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Einst ist die Stadt Drachenheim durch die umliegenden Minen reich geworden, doch nun gehen die Erzvorkommen zur Neige. Die Zauberschülerin Diani träumt davon, Drachenheim und ihrem herrischen Vater zu entkommen und an die ferne Zauber-Akademie zu wechseln. Der Drachenhüter Arnik sehnt sich danach, ein Drachenritter zu werden und die Stadt hinter sich zu lassen. Als der Gardist Gosek eine Verschwörung aufdeckt, die das Schicksal der ganzen Stadt bedroht, werden Diani und Arnik mit ihm in einen Strudel von Ereignissen hineingezogen. Dianis magische Fähigkeiten und Arniks besondere Verbindung zu den Drachen könnten die letzte Hoffnung sein, um Drachenheim zu retten - oder die Stadt ins Verderben stürzen! Du liebst Drachen, Zauberei und tapfere Helden, die einer düsteren Welt trotzen? Dann tauche ein, in dieses spannende High Fantasy Abenteuer um Drachen, Magie, Mut und Intrigen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Arnik zwängte sich durch den grob behauenen, mannshohen Tunnel, der nur spärlich von rötlichem Zwielicht erhellt war. Die Passage war so schmal, dass Arnik ständig aufpassen musste, sich die schmalen Schultern nicht an Felsvorsprüngen aufzuschürfen. Die Hitze, die ihm entgegenschlug, ließ ihm den Schweiß aus allen Poren quellen, und der übelkeiterregende Schwefelgestank wurde mit jedem Schritt schlimmer. Trotzdem zögerte Arnik nicht, im Gegenteil, er empfand sogar Vorfreude.
Schließlich mündete der Tunnel in eine große Höhle. Sie war in dasselbe rötliche Zwielicht getaucht, sodass ihre Ausmaße allenfalls zu erahnen waren. Arnik wusste jedoch, dass sie mehr als hundert Schritte lang und fast genauso breit war.
Überall in der Höhle waren eiserne Becken verteilt, in denen Kohlen glommen. Von diesen Feuern ging das rötliche Zwielicht aus. Hier und dort zeichneten sich große Schatten gegen das Licht der Kohlebecken ab. Manchmal bewegte sich einer dieser Schatten, und im Zwielicht wirkte es so, als würde sich ein Felsblock erheben, auseinanderbrechen und neu anordnen. Dabei war manchmal ein leises Grollen oder Zischen zu hören.
In einem Korb neben dem Eingang lagen einige Fackeln bereit, von denen Arnik eine an sich nahm. Dann schloss er kurz die Augen, atmete tief durch, ignorierte den Schwefelgestank, zwang sich, an nichts zu denken, so, wie man es ihm beigebracht hatte.
Unvermittelt stürmte eine Vielzahl von fremden Emotionen und Gefühlseindrücken aus allen Richtungen auf ihn ein. Arnik hielt sie auf Abstand, suchte in dem emotionalen Wirrwarr nach einem bestimmten Gefühl und folgte ihm im Geiste bis zu seinem Ursprung, der in den Schatten nahe einem Kohlebecken links von ihm zu sein schien.
Arnik öffnete die Augen und der Sturm von Emotionen erstarb. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und lief zielstrebig auf die Stelle zu. Er hatte das Becken beinahe erreicht, als sich am Rand von dessen Lichtschein ein Schatten zu regen begann. Arnik blieb stehen und wartete, bis sich vor ihm zwei schmale Schlitze im Dunkel auftaten, gelb glühende Augen mit einer schmalen Iris.
Die Augen glitten näher heran und dann öffnete sich unter ihnen ein breites Maul, in dessen Rachen es rötlich glomm, so, als würde tief im Schlund eine Flamme brennen. Eine Vielzahl spitzer Zähne zeichneten sich als Schatten vor dem glimmenden Schlund ab, die Reißzähne vorn waren beinahe so lang wie Arniks Finger.
Arnik erinnerte sich noch gut daran, wie er das erste Mal einem Drachen gegenübergestanden hatte. Zwölf Jahre war er damals alt gewesen und die Furcht hatte ihn beinahe gelähmt. Heute, vier Jahre und unzählige Besuche später, hatte er keine Angst mehr vor den zwar mächtigen, aber mit Magie gezähmten Tieren. Im Gegenteil.
Lächelnd hielt er seine Fackel am ausgestreckten Arm vor das Maul. Im Inneren des Schlundes schwoll ein leises Knurren an, gefolgt von einem kurzen Feuerstoß, der die Fackel in Brand setzte. Ihr flackerndes Licht erhellte die Umgebung und wurde von den silbernen Schuppen, die den großen, schlanken Leib des Drachen bedeckten, glitzernd zurückgeworfen.
Das Tier hatte die vier Pranken von sich gestreckt und die Schwingen eng an den Leib gefaltet. Nur ein Teil des langen Halses war emporgereckt, sodass sich der riesige Schädel mit den charakteristischen Knochenwülsten über den Augen ungefähr auf Arniks Höhe befand. Hätte der Drache sich zu voller Größe aufgerichtet, hätte er Arnik um mehrere Schritte überragt.
Arnik trat vor und legte dem Tier eine Hand auf die Schnauze, zwischen die breiten Nüstern, die groß genug waren, dass er seine Faust hätte darin versenken können. »Hallo Fesk«, sagte er, noch immer lächelnd. »Geht es dir gut?«
Der Drache antwortete nicht mit Worten. Stattdessen spürte Arnik die Erwiderung als eine vage Empfindung, die ihn erahnen ließ, was der Drache ihm sagen wollte. Er deutete das in sich aufkommende Gefühl als ein freundliches Willkommen des Drachen, spürte dann aber, wie seine Kehle mit einem Mal ausdörrte.
»Durst«, murmelte Arnik unbewusst und leuchtete mit der Fackel zu dem Wassertrog, der sich in der Nähe von Fesks Lagerplatz befand. Darin war nur noch eine klägliche Pfütze. »Ich hole dir schnell etwas.« Arnik griff nach einem der Eimer, die neben dem Trog bereitlagen und machte sich auf zum Brunnen des Drachenhortes.
Überall in der riesigen Höhle verteilt hatten weitere Drachen ihre Liegeplätze. Es waren mehr als zwanzig. Die meisten schliefen, einige wandten aber den Kopf in Arniks Richtung, als er an ihnen vorbeilief. Da sie alle der Gattung der Silberdrachen angehörten, war es im spärlichen Licht seiner Fackel kaum möglich, sie auseinanderzuhalten. Doch wenn sie mit Arnik Kontakt aufnahmen, spürte er intuitiv, um welchen Drachen es sich handelte. Er grüßte sie freundlich, ohne stehenzubleiben, denn jeder der Drachen hatte seinen eigenen Hüter. Arnik war allein für die Betreuung von Fesk verantwortlich.
Der Brunnen lag ungefähr in der Mitte der Höhle. Hier ragte ein metallenes Rohr aus dem Boden, an dessen gekrümmtem Ende sich ein Ventil befand. Wenn man es öffnete, sprudelte Wasser heraus, das aus dem Neshai stammte, einem unterirdischen Fluss, der Hunderte Meter tief unter dem Hort verlief. Arnik hatte sich schon oft gefragt, wie das Wasser in dem Rohr eigentlich aufwärts schießen konnte, doch niemand hatte ihm darauf eine klare Antwort geben können. Dashiri-Magie,hatte manch einer gemurmelt. Die Halbgnome hatten Teile des Hortes und die vorgelagerte Burg vor langer, langer Zeit einmal aus dem Fels der Götterzinnen geschlagen. Aber wie ihre Magie nach all den Jahrhunderten noch immer wirken konnte, wusste niemand - zumindest niemand, den Arnik kannte.
Das Wasser aus dem Rohr wurde in mehreren, in einem Halbkreis um den Brunnen angeordneten Becken gesammelt, einige so groß, dass die Drachen sogar hineinsteigen konnten, wenn sie es wollten. Die Becken waren derzeit gut gefüllt, sodass das Ventil geschlossen war.
Vor dem nächstgelegenen Becken sah Arnik einen anderen Drachenhüter stehen und seinen Eimer füllen. Als Arnik erkannte, um wen es sich handelte, hätte er sich am liebsten schnell abgewandt, doch es war zu spät, der andere Junge hatte ihn bereits bemerkt.
»Sieh an, der Hüter des ersten Drachen«, begrüßte er Arnik und seine Stimme troff dabei vor Hohn. Er war ungefähr in Arniks Alter, aber einen halben Kopf größer und hatte breitere Schultern. Eigentlich schon zu breit für den engen Zugangstunnel, aber zu Arniks Leidwesen schaffte er es irgendwie trotzdem noch in den Hort.
»Lass mich einfach in Ruhe, Derek«, brummte Arnik und wandte sich einem der anderen Becken zu, um seinem Rivalen aus dem Weg zu gehen.
Doch der ließ seinen Eimer einfach stehen und kam ihm nach. »Einen Scheiß werd’ ich«, knurrte er und stieß Arnik grob gegen die Schulter, sodass der kurz ins Taumeln geriet. »Euresgleichen sollte hier bestenfalls den Dung zusammenkehren, Stroh auslegen und Wasser schleppen, aber sicher nicht Hüter des ersten Drachen sein.«
Arnik ging weiter. Es war jedes Mal dasselbe und er hatte mittlerweile gelernt, dass er Derek am besten ignorierte. Widerworte stachelten ihn nur noch weiter an. Arnik bückte sich und tauchte seinen Eimer in das Becken.
»Bist dir wohl schon zu fein, mir zu antworten, was?«, fuhr Derek fort. »Hast über die Jahre im Haus der Ritterin wohl vergessen, was du bist. Aber sogar hier im Halbdunkel sieht man es. Du bist ein Blauauge, und das wirst du auch immer bleiben.«
Arnik schlug unwillkürlich die Augen nieder. Sie waren von einem strahlenden Blau, ganz anders als die dunklen Augen der meisten Stadtbewohner, die aus dem Kaiserreich Tarisien stammten. Wie oft hatte er sich schon gewünscht, auch dunkle Augen zu haben, damit nicht mehr jeder auf den ersten Blick erkennen konnte, dass er dem besiegten Volk der Margai angehörte. Er schluckte schwer und zog den vollen Eimer aus dem Becken.
Derek gab ihm abermals einen Stoß, sodass Arnik beinahe in das Becken gestolpert wäre. Um sich zu fangen, musste er den Eimer fallen lassen und das Wasser ergoss sich über den Felsboden. Ärger wallte in ihm auf, doch er schluckte ihn herunter und hob den Eimer auf.
»Du bist bloß Hüter des ersten Drachen, weil Ser Vareen irgendwann mal Mitleid mit dir hatte«, höhnte Derek weiter. »Sonst würdest du heute in der Vorstadt im Dreck hocken oder irgendwo den Abtritt putzen, wie die meisten aus deinem Volk. Zu was anderem taugt ihr doch sowieso nicht.«
Genug ist genug, dachte Arnik. »Ich tauge mehr zum Drachenhüter als du«, fauchte er. »Du bist bloß einer geworden, weil dein Vater Ser Jaron dafür bezahlt hat, damit er dich in seine Dienste nimmt!«
»Na wenn schon! Ich kann sehen, wenn der Trog meines Drachen leer ist. Man braucht die komischen Fähigkeiten von euch Blauaugen nicht, um Drachenhüter zu sein«, erwiderte Derek. »Man braucht aber eine einflussreiche Familie, wenn man ein Ritter werden will. Kein Margai wird jemals einen Drachen reiten dürfen, während ich …«
»Du wirst vermutlich auch kein Drachenritter werden, Derek, egal wie viel dein Vater auch dafür zu zahlen bereit wäre.« Die Stimme kam aus den Schatten, glockenhell und doch schneidend. »Da kannst du Arnik noch so lange schikanieren.«
Die beiden Jungen fuhren herum. Yiris trat ins Licht, eine zierliche, tarisische Drachenhüterin, die ein Jahr jünger war als Arnik und Derek. Dennoch maß sie Derek mit einem strengen, herablassenden Blick, als sei sie seine große Schwester.
Derek brauchte einen Moment für eine passende Erwiderung. »Aber du wirst Ritterin werden, oder was?«, war dann offenbar das Beste, was ihm einfiel. »Dir ist schon aufgefallen, dass Ser Vareen derzeit die einzige Ritterin von Drachenheim ist – und die erste seit Langem?«
»Dann werde ich eben die zweite«, gab Yiris schulterzuckend zurück und nickte dann in Richtung von Dereks Eimer, der vergessen vor dem anderen Becken stand. »Solange wie du nun schon deine Zeit hier mit Streitereien vergeudest, ist dein Drache sicher durstig, Derek. Besser du bringst ihm schnell das Wasser.«
Dereks Augen verengten sich und Arnik erwartete fast, dass er nun Yiris beschimpfen würde. Stattdessen wandte Derek sich aber mit einer herablassenden Geste ab. »Da haben sich ja die beiden richtigen gefunden«, ätzte er. »Ich lasse euch mal allein, damit ihr Händchen halten könnt.« Er stapfte zu seinem Eimer, füllte ihn und verschwand dann, Verwünschungen vor sich hin murmelnd, in den Schatten.
Arnik hielt den Blick zu Boden gerichtet. Es war ihm unangenehm, dass Yiris den Streit mitangehört hatte und ihm zu Hilfe gekommen war. In ihren Augen musste er ein Schwächling sein, der sich fast alles gefallen ließ. Deshalb wusste er nicht, was er nach Dereks letzten Worten sagen sollte, und das unangenehme Schweigen, das sich zwischen ihm und Yiris ausbreitete, machte es nicht besser. Arnik hätte sich am liebsten einfach in Luft aufgelöst.
»Derek ist wirklich ein arroganter Mistkerl«, meinte Yiris schließlich und klang dabei so abfällig, als spräche sie über eine verlauste Ratte. Sie trat ans Becken und tauchte ihren Eimer ein. »Ich hoffe bloß, dass er es wirklich nie zum Ritter bringen wird.«
»Ich auch«, brummte Arnik.
Yiris hob ihren Eimer aus dem Becken. »Dann müssen wir beide uns anstrengen, damit einer von uns an seiner Stelle für die Gilde vorgeschlagen wird.«
Arnik seufzte. Ritter zu werden war sein größter Traum, seit er als Kind zum ersten Mal einen Drachen am Himmel gesehen hatte. Aber Derek hatte recht. »Ich bin ein Margai. Einen von uns wird man nie bei der Gilde akzeptieren.«
Yiris schnaubte. »Ich erinnere mich noch gut, wie Derek vor zwei Jahren felsenfest davon überzeugt war, dass die Ritter von Drachenheim niemals eine Frau zum ersten Ritter wählen würden - und doch ist Ser Vareen nun ihre Anführerin. Du siehst, unmögliche Dinge passieren manchmal, und wenn Ser Vareen dich vorschlägt, nimmt die Gilde dich bestimmt auf. Ich würde es dir gönnen.« Sie lächelte herzlich.
Wenn doch nur alle Tarisier so wären, dachte Arnik, der gar nicht wusste, wie er antworten sollte.
»Im Ernst«, setzte Yiris dazu. »Ich glaube, mit deinen Fähigkeiten wärest du ein hervorragender Drachenritter. Wo wir gerade davon sprechen, könntest du mir mit Teria helfen? Irgendwas stimmt nicht mit ihr, aber ich weiß nicht was.«
»Ja, natürlich. Wo liegt sie denn?«
Yiris deutete in eine Ecke des Hortes.
»Ich bringe Fesk schnell sein Wasser und dann komme ich«, versprach er.
»Gut, ich warte bei ihrem Liegeplatz auf dich.«
Arnik füllte rasch seinen Eimer und schleppte ihn zu Fesk. Er befürchtete, unterwegs noch einmal auf Derek zu treffen, doch der ließ sich zum Glück nicht blicken. Als er sich Fesks Lagerplatz näherte, spürte Arnik schon auf einige Schritte Entfernung die Ungeduld des Drachen und beeilte sich, das Wasser in den großen Trog zu füllen. Gierig beugte sich Fesk darüber und saugte das Wasser in großen Schlucken ein. Arnik beobachtete, wie rasch es zur Neige ging und erwog schon, einen weiteren Eimer füllen zu gehen, doch Fesk ließ dann doch fast die Hälfte übrig und sein Durst schien gestillt.
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, fragte Arnik.
Zur Antwort spürte er ein wohliges Gefühl in seinem Bauch. Offenbar hatte Fesk auf seinem letzten Flug gefressen und war nun satt und zufrieden.
»Gut. Ser Vareen sagt, dass sie erst in einigen Tagen wieder mit dir fliegen wird«, erzählte Arnik. »Du kannst dich also eine Weile ausruhen.«
Fesk ließ den Kopf sinken und rollte sich im Dunkeln zum Schlafen zusammen. Damit verbrachten die Drachen die meiste Zeit hier im Hort.
Arnik wandte sich ab, orientierte sich kurz und lief dann zu dem Liegeplatz hinüber, den Yiris ihm gezeigt hatte. Auch hier spürte er bereits beim Näherkommen die aufgewühlten Gefühle des Drachen. Offensichtlich plagte Teria irgendetwas. Yiris stand bei ihr und redete beruhigend auf das Drachenweibchen ein, doch es schien nicht viel zu nutzen. Teria schüttelte immer wieder unwillig den Kopf.
Arnik blieb stehen, schloss die Augen und öffnete sich für Terias Empfindungen. Mit einem Mal spürte er einen starken Juckreiz hinter dem rechten Ohr. Seine Hand zuckte automatisch empor, um sich zu kratzen, doch er hielt inne, da er wusste, dass der Impuls von dem Drachen kam.
»Spürst du was?«, fragte Yiris.
Er nickte. »Hinter ihrem Ohr.« Er zeigte es ihr an seinem Kopf.
Yiris sprach weiter beruhigend auf Teria ein und brachte sie dazu, den Kopf auf dem Boden abzulegen, sodass sie neben das Ohr des Drachen treten konnte. »Leuchte mir mal«, forderte sie und Arnik hielt seine Fackel hoch, damit sie besser sehen konnte.
Sie suchte eine Weile, dann fand sie etwas. Mit dem Messer aus ihrem Gürtel pulte sie eine Weile zwischen den Schuppen herum und zog dann einen dünnen, aber fast fingerlangen Dorn heraus. Teria stieß ein zufriedenes Schnauben aus, als sie von der Plage befreit war.
»Wo wächst denn eine Pflanze mit solchen Dornen?«, fragte Yiris sich laut.
Arnik zuckte bloß die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Danke jedenfalls, dass du mir geholfen hast. Ohne dein Gespür, hätte ich den Dorn nie gefunden.«
»Gerne. Kann ich sonst noch irgendwie helfen?«
Yiris schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin hier fertig. Hast du bei Fesk noch was zu tun?«
»Nein, ich gehe jetzt nach Hause.«
»Ich komme mit. Dann kann ich dir Derek vom Leib halten, falls der dir noch in der Umkleide auflauert.« Sie knuffte ihn spielerisch in die Seite.
Arnik rang sich ein Lächeln ab. Er schämte sich, weil er sich tatsächlich sicherer fühlte, wenn Yiris mit ihm in die Umkleide der Hüter ging. Aber Derek war nicht der einzige Tarisier, der Arnik und die anderen Margai im Hort herumschubste und auf Streit aus war. Arnik hatte gehört, dass ein älterer Margai sich einmal mit einem tarisischen Drachenhüter geprügelt hatte. Der Margai hatte den Kampf sogar gewonnen, war aber zur Strafe entlassen worden, während der tarisische Junge weitermachen durfte, obwohl der den Streit provoziert hatte. So lief das eben in Drachenheim, wenn man ein Margai war, Ungerechtigkeit war Normalität.
Zu seiner Erleichterung fanden sie die Umkleide leer vor, Derek war wohl schon gegangen. Dafür fiel aber hier, in den Außenanlagen der Hortburg, die Kälte wie ein Raubtier über sie her. Yiris schlang sich die Arme um den Leib und beide liefen zu ihren Spinden, wo sie ihre Kleider deponiert hatten. Arnik rieb sich hastig mit einem Tuch den Schweiß vom Körper und zog sich um. Selbst mit Hose, Stiefeln und Mantel erschien ihm die Luft nach der Hitze des Drachenhortes eisig, als er hinter Yiris in den Hof der Hortburg trat.
Auf dem Weg zum Tor ging Yiris an einer Wand entlang und ließ ihre Hand über die Mauer gleiten, die mit fein gearbeiteten Verzierungen versehen war. »Ich bin nun schon drei Jahre hier oben und finde die Burg immer noch beeindruckend«, murmelte sie andächtig. Sie blieb stehen und vollführte eine Geste, die den ganzen Hof einschloss. »All die Treppen, Gänge und Räume aus dem Fels zu schlagen, noch dazu so kunstfertig, muss doch Jahrzehnte gedauert haben.«
»Ja, ich finde das auch unglaublich«, pflichtete Arnik ihr bei. Der Zahn der Zeit hatte zwar viele kleine Verzierungen abgeschliffen, doch die Kunstfertigkeit des kleinwüchsigen Volkes war hier und da noch immer zu erkennen. Verglichen damit, wirkte das von den Tarisiern errichtete, schlicht gemauerte Gebäude, in dem die Umkleiden für die Drachenhüter untergebracht waren, wie ein hässlicher Klotz. »Mein Lehrer hat mir beigebracht, dass die Dashiri irgendwo in den Tiefen unter den Götterzinnen sogar eine ganze Stadt aus dem Fels geschlagen haben, groß genug für ihr gesamtes Volk.«
»Eine ganze Stadt?« Yiris hob die Brauen. »Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Vor allem, wie beleuchten sie die? Oder hausen sie dort unten etwa im Dunkeln?«
Arnik zuckte mit den Schultern, darauf war sein Lehrer nicht eingegangen.
Am Tor blieb Yiris stehen und sah noch einmal zurück. »Stimmt es, dass das hier früher mal ein Tempel der Margai war, wo ihr die Drachen als Götter angebetet habt?«
Arnik sah zu ihr hinüber, erwartete nun doch etwas wie Häme oder Herablassung in ihrer Miene zu lesen, entdeckte aber nur Neugier. »Ja, bis vor zwei Jahrzehnten die Tarisier kamen, die Hortburg eroberten und die Drachen mit Magie ihrem Willen unterwarfen.« Da das alles vor Arniks Geburt geschehen war, kannte er den Glauben seines Volkes nur noch vom Hörensagen.
Yiris senkte betreten den Kopf und kurz breitete sich zwischen ihnen ein unangenehmes Schweigen aus. »Eigentlich schade, dass niemand in diesen schönen Räumen lebt«, sagte sie dann.
Abgesehen von den Drachenhütern hielten sich immer nur zwei oder drei wachhabende Ritter auf der Hortburg auf, ihren festen Wohnsitz hatten sie hingegen alle unten in der Stadt. »Hier oben ist es eben einfach zu kalt«, antwortete Arnik, dem die Zähne zu klappen begannen. »Lass uns gehen.«
Selbst während des Sommers, der bald anbrechen würde, herrschten in dieser Höhe oft eisige Winde aus dem Gebirge, und als sie durch das Tor traten, fuhr ihnen prompt eine Windbö unter die Mäntel. Schlotternd vor Kälte schlang sich Arnik die Arme um den Körper und blickte die vielen Stufen der Treppe hinab, die vom Tor der Hortburg über hundert Meter hinab führte, wo sie an der neu erbauten Festung von Drachenheim endete.
Die lag immer noch hoch über dem Tal, und unterhalb der Festung drängten sich die Häuser Drachenheims dicht an dicht an den Berghang. Nah an der Festung, in der sogenannten Oberstadt, befanden sich die größeren Häuser der Reichen und Mächtigen. Weiter unten folgten die kleineren Häuser der Unterstadt bis hinab zu dem hölzernen Palisadenzaun, der ehemaligen Begrenzung Drachenheims. Aber schon als Arnik noch ein Kind gewesen war, hatten die Ärmsten der Armen außerhalb der Stadtbefestigung gehaust, und in den letzten Jahren hatten sich ihre Hütten und Verschläge bis hin zum Ufer des Nanuath ausgebreitet. Der Fluss schlängelte sich als glitzerndes Band von Drachenheim aus gen Nordwesten.
»Worauf wartest du?«, fragte Yiris neben ihm. Ihre Zähne klapperten hörbar.
»Ich gehe nicht gern nach unten.« Arnik seufzte so schwer, dass sich eine große Atemwolke vor seinem Gesicht bildete. »Hier oben bin ich der Hüter des ersten Drachen, da unten bloß ein Margai, ein Diener, ein Botenjunge, den man herumstoßen kann und als Blauauge, Nomadenbrut oder Schlimmeres beschimpft. Ständig muss ich den Blick gesenkt halten, weil viele von euch Tarisiern fürchten, die Augen von uns Margai seien verhext und wir könnten in eure Seelen blicken.«
»Ich weiß.« Yiris seufzte und klang schuldbewusst.
Arnik sah nach Westen, über das Tal hinaus zu der endlos erscheinenden Ebene jenseits des Flusses. Dort breitete sich bis zum Horizont das Grasmeer aus, mit dessen Halmen der Wind immer wieder neue Figuren zeichnete. Das war die Heimat von Arniks Volk, das dort in kleinen Stämmen mit seinem Vieh umherzog.
»Hast du mal überlegt, Drachenheim zu verlassen?«, fragte Yiris, die seinem Blick gefolgt war. »Dich einem Margai-Stamm anzuschließen und durch das Grasmeer zu ziehen?«
Arnik zuckte mit den Schultern. »Das Nomadenleben kenne ich nur vom Hörensagen. Ich bin hier in den Armenvierteln geboren und habe Drachenheim noch nie verlassen. Wahrscheinlich werde ich das auch nie, und selbst wenn: Es heißt, die Stämme betrachten uns Margai aus Drachenheim als Verräter und …«
Das Brüllen eines Drachen unterbrach ihn und sie wandten sich beide der breiten Plattform über der Hortburg zu, die den Drachen als Start- und Landeplatz diente.
Ein Drache lief mit weit ausgebreiteten Flügeln und einem Ritter auf seinem Rücken auf die Kante der Plattform zu. Die Bewegungen seiner viel zu kurzen Beine wirkten plump, doch als das Tier sich abstieß und in die Luft erhob, glitt es mit einem Mal majestätisch dahin, wuchtete seinen Leib dann mit einigen mächtigen Flügelschlägen in die Höhe. Der Schwanz peitschte durch die Luft, als der Drache sich in eine Kurve legte, einen nahen Felsgrat überflog und dann im benachbarten Tal verschwand.
»Das kannst du auch schaffen«, sprach Yiris ihm Mut zu. »Dich als Ritter in die Luft schwingen und Drachenheim hinter dir lassen. Aber nur, wenn wir jetzt hinabsteigen, bevor wir hier festfrieren.«
Vor Kälte zitternd, aber auch mit etwas mehr Zuversicht, folgte Arnik ihr die Stufen hinab.
Gosek erwachte und blinzelte in Richtung des schmalen Fensters seiner Kammer. Der kleine Ausschnitt des Himmels, den er dort sehen konnte, hatte schon den leicht violetten Schimmer, der die nahende Abenddämmerung ankündigte. Also Zeit für ihn, aufzustehen.
Gähnend streckte er sich und zuckte zusammen, als ihm ein scharfer Schmerz in den unteren Rücken fuhr. Wie erstarrt blieb er einige Augenblicke lang liegen, hoffte inständig, dass die verspannten Muskeln sich wieder lockerten. Als sie es taten, atmete er erleichtert auf, offenbar war es nicht weiter wild. Dennoch schwang er die Beine lieber eins nach dem anderen aus dem Bett und richtete sich betont vorsichtig auf. Grunzend massierte er sich den unteren Rücken mit seinen noch steifen Fingern.
Scheiße, ich werde alt, dachte Gosek missmutig.
Das war jetzt keine neue Erkenntnis, aber das machte die Sache auch nicht besser. Seufzend fuhr er sich mit der Hand über die Bartstoppeln am Kinn. Die waren mittlerweile allesamt grau, weshalb er sich eine tägliche Rasur angewöhnt hatte. Früher war er dazu immer zu faul gewesen, aber mit dem grauen Bart sah er aus wie fünfzig. Sein wahres Alter kam dem zwar allmählich erschreckend nahe, aber das musste man ja nicht offen zur Schau tragen, fand er.
Er erhob sich und reckte vorsichtig die Arme, was sein Rücken mit einem weiteren Stich quittierte, der Gosek stöhnend innehalten ließ. Doch auch diesmal ebbte der Schmerz rasch wieder ab. »Scheiß Wachdienst«, grummelte er. Die Verspannungen kamen sicher von dem endlosen Stehen am Tor.
Gosek schlurfte zu dem winzigen, fast blinden Spiegel hinüber, der nahe des Fensters an der Wand der Stube hing. Obwohl hier zwei Stockbetten für vier Soldaten standen, war Gosek allein. Diese Woche waren seine drei Mitbewohner für Tages-Patrouillen eingeteilt, während ihm mal wieder die Nachtwache bevorstand. Das hieß, er würde sich entweder an einem der Tore frierend die Beine in den Bauch stehen und dabei den Rücken noch weiter ruinieren, oder durch die dunklen Gassen Drachenheims stiefeln, sich mit fluchenden Schlägern, kotzenden Säufern und keifenden Huren herumschlagen müssen und dabei die Füße wund laufen. Im schlimmsten Fall musste er womöglich noch irgendeinem Dieb hinterherhetzen. Bei dem Gedanken hätte er sich am liebsten gleich wieder hingelegt - aber es half ja nichts.
Naserümpfend begutachtete er den Ausschnitt seines Gesichtes in dem schmalen Spiegel. Die grauen Barthaare konnte er zwar beseitigen, nicht aber die deutlich sichtbaren Tränensäcke unter den Augen, die schlaffen Wangen und die tiefen Falten an den Mundwinkeln, die ihm ein missmutiges Aussehen verliehen - was aber meist auch zu seiner Laune passte.
Gosek zückte sein Messer und prüfte die Klinge mit dem Daumen. Scharf war was anderes, er würde das Messer vor der Rasur erst schärfen müssen, befand er, verspürte aber nicht die geringste Lust, sich jetzt mit einem Wetzstein zu beschäftigen.
Er blickte noch einmal in den Spiegel drehte das Gesicht hin und her. Eigentlich kaschierten die Bartstoppeln die Falten an seinen Mundwinkeln ganz gut. Vielleicht war es einen Versuch wert, den Bart mal wachsen zu lassen. Auf jeden Fall war es weniger Arbeit.
Gosek knurrte in Richtung seines schlaffen Spiegelbildes und wandte sich dann ab, schlurfte aus der Kammer, über den Flur und in den Gemeinschaftswaschraum.
Ein Vorteil der Nachtwache war, dass er den Waschraum nach dem Aufstehen in der Regel für sich hatte. Die anderen Nachtwächter standen später auf als Gosek, der immer seine Zeit brauchte, um in die Gänge zu kommen. Das letzte, was er dabei gebrauchen konnte, war das Geschwätz der jungen Kameraden. Die meisten dieser Jungspunde hatten mehr Pickel als Barthaare im Gesicht und überboten einander jeden Tag mit ihren stolz vorgetragenen Heldentaten, die wahlweise auf Schlachtfeldern oder in Betten stattgefunden haben sollten – und meist gleichermaßen übertrieben und unglaubwürdig klangen.
Nein, Ruhe war Gosek lieber. Die schätzte er auch während der Nachtwache. Es gab nichts Schlimmeres als die halbe Nacht mit einem geschwätzigen Kameraden wie dem jungen Orlav am Tor verbringen zu müssen. Da war es allemal besser, allein durch die nächtlichen Gassen Drachenheims laufen. Vielleicht hatte er ja bei der Dienstvergabe Glück.
Glück?
Er schnaubte. In letzter Zeit hatte er mehr und mehr den Eindruck, dass er seinen Vorrat an Glück auf dem Schlachtfeld aufgebraucht hatte, damals als … Unwillig schüttelte er den Kopf. Daran wollte er jetzt lieber nicht zurückdenken. Zu viele miese Erinnerungen.
Gosek erleichterte sich auf der Latrine, wusch sich, stapfte zurück in seine Kammer und zog sich an. Unterhemd, Hose, Socken und Stiefel. Rüstung und Waffengurt würde er später in der Waffenkammer holen, erst mal frühstücken.
Im Treppenhaus drang Gosek der Duft von heißem Fett und Gewürzen in die Nase und ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Ein weiterer Vorteil der Nachtwache war, dass es stets ein zünftiges Frühstück mit Fleisch gab, eben das, was die anderen als Abendessen serviert bekamen. Hauptsache nicht den labberigen Brei, den der Koch morgens servierte. Noch dazu war Gosek meist der erste und bekam dann das beste Stück vom Braten. Welchen es wohl heute gab? Gosek versuchte es am Duft zu erkennen, während er die Stufen hinabstieg, und seine Laune besserte sich.
»Na, hat der Duft meines Bratens dich aus dem Bett getrieben?«, rief der Koch ihm über den Tresen zu, als Gosek in die Messe trat.
»Ich kann dir eben einfach nicht widerstehen, Vluta«, erwiderte Gosek grinsend und setzte sich auf einen der Hocker vor dem Tresen.
Vluta war einer der wenigen in der Festung, der in einem ähnlichen Alter war wie Gosek. Sie kannten sich schon ewig, und zum Glück hatte Vluta seine Fähigkeiten am Herd über die Jahre stetig verbessert, denn zu Beginn war es eine Qual gewesen, seinen Fraß hinunterzuwürgen.
»Was haste denn heute Feines im Angebot?«
Vluta deutete über die Schulter auf den großen Ofen, aus dem der Dampf entwich. »Feinster Rinderrücken, herrlich zart, sag ich dir.«
»Du verwöhnst uns«, grinste Gosek.
»Immer doch, zumindest im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten«, grinste der Koch zurück. »Warte noch einen kleinen Augenblick.« Er öffnete den Ofen und stach mit einer langen Bratengabel in das riesige Stück Fleisch, das darin schmorte, nickte zufrieden, holte einen Teller und schnitt mit einem Messer eine Scheibe vom Braten ab.
Kurz darauf stellte Vluta einen Teller vor ihm auf den Tresen. Neben der Bratenscheibe hatte er ihm noch eine ordentliche Portion Bankelmus und eine herrlich nach Kräutern duftenden Soße aufgetan. »Lass es dir schmecken, alter Haudegen.«
Gosek nickte ihm dankend zu, nahm sich Besteck und machte sich über den Braten her. Vluta hatte nicht zu viel versprochen. Das Fleisch war butterzart und schmolz beinahe auf der Zunge, die Soße war ein Gedicht und selbst das Mus war genau so, wie Gosek es schätzte. Nicht zu matschig, aber auch nicht zu viele harte Stücke.
Während Gosek sein Essen genoss, bereitete der Koch noch einen Eintopf vor, der für diejenigen gedacht war, die zu spät in die Messe kamen, um noch was vom Braten abzubekommen.
Gosek war so in den Genuss seines Essens versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie noch jemand die Messe betrat. Erst als Vluta grüßte, wandte Gosek den Kopf und sah eine Gestalt in staubiger Rüstung in der Tür stehen, die sich unschlüssig umsah.
Auf den zweiten Blick wurde Gosek klar, dass er eine Frau vor sich hatte. Ihre Schultern waren ungewöhnlich breit und wurden durch ihren Harnisch noch betont, der gleichzeitig jegliche weibliche Rundungen verbarg. Ihr Haare waren raspelkurz und ihrem linken Ohr fehlte der obere Rand. An ihren Armen zeichneten sich Adern und Muskeln deutlich ab, ihr ganzer Körper wirkte austrainiert. Verglichen mit ihr kam Gosek sich fett vor.
Ihr Alter war schwer zu schätzen. Das Gesicht der Frau war noch weich, aber die dunklen Augen hatten einen harten Blick, wie Gosek ihn von anderen Veteranen kannte, die auf Schlachtfeldern zu viel Leid, zu viel Blut und zu viel Tod gesehen hatten. Früher hatten ihm seine Augen mit einem ähnlichen Ausdruck aus dem Spiegel entgegengestarrt. Rasch schüttelte er den Gedanken ab, um die unliebsamen Bilder der Vergangenheit nicht sehen zu müssen, die er unweigerlich mit sich brachte.
»Lust auf Braten?«, fragte Vluta.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich suche einen gewissen Gosek.« Ihre stechenden Augen musterten ihn abschätzig. »Bist du das?«
Gosek schluckte einen Bissen herunter und nickte. »Richtig«, erwiderte er einsilbig und schob sich gleich das nächste Stück Braten in den Mund. Wer sie auch war und was immer sie von ihm wollte, sie würde schon selbst mit der Sprache rausrücken.
»Ich bin Kenja, gerade in der Stadt angekommen«, stellte sie sich vor.
»Ach, etwa die versprochene Verstärkung?«, sagte Vluta und gluckste. »Das wir das noch erleben dürfen. Wie viele sind mit dir gekommen?«
»Niemand, ich bin allein«, erwiderte Kenja.
»Na toll«, brummte Gosek missmutig mit vollem Mund. In letzter Zeit hatten einige Gardisten den Dienst quittiert, wegen des Alters oder aus anderen Gründen. Schon seit Wochen warteten sie auf Verstärkung, und nun schickte man ihnen gerade mal eine Soldatin?
»Der diensthabende Leutnant hat mir gesagt, ich soll mich bei dir melden. Du sollst mir alles zeigen«, sagte sie.
»Mach ich gleich«, erwiderte Gosek und deutete auf den Platz neben sich. »Erst mal frühstücke ich, wenn’s recht ist.«
Kenja zuckte mit den Schultern, trat neben ihn und ließ ihren Rucksack neben sich fallen. Ihre Nasenflügel blähten sich. »Riecht gut«, befand sie anerkennend.
»Vielleicht doch ein Stück?«, versuchte es Vluta noch einmal.
Diesmal nickte sie und wartete dann stumm, bis der Koch auch ihr einen Teller vorsetzte. Gosek bemerkte mit einem Anflug von Eifersucht, dass sie ein dickeres Stück Fleisch bekommen hatte und warf Vluta einen vorwurfsvollen Blick zu. Der grinste schief und zwinkerte Gosek zu.
Kenja brummte einen Dank und machte sich mit Heißhunger über das Essen her.
»Wo kommst du her?«, fragte Vluta und lächelte ihr zu. Offenbar versuchte er, seinen Charme spielen zu lassen.
»Aus dem Norden«, erwiderte Kenja und machte dabei nicht den Eindruck, dass sie mehr preisgeben wollte.
»Und was hat dich hierher ans südliche Ende des Reiches verschlagen?« So schnell ließ sich der Koch nicht entmutigen.
Kenja zuckte abermals mit den Schultern. »Bin versetzt worden.«
Ach was, dachte Gosek und grinste in sich hinein. Irgendwie gefiel es ihm, wie sie den Koch mit ihrer Einsilbigkeit auflaufen ließ. Kenja gehörte offensichtlich nicht zu denen, die Gosek während der Nachtwache ein Ohr von der Backe labern würden, und so war sie ihm gleich sympathisch.Goseks Atem wölkte vor seinem Gesicht und er rieb sich die klammen Hände. Trotz des nahenden Sommers waren die Nächte in Drachenheim noch immer kalt, vor allem, wenn wie heute Fallwinde eiskalte Luft von den schneebedeckten Bergen ins Tal drückten. Neben der späten Stunde ein weiterer Grund dafür, dass sich kaum jemand in den Straßen herumtrieb.
Gosek sah zwischen den Häusern zum Himmel hinauf, wo zwei der drei Monde zu sehen waren. Vejan hatte seine Jagd auf Xajan gerade erst begonnen. In einigen Tagen würde er ihn verdecken und dann vor ihm fliehen, bis diese dreißig Tage währende Jagd der Mond-Brüder nach einer Dunkelnacht ohne Mondlicht wieder von vorn begann.
Immer die gleiche Leier, fast wie bei der Stadtgarde, dachte er lakonisch.
Schnaufend schloss Kenja endlich zu ihm auf. Sie stellte die Laterne auf dem Boden ab und stützte sich schwer auf ihre Knie. »Scheiß Treppen«, japste sie. »Wie viele Stufen haben wir auf unserer Patrouille jetzt schon gemacht?«
Sie hatten gerade eine lange Treppe erklommen, die sich zwischen dunklen Hauswänden hindurch zur Hauptstraße wand.
»Zählen war nie meine Stärke«, versetzte Gosek grinsend. »Hätte aber gedacht, dass eine junge Soldatin wie du mehr Ausdauer hat als ein alter Sack wie ich, wo ich auch noch einige Pfunde mehr mit mir herumzuschleppen habe.« Er klatschte sich demonstrativ auf die Wölbung seines Bauches, die sich deutlich unter dem Lederharnisch abzeichnete.
Kenja blickte mit verkniffenem Mund zu ihm auf. »Ich bin die dünne Luft im Gebirge halt nicht gewohnt«, gab sie zurück und richtete sich ächzend auf. »Dir macht die Treppensteigerei also nichts aus?«
»Man gewöhnt sich dran«, entgegnete er achselzuckend. »Ich latsche mir hier ja schon seit Jahren die Füße platt.«
Kenja wölbte die Brauen - recht buschige Brauen, für eine Frau, bemerkte Gosek. »Wieso eigentlich? Sollte ein Veteran in deinem Alter nicht seinen wohlverdienten Ruhestand genießen oder wenigstens nur noch in einer Schreibstube hocken?«
Gosek schnaubte. »So alt bin ich dann auch wieder nicht, selbst wenn ich vielleicht so aussehe.« Er grinste. »Und was ich mache, ist genau das, was ich nach Meinung von Hauptmann Virpan verdient habe.«
»Ach ja?« Ihre Brauen zuckten noch ein Stück weiter in Richtung Haaransatz. Sie maß ihn mit einem abschätzigen Blick. »Was haste denn ausgefressen? Befehlsverweigerung? Feigheit vor dem Feind? Kriegsverbrechen?«
»Majestätsbeleidigung«, erwiderte Gosek trocken.
Kenjas Augen weiteten sich. »Du hast den Kaiser beleidigt und musst deshalb …?«
»Nicht den Kaiser«, unterbrach er sie grinsend. »Den Hauptmann.«
»Ach so.« Kenja lachte auf. »Alles klar. Und der hat hier das Sagen?«
Gosek wiegte den Kopf. »Meistens. Das Kommando über die Festung obliegt eigentlich der Obersten Kesrin, aber sie ist ständig auf Reisen, hat irgendeinen hohen Posten im strategischen Rat oder so was. Daher überlässt sie Virpan die Führung unserer Truppe und sieht nur gelegentlich nach dem Rechten.« Er begann zu frösteln. »Lass uns mal weitergehen, ehe wir hier festfrieren.«
Er nahm die Laterne und hob sie auf Kopfhöhe, um die Gegend auszuleuchten. »Das ist die Hauptstraße. Tagsüber ist hier kaum ein Durchkommen und wenn man sich nicht gerade den Arsch abfriert, wie heute, ist sogar um diese Stunde noch was los. Die Straße führt vom Haupttor unten«, er deutete die steil abfallende Straße hinab, »bis hinauf zum Obertor.« Nun zeigte er in die entgegengesetzte Richtung. Kenja folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger mit dem Blick.
Das Tor selbst war nicht zu sehen, aber man erahnte den Lichtschein einiger Laternen in der Ferne, wo andere Gardisten Wache standen.
»Warum gibt es denn mitten in der Stadt noch ein Tor?«
»Hast dir wohl nicht ausgesucht, nach Drachenheim versetzt zu werden, so wenig, wie du über die Stadt weißt.«
Sie schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts. Offenbar wollte sie immer noch nicht darüber sprechen, warum sie hierher versetzt worden war. Gosek respektierte das und hakte nicht weiter nach, stattdessen beantwortete er ihre Frage: »Als wir Drachenheim erobert haben, bestand es nur aus der Oberstadt. Das Obertor war also damals das Stadttor. Mit den Jahren kamen aber jede Menge Leute aus allen Teilen des Reiches, die hier ihr Glück oder wenigstens Arbeit zu finden hofften. Die Stadt wuchs und wuchs, und man errichtete mit der Palisade unten eine neue Befestigung. Den Teil zwischen Obertor und Palisade nennen wir die Unterstadt.«
»Und wie nennt man das Drecksloch davor?«
Sie meinte die Ansammlung von ärmlichen, notdürftig zusammengehämmerten Hütten, in denen Tagelöhner hausten, die im Inneren der Stadt keine Bleibe fanden. Das waren mittlerweile eine ganze Menge und Gosek hatte den Eindruck, es wurden täglich mehr. »Die Vorstadt.«
»Ziemlich unpassender Name«, brummte Kenja. »Als ich das vorhin gesehen habe, wäre ich am liebsten gleich wieder umgedreht.« Sie blies den Atem in die hohlen Hände. »Gehen wir weiter?«
Gosek nickte und führte sie in eine Gasse, die schräg gegenüber von der Hauptstraße abzweigte. Die Häuser standen hier dicht an dicht, sodass kaum etwas vom Licht der drei Monde in die Gasse fiel und es außerhalb des Lichtscheins ihrer Laterne stockfinster war. Nur hinter vereinzelten Fensterläden drang noch ein Schimmer hervor und es gab kaum Geräusche, abgesehen von Schnarchen oder dem unterdrückten Gegrunze von Leuten, die es miteinander trieben.
»Was wollen wir denn hier?«, fragte Kenja mit gesenkter Stimme. Die Gasse war so schmal, dass sie hinter Gosek laufen musste.
»Hier wohnen Offiziere und diejenigen von unserer Truppe, die Familien haben«, erklärte Gosek leise. »Deswegen schauen wir hier auf jeder Runde vorbei, und wenn aus dieser Richtung eine Alarmpfeife ertönt, rennen wir noch schneller als sonst. Verstanden?«
Kenja nickte. »Alles klar.«
Gosek deutete auf eine abzweigende Gasse und sie folgten ihr ein Stück bergab, bis sie in eine etwas breitere mündete. Hier waren die Fensterläden der meisten Häuser noch geöffnet, das Grölen von schief singenden Männerstimmen drang nach draußen und auch der Geruch von Bier, Rauch und frisch Gebratenem. Einige Gestalten waren in der Gasse unterwegs, die meisten torkelten allerdings wie auf einem Schiff bei schwerem Seegang.
»Das Vergnügungsviertel«, erklärte Gosek. »Hier gibt es in letzter Zeit noch mehr Ärger als sonst.«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, kam ihnen ein schwer angetrunkener Mann entgegen getorkelt. »Aussem Weg«, brüllte er und fuchtelte mit der geballten Faust in der Luft herum. »Aussem Weg oder es setzt was!«
Gosek trat beiseite und verzog den Mund, als ihm der saure Gestank in die Nase stieg, der von dem Besoffenen ausging. Der musste sich an der Hauswand abstützen, um das Gleichgewicht zu halten.
»Scheint ja keinen großen Respekt vor Gardisten zu haben«, murmelte Kenja, die dem Torkelnden kopfschüttelnd nachsah.
»Respekt?« Gosek winkte ab. »Wenn du Respekt erwartest, hast du dir keinen guten Zeitpunkt ausgesucht, um in Drachenheim als Gardistin anzufangen.«
»Ach nein?«
Gosek schüttelte missmutig den Kopf. »Während der letzten Mondjagden haben mehr und mehr Leute ihre Arbeit verloren, weil in den Minen kein Erz mehr gefunden wird. Die einfachen Grubenarbeiter erwischte es zuerst, und weil die kein Geld mehr haben, geht es nun auch den Krämern und Handwerkern in der Stadt immer schlechter.
Ein paar haben die Hoffnung schon aufgegeben und sind weggezogen. Andere glauben, dass es bald wieder aufwärts gehen wird, haben aber nichts mehr zu tun und lassen sich stattdessen volllaufen, verzocken ihr letztes Geld beim Würfeln oder suchen Trost bei einer Hure, die sie dann nicht bezahlen können.
Dazu gibt es aber noch diejenigen, die sich auf Einbruch, Raubüberfälle oder Taschendiebstahl verlegt haben, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.« Er seufzte. »Die Garde ist unterbesetzt, wir können die Leute kaum noch schützen, manche nehmen das Recht selbst in die Hand. Von daher ist es mit dem Respekt nicht mehr so weit her, und wenn dann noch Alkohol im Spiel ist …« Er zuckte mit den Schultern. »Aber wenn du auf Ärger stehst, bist du hier genau richtig«, setzte er dann hinzu und grinste schief.
»Nee, lass mal.« Kenja hob abwehrend die Hände. »Ärger hatte ich zuletzt mehr als mir lieb war.«
Bevor Gosek nachfragen konnte, welcher Art dieser Ärger gewesen war, flog ein paar Schritte vor ihnen die Tür einer Taverne auf. Ein Mann taumelte heraus und stürzte krachend auf das Pflaster. Ein zweiter kam hinter ihm her und schob sich die Ärmel seines Hemdes hoch. »Dir hau ich jeden Zahn einzeln raus, du beschissenes Blauauge«, knurrte er. Seine Glatze glänzte im Licht von Goseks Laterne.
Der Mann am Boden kam mühsam auf Hände und Knie hoch, aber Glatze verpasste ihm einen rüden Tritt in die Rippen, der ihn sofort wieder stöhnend zu Boden gehen ließ.
Gosek war alles andere als scharf darauf, sich einzumischen, aber das war nun mal seine Aufgabe. »He!«, rief er und legte die freie Hand auf den Knauf seines Kurzschwerts. »Nur die Ruhe.«
Glatze drehte sich zu Gosek und Kenja um und blinzelte ins Licht der Laterne. »Halt du dich da raus«, knurrte er. »Die Nomadenbrut wollte mich beim Spielen bescheißen und …«
»… du hast ihm eine reingehauen, vielleicht sogar schon eine Rippe gebrochen«, führte Gosek Glatzes Satz zu Ende und stellte die Laterne neben sich ab, um beide Hände frei zu haben. »Lass gut sein, oder …«
»… oder was?« Glatze baute sich drohend vor ihm auf. »Haut lieber ab, sonst liegt ihr gleich neben dem Blauauge in der Gosse und … uh!«
Goseks Tritt gegen seine Kniescheibe war ein Volltreffer. Glatze knickte das linke Bein weg, er strauchelte und langte nach der offenen Tavernentür, um sich abzustützen.
Gosek zog mit der rechten Hand sein Kurzschwert halb aus der Scheide und deutete mit der linken ins Innere der Schenke. »Du gehst jetzt da rein und machst die Tür hinter dir zu, oder ich bohre dir die Spitze meines Schwertes ins andere Knie«, zischte er drohend.
Glatze kniff die Augen zusammen und es sah so aus, als wolle er es drauf ankommen lassen, aber der Schmerz in seinem Knie brachte ihn dann offenbar doch zur Vernunft und er gehorchte. Mit einer letzten Verwünschung stolperte er in die Schenke zurück und schlug die Tür so heftig hinter sich zu, dass ein wenig Putz von der Wand rieselte.
»So viel zum Thema Ärger«, brummte Kenja.
»Na ja, den Glatzkopf hab ich ja recht schnell kleingekriegt.« Gosek grinste und schob sein Schwert zurück in die Scheide, hoffend, dass Kenja nicht bemerkte, wie seine Hand dabei leicht zitterte. Er stieß den angehaltenen Atem aus und beugte sich zu dem Margai, der noch immer stöhnend auf dem Boden lag. »Komm hoch. Besser du verziehst dich, bevor dein glatzköpfiger Freund es sich noch mal anders überlegt.«
Gosek packte den Mann an der Schulter und zog ihn auf die Knie, weiter kam er jedoch nicht. Der Mann würgte und erbrach sich schwallartig gegen die Wand. Gosek fluchte und sprang zurück, ließ den Mann aber nicht los.
Als dessen Magen nichts mehr hergab, winkte er Kenja herbei und gemeinsam schafften sie es, den Margai auf die Beine zu ziehen. »Wohin?«, fragte Gosek.
»Vorstadt«, nuschelte der Mann kraftlos.
»Hätte ich mir denken können«, brummte Gosek. »Wir bringen dich bis zum Stadttor, den Rest des Weges musst du dann allein schaffen.«
Ich hab’s ja gewusst, dachte er während des mühsamen Weges zum Tor bei sich. FluchendeSchläger, kotzende Säufer - fehlen nur noch die keifenden Huren zu meinem Glück. Die Chancen standen gut, dass sie denen während der restlichen Nacht auch noch über den Weg laufen würden, denn die Hurengasse lag nur einen Steinwurf vom Stadttor entfernt.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie den Margai endlich am Stadttor abgeliefert hatten, wo ihn die dort stationierten Wachen passieren ließen und er hinaus in die Vorstadt torkelte.
Kenja blickte ihm mit erhobener Laterne hinterher.
»Von den Augen abgesehen, sehen sie genauso aus wie wir«, murmelte sie und klang dabei ein wenig überrascht.
»Noch nie einem Margai begegnet?«, fragte Gosek.
»Wo denn?«, gab sie zurück, ohne sich zu ihm umzuwenden.
Für Gosek gehörten die Margai seit vielen Jahren zu seinem Alltag, aber natürlich hatte Kenja recht. Das Landstück rund um Drachenheim, das die kaiserliche Armee vor rund zwei Jahrzehnten erobert hatte, lag am südöstlichsten Zipfel Tarisiens und machte nur einen winzigen Teil des riesigen Reiches aus.
»Wohnen sie alle da draußen, in der … Vorstadt?«
»Nein, nicht alle«, erwiderte Gosek. »Ein paar sind als Dienstboten bei den reicheren Bürgern beschäftigt und leben auch dort.« Er wandte sich vom Tor ab und winkte Kenja, ihm zurück in die Stadt zu folgen.
»Hm«, machte Kenja, die noch immer nachdenklich wirkte. »Und was machen wir jetzt?«
»Wir drehen weiter unsere Runden und schlagen uns mit noch mehr Besoffenen herum, bis die Sonne aufgeht«, erwiderte er. »Hast dir die Arbeit einer Gardistin wohl anders vorgestellt, was?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich hole lieber Besoffene aus der Gosse als tote Kameraden vom Schlachtfeld.«
»Da hast du verdammt noch mal recht«, brummte Gosek. Er war froh, dass es sehr lange her war, seit er zuletzt auf einem Schlachtfeld nach Kameraden gesucht hatte. Vielleicht sollte ich meine Arbeit hier auch öfter so betrachten wie sie.
Diani kauerte hinter einem Busch und hielt den Atem an, lauschte angespannt. Links von ihr raschelten Blätter und sie fuhr herum. Nur der Wind? Nein, jetzt hörte sie das Hecheln, unterbrochen von eifrigem Schnuppern, das sich ihr langsam näherte. Diani hielt sich eine Hand vor den Mund, um sich nicht mit einem unbedachten Laut zu verraten, machte sich bereit, loszurennen.
Das Hecheln kam immer näher und plötzlich war die große Hündin da, sprang freudig wedelnd vor, um Diani mit ihrer kalten Nase anzustupsen. Diani wich ihr quiekend aus und lief los, so schnell sie ihre kurzen Beine nur trugen, umrundete den Busch und rannte an der Hecke entlang.
»Du kriegst mich nicht, Vaya«, rief sie über die Schulter, obwohl die Hündin ihr dicht auf den Fersen war und sie jederzeit mit spielerischer Leichtigkeit hätte überholen können. Aber Vaya kannte die Regeln des Spiels, und blieb freudig bellend hinter ihr.
Lachend rannte Diani weiter, am Kräutergarten vorbei, über die breite Wiese und auf das große Landhaus ihrer Familie zu. Am Rand der Terrasse sah sie ihre Mutter stehen, die ihr lächelnd zusah und erwartungsvoll die Arme ausbreitete. In der Vorfreude darauf, sich gleich an die Brust ihrer Mutter zu werfen, erhöhte Diani noch einmal ihr Tempo und eilte auf sie zu.
»Was fällt dir ein, mir so ein Gebräu zu servieren!«, brüllte plötzlich eine Männerstimme …… und Diani fuhr aus dem Schlaf.
Im Erdgeschoss ging scheppernd Geschirr zu Bruch und sie hörte noch mehr Gebrüll ihres Vaters, wüste Beschimpfungen, die sich gegen Samina, das Hausmädchen richteten.
Einen Moment glaubte Diani noch, den Duft ihrer Mutter in der Nase zu haben, doch dann verblasste die Erinnerung an die glücklichen Tage ihrer Kindheit.
Sie seufzte. Ihr Blick glitt zum Fenster des Zimmers. Mauern! Überall sah sie bloß die Mauern der dicht an dicht stehenden Häuser von Drachenheim, die ihr den Blick verstellten wie in einem Verlies. Nur ein schmales Stück vom Himmel konnte sie sehen, der heute grau und wolkenverhangen war.
Dieses Haus hatte keine Terrasse, keinen Garten, in der ganzen Stadt wuchs kaum noch ein Baum. Den Wind hörte sie bloß, wenn er als Sturm durch die engen Gassen heulte und an den Fensterläden rüttelte. Dafür war den ganzen Tag über das Geschnatter der unzähligen Menschen zu hören. Es waren mehr, als die Stadt zu fassen vermochte, und in manchen Gassen war ihr Gestank atemberaubend.
Im Stillen verwünschte Diani einmal mehr den Tag, an dem ihr Vater entschieden hatte, das Landgut zu verkaufen und nach Drachenheim zu ziehen, wo damals Stollen um Stollen in den Fels der umliegenden Berge getrieben und dabei immer neue Erzvorkommen entdeckt worden waren. In der Hoffnung auf das ganz große Geld hatte Dianis Vater eine der Minen gekauft. Den angestrebten Reichtum hatte er tatsächlich erlangt - doch zu welchem Preis?
Die Hündin Vaya hatten sie für die neuen Besitzer auf dem Landgut zurückgelassen. Die Stadt sei nichts für sie, hatten Dianis Eltern ihr damals erklärt. Der Gedanke an die winselnde Hündin, die an einem Pflock festgebunden zusehen musste, wie ihre Familie in einer Kutsche wegfuhr, brach Diani noch heute das Herz, und das war bloß der Anfang des ganzen Unglücks gewesen. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und schwang die Beine aus dem Bett.
Hastig wusch sie sich mit dem Wasser aus der Schüssel, die das Dienstmädchen bereitgestellt hatte. Im Schrank suchte sie nach einem Kleid und wählte das rote, das ihre Mutter ihr genäht hatte.
Auch ihre Mutter war nicht mehr da. Dulags Hauch hatte sie dahingerafft, eine der zahlreichen Krankheiten, die aus den Kloaken der Vorstadt aufstiegen und in der Enge von Drachenheims Gassen umgingen wie gierige Gespenster, stets auf neue Opfer lauernd. Mit Dianis Mutter war auch der letzte Rest von ihrer Kindheit begraben worden.
Abermals hörte sie ihren Vater fluchen, leiser jetzt, sodass seine Worte nicht mehr zu verstehen waren. Aber weswegen er schimpfte, war ohnehin egal, er fluchte ständig über alles und jeden. Seine Stimme klang jetzt schwerfällig, so, als habe er schon früh am Morgen mit dem Trinken angefangen - oder die ganze Nacht durchgesoffen, auch das kam vor.
Schon früher, vor Drachenheim, war er streng und manchmal aufbrausend gewesen, aber Diani konnte sich auch noch an Tage erinnern, an denen er mit ihr im Garten gespielt oder ihr abends im Bett eine Geschichte vorgelesen hatte.
Nachdem sie in die Stadt gekommen waren, hatte er aber nur noch seine Geschäfte im Kopf gehabt, war ständig unterwegs, um Verträge zu schließen, seine Minen – bald waren weitere hinzugekommen – zu inspizieren, Arbeiter einzustellen. Selbst, als Dianis Mutter krank geworden war, hatte er nur wenig Zeit bei ihr verbracht, stattdessen die teuersten Heiler angeheuert – keiner hatte ihr helfen können.