frau im Bus genommen haben musste, mit seinem Finger nachzeichnen, von Gajerudki bis nach Domburg, doch schon bei Dąbie kam er ins Stocken: Die neue Autobahn, die Polen zur Fußball-Europameisterschaft 2012 zwischen Poznań und Warszawa gebaut hatte, war nicht eingezeichnet. Ja, der Atlas musste sogar noch älter sein, aus den Achtzigern sicherlich, denn nach der Grenze, gleich hinter Słubice, erstreckte sich das Staatsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik. Heniek schaute noch eine Weile auf diese Karte von Mitteleuropa, die ihm sein ganzes Leben lang unumstößlich geschienen hatte, diese Karte, auf der die Staatsgrenzen mit einer breiten, in beide Richtungen unpassierbaren Doppellinie markiert waren.

8

Henieks rechte Hand hatte den Hebel der Gangschaltung losgelassen, hatte den dritten Knopf seines Hemdes aufgeknöpft und war ihm ganz unwillkürlich auf seine Brust gerutscht, wo sie nun die Kräuselungen seiner Haare nachzeichnete und über seine Narbe strich.

Sie waren schon mehrere Stunden unterwegs und fuhren auf der neuen Autobahn der Grenze entgegen. Es gab kaum Verkehr, und die Nacht war schläfrig und lau.

– Wenn du gewusst hättest, dass Polen mal eine Autobahn bauen würde, wärest du dann beim Straßenbau geblieben? – fragte Heniek.

– Als ob die einer so kleinen Firma so einen lukrativen Auftrag erteilen würden. –

– Bis dahin hättest du … ja noch wachsen können. –

– Die verteilen das Geld lieber unter sich. –

– Wahr. Aber zumindest haben wir jetzt ein paar Straßen, für die wir uns nicht schämen müssen. –

– Wobei ich mich schäme, wenn ich daran denke, wie sie gebaut wurden. Scheiß-Chinesen! –

– Hm. – brummte Heniek. Es war ein zustimmendes, aber auch nachdenkliches Brummen. Denn Heniek wusste nicht so recht. Eigentlich müsste die Lage einfach sein: Die aus dem kommunistischen China stammende Firma Covec war schuld, Polen – wie so oft – leidtragendes Opfer. Doch Polen war inzwischen gespalten, nicht, wie früher, in eine kleine Schicht kollabierender Sozialisten und die überwältigende, sich nach Freiheit sehnende Mehrheit, sondern fast genau in der Mitte der Gesellschaft: in eine Hälfte aus patriotischen Nationalkonservativen und eine Hälfte aus ebenfalls patriotischen Liberalen. So machte, als ein Jahr vor Beginn der Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine das chinesische Straßenbauunternehmen von einem Tag auf den anderen die Arbeit an der polnischen Autobahn niederlegte und wieder nach Asien verschwand, die PiS-Partei nur halbherzig China, vor allem aber der damals regierenden Bürgerplattform und dem Ministerpräsident Donald Tusk heftige Vorwürfe. Man habe, so die Kritik, bei der Auftragsvergabe nur auf den günstigsten Preis geschaut und daher eine inkompetente und betrügerische Firma engagiert. Der Feind sei also nicht in Peking, sondern im eigenen Land zu suchen.

Doch Heniek erinnerte sich noch genau, wie bereits eine Legislaturperiode zuvor die PiS-Partei unter Jarosław Kaczyński selbst über zu hohe Straßenbaukosten in Polen geklagt hatte. Der sowohl von der PiS als auch der Bürgerplattform gemeinsam erhobene Vorwurf lautete damals, die polnischen Straßenbauunternehmen würden sich illegalerweise absprechen und die Kosten für staatliche Bauvorhaben in die Höhe treiben. In der Folge hatten die damaligen Vorsitzenden der Generaldirektion für Landesstraßen und Autobahnen und der Polnischen Staatsbahnen die Volksrepublik China besucht und Interessensbekundungen für die Zukunft unterzeichnet.

Was sollte man nun, fragte sich Heniek, davon halten, wenn die freie polnische Regierung, die nationalkonservative zumal, ausgerechnet im kommunistischen China nach Alternativen zu den polnischen Firmen suchte, die die Regeln der freien Marktwirtschaft, für die doch alle gekämpft hatten, unterwanderten? Doch die Sachlage war noch komplizierter: Was nämlich schließlich zum Rückzug der chinesischen Firma geführt hatte, konnte nie befriedigend aufgeklärt werden. Der von den Chinesen angesetzte Preis lag mit 26 Millionen Złoty gute 10 Millionen unter dem nächstgünstigen Angebot und damit, so die Kritik, weit unter einem wirtschaftlich sinnvollen Wert. Das ganze Projekt schien von Anfang an nicht realisierbar. Auch verfügte die Firma nicht, wie mündlich zugesagt, über das entsprechende Eigenkapitel, um den Bau aus eigenen Mitteln zu bestreiten. So war Covec ständig auf Teilzahlungen der Generaldirektion für Landesstraßen und Autobahnen angewiesen, welche, da sie der gemachten Absprache widersprachen, nur ungern und sehr unpünktlich geleistet wurden.